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Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, welches auf historischen Ereignissen der zwanziger und dreißiger Jahre in Hannover basiert. Im Interesse von Dramaturgie und Spannung wurden einige Begebenheiten leicht abgeändert oder frei erfunden. Ein Anspruch auf historische Korrektheit besteht nur zu Teilen. Ausführliche Erläuterungen sind im Nachwort zu finden.

© Querverlag GmbH, Berlin 2020

Erste Auflage März 2020

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie aus dem Jahre 1929 von ullstein bild – Gerhard Riebicke.

ISBN 978-3-89656-665-2

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Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Für Jutta

„Am Anfang war der Tanz und nicht das Wort.“
Rudolf von Laban

Prolog

1933

An einem klaren, kalten Septembermorgen stieg Lieselotte Daube aus der Elektrischen – in der linken Hand einen Umschlag, in der rechten den abgelaufenen Fahrschein. Sie lächelte einem Buben zu, der sich über das Trudeln der Fahrkarte freute, die sie mit elegant-lässigem Schwung in die Luft warf.

Zügigen Schrittes näherte sie sich einem blauen Postkasten. Einige Passanten kreuzten ihren Weg, während sich das Kreischen der Straßenbahnräder in der Ferne verlor. Ein Opel fuhr an ihr vorbei. Die Luft war gesättigt vom Duft der Auspuffgase. Dem Geruch der Zukunft. Ihrer Zukunft. Einer Zukunft ohne Berta.

Das Licht der Herbstsonne blendete sie und eine milde Kühle drang durch den Stoff ihrer dünnen Viskosehandschuhe, als sie den Briefkasten erreichte.

Merkwürdig. Fast fühlt es sich wie Frühling an, dachte sie. Die Vor­osterzeit war stets ein Beginn in ihrem Leben. Der Junge beobachtete sie noch immer. Schwarz kündete die Schrift im Fenster des blauen Kastens die nächste Abholung an. Sonntag, sieben Uhr dreißig. Inmitten des Straßenlärmes reihte sich das metallische Zuschlagen der Briefklappe in all die flüchtigen Geräusche ein. Den Jungen im Blick behaltend, deutete Lieselotte einen höflichen Diener vor dem Postkasten an und gab dem Dach einen Klaps zum Abschied. Das Kind lachte und sie winkte zurück.

Liselotte hatte vor einigen Wochen ihren siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und soeben ihre Lehrerin denunziert.

1

1924 – Frühjahr

Sie war laut. Laut und herrisch. Eine Stimme wie der Dampfstrahl aus einem Wasserkessel. „Was sind das für Tischtücher? Holt die weißen!“, befahl sie. Die scharfen Worte Berta Habenichts drangen durch die verglasten Scheiben der großen Halle bis in den Flur. Die Mädchen zuckten zusammen. Zu dritt standen sie vor der Seitentür, die zum Sportsaal des Turn-Klubbs Hannover führte, und warteten, dass sie hereingerufen wurden: Lieselotte, Else Marie und Tilla. Für die Kür ihrer Lehrprüfung im Fach Handgeräte war es Lieselotte erlaubt, von zwei Assistentinnen begleitet zu werden. Tilla und Else Marie ahnten nur, wie aufgeregt ihre Kommilitonin war. Anzumerken war Lotte kaum etwas, denn das blonde, hochgewachsene Mädchen wirkte gefasst. Lediglich ihre blaugrauen Augen verrieten ihre Anspannung. Lottes rechte Braue zuckte; unwirsch schüttelte sie den Kopf. Der kleine Verrat ihres Körpers ärgerte sie. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen war Lieselotte mit ihren achtzehn Jahren ernster und strenger zu sich als jede Lehrerin.

„Du musst keine Angst haben.“ Else Maries Worte halfen nur wenig.

„Du hast uns so oft angeleitet.“ Tillas Beruhigungsversuche machten es nur noch unerträglicher.

„Gutsein genügt nicht bei ihr.“ Mit zusammengepressten Lippen deutete Lotte in Richtung Berta Habenicht, die gerade mit der Prüfungskommission hinter den breiten Glastüren entlangschritt. Tilla nickte.

Vor dem Schwingportal der großen Halle hielt die Gruppe inne und wartete, bis die Prüfungsassistentinnen die gemusterten Tischdecken gegen die weißen ausgetauscht hatten, dann öffnete Berta Habenicht energisch die Türen und begab sich mit der Kommission zu den Tischen. Geschäftig nahmen sie alle Platz.

Tilla und Else Marie wechselten Blicke. „Du hast wirklich nichts zu befürchten, Lotti. Du bist gut. Du bist schön. Bei dir stimmt die Linie von Brust bis Po.“ Tilla versuchte zu scherzen. „Schau, damit kann ich nicht dienen.“ Sie wackelte mit ihrem Hinterteil.

Lieselotte grinste leicht gequält, aber Tilla hatte recht. Die Figur der dunkelhaarigen Kommilitonin war im Gegensatz zu ihrer die einer Pyknikerin: kantige Gesichtszüge, kräftige Knochen und selbst, wenn das schwarzlockige Mädchen gar nichts mehr aß oder bis zum Äußersten trainierte – feiner würden ihre Körperlinien nie werden, höchstens eckiger. Da war die Natur bei Lieselotte gnädiger gewesen. Ihre ohnehin grazile Figur hatte durch das mehrjährige Unterrichtstraining an Kontur gewonnen. Wie rasch alles gegangen war! Verflogen, die Wochen, die Monate, die Jahre an der Berta-Habenicht-Schule. Und wie oft hatte sie mit stillem Stolz abends im Bett ihre nackten Beine betrachtet. Wohlgeformt, gerade und entspannt. Diese Beine gehörten ihr und doch taten sie es wiederum nicht. Ihr Körper war zwar das Produkt einer eisernen Disziplin, aber ihre Gestalt hatte Lotte Berta Habenicht zu verdanken. Viele Mädchen in der Ausbildung neideten ihr diesen Körper, nur war das etwas, das Lotte im Moment am wenigsten kümmerte.

„Hauptsache, die Zensur stimmt hinterher“, sagte sie schroff.

„Selbst, wenn Frau Habenicht einen spüren lässt, dass man nichts wert ist, gerecht in der Note bleibt sie“, erwiderte Tilla und Else Marie nickte leidvoll. „Mach dir nicht ins Hemd. Du warst gut. Du bist gut, und du wirst auch heute gut sein.“

Dennoch zitterten Lottes Hände, als sie das Netz vom Haken nahm und die Bälle unter ihren Assistentinnen aufteilte. Sie hatte sich eine Ball-Kür ausgedacht, die Bewegungsnotation aufgeschrieben und vor einer knappen Woche bei Frau Habenicht eingereicht. Alles termingerecht. Schweigend standen sie vor der Tür zur großen Halle, dann vernahmen die drei Mädchen endlich Lottes Namen.

„Fräulein Daube, bitte!“

„Vorwärts“, zischte Tilla, „ab in die Höhle der Löwin!“

Kaum aber hatten sie den großen Turnsaal betreten und Position bezogen, rief Berta Habenicht scharf: „Mit Begleitung? Ohne Begleitung?“

Lotte stockte und blickte hilfesuchend zu Else Marie und Tilla. Hatte sie jetzt schon etwas falsch gemacht? Eine Assistenz war doch erlaubt.

„Fräulein Daube, warum schauen Sie wie ein Laubfrosch aus Zelluloid?“

„Meine Assistenz …“, stotterte Lotte. Ihre Stimme klang dünn.

„Papperlapapp! Wer redet denn von der Assistenz? Ich spreche von der Be-glei-tung! Benötigen Sie Musik? Ja? Nein? So etwas hätte ich gerne vorher gewusst.“ Gebieterisch klopfte Berta Habenicht mit dem Stift auf die Prüfungsunterlagen. Offenbar war sie erzürnt, dass ausgerechnet ihre beste Schülerin einen so gravierenden Fehler begangen hatte.

„Aber ich habe doch schon dem Fräulein Dorn Bescheid …“, versuchte Lotte zu erklären.

Berta Habenicht schnitt ihr das Wort ab. „Das gehört in Ihre schriftliche Ausarbeitung. Als Anmerkung. Vernachlässigen Sie nie die Theorie. Beginnen Sie nun.“ Das nachgeschobene, deutlich mildere Lächeln in Bertas Habenichts Gesicht nahm Lotte schon nicht mehr wahr. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Ball nicht mehr halten konnte. Ständig fiel er hinunter und jedes Mal, wenn er ihrem Griff entsprang, rollte er natürlich immer in Richtung der Kommission. Tilla und Else Marie versuchten zu helfen, wo sie nur konnten, aber vergeblich. Verbissen rang Lotte um jene Fassung, mit der sie während der gleichen Übung in der Vorprüfungszeit geglänzt hatte. Es schien ein Desaster zu werden.

„Ich versteh es nicht!“, flüsterte Tilla Else Marie in einem unbeobachteten Augenblick zu. „Sonst ist die Habenicht doch nie so streng mit ihrem Daube-Sternchen gewesen?“

„Prüfung ist eben Prüfung“, wisperte Else Marie zurück.

Schweigend verfolgte die Kommission hinter den gestärkten Tischtüchern Lieselottes Kür: Links Dorothea Bragge – Berta Habenichts Schulsekretärin und rechte Hand –, daneben Dr. Kahlbutz und noch weiter rechts ein Amtsmann, den die Mädchen noch nie zuvor gesehen hatten.

Schweißtropfen drangen aus Lottes Poren, aber es gelang. Ohne Fehler brachte sie den ersten Teil zu Ende. Für den zweiten ließ sie sich das Seil bringen. Eifrig liefen Else Marie und Tilla zu den Handgeräten, legten die Bälle ab und eilten zurück. Als Else Marie Lieselotte das Seil in die Hand drückte, flüsterte sie ihr mit dem Rücken zur Kommission zu: „Du bist die Beste. Glaub das endlich.“ Lottes Körper straffte sich. Für den zweiten Teil hatte sie etwas Besonderes vor. Eine Improvisation. Kaum ein Mädchen traute sich das zu, aber alle wussten: Frau Habenicht war damit zu beeindrucken, schließlich improvisierte sie selbst gern. Die Schulpianistin, Fräulein Dorn, saß aufrecht am Klavier und verfolgte Lieselottes Bewegungen mit dunklem Blick. Ihre Finger ruhten auf den Tasten, warteten auf ihren Einsatz, und Lotte meinte plötzlich, eine warme Welle aus Mitgefühl wahrzunehmen, so, als hätte sie noch eine dritte Verbündete. Dann gab Berta Habenicht das Zeichen, Lotte füllte ihren Brustkorb mit Atemluft und Irma Dorn begann zu spielen. Die weichen Klänge der Schumann-Melodie verzauberten den riesigen Raum und ließen ihn sofort wärmer und milder erscheinen. Alles ging erstaunlich leicht. Mühelos kombinierte Lieselotte die Bewegungsfolgen. Tilla und Else Marie atmeten auf und beobachteten, wie sie sich langsam dem Fluss ihres Körpers hingab und alle unnütze Spannung von ihr abfiel. Das Zittern ihrer Hände verebbte und endlich kam Leben in die Choreografie. Verstohlen zwinkerte Else Tilla zu.

Plötzlich aber begann Lotte zu stocken. Ein dummer Stolperer. Unglücklicherweise verfing sie sich in ihrem Seil und die Rolle rückwärts misslang. Zornig sprang Lieselotte auf und schlug mit dem Seil auf den Holzboden, als würde sie ihn auspeitschen. Die Kommission war irritiert und den beiden Mädchen stockte der Atem. Was machte Lotte da? So riskierte sie durchzufallen! Panisch blickte Else Marie zum Fräulein Dorn, das noch immer konzentriert hinter ihrem Klavier saß und voller Elan in die Tasten hieb. Else Marie stutzte. Die sonst so zurückhaltende Pianistin schlug nämlich nicht nur einfach in die Tasten, sie hämmerte auf sie ein, und das war auch längst nicht mehr Schumann, was Irma Dorn da spielte. Das war frei erfunden! Energisch und voller Inbrunst unterstützte sie Lottes seelischen Ausbruch mit freudigen, kraftvollen Akkorden und einer dramatischen Melodie, die sich in immenser Wucht bis hin zur hohen Decke, zu den Spitzbögen der Halle entlud. Irrte sich Else Marie oder huschte da ein teuflisches Lächeln über das sonst so reglose Gesicht der Schulpianistin? Immer noch peitschte Lotte auf den Holzboden ein. Nun jedoch im Takt der kräftigen Akkorde. Als würde es zum Stück gehören.

Ein Beben ging durch die Jury. Der Amtsmann hob die Augenbrauen, Dorothea Bragge nickte anerkennend und Berta Habenicht tat etwas, was Tilla und Else Marie noch nie gesehen hatten. Sie lachte herzlich mit offenem Mund. Dann schrieb sie mit schwungvoller Geste etwas auf das Papier. Lotte achtete längst nicht mehr auf ihre Lehrerin. Selbstvergessen führte sie einen zornigen Tanz mit ihrem Seil auf. Inzwischen schien ihr alles gleichgültig geworden zu sein. Ihre überschüssige Energie entlud sie in wilden Drehungen, bis auch diese verebbten und sich die frei improvisierte Etüde dem Ende zuneigte. Behutsam legten sich die Hände des Fräulein Dorns auf die Tasten, dann verschwanden sie auf ihrem Schoß. Als die Musik verklungen war, wurde Berta Habenichts Miene wieder undurchdringlich.

„Warten Sie bitte draußen“, ordnete sie an und die Mädchen verließen den Turnsaal.

Noch bevor die große Tür hinter ihnen zufiel, verkündete Else Marie strahlend: „Jawoll!“. Siegesgewiss blitzten ihre Augen unter dem dunklen Pony. Hinter ihr krachte die Tür ins Schloss und die Mädchen zuckten zusammen. „Verdammt!“, rief Else. „Das wollte ich nicht.“ Übertrieben rollte sie die Augen, zog ihre Schultern bis an die Ohrläppchen hoch und erstarrte in gespieltem Schreck. Lotte lachte wider Willen auf. Ihre beste Freundin sah aus wie ein Wiesel, das halb mit einem Affen verwandt war. „Du hast es geschafft! Ich hab’s doch gesagt!“, triumphierte Else Marie und klopfte Lotte auf den Rücken.

„Abwarten“, erwiderte sie, „noch habe ich es nicht schwarz auf weiß.“

Qualvolle zehn Minuten dauerte es, dann wurde sie endlich hineingerufen. Wieder verbrachten Tilla und Else Marie einige Augenblicke im zugigen Vorraum, dann öffnete sich abermals die Tür und auch Lottes blaugraue Augen glühten.

„Eine Eins!“ Im Takt ihrer Worte hüpfte Liselotte fröhlich auf und ab. Der kindliche Freudenausbruch übertrug sich sofort auf Tilla und Else Marie.

„Hat sie gesagt, warum sie deinen Fauxpas nicht bewertet hat?“, fragte Tilla.

„Sie sagt doch nie etwas.“

„Aber offenbar hat es ihr bestens gefallen.“

„Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe!“, seufzte Else Marie aufrichtig. Auf einmal wirkte sie wie ein eingeschüchtertes Kind. „Und morgen bin ich dran. Florettfechten.“ Lotte packte ihre Freundin bei den Schultern. „Nicht auf den letzten Metern einknicken“, spottete sie. „Benimm dich. Du stichst sie doch alle an die Wand!“ Else Marie nickte stumm. Auch etwas, das sehr selten vorkam. „Muss ich dich noch in die Seite boxen? Kommst du dann wieder zu dir?“

„Vielleicht“, wimmerte Else Marie. „Mir rutscht gerade mein ganzer Schneid in die Hose!“

„Denk morgen einfach, es wäre ein normaler Unterricht.“ Lotte zwinkerte. Aber ganz so befreit, wie sie sich gerade gab, war sie auch nicht. Ihre allerletzte Abschlussprüfung stand noch bevor. In zwei Tagen.

„Sehr gut, Fräulein Daube!“

Die erste Frage hatte Lotte, ohne zu zögern, beantwortet, dennoch beschlich sie das Gefühl, die Zeiger der Uhr an der Wand wären eingefroren. Trotz der aufsteigenden Hitze versuchte sie gelassen zu erscheinen, aber die eiserne Kralle im Genick, die ihre Klauen nach sämtlichen Gedanken ausstreckte, wusste das zu verhindern. Gegen das Zittern ihrer Knie führte Lotte einen ebenso erbitterten Kampf wie um die Leere im Hirn. Sie brauchte ihre innere Freiheit! Die Kralle in ihrem Kopf schloss sich bereits um all das mühsam gelernte Wissen. Sie musste sich konzentrieren.

„Worin unterscheidet sich die Säuglingsgymnastik in grundsätzlicher Weise von der Gymnastik der Erwachsenen?“

Frau Habenichts Worte klangen freundlich und ihr Blick war an diesem Tag katzenhaft hell. Durch die hohen Fenster fielen die Sonnenstrahlen in den Raum und schufen eine erleuchtete Arena um die zwei zusammengeschobenen Tische, an denen die Kommission wartete. Dorothea Bragge wie immer neben Bernhard Kahlbutz, dem Landeskrüppelarzt, in der Mitte Berta Habenicht, daneben der Amtsmann mit dem Monokel, den sie noch von ihrer Lehrprobe kannte, und ganz links das Fräulein Dorn, heute als Protokollantin.

Lieselotte rang in der Mitte des Raumes nach Worten. Die alles vernichtende Kralle streckte sich. Wenn sie nicht endlich dagegen anging, bliebe sie als stumme Hülle zurück.

Nun?“

Noch immer dieser helle, freundliche Blick. Niemals in ihrer gesamten Ausbildungszeit war Berta Habenicht so außergewöhnlich entgegenkommend gewesen. Das kurze Lächeln verwirrte Lieselotte so sehr, dass sie die Frage komplett vergaß. Die Kralle hatte ihr Großhirn erreicht.

„Ist Ihnen übel?“, erkundigte sich Dorothea Bragge kühl und schrieb etwas in ein kleines, schwarzes Heft.

Dr. Kahlbutz neigte seinen Kopf an Dorothea Bragges Ohr und flüsterte. Sein Schnurrbart berührte dabei ihre Wange.

„Nein! Mir war nur kurz schwindelig, so dass ich die Frage nicht verstanden habe. Akustisch, meine ich“, rettete sich Lotte.

Berta Habenicht nickte und wiederholte ihre Worte. „Entladen Sie sich“, schob sie milde nach. „Diese Anspannung ist unnötig.“

Entladen – Relaxieren – Loslassen von Muskelspannung! Endlich sprang ein Mechanismus in ihrem Kopf an. Übertriebene Denkanstrengungen lassen Spannungen zurück. Genau! Aber das war nicht die Antwort auf die Frage. Unerbittlich spulten sich lauter tote Worte in ihr ab, als wäre sie ein Kinetograf, der statt auf Hebeldruck auf Stichworte ansprang und Sätze statt Bilder produzierte. Eine letzte, angespannte Nervenerregung bleibt auch im Ruhefall bestehen, und deshalb kommt es in den Muskeln zu keiner Erschlaffung … Lotte kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander und wartete, bis der falsche Satz in ihrem Schädel zum Schluss gekommen war. Jetzt nur nichts sagen, was falsch war. Abwarten. Passiv bleiben. Passiv bleiben. Passiv. Da! Plötzlich saß das entscheidende Wort an der richtigen Stelle. Die Kralle löste sich und erschlaffte. Die richtige Antwort lag auf der Hand.

„Die Säuglingsgymnastik unterscheidet sich von der Erwachsenengymnastik vor allem dadurch, dass hauptsächlich passive Bewegungen zur Anwendung kommen. Der oberste Leitsatz lautet immer: Nicht schaden!“, stieß sie erleichtert hervor. „Außerdem sollen alle Ausführungen am Säugling ruhig vonstattengehen. Das starke Durchdrücken der Gelenke ist beim Säuglingsturnen zu vermeiden, weil sich sonst die Bänder überdehnen und die kleinen Knochen zum Säbelbein verunstalten.“

Berta Habenicht nickte. Nichts anderes hatte sie erwartet. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete Lottes Körper und ehe sie sich’s versah, hatte sie sämtliche Fragen beantwortet. Es überraschte sie sogar, als Fräulein Bragge verkündete: „Danke, Fräulein Daube, Sie können fürs Erste hinausgehen.“

Da waren nur noch Lottes Füße, die sie trugen. Sie selbst war nicht mehr anwesend. Ein fremder, bewegter Körper, der in aufrechter Haltung einen unwirklichen Raum durchquerte. Schwebend. Eine Hand – war es die eigene? – legte sich auf die Klinke, drückte sie hinab, öffnete die Tür. Draußen blieb sie stehen. Kam zu sich. Niemand wartete im Treppenhaus. Else Marie konnte nicht kommen. Ihr Vater war erkrankt und Elses Mutter zu Verwandten nach Amerika verreist. Flüsternd sprach sie sich Mut zu: „Was man wirklich will, muss man ganz alleine tun.“

Eines Morgens hatte Lotte es entdeckt. Das, was sie wirklich wollte. Tanzen. Nur das. Fünf Jahre alt war sie gewesen. Das erste Sonnenlicht fiel damals in die Kammer der schmal geschnittenen Arbeiterwohnung. Goldene, gespannte Saiten einer riesigen Harfe. Rasch hüpfte sie aus ihrem Bett und sprang barfuß im Leinenhemdchen zwischen den Sonnenstrahlen der elterlichen Diele herum, glaubte, sie würde mit jeder Berührung einen himmlischen Ton erzeugen – einen Klang, den alle hören könnten. Mutter, Vater und die drei toten Brüder. Eingesponnen im dämmernden Licht erschuf sie sich eine Welt, die nur ihr gehörte und in der alles schön blieb, solange sie nur tanzte.

Dann stand plötzlich der Vater in der Tür und ein großer, grauer Schatten fiel in ihre Traumwelt. Sie wusste nicht, wie lange er ihr schon zuschaute, sah nur, dass er lächelte. In diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne. Das schöne Lichterspiel versank im Holz, aber das Leuchten in seinen Augen blieb. Ein Licht, das nur ihr galt. Er hatte sie gesehen, kam näher, hob sie hoch. Lotte roch die Morgenseife und den Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Vorsichtig lehnte sie ihren verschwitzten Schopf an den warmen Hals und hörte auf das Pochen unter der Haut. Die Zeit versank und der Morgen wurde zu einer alles umschließenden Hülle aus Wärme, Herzschlag und Vaterduft. Als ihr Vater viele Monate später zitternd aus dem Krieg zurückkehrte, hatte sie ihn nicht wiedererkannt. Da war nur ein fremder, zerbrochener Mann, dessen Blick erloschen war. Ein Schattenwesen war heimgekehrt. Tagtäglich hatte er mit seinem Invalidenbein in der Küche gehockt. In seinen unruhigen Augen flackerte der Krieg, ebenso wie in seinen nächtlichen Schreikrämpfen. Immer öfter hatte Lotte das Bedürfnis, der trüben Luft zu entkommen, die dieses Gespenst in der Küche verströmte. Es würde sie alle vergiften. Weh tat es zu sehen, wie der Blick ihrer Mutter dem des Schattenvaters immer ähnlicher wurde, schlimm war es zu hören, wie auch ihre Stimme bebte, wenn sie seinen Schnaps wegräumte und sich schnell dabei duckte.

Immer öfter war da Almut Brostel aufgetaucht, ihre Patentante, hatte zuerst mit der Mutter geredet und von Abstinenzlergaststätten erzählt, und als das nichts nützte, hatte sie das Lottchen für ein paar Stunden aus der Arbeitersiedlung entführt, um über den Markt zu spazieren, schöne Dinge einzukaufen und ihr neugierige Fragen über die Schule zu stellen. Diese hellen Stunden hatte Lotte geliebt. Sie waren selten und kostbar.

All das lag nun lange hinter ihr. Die Brostels, allen voran ihre Tante Almut, kümmerten sich inzwischen bestens um sie. Viel mehr, als ihr lieb war. Besonders heute am Prüfungsmorgen, als Lotte das Frühstück beiseitegeschoben hatte, mit dem Gefühl, ihre Tante würde sie am liebsten füttern wollen. Was man wirklich will, muss man ganz alleine tun. Viele Stunden war das her.

Unvermittelt gaben ihre Knie nach, Schwindel ergriff sie und kraftlos sank sie auf die Treppenstufen der Berta-Habenicht-Schule. Ein leerer Magen rächt sich; schon wurde ihr übel. Schnell sprang sie auf und hastete die halbe Treppe nach oben. Kaum war sie auf dem Abort angekommen, übergab sie sich, aber da sie nichts im Leib hatte, kam kaum etwas heraus. Der schwache Kreislauf hatte ihr einen Streich gespielt. Gott sei Dank fand sie ein sauberes Taschentuch in ihrer Rocktasche, und noch während sie sich die Mundwinkel säuberte, hörte sie unten die Tür zum Prüfungsraum aufgehen. Dann ihren Namen. Ein neuer Schwall Übelkeit übermannte sie. Im Treppenhaus wurden ungeduldige Worte gewechselt. Offenbar dachte man, sie hätte das Gebäude bereits verlassen. So schnell wie möglich musste sie hinunter. Als sie die schmale Holztür aufstieß und sich das Kleid glattstrich, wurde sie plötzlich unfreiwillige Zeugin eines Gespräches.

„Sie ist es nicht“, hörte sie die Stimme von Fräulein Bragge.

„Es braucht seine Zeit“, erwiderte Berta Habenicht, aber die Bragge widersprach ihr.

„Du hast dich getäuscht. Sie hat es einfach nicht.“

„Abwarten. So etwas kann sich noch entwickeln.“ Gebannt lauschte Lotte der Unterhaltung und starrte auf die Wohnungstür von Berta, ein halbes Stockwerk höher, denn die Schule war gleichzeitig Lehrerwohnung.

„Sie hatte ihre zwei Jahre“, sagte das Fräulein Bragge, „du hast in ihr Dinge gesehen, die sie nicht ausfüllt. Du hast sie protegiert. Aber sie ist es nicht.“

„Ihre Leistungen sind doch ausgezeichnet. Geradezu brillant“, hörte sie Berta Habenicht ärgerlich widersprechen. Der gekränkte Unterton ihrer sonst so gebieterischen Lehrerin verwirrte sie.

„Sie ist eine Mitmacherin, Berta, darin ist sie gut. Sie erbringt Höchstleistung, wenn man sie einfordert. Aber sie wird nie etwas von sich heraus kreieren. Sie ist keine Unternehmerin und das unterscheidet sie eindeutig von uns.“

„Warten wir es ab.“

„Sie wird niemals etwas von sich aus tun. Vielleicht ist sie zäh, aber viel zu brav. Nimm es endlich hin.“ Lotte hörte ein resigniertes Schnaufen, ein Geräusch an Berta Habenicht, das ihr fremd war. Wenn sie jetzt noch länger wartete, würde es nur peinlich werden. Geräuschvoll schloss sie die Tür zur Toilette und stiefelte laut die Treppe hinunter. Zwei überraschte Augenpaare musterten sie eindringlich. Der Befürchtung der Frauen, ob sie ihr Gespräch belauscht hätte, schmetterte sie ein fröhliches: „Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich nur etwas frisch gemacht!“ entgegen. Sofort entspannten sich die Gesichter und der gewohnt amtliche Ausdruck kehrte in ihre Mienen zurück. Die Bragge senkte den Kopf, Lieselotte schritt an ihr vorbei und Berta Habenicht schloss die Tür hinter ihnen. Das kurze Nicken verriet nichts mehr von dieser eigenartigen Resignation, die Lotte so verunsichert hatte.

Nun stand sie ein letztes Mal vor der Jury. Die fünf Gesichter wirkten maskenhaft. Im Schnurrbart des Landeskrüppelarztes verschwand ohnehin jede Regung. Der ältere Herr vom Amt putzte ausgiebig sein Monokel und schob es an den Platz zwischen Stirn und Wange zurück. Dorothea Bragge schrieb in steifer Haltung etwas auf. Nur die dunklen Augen des Fräulein Dorns musterten sie äußerst interessiert. Seit Irma Dorn vor zwei Tagen mit dem vollen Einsatz ihrer Pianistinnenhände ihre Tanzimprovisation gerettet hatte, sah Lotte sie in einem anderen Licht. Ihre Blicke trafen sich und sie spürte darin mehr als das reine Interesse an einer Schülerin, die auf ihr Ergebnis wartete. Warum schmunzelte Irma so? Betraf es ihre Note?

Eisern hielt sie dem Blick stand. Die Pianistin neigte den Kopf, lehnte sich zurück und lächelte noch breiter. Schnell blickte Lotte weg. Weshalb schwiegen alle so lange? War sie durchgefallen? Und was hatte das seltsame Gespräch im Hausflur zu bedeuten? Noch nie wollte sie eine „Unternehmerin“ werden. Oder war man das, sobald man Frauen in Gymnastik unterrichtete? Lieselottes Magen war so leer wie ihr Hirn, alle Gefühle hatte sie hinausgewürgt.

Endlich hüstelte Berta Habenicht. Die Prüfungskommission nahm umgehend Haltung an und Lotte hörte die Worte: „Mit Bravour bestanden!“ Tränen stiegen ihr in die Augen. Jedem schüttelt sie die Hand. Alle lächelten. Fräulein Dorn umschloss ihre Hand sogar und flüsterte anerkennend: „Meinen allerherzlichsten Glückwunsch!“ Dann durfte sie gehen. Kurz vor der Tür rief Berta Habenicht noch: „Fräulein Daube?“

„Ja?“

Routiniert ließ ihre Lehrerin die sekundenlange Stille wirken. Lotte wandte sich um. Es fiel ihr schwer, Berta Habenichts Blick standzuhalten. Sie schluckte. Diese Augen. Lag darin etwas Flehendes? Endlich nickte Berta Habenicht. „Wir sehen uns zwar noch zur Zeugnisausgabe, aber dennoch: Vergessen Sie bitte eines nie, Fräulein Daube: Alles ist eine Frage der Haltung.“

„Natürlich“, stieß sie verwirrt hervor. Aber Frau Habenicht war noch nicht fertig.

„Es ist nur sehr, sehr wenigen gegeben, in aufrechter Weise durchs Leben zu gehen.“

„Das weiß ich doch, Frau Habenicht.“ Noch einmal knickste sie.

„Und noch wichtiger ist es, das nie zu vergessen“, schloss Berta und entließ sie endlich. Lotte wandte sich ab und eilte hinaus. Ihre Schritte hallten durch den dunklen Hausflur, dann presste sie die Jugendstiltür aus Eiche auf und trat mit einem erlösten Seufzer ins Freie. Im Vorgarten überwältigte sie der Duft von Bärlauch und aufgebrochener Erde. Auf dem Hinweg hatte es geregnet, aber nun zeigten sich zerrissene Wolken am Frühlingshimmel und die milde Mittagssonne wärmte ihr das Gesicht. Sie schloss die Augen, richtete ihre Nasenspitze gen Himmel, breitete die Arme aus und sog die frische Luft tief in sich ein.

Endlich war sie eine anerkannte Gymnastiklehrerin.