Lou Andreas-Salomé: Rainer Maria Rilke

 

 

Lou Andreas-Salomé

Rainer Maria Rilke

Buch des Gedenkens

 

 

 

Lou Andreas-Salomé: Rainer Maria Rilke. Buch des Gedenkens

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Leonid Ossipowitsch Pasternak, Rilke in Moskau, 1928

 

ISBN 978-3-8430-8128-3

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9026-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9027-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Insel-Verlag, Leipzig 1928

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Nicht so ausschließlich, wie man oft meint, ist »Nachtrauer« rein gefühlsmäßiges Besetztsein: es ist mehr noch eine Unablässigkeit des Verkehrs mit dem Entschwundenen, als nähere er sich. Denn durch den Tod geschieht nicht bloß ein Unsichtbarwerden, sondern auch ein neues Insichtbarkeittreten; nicht nur wird hinweggeraubt, es wird auch auf eine nie erfahrene Weise hinzugetan. Von dem Geschehen an, das die fließenden Linien für unser Auge erstarren macht, an denen das ständige Wandeln und Wirken einer Gestalt sich äußerte, geht oft erst ihr Inbegriff in uns auf – dasjenige daran, zu dessen Total-Erfassung durch uns der zeitliche Daseinsablauf nicht still hielt.

Und dieser neue Vorgang findet statt als dasselbe unwillkürliche Miterlebnis wie zur Zeit des persönlichen Austausches, ergibt sich nicht aus absichtsvoller, trösten oder feiern wollender Gedankenanstrengung. Nicht einmal unterbrechbar durch die sich zwischenschiebenden Anlässe sonstiger Erlebnisse oder Eindrücke geht solche leidenschaftliche Inbesitznahme, solche noch nie ermöglichte Aufnahme vor sich: im Lauschen auf die Kunde, die vom Verstummten anhebt – »das Wehende höre! die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.«

So ist es mir gewesen beim Jahreswechsel von 1926 auf 27, den Rainer Maria Rilke den »drohend wehenden« nannte im Brief vom Sterbebett. Gering ward da der bestürzende Unterschied zwischen Überleben und Sterben. Unwiderstehlich drängte sich da ins Wissen, wie ganz aller Verkehr in der Gewalt unserer Hinwendung besteht: sind sie doch alle, und die Geliebtesten zumeist, ihrerseits stets schon Zeichen und Bilder frühester Liebeshinwendungen, an denen wir lieben gelernt, ehe sie selbst vielleicht lebten – – so, wie östliche Wolkengebilde vom Sonnenuntergang am Westhimmel erglänzen. Und wenig nur wissen wir zeitlebens davon, womit wir am strahlendsten – so daß es zu leuchten nicht aufhören kann – verbunden sind. Geliebtes gibt es, das im Sarge ruhen bleibt, vielleicht am trauerndsten beweint um sein Totsein; und anderes gibt es, das jeglichem, was uns sich noch ereignen mag, lebendig antwortet, in Zwiesprache, als würde es selber daran immer erneute Wirklichkeit, weil sie das anrührt, was uns mit Tod und Leben ewig zusammenschließt.

 

Wenn man aufschlägt, was, etwa um die Mitte der neunziger Jahre, von René Maria Rilke an Produktionen bereits vorlag – also »Larenopfer«, »Traumgekrönt«, Gedichte aus den von ihm selbst redigierten »Wegwarten«-Heften, endlich noch ein paar Novellen, die nicht bewahrt worden sind –, dann kann man sich dem Eindruck nicht ganz entziehen, als habe von vornherein eine Bezogenheit zwischen dem Dichter und dem Tod bestanden. Die Todesnähe der Dinge, die er besingt, ihr Hineinheben ins Zarte, Vergängliche, Hinfällige, scheint sie ihm erst poesiereif zu machen. Sterbend hauchen sie Schönheit aus als ihren Anteil an der Ewigkeit, und dementsprechend ist der Ton, der von ihnen zu uns spricht, ein leiser, überschwenglich zarter, hie und da von fast unbegreiflicher Musikalität, hie und da doch auch das Sentimentale streifend. Aber ein Mißverständnis liegt dabei ganz nahe, und es hat Rilkesche Poesie oft und oft in eine falsche Romantik gerückt; denn der da sang, meinte schon früh, schon von Beginn an, mit dem Hinweis auf das Sterbliche nicht den Tod, sondern das Leben, ihm war Poesie diejenige Wirklichkeit, worin beides eins ist; und nur weil die grobgesunden Dinge solche Zumutung, mit dem Tode etwas zu tun zu haben, ablehnen, darum hielt er sich unter denen auf, die schon etwas davon erfuhren, zwischen denen er an einer Grenze entlang gehen konnte, auf der die armen, unzulänglichen Worte von »Tod« und »Leben« sich vertauschen konnten. Nie war es der Ehrgeiz dieses ganz und gar zur Lebensdichtung geborenen Dichters, dem Tod poetisch zu schmeicheln, nichts wollte er, als irgendwann einmal auch noch am Gröbsten und aller Zartheit Verschlossensten das, was ihm Wirklichkeit hieß, zur Sprache zu bringen. Poesie konnte nichts sein als dies Wirklichkeitserlebnis in ihm, zusammengedrängt in Worte, die dann als Beschwörungen sich verlautbaren würden – Sein, nicht Laut. Denn, wie paradox sichs auch anhören mag, möchte ich doch schon hier vorwegnehmend behaupten: irgendwo war dieser Dichter des Überzartesten robust. Irgendwo hätte es ihm am ehesten entsprochen, mit kürzestem Vorstoß darzutun, daß, biblisch geredet, das Himmelreich der Gewaltigen ist, derer, die es nicht erst erwarten, sondern schon in sich erobert haben, die nur vom »Einen, was not tut«, wissen, unverbrüchlich und unbeirrbar, und denen Tod und Leben darum nicht in ein Zweierlei auseinanderfällt. Dieses schwer zu schildernde – man könnte es fast nennen: – Entwicklungslose, von allmählicher, zu erhoffender Entwicklung gar nicht erst Abhängige, dies Gegenwärtige und sichtbarlich »Vorhandene« in ihm, machte den unsinnlichen Zauber seiner Jünglingshaftigkeit aus.

Es erklärt auch, warum er schon am Beginn seiner zwanziger Jahre sich nicht mit weitreichenden Lebensplänen trug, mit ungeduldigem Verlangen nach der Erfahrungsfülle, die draußen seiner harren mochte, in »dem roten Gewaltsamen, das so Viele das Leben heißen«, wie er in einem der ältesten Briefe vermerkt. Nur nicht in »Stückwerk zerren« lassen, was, in Sicherheit und Geschlossenheit, ihm innerlich anvertraut war, sondern, wenn möglich, damit »unter ein Dach treten«, so war er gesonnen, ohne sich für sich selbst zaghaft zu fühlen. Er war wie jemand, der in beiden Händen, vorsichtig und ehrfürchtig, ein kostbares Gefäß trägt und vermeidet, was es schwanken machen, dran stoßen kann, denn von außen her könnte dergleichen ohne sein Zutun geschehen: nach außen ist er ungesichert. Genauer ausgedrückt: er ist es letzten Endes in seiner Körperlichkeit – in dem Geschehen, das sich, unabreißlich, als letztes Außen ihm selbst einheftet, festhaftet an ihm, auf keinerlei Weise sich restlos ins innige und innerliche Erlebnis aufheben läßt. Es ist kein Zweifel, daß ihm die Befürchtungen, bezogen auf sein leibliches Befinden immer zu schwer zu schaffen machten; »ich werde ohnehin bald zu liegen kommen – sei's Herz oder Lunge«, war eine seiner frühesten Äußerungen an mich, obgleich er, und anscheinend durchaus mit Recht, für völlig gesund galt. Fragte man ihn aber darüber aus, so äußerte er sich oftmals so, als habe er in diesem Punkt bereits Erfahrungen und Gründe zu jedem Argwohn hinter sich: nur waren es solche vor aller Erfahrung, wie in einer Vergangenheit zurückliegend, die sich nicht mehr erinnern läßt und die dennoch alle seine Erinnerungen düster stempelten. Als sei er in eine Welt hineingeboren worden, vor eine noch halbfeindlich zuwartende Außenwelt geschoben – dadurch unsicher seinem eigenen Körper gegenüber: dem Schauplatz, wo Außen und Innen zusammengeraten und sich darauf einigen müssen, als eine Dasselbigkeit aufzutreten. Wobei ungünstig mitwirken mochte, daß seine Mutter ihn zum Ersatz für ein vor seiner Geburt verstorbenes Töchterchen zu einer kleinen Renée umzuwandeln bestrebt war.

In der Kindheit scheint sein Gefühl ab und zu zwischen den Eltern geschwankt zu haben, die, miteinander in Streit und Trennung, den kleinen Knaben zwischen sich hin und her schoben. Dann gewann der steifere, strengere Vater das Übergewicht dauernd, tat aber auch nicht gut, als er seinen Sohn zur strammeren Erziehung der Kadettenanstalt von St. Pölten überwies. Diese Zeit hat für immer seine schwersten, ja in mancher Hinsicht schaurigsten Erinnerungen umfaßt. Halbwüchsig entfloh er der Militärschule, nicht ohne derb-abenteuerliche Nebenumstände, und errang dann, zu Hause in Prag, die Erlaubnis, sein Abiturium nachzuholen. Diesen Beschluß dankte er einem Onkel, Bruder des Vaters, der auch die Mittel für den erforderlichen Privatunterricht dazu hergab. Von dem Onkel, einem Rechtsanwalt, soviel ich weiß, scheint der einzige günstige Einfluß auf den Knaben ausgegangen zu sein; zu ihm gewann er Zutrauen, als er des Onkels Zweifel, ob er auch Stich halten werde, vor seinem Fleiß schwinden sah, und lebhaft wurde der Wunsch in ihm, ein ebenso tüchtiger Mann zu werden – wenn auch nicht als Jurist, sondern als Landarzt.

Sogar noch des Onkels Tod (der lange Jahre vor dem des Vaters erfolgte) umgab er mit besonderer Ehrfurcht; anscheinend erlag der Starke, Wohlbeleibte, einem Schlagfluß; ihm jedoch war er so mächtig gesund vorgekommen, daß ihm schien, der Onkel habe die Gesundheit wohl nur selbst gleichsam überrennen, den Tod zur ihm genehmen Zeit zulassen können, was sich etwa so ansah: als sei er an der eigenen Blutmenge geplatzt. Zum erstenmal taucht hier, an einer kindlichen Phantasie, die Vorstellung vom »eigenen Tode« auf, die im »Malte Laurids Brigge« eine so große Bedeutung gewinnen sollte. Der Tod, der rechte, als Lebensausweis, als Selbstbestätigung, der Tod, ein nur zugehöriger Zug im Mienenspiel des Lebens, kein Zum-Verfall-Bringen nur, ebenso ein Zum-Ausdruck-Bringen.

So mußte sich des Todes Bedeutung auch völlig in den Gegensatz umdrehen können, in die Freiheit von dem, womit körperliches Erleben und Erleiden droht, bis die üblichen Begriffe wirklich füreinander stehen. Im »Stundenbuch« befindet sich ein Gedicht, der »Stimme eines jungen Bruders« zugeschrieben, das gewissermaßen des Dichters damaliges jugendliches Selbst zum Verfasser hat:

 

»Ich verrinne, ich verrinne

wie Sand, der durch Finger rinnt.

Ich habe auf einmal so viele Sinne,

die alle anders durstig sind.

Ich fühle mich an hundert Stellen

schwellen und schmerzen.

Aber am meisten mitten im Herzen.

 

Ich möchte sterben. Laß mich allein.

Ich glaube es wird mir gelingen,

so bange zu sein,

daß mir die Pulse zerspringen.«

 

Ein anderes Gedicht, mit allerlei Anklängen an später entstandene, enthält die gleiche Doppeleinstellung zum Tod wie zum Sinnbild des eigentlichen Lebens, an das es sich richtet:

 

»Ich steh im Finstern und wie erblindet,

weil sich zu Dir mein Blick nicht mehr findet.

Der Tage irres Gedränge ist

ein Vorhang mir nur, dahinter Du bist.

Ich starre drauf hin, ob er sich nicht hebt,

der Vorhang, dahinter mein Leben lebt,

meines Lebens Gehalt, meines Lebens Gebot –

und doch mein Tod –«.

 

Wo Außerordentliches nach Lebensgestaltung drängt, da bedarf es kaum erst der Einzelenttäuschungen, um zu enttäuschen, da genügt schon die Bedingtheit des menschlichen Daseins an sich, damit dieses vor den großen innern Ansprüchen versage. Während das durchschnittliche Menschenschicksal sich zu allmählicher Anpassung ausgleicht, kommt es beim außerordentlichen zur Fragwürdigkeit des Lebens selber, sei es, daß hinterher irgendein Grundgeschehnis dafür verantwortlich gemacht wird, sei es, daß es sich dem Urteil in ein zusammenfassendes Gleichnis kleidet, das die empfundene Problematik nicht mehr ins Harmlosere lösen läßt. Für Rilke gab es eine Art von Gleichnis, ein Sinnbild, worin, wie ein mitgegebenes Fatum, seine eingeborene Lebenslage sich ihm gewaltsam veranschaulichte; am genauesten verdeutlicht es vielleicht einer seiner frühesten Knabenträume, der von Zeit zu Zeit wiederkehrte. Ihm träumte dann, er läge neben einer aufgerissenen Gruft, in die ihn ein dicht vor ihm hoch aufgerichteter Grabstein bei der geringsten Bewegung hinabzustürzen drohte. Der eigentliche Angstschauer dabei aber war, daß der steile Stein bereits seinen Namen eingegraben trug, so daß er nun für ihn selber genommen würde, wenn er in der Gruft für immer unter ihm verschwände. Als Albdruck und in fieberhaftem Halbwachen quälte ihn dieses Bild, das er auch brieflich einmal erwähnt: Paris, am letzten Juni 1903.

»Fern in meiner Kindheit, in den großen Fiebern ihrer Krankheiten, standen große unbeschreibliche Ängste auf, Ängste wie vor etwas zu Großem, zu Hartem, zu Nahem, tiefe unsägliche Ängste, deren ich mich erinnere; – –«.

Die Art und Weise, wie er von Körperzuständen sprach, von Befremdungen und Beklemmungen durch sie, mahnte in irgend etwas an diesen Traum; es mahnte an eine gewalttätige Forderung, zwei unvereinbare Lagen in eine zusammenzuziehen, das Aufgerichtete und das Versenkte zu sein, unter der gleichen Namengebung; zur Vernichtung ins erstickend Weiche der Erde gebettet, und, sie steinern überragend, als Wahrzeichen des Unvernichtbaren, des Gedenkmals. Man begegnet ähnlichen Traumängsten, einem ähnlichen Miteinander von Erleiden und Vergewaltigen, manchmal bei Knaben zur Zeit der Mannbarkeit, ehe sie ihr eigenes Geschlecht in ihr eigenes Ich voll einbezogen haben, seinen leiblichen Äußerungen als ihnen vertraut gewordenen gegenüberstehen. Aber selbst, wo dieses Gefühl von beirrender Doppelgeschlechtlichkeit noch lange nachwirkt, wird es doch von der Körperreife überwunden, es kommt am Gegengeschlecht meistens zur Korrektur; die erotische Partnerschaft bringt die Wohltat eindeutigerer Wesensfestigung. Bei dem Menschen mit vorherrschendem Durchbruch schöpferischer Anlagen ist das nicht ebenso selbstverständlich; die natürliche körperliche Ausreifung findet daran eine gefährliche Nebenbuhlerschaft, sie sieht – in den verschiedensten Graden der Verteilung – ihre Kraft in Anspruch genommen von der Richtung ins Werkhafte anstatt ins real Partnerische. Auf Kompromiß angewiesen, ergibt sie dennoch eine um so stärkere Benommenheit durch die körperlichen Vorgänge; die unwillig darauf gerichtete Aufmerksamkeit veranlaßt den Körper zu lauter Unlustkundgebungen, die ebenso viele zurückgetriebene Lustsehnsüchte sind und dadurch Schwermut über ihn breiten, hypochondrische Überempfindlichkeiten hervortreiben.

Diese Gefahr nimmt aber nicht ab, wie im durchschnittlichen Normalfall, sondern kann leicht sich steigern in dem Maße, wie der reifende Mensch zum Schaffenden, im Sinn des Werkes, wird – was recht eigentlich heißt: schmarotzen am persönlichen Wohl, sich vampirhaft gegen das benehmen, was den körperlichen Zusammenschluß am unmittelbarsten verbürgt. Für Rilke wurde seine Körperlichkeit mehr und mehr der Leidträger für alles, der fragwürdige Punkt, obgleich ihn ihm selbst keine Spur von asketischen Neigungen vorhanden war, sondern jene volle Freude an allem Sinnlichen, Sinnenfälligen, die der Künstler gar nicht entbehren kann. (»Freude umzusetzen, das ist ja Zweck aller Kunst-Arbeit«; Brief vom 23. Nov. 1905). Aber daß das Leibliche beim Schaffensglück nicht mittat, verstörte ihn je länger, je mehr, es enthielt ihm die Eindeutigkeit und Einheitlichkeit vor, nach der allein alles in ihm verlangte. Was anfangs von ihm noch als ein von außen Widerfahrendes empfunden wurde, als aufgedrungener Verzicht, das wird nach vielen Jahren endlich zu allerlei Mißtrauen wider sich selbst, wenn jeder Aufschwung sich durch um so anhaltendere Übermüdbarkeit rächte, ihm in den Pausen mit Beschwerden zusetzte, anstatt ihm durch die Pause Erholung und Kräftesammlung zu gönnen. Deshalb sieht er später auf diese Jünglingsjahre sehnsuchtsvoll zurück wie auf nicht mehr einholbar Schönes:

Eines