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Für Susanne

Zu größtem Dank verpflichtet bin ich zudem meinen Kindern Becky und Jakob für ihre Geduld, mit der sie mich im Schaffenswahn ertrugen, meiner Schwiegermutter, Künstlerin und Malerin Mechthild Bollow für die Schöpfung des Covers, meinem hoffentlich zukünftigen Schwiegersohn Markus Schoenberger für die technische Hilfe sowie meinen Lektoren Susann Harden, Susanne Hesse, Carsten Stark und Michael Meyer.

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Peter Meyer, Jahrgang 1962, wuchs in Hamburg auf. Nach einem kurzen Intermezzo auf See wurde er im Alter von 17 Jahren Polizist in seiner Heimatstadt. Es folgten unruhige Lebensabschnitte, die ihn über die berittene Polizei in Stuttgart und vier weitere Jahre als Betriebsleiter eines landwirtschaftlichen Betriebes in Hessen wieder zurück nach Hamburg führten. Dort ist er weiterhin als Polizeibeamter tätig.

Der Autor ist verheiratet, hat fünf Kinder und ein Enkelkind und lebt mit seiner Familie an der nördlichen Peripherie Hamburgs. Von ihm ist bereits 2007 der Thriller „Sonderrechte zugelassen“ erschienen.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

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(Erstes Kapitel)

… ‚Und ich, ich bin’s, der all dies Elend schuf! Ha! Welcher Sünden, welch Frevels Schuld muss dieses Torenhaupt seit Ewigkeiten belasten, die keine Buße, keine Sühne der Blindheit mich entwindet, zur Rettung selbst ich auserkoren, in Irrnis wild verloren der Rettung letzter Pfad mir schwindet! ‘ – Aufatmend ersetzt er den Taktstock dumpf intonierter Erinnerungen durch eine hastig zwischen die Lippen gesteckte Zigarette. Gut, dass sein Singsang keine Zeugen hatte. Grandiose Idee, ausgerechnet diesen Platz zum Treffpunkt zu bestimmen! Verdüstert lässt er den Blick über das ausgeglühte Fassadengerippe des Opernhauses schweifen. Zerbrochene Erinnerungen, so weit das Auge reicht. Geschaffen im Spätsommer ’dreiundvierzig. Vor sechzehn Monaten. Als wenn’s gestern gewesen wäre. – Brünett statt blond. Knabenhafte Figur, statt … das wird er sich selbst gedanklich schenken. Warme, braune Augen. Bereits im Zug konstatiert. Gleich nachdem sie in Danzig zugestiegen war. Ein schmallippiger Mund. Unvermutet reinen Klängen mächtig. Die schrillen Töne mögen später geklungen haben. Wenn auch müßige und im Entsorgen des halben Dutzends ungelesener Briefe längst ledig geglaubte Spekulation. Effi aus Greifswald war zu vertrauensselig! Zu spontan! Schon, als sie hier standen. Er, von den keuschen Klängen der Gralssage berauscht, einmal mehr wild entschlossen, nicht länger als unreiner Tor zu leben. Sie in variierender Vergötterung seines frisch erworbenen, dritten breiten Kolbenringes1 und eines ebenso jungfräulich auf der rechten Brust prangenden Deutschen Kreuzes in Silber an ihn geschmiegt. In aller Öffentlichkeit. Unter einem glühenden Himmel, der seine Hitze in die folgenden Nächte trug. Bis ihn die Hitze erkältete. Aus und vorbei nach sieben Tagen. Die Oper hat’s auch hinter sich. Acht Wochen nach Parsifal krachend geschlossen, haben die Engländer mit ihren Bomben stante pede für ein Ende aller Theateraufführungen in Berlin gesorgt. Ist eben so eine Sache, aus dem einst reinen Quell deutscher Geistesgröße einen runengeschmückten Siegfried auftauchen zu lassen. Vor Jahren schon. Auf einem echten Pferd natürlich. Den Arm zum Deutschen Gruß gereckt. Wer damit den Zeitgenossen die Tempeltür weist, muss sich nicht wundern, wenn’s auf die Kultstätten derartiger Austreibungsrituale Bomben hagelt. Ob Herrn Air-Marschall bei der Zielfestlegung damals solche Gedanken getrieben haben mögen? Wie’s ausschaut, hat der Mann bald Gelegenheit, seine Memoiren zu schreiben. Und er die Zeit, Betreffende zu lesen.

Angewidert lässt er die Zigarette fallen. Deutschland ist zum zweiten Mal im Arsch. Fäkale Götterdämmerungsstimmung allerorten und nette Reminiszenz an sein verstohlenes Urinabschlagen vorhin, gleich nach Entsteigen der Admiralslimousine. Diesmal spült es sie alle ins Klo. Vor sechsundzwanzig Jahren wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, auf zertrümmerte Erinnerungen zu pissen. Ungeduldig, und bestimmt zum zehnten Mal, blickt er zur Uhr. Um Neun waren sie verabredet. Jetzt ist’s halb Zehn! Lässt ihn der Herr zum Eiszapfen gefrieren und überdies: Auch, wenn die Tommys auf ihrer Insel gerade erst mit gefüllten Bombenschächten zum Start rollen mögen; er hat keine Lust abzuwarten, ob man der Einladung eines wolkenlosen Berliner Nachthimmels nachzukommen gedenkt. Eine Nacht im Bunker wäre das Letzte nach diesem beschissenen Tag.

Schritte klappern über das vereiste Trottoir der Bismarckstraße. Aus Richtung der Siegessäule nähert sich eine mit jeweils zweieinhalb mondlichtilluminierten Ärmelstreifen bestickte Marineuniform.

„Wo hast du gesteckt?“, schnauzt er.

„Hab’ mich verschätzt“, schnauft der Ankömmling und gleicherweise ihm seit zwölf Monaten unterstellte Kapitänleutnant2 Ludger Vermehren.

„Quartier organisiert?“, will er wissen.

„’türlich! Vierzimmerwohnung ganz in der Nähe. Mit Telefon“, nickt Vermehren.

„Wir haben die Wohnung für uns?“, vergewissert er sich.

„Sozusagen“, repliziert Vermehren sybillinisch.

„Wie soll ich das verstehen?“

„Erklär’ ich dir schon noch.“

„Dann los! Frier gleich an hier.“

„Hast du mal ’ne Zigarette?“, bremst sein Gegenüber.

„Wie kommst du? – Ach so.“

Vermehren seufzt geziert und hebt den Blick vom halben Dutzend herumliegender Zigarettenstummel. „Stille Wasser sind doch ganz schön tief.“

„Blödsinn“, verwahrt er sich. „Hatte mal wieder Lust darauf“

„Ach ja?“, flötet Vermehren. „Doch wohl eher mit dieser Ruine verhaftete Erinnerungen, die dich rückfällig werden ließen, könnte ich wetten.“ Er beschränkt sich darauf, Vermehren die Zigarettenpackung in die Hand zu drücken.

„Wie war die Besprechung?“, entledigt sich dieser zunächst der Handschuhe und stößt alsbald den inhalierten Rauch mit einer übertriebenen Kopfbewegung in die eisige Luft.

„Später“, wehrt er ab. „Haben morgen früh Termin. Zehn Uhr. Beim Großen Löwen persönlich. Werden von einem Fahrer nach Lanke chauffiert. Der Mann sollte wissen, wo er uns aufgabeln soll.“

„Ich soll mit?“, fragt Vermehren ungläubig.

„Allerdings!“

„Da ist ja ‘n Ding! Audienz bei Dönitz persönlich. Alle Achtung!“

„Können wir …?“

„Noch einen zur Brust nehmen?“, zwinkert Vermehren. „Kenne da ein Lokal. Ganz in der Nähe. Nach allen Regeln der Kunst verbunkert. Selbst, wenn’s heut Nacht noch einen Angriff geben sollte. Besser als jeder Luftschutzkeller, sage ich dir. Und was das Publikum angeht …“

„Bin ich im Bilde“, fällt er dem Sprecher ins Wort. „Verzichte.“

„Spielverderber“, mault Vermehren.

Folgerichtig wandern sie alsdann durch verdunkelte Schluchten eng aneinander gerückter, mehrfach von Trümmerbergen durchbrochener Häuserzeilen. Kein Mensch ist unterwegs. Selbst während seiner einstündigen Wartezeit haben ihn gerade einmal drei Automobile sowie ein halbes Dutzend fadenscheinige Gestalten passiert. Noch vor sechzehn Monaten war hier Leben und Licht. Nun scheinen die Terrorangriffe auch den unverwüstlichen Berliner Esprit in die Knie gezwungen zu haben. Wenn auch die Berliner Schnauze nicht tot zu kriegen ist; das, was heute Morgen auf dem Bahnsteig zu hören war, klang schnippisch. Streitsüchtig grundiert. Sein Gedankenfaden wird vom breiten Asphaltband einer Straße durchschnitten.

„Ist’s noch weit?“, fragt er.

„Nee“, muffelt Vermehren.

„Wem gehört die Wohnung eigentlich?“

„Meiner Schwägerin.“

„Der Schwägerin?!“

„Hab’ nur die eine, Verehrtester.“

Die nunmehr durchschrittene Gasse mündet in einen gepflasterten Platz, auf dem die Umrisse einer Kirche frosten.

Vermehren stoppt abrupt und zückt die Zigarettenschachtel. „Die also dem Umfeld des Führers entstammende Dame“, beendet er das seitens Vermehrens umständlich ausgestikulierte Anzünden des Glimmstengels.

Es braucht die ganze Zigarettenlänge, bis Vermehren den aufzischenden Stummel mit energischen Fußbewegungen unter der Schuhsohle zerdrückt und Blickkontakt aufnimmt. „Korrigiere mich, aber du hast sie, glaub’ ich, nie kennengelernt?“

„Bislang hast du es vermieden, die Dame auch nur zu erwähnen.“

„So?“, wundert sich Vermehren. „Hatte meine Gründe. War lange Zeit abgemeldet, weißt du.“

„War?“

„Ist wieder im Geschäft, das Mädchen.“

„Das Mädchen ist fünfzehn Jahre älter als du.“

„Kompliment, der Herr“, lobt Vermehren. „Dein Zahlengedächtnis – alle Achtung.“

„Der Jahrgang Null ist nicht schwer zu behalten.“

„Wart’ ab, bis du sie kennen lernst.“

„Sie ist nicht zufällig attraktiv?“

Vermehren schnalzt mit der Zunge. „Wär’ gar nicht unmöglich, dass sie noch auftaucht.“

„Mir wird allmählich klar, womit du dir heute die Zeit vertrieben hast.“

„Die Dame macht noch nicht mal für’n Führer die Beine breit.“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Ist nebenbei auch Ilsas Meinung.“

„Deine Frau weiß noch nicht mal, wer deinen Pimmel … was soll’s“, resigniert er.

„Meine Schwägerin nicht“, beteuert Vermehren. „Auf Ehre.“

„Rückt aber so mir nichts, dir nichts ihren Wohnungsschlüssel raus?“

„Lass uns weitergehen“, winkt Vermehren ab. „Ist viel zu kalt, um rumzupalavern.“

Er bezähmt sich, bis sie der Kirchenschatten eingesogen hat. „Wenn du dich nicht gleich erklärst, such’ ich mir eine Wehrmachtsunterkunft.“

„Hatte schon seinen Sinn, als ich dich heut morgen um Dispens von der beschissenen Sitzung ersuchte.“ Vermehren blickt stur geradeaus. „Hab‘ nämlich ’nen kuriosen Tag hinter mir. Gestern Nachmittag ging’s los. In Danzig. In der Kommandantur. Du warst schon zum Bahnhof unterwegs, drückt mir ein flachsblonder Jüngling, Obersteuermann3 seines Zeichens, ’nen Zettel in die Hand. Mit einer Telefonnummer drauf und der Weisung, die Klappe zu halten.“

„Was du hinbekommen hast“, meint er.

„Und du gleich verstehen wirst. Ich ruf’ also heute Morgen die Nummer an. Rat’ mal, wer abgenommen hat?“

„Sag schon.“

„Meine Schwägerin“, trumpft Vermehren auf. „Wollte wissen, ob wir Quartier haben. ‚Nee’, sage ich. ‚Das bislang Genutzte sei zerschmissen’. ‚Deine Gesellschaft vorausgesetzt, würde sie mir ihre Wohnung zur Verfügung stellen’, sagt sie. Was hättest du gemacht?“

„Meine Gesellschaft?“, hakt er nach.

„Allerdings“, bestätigt Vermehren. „Kommt aber noch besser: ‚Ob ich mir den Tag frei nehmen könnte’, fragt sie. ‚Warum?’, frage ich. ‚Zum einen zwecks Abholung des Schlüssels’, und nun kommt’s: ‚Um meine Ehe zu retten’.“

„Was hat die Frau mit deiner …?“

„ ’ne ganze Menge.“ Vermehren seufzt. „Ist nicht grade begeistert von mir, die Dame. Und Ilsa hört auf die große Schwester.“

„Dass eure Ehe den Bach runter geht, wenn du so weiter machst, hab‘ ich dir schon hundertmal gesagt!“, pflichtet er bei. „Wie ging’s weiter?“

„Ilsa sei in der Stadt, eröffnete mir meine Schwägerin“, antwortet Vermehren.

„Würde mit mir reden wollen. In punkto Eherettung und so. Ich ließe mich ja nicht mehr blicken. Wehrmachtsunterkünfte seien rar. Als Äquivalent meiner Bemühungen, deine Gesellschaft vorausgesetzt, würde sie mir ihre Wohnung zur Verfügung stellen. Und, das Beste zum Schluss, möglicherweise noch vorbei kommen. Nicht wegen mir“, unterbindet der Sprecher die ihm seinerseits bereits auf der Zunge liegende Bemerkung.

„Wie war das?“, plappert Vermehren weiter:„ ‚Würde mich freuen, Herrn Korvettenkapitän4 von Putlitz persönlich kennen lernen zu dürfen’. Zitat Ende.“

„Dahinten. Die Brücke.“ Seinerseits aus dem Bedürfnis nach Gedankenordnung ausgesprochen und sogleich von Vermehren durchschaut: „Ist die Spree. Sind gleich da. Nun frag schon.“

„Antworte lieber gleich.“

„Ilsa“, versetzt Vermehren ernsthaft, „schwärmt von dir, mein Freund. Nicht nur vor meinen Ohren, die du mir im Verein mit meiner Schwägerin eventuell noch heute Abend rubbeln sollst. Noch nicht gemerkt, welchen Eindruck du auf meine Gattin …?“

„Hör auf! Hast du dich mit Ilsa getroffen?“

„Allerdings“, nickt Vermehren. „Zuerst ein elend langer Spaziergang durch den Tiergarten. Dann ein Hotelzimmer ‚Unter den Linden’. Romantisch, sag’ ich dir.“

„Und?“

„Erwin“, amüsiert sich Vermehren. „Versöhnung vollzogen. Bis auf weiteres jedenfalls. Zuletzt im Bett.“

„Und deine Schwägerin?“

„War nicht im Bett.“

Das Erreichen des Ufers, mithin einer direkt am Spreekanal verlaufenden Straße, enthebt ihn der fälligen Antwort.

„Nach links“, bedeutet ihm Vermehren und setzt, indes sie die Straßenseite wechseln, fidel hinzu: „Ilsa hat mich noch im Bett – pardon – im Hotel verabschiedet. Dürfte bereits im Zug sitzen.“

„Wie bist du an den Schlüssel deiner Schwägerin geraten?“, will er wissen.

„Hab’ das Ding vom Pförtner des Reichsführers in die Hand gedrückt bekommen“, antwortet Vermehren leichthin. „Untersturmführer5 seines Zeichens, der Lakai. Bin von dem Mann mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden!“

Er ist bereits bei den ersten Worten Vermehrens stehen geblieben und fixiert den Sprecher aus der Distanz. „Lass uns eine Wehrmachtsunterkunft suchen.“

„Bist du irre?“, protestiert Vermehren. „’ne bessere Unterkunft finden wir in der ganzen Stadt nicht.“

„Dafür eine, die keiner indoktrinierten Nazi-Zicke gehört. Mit Verbindungen zum Reichsführer6 der SS.“

Vermehren grinst schon wieder; im Mondlicht nicht zu übersehen. „Du bist doch viel zu neugierig auf die Frau.“

„Nicht auf die Wohnung der Dame.“

„Ich werd’ ganz sicher hier übernachten“, beharrt Vermehren. „Willst du sie enttäuschen?“

„Idiot“, kapituliert er und schließt zu Vermehren auf, der nach weiteren fünfzig Schritten abschwenkt und unter den Stuckbögen eines mehrgeschossigen Eckhauses mit Front zum Fluss verhält.

„Moment.“, unterbindet er Vermehrens in den Tiefen seiner Manteltaschen angestellte Schlüsselsuche.

„Was denn noch?“, seufzt der.

„Warst du schon mal hier?“

„Exklusiv in Ilsas Gesellschaft. Zufrieden?“

„Schließ auf.“

Im Durchtasten des streng verdunkelten Treppenflurs schnüffelt Vermehren lautstark.

„Was ist?“, fragt er.

„Riechst du es nicht?“, fragt Vermehren zurück.

„Lavendel“, konstatiert er nach einer entsprechenden Atemübung.

Im Schein einer Streichholzflamme funzelt Vermehrens entgeisterte Visage herüber. „Ilsas Parfüm!“

„Seit wann?“

„Seit vorhin auf jeden Fall.“

„Ich denke, sie sitzt im Zug?“

„Hab’ ich auch gedacht.“

Das Zündholz erlischt.

„Deine Schwägerin?“, mutmaßt er ins Dunkel.

„Nee!“, tönt Vermehrens Stimme. „Wie du dich gleich überzeugen …“

„Wie auch immer. Wer auch immer.“, unterbricht er den Sprecher. „War deine Idee. Nun los.“

Derweil sie sich über knarrende Holzstufen diverse Stockwerke emportasten, bewahrt Vermehren verbissenes Schweigen und legt, im obersten Stockwerk angelangt, zunächst ein Ohr an die einzige Tür.

„Nichts zu hören“, brummt der Kapitänleutnant. „Sie wohnt hier übrigens nicht unter ihrem richtigen Namen.“

„Wie unschwer zu lesen ist“, löst er gleicherweise den ertappten Blick vom Klingeltableau.

„Leuchte mir mal“, bittet Vermehren.

„Keiner zu Hause?“, fragt er noch, bevor das Zündholz erlischt und ihm der entgegenbrechende Duft jedes weitere Wort von den Lippen reißt. Unzweifelhaft die süßliche Ausdünstung erkalteten, türkischen Tabakrauches. Seine bevorzugte Marke! Nicht pur, sondern basisch von Ambra- oder Zibetduft unterlegt; zudem von einer weiteren, balsamisch holzigen Note durchmischt. Er tippt auf Patchouli.

Vermehren, ein im Zündholzgeflacker grotesk tanzender Schattenriss, steht mittlerweile bereits im Flur.

„Scheint niemand da zu sein“, konstatiert der Kapitänleutnant. „Das Zimmer liegt am Ende des Flures. Wenn du auf dem Tisch eine Kerze findest, zünde sie schon mal an. Ich hol’ noch Wein aus der Küche.“

„Warum machst du kein Licht?“

„Weil die Vorhänge nicht zugezogen sind“, erwidert Vermehren. „Macht sie nie, wenn sie nicht da ist. Bestandteil eines Nachrichtencodes, der Besucher davon abhält, unnütz zu klingeln. Bin nie ganz dahinter gestiegen.“

Widerstrebend tappt er hinter Vermehren her; tastet sich über knarrende Holzbohlen durch einen Tunnel, der mit jedem Schritt neue Duftschwaden gebiert. Vermehren schwenkt nach links ab, nicht ohne ihm mit einer nochmaligen Handbewegung zu bedeuten, die eingeschlagene Richtung beizubehalten. Er folgt dem Wink, indes sich der Duft noch verstärkt, und wurzelt alsbald auf der Türschwelle eines überheizten Zimmers mit Fenstern zum Fluss.

Die Vorhänge sind tatsächlich zurückgezogen, wodurch die Umrisse des Interieurs im Widerschein des Flusseises silhouettenhaft hervortreten. Vom Öffnen der Zimmertür in helle Aufregung versetzt, beginnt das um eine weitere, ledrig aromatische Nuance bereicherte Duftbouquet zu kreisen.

Der Schmerzreiz des zwischen den Fingern verknisternden Zündholzes löst den Bann; im Schein des nächsten entdeckt er die von Vermehren angesprochene Kerze, tritt zögerlich vor und hält, nachdem die Kerze brennt, unruhig Umschau.

In der Zimmermitte gruppieren sich zwei Ledersessel um die kreisrunde Marmorplatte eines niedrigen Tischchens. Von einem Musikschrank zur Rechten überhöht. Zur Linken erhebt sich ein mannshohes Büchergestell. Vor der Fensterfront dauert ein Sekretär im Biedermeierstil. Daneben die Krönung: Der Kopf ihres Führers! Aus irgendeinem Metall geformt und gleicherweise Endstück eines aufwendig gedrechselten Postaments. Widerwärtig vom Glorienschein eines mittlerweile aus dem Flur fallenden Lichtschimmers umgeben. Ekelhaft!

„Hast du was gesagt?“, insistiert Vermehren aus dem Flur.

„Nonsens!“

„Die Kerze gefunden?“, fragt Vermehren.

„En passant!“

„Zieh die Vorhänge zu! Bin noch mal auf dem Klo!“

„Gute Verrichtung!“

Vermehren murmelt Unverständliches, indes er, Schweiß auf der Stirn, zusieht, Mantel und Uniformjacke vom Leib zu kriegen. Anschließend sucht er Ablenkung in einer komplett vorhandenen Enzyklopädie griechischrömischer Geschichte. Werke von Ovid, Platon und Vergil flimmern ihm entgegen. Pytheas, Aristoteles. Ein Bücherbord darunter geht es schon linientreuer zu. – Die Kerze stockt. Prompt hat er einen ledergebundenen Folianten am Wickel. Glaubt zu träumen, als er den Einband zurückschlägt. ‚I.v.W.’ steht da zu lesen. Tintenkalligraphiert auf der ersten Seite verewigt. Sobald der anstürmenden Bilder Herr, gerät der Sekretär zum Visitationsobjekt. Haftet sein Blick des Längeren auf einer Unzahl beschriebener Briefbögen. Ohne die Buchstaben zu Worten, geschweige denn Sätzen formen zu können und überdies von seiner neuesten Entdeckung abgelenkt: einem Messingbilderrahmen an der jenseitigen Schreibtischkante. Eben beugt er sich vor, als ein hemdsärmeliger Vermehren das Zimmer betritt und sogleich warnt: „Bring’ um Gottes Willen nichts in Unordnung! Wenn wir auch Erlaubnis haben, im Allerheiligsten zu sitzen.“

„Definiere heilig“, fordert er.

„Das Urbild der Büste, zum Beispiel.“

„Göttlicher geht’s wirklich nicht“, sinkt er zu Füßen der Büste in den Sessel, derweil Vermehren die Gläser füllt und im Sitzmöbel gegenüber Logis bezieht.

Der Wein ist wunderbar. Andächtig verkostet er die ersten Schlucke. Zunächst eine erdig-sonnenwarme Note auf der Zunge, schmecken die nächsten Schlucke nach Eisen. Alsbald vom Korrektiv einer fruchtig-melancholischen Note redigiert, wird der Reigen jäh entzaubert.

„Intensive Literaturstunde oder mäßig entwickelte Neugier, was hat dich am Schließen der Vorhänge gehindert?“, stört ihn sein Gastgeber auf.

„Nimm mal das Buch zur Hand, du Stratege!“

Vermehren unterzieht das Buch einer flüchtigen Betrachtung. „Die Bibel des Marcion? Nie davon gehört.“

„Marcion war Anhänger Christi, wenn auch nicht in den Augen der Kirche und lebte so um und bei zweihundert Jahre nach seinem Herrn und Meister“, hilft er nach.

„Du scheinst zu wissen, warum meine Schwägerin …“

„Die Initialen sagen dir was?“, unterbricht er Vermehren.

„Ita von Wolrath natürlich“, versetzt dieser. „Wobei mir neu wäre, dass meine Schwägerin religiös ist.“

„Religion unterliegt nicht erst seit heute divergierender Auslegungen.“

„Von mir aus. Worauf willst du eigentlich hinaus?“

„Kenne das Buch schon des Längeren.“

Wüstes Klopfen erlegt ihrem Gespräch eine Zwangspause auf. Vermehren sprintet in den Flur und erlöst das von anstößigen Fäusten malträtierte Holz der Wohnungstür durch Öffnen derselben. Alsbald entspinnt sich im Treppenhaus ein lautstarkes Duett, wobei Vermehren die Oberstimme behält und gerade „Heil Hitler, Sie Arschloch!“ intoniert.

„Wer war das?“, fragt er, als die vom Schlussakkord einer donnernd in Schloss gezogenen Tür beschwingte ‚Oberstimme’ ins Zimmer zurückkehrt.

„Der Hausluftschutzwart“, schnaubt Vermehren im Schließen der Vorhänge. „Der Knabe kann froh sein, wenn ich’s nicht meiner Schwägerin stecke. Hat schon seine Vorteile, eine höhere Charge zu sein. Was ist denn nun mit dieser komischen Bibel?“

„Später vielleicht“, meint er. „Nimm zunächst mal zur Kenntnis, dass wir abkommandiert werden.“

„An die Front?“, entgeistert es Vermehren.

„Mal sehen, ob ich’s noch zusammenbekomme.“ Er hebt das Glas, studiert die rubinschimmernden Lichtreflexe und deklamiert: „Korvettenkapitän Erwin von Putlitz und Kapitänleutnant Ludger Vermehren, Faktotum besagten Korvettenkapitäns, werden aus der AGRU-Front7 herausgelöst und ihren Verpflichtungen innerhalb der EGRU8, Unterabteilung Typ XXI9, entbunden. Haben sich, nach Abwicklung ihrer persönlichen Angelegenheiten umgehend, spätestens jedoch am 20sten Januar, beim Seekommandanten-Schleswig-Holstein in Kiel zu melden. Nähere Instruktionen erfolgen morgen, zehn Uhr, im Befehlsbunker des Großadmirals10 Dönitz. – Prost!“

„Das ist ja ’n Ding“, entrüstet sich Vermehren.

„Kommt noch besser. Au, verflucht! Muss noch telefonieren. Sonst findet uns der Fahrer nicht.“

„Gib‘ die Nummer rüber“, erbietet sich Vermehren. „Ich erledige das.“

Während sein Gastgeber im Flur telefoniert, ist der Rest der Flasche fällig, was Vermehren bei seiner Rückkehr feixend zur Kenntnis nimmt und zwei neue Flaschen aufmarschieren lässt.

„Wer war bei der Sitzung dabei?“, nimmt der Kapitänleutnant anschließend den Gesprächsfaden auf. „Von wem hast du das?“

„Vom Kommandierenden Admiral-Westliche Ostsee“, erwidert er. „Sein Amtsbruder-Östliche Ostsee saß mit am Tisch. Alles unter dem Vorsitz von Friedeburg. Dazu noch eine erkleckliche Anhäufung wichtiger Stabsheinis sowie der Seetra-Chef11 höchstpersönlich. Alles in allem an Authentizität nicht zu überbieten, zumal meine mickrigen drei Streifen am Ende der Fahnenstange hingen.“

„Dass du beim ollen Dönitz ’nen Stein im Brett hast, weiß jeder“, wirft Vermehren ein. „Aber uns deshalb zu ’ner Operationsbesprechung einzuladen? Um uns unsere Abkommandierung zu eröffnen? Vom morgigen Termin ganz zu schweigen? Weißt du, was wir in Kiel sollen?“

„Friedeburg hat mich nach der Sitzung von Eberswalde mitgenommen und an der Oper abgesetzt“, antwortet er. „Man hat vor, uns in den Kieler U-Bunkern wirken zu lassen.“

Vermehren schneidet eine Grimasse. „Warum das, zum Teufel?“

„Um das, was noch halbwegs brauchbar ist, im Eiltempo zusammenzuklopfen und an die Front zu werfen.“

„Was dich betrifft, versteh’ ich’s noch“, sinniert Vermehren. „Bist schließlich ’n halber Ingenieur. Aber ich?“

„Vielleicht weiß deine Schwägerin mehr?“

„Marine war noch nie ihr Ding“, winkt Vermehren ab.

„Kennt aber offenbar ’nen Obersteuermann. – Prost!“

„Was ist eigentlich mit Brenner?“, schweift Vermehren ab. „Wird der auch abkommandiert?“

„Hab’ natürlich nachgefragt. Kein Kommentar.“

„Na, wenigstens bei ein paar Figuren wird unser Abgang Freude anrichten“, testiert Vermehren trocken. „Bei Fregattenkapitän Topp, diesem Arschloch. Unseren verehrten FdU12 nicht zu vergessen. Was hast du dich mit den Idioten abgesabbelt.“

Er nickt abwesend, derweil sich Vermehren zunehmend erwärmt: „Seien wir doch froh. War schon ’ne Plackerei, die Reserve auszubilden. Und dann noch den technischen Krimskrams, mit dem du dich herumschlagen musstest. Die ewigen Baubelehrungen, deine ständigen Inspektionsreisen als Sonderberichtserstatter für Herrn Dönitz persönlich. Kieler Sprotten! Mal was Neues auf den Tisch.“

„Nachdem du dir an Danziger Meerjungfrauen den Magen verhoben hast“, findet er zurück.

„Erzähl mir lieber, was es sonst noch für Neuigkeiten gibt“, grinst Vermehren.

„Unsere Personale dürfte kaum die gesamte Sitzung beansprucht haben.“ „Der Endsieg fällt wohl ins Wasser“, bedauert er. „Heeresgruppe B bezieht zurzeit Prügel in den Ardennen. In Italien hält die Apennin-Stellung. Keiner weiß wie lange. Dafür haben die Russen losgelegt. Tiefe Einbrüche im Weichselbogen und im Raum Warschau. Vorstoß einer kompletten Armee in Richtung Königsberg. Eine zweite marschiert gerade gegen Thorn und Elbing.

Weißt du, was das heißt? Ostpreußen wird vom Reich abgeschnitten, heißt das!“

„Hör auf!“, zankt Vermehren. „In ein paar Tagen, eine Woche höchstens, rücken sie die Wunderwaffen raus, und …“

„Warum gehen wir wohl nach Kiel und nicht zu Schichau?“, fällt er dem Sprecher ins Wort. „Weil sie den Osten verloren geben.“

„Lassen wir das Thema.“ Vermehren lehnt sich zum Radio hinüber. „Was dagegen einzuwenden? Hab‘ zudem Appetit auf ’ne Zigarette. Du auch? Fein. Sei so gut und hol’ schon mal den Aschenbecher vom Schreibtisch.“

Mittlerweile ist der Radioapparat warm geworden.

Vermehren dreht noch längere Zeit am Senderknopf. Dann schweben die Klänge der Lisztschen Klaviersonate in Es -Dur durchs Zimmer.

„Gut so?“, fragt Vermehren. „Bevorzuge ja leichtere Sachen.“

„Müsste ja nicht gerade dieser Komponist sein, aber es passt zum Ambiente dieses Zimmers“, unterzieht er nebenbei das Etikett der Weinflasche einer genaueren Betrachtung. „Wobei, ‚Chateau Lafite Rothschild’ hätte ich schon aufgrund der Namensgleichheit mit einem jüdischen Bankhaus nicht gerade im Weinregal einer Nazi-Größe vermutet. Schon gar nicht bei einer Artamanin.“

„Sie nimmt’s nicht so genau. Anders als ihre Schwester.“

Vermehren schiebt ihm seufzend die Zigarettenpackung über den Tisch. Die Musik stockt. Ein Sprecher fällt ein und gibt Voralarm, wobei er erläutert, dass sich starke englische Bomberverbände über der Nordsee dem Reichsgebiet nähern.

In das Wiedereinsetzen der Klavierklänge hebt er den Finger. „Da hast du die Antwort. Dieses Reich hat schon lange nicht mehr die Kraft, seine Untertanen zu schützen. Verdientermaßen, nachdem wir alle zugesehen haben, wie die Rothschilds aus seinen Grenzen vertrieben wurden.“

„Hältst du denn die Gerüchte für wahr? Die mit den Juden, meine ich?“, fragt Vermehren.

„Guter Übergang “, findet er. „Engelhardt ist vorhin was rausgerutscht. Während der Sitzung und von Friedeburg sofort abgebogen.“

„Und?“

„Wollte wissen, wie er mit der Voranfrage betreffs der Bereitstellung erforderlichen Schiffsraumes umgehen solle, der Herr Seetra-Chef. Operation Hannibal! Um die bereits auf dem Marsch befindlichen Flüchtlingstrecks über die Ostsee zu schippern. Zuzüglich einiger geschlagener Divisionen. Ist aber nicht der springende Punkt. Engelhardt erkundigte sich, wann denn mit der Ankunft der ersten Judentransporte zu rechnen sei. In Gotenhafen, zum Beispiel. Bevor ihm Friedeburg in die Parade fiel, raisonierte der Mann noch über die unkoordinierte Räumung zu vieler Lager zugleich im Allgemeinen, über die SS im Besonderen.“

„Dann ist doch alles in Butter“, entspannt sich Vermehren. „Sie holen die Juden zurück.“

„Womit erstens die Gerüchte um Lager im Osten bestätigt wären und zweitens die Frage ist, wie viele Juden zurückgeholt werden.“

„Du glaubst doch wohl nicht an den Quatsch angeblicher Massenhinrichtungen?“, protestiert Vermehren. „Wir sind deutsch, verdammt noch mal!“

Wieder wird die Musik unterbrochen. Der Sprecher von vorhin gibt Luftalarm für das Ruhrgebiet.

In die wieder anhebenden, sphärischen Tastenklänge bemerkt er: „Wäre nett, wenn du noch eine Flasche besorgst. Besser zwei.“

„Wie? Ach ja, entschuldige. Bin gleich zurück.“

Zwischenzeitlich Vermehren in der Küche hantiert, angelt er seinerseits nach der Zigarettenpackung und lauscht dem repetierenden Stakkato des Wehrmachtsberichts; mithin krude Phrasendrescherei über ‚Heldentum’, ‚heroischem Widerstand’ und ‚ungebrochenem Kampfgeist’, was ihn die gerade angerauchte Zigarette angeekelt im Aschenbecher ausdrücken lässt.

Im Wiederaufklingen der Musik kehrt Vermehren zurück.

„Würdest du die englischen Bomberpiloten verurteilen für das, was sie gleich tun?“, schießt er los, kaum, dass sein Gastgeber Platz genommen hat.

„Natürlich nicht“, erwidert Vermehren. „Sie befolgen ihre Befehle. So wie wir.“

„Darauf wollte ich hinaus.“

„Versteh’ ich nicht.“

„Bist du wirklich der Meinung, den Alliierten gegenüber den 9ten November ’achtunddreißig mit soldatischem Gehorsam begründen zu können?“

„Die sogenannte ‚Reichskristallnacht’?“ stutzt Vermehren. „Ist sowieso egal. Glaube nämlich an den Endsieg.“

„Werden sehen“, konzediert er. „Auf jeden Fall lohnt es schon einmal, sich auf unbequeme Fragen einzustellen.“

„Die Judenfrage?“

„Die Judenfrage!“

„Jede Zeit hat ihre Gesetze“, braust Vermehren auf. „Auch die westlichen Demokratien haben ethnische Minderheiten und Gegenparteien um den Preis der eigenen Größe unterdrückt. Um ihres wirtschaftlichen Vorteils willen ganze Völker versklavt. Gestützt auf Befehl und Gehorsam ihrer Armeen.“

„Wir sind aber nicht jedermann“, behauptet er. „Weder in den Augen der Alliierten, noch denen ebenso tief eingeweihter wie brauner Herrschaften.

Weiß das ziemlich genau. Willst du’s hören? Das Buch deiner Schwägerin spielt auch eine Rolle.“

„Diese komische Bibel? Leg los.“

Aus dem Radio perlen die zupackenden Tastenklänge einer Klaviersonate von Grieg.

„Müsste mal austreten“, bremst er.

„Im Flur, erste Tür Steuerbord. Nicht verlaufen. Gegenüber ist das Schlafzimmer.“

„In dem du nie gewesen bist!“

„Ehrenwort“, grinst Vermehren.

Er ist nicht in Form. Bereits im Aufstehen geht es los. Als wenn er drei Flaschen Schnaps intus hätte! Er schafft es gerade so ohne größere Ramming in den Flur, um nach dem Öffnen der Badezimmertür schlagartig zu ernüchtern. Kopfschüttelnd inmitten eines in Marmor oder Granit gehauenen Wunders zu stranden. Die verstofflichte Welteislehre vor Augen. Schneeweiß gekachelt. Chromblitzende Wasserhähne. Kristallspiegel. Ein Brausekopf vom Umfang eines Suppentellers. Die Kloschüssel eher Gralskelch denn Abort und nicht misszuverstehende Aufforderung, sämtliche Ausscheidungen in Gebetshaltung loszuwerden. Muss ein Vermögen gekostet haben.

Er darf nachher nicht vergessen, Zahnbürste und Rasierzeug aus der Manteltasche zu fischen. Wobei allein das Deponieren seiner vom Bazillus profaner Wehrmachtsunterkünfte befallenen Siebensachen die Besitzerin dieser sakralen Badegrotte veranlassen dürfte, nach ihrem Abzug eine rituelle Säuberungszeremonie abzuhalten.

Nach einem dem Geist der Grotte streng verpflichteten Entsorgungsritus im Zimmer zurück, registriert er gemischten Gefühls, dass Vermehren bereits die zweite Flasche am Wickel hat. Damit nicht genug, hat sich der Mann in die Küche verfügt und zwei weitere Bouteillen nachgeordert.

„Hast du eigentlich schon was gegessen?“, fragt er im Setzen.

„`türlich“, nickt Vermehren. „Ach so. Soll ich dir noch `n paar Stullen schmieren?“

„Nicht nötig“, lehnt er ab. „War opulent, wenn auch Herr von Friedeburg meinetwegen auf den Nachtisch verzichtet hat, um mich pünktlich an der Oper abzusetzen. Hätte sich ruhig Zeit lassen können, der Mann. Fragte nur, um sicherzugehen.“

„Dass wir den edlen Tropfen nicht auf nüchternen Magen hinabwürgen?“, wedelt Vermehren den implizierten Vorwurf beiseite. „Bis zum Kotzmeridian sind’s bei mir noch ’n paar nautische Meilen. Kann also losgehen, die Bibelstunde.“

„Also gut.“ Er hebt fröstelnd das Glas. „Auf die Religion des Hakenkreuzes!“ Vermehren prustet den gerade in den Mund beförderten Schluck ins Glas zurück.

„Auf wen hast du deinen Eid abgelegt?“, examiniert er streng. „Was war das mit Hakenkreuzreligion?“, betreibt Vermehren ohrenklopfende Vergewisserung. „Beantworte meine Frage.“

„Was soll das? Auf den Führer. So, wie du.“

„Was macht eine Religion aus?“

„Welche Religion?“

„Jede. Offenbarungen? Propheten? Mystische Zeichen?“

„Von mir aus.“

„Kerzen oder Fackeln?“, hakt er nach. „Nächtliche Gottesdienste, bei denen die Gemeinde in sakraler Gebetshaltung den Arm hebt?“

„Willst du mich verschaukeln?“

„Fehlt noch ein Messias, der seine heilige Lehre von der Kanzel donnert und dafür angebetet wird. Heil Hitler, zum Beispiel.“

„Du bist ja nicht bei Trost!“

„Ein Jünger geht nicht unbedingt als seinem Vaterland verpflichteter Soldat durch. Den Passus haben sie in den Genfer Konventionen glatt vergessen.“

„Erwin“, schnauft Vermehren. „Lass gut sein. Versteh’ kein Wort.“

„Hast du nicht das Gefühl, in einem Tempel zu sitzen? Und da“, er zeigt hinter sich, „steht der Altar dieser Religion. Das Haupt ihres Gottes! Eines Gottes, der keine anderen Götter neben sich duldet. Denk an das Verbot aller religiösen Vereinigungen bis hin zu den Freimaurern. Die Einschränkung der Kirchen bis hin zur völligen Gleichschaltung mit unseren Machthabern. Die Hetze gegen Kommunisten und Demokraten und nicht zuletzt an den ideologischen Vernichtungskampf gegen das Judentum. Die Frage nach entsprechenden Lagern im Osten klammere ich aus. Einverstanden?“

Vermehren starrt zunächst perplex zur Büste hinüber. „Meine Schwägerin ist alles andere als eine Heilige, so keusch und unbemannt sie auch daherkommt“, poltert der Kapitänleutnant dann. „Hitler ist ein Staatsoberhaupt. Kein Papst. Schon gar kein Messias. Das mit den Juden ist politisch motiviert. Zugegeben. Wie die Gleichschaltung der Kirchen. Für mich sind das alles ideologische Phrasen. An die ich nicht glaube. Fühle mich nicht als Herrenmensch.“

„So? Mir kommt das hier mittlerweile wie ein Abendmahl vor, mit dem mich deine Schwägerin an meine einstige Jüngerschaft erinnern will.“

„So hab’ ich dich noch nie reden hören“, lamentiert Vermehren. „Bist du betrunken?“

„Fackeln statt Kerzen! Runenmystik! Nächtliche Gottesdienste mit einer anbetend den Arm hebenden Gemeinde, die ‚Heil, mein Führer’, lobpreist. Überstrahlt vom lichten Hakenkreuz, dem Initiationszeichen dieser Religion. Bin ich betrunken? Hatte ich die letzten Jahre Halluzinationen?“

„Die Dinge sind passiert“, räumt Vermehren ein. „Aber ’ne neue Religion?“

„Weißt du, woher das Hakenkreuz stammt?“

„Nee.“

„Das Hakenkreuz entstammt einer der ersten menschlichen Hochkulturen dieser Welt zwischen Euphrat und Tigris. Babylon sozusagen.“

Vermehren tastet nach der Zigarettenpackung. „Haben also gemäß Lex Putlitz das Zeichen einer, äh, babylonischen Hochkultur zum Hoheitsabzeichen erhoben?“

„In der es zwei Völkchen gab, die einen heutzutage fast aus der Mode gekommenen Gott anbeteten. Ja.“

„Welchen Gott?“, knautscht Vermehren.

„Konfessionslos, der Gute.“

„’nen konfessionsloser Gott?“

„Die Nazis sind gottgläubig, Ludger“, stellt er fest. „Ist doch der neue Begriff, den sie geprägt haben. Der Glaube an einen Gott, der konfessionslos ist und nichts mit dem jüdisch-christlichen Gott der Weltkirchen am Hut hat.“

„Kann mich nicht erinnern, den Führer je von Babylon predigen zu hören.“

„Da unten gab’s, wie gesagt, zwei Völker“, übergeht er Vermehrens Einwand.

„Eins so blond wie blauäugig, Sumerer mit Namen, dem Hakenkreuz ergeben. – Lass mich ausreden. Das andere Volk war dunkel, hakennasig und mehr dem Hexagramm zugetan.“

„Hexagramm!?“

„Heutzutage besser bekannt unter der Bezeichnung Judenstern, die jeder Nachkomme seiner babylonischen Vorfahren seit ’einundvierzig offen tragen muss, wenn er seinen Wohnsitz unter dem Hakenkreuz genommen hat“, präzisiert er.

„Lass die Witze“, missbilligt Vermehren. „Die Juden stammen aus Babylon? Das wusste ich nicht.“

„Und beteten zunächst zusammen mit den blonden Hakenkreuzverehrern betreffenden konfessionslosen Gott an“, bekräftigt er. „Bis die Blonden anfingen, Übermenschenphantasien zu hegen und den berühmten Turm zu Babel bauten, um den lieben Gott aus dem Himmel zu schmeissen. Die Sache ging natürlich schief. Die Blonden verstreuten sich in alle Winde. ’s gibt die These, dass es sich bei den blonden Herrenmenschen, die cirka zweitausend von Christus hierzulande die Hünengräberkultur überrollten, um Nachkommen der babylonischen Turmbauer handeln könnte. Was unsere brisante Blutmischung erklären könnte.“

„Keine Ahnung, worauf du hinaus willst“, grummelt Vermehren. „Schwarz und Weiß meine ich. So erdverbunden wie himmelstürmend, so dämlich gehorsam wie verrückt tapfer. Blücher und Himmler, Goebbels und Schiller, ’n gewisser Weltkriegsgefreiter und Luther. Alles Deutsche, wenn auch kontroverser nicht…“

„Hör auf mit dem Scheiß!“, unterbricht ihn Vermehren nervös. „Was soll das überhaupt? Babylon?!“

„Im alten Babylon pflegte man kosmisches Wissen, das unsere heutigen Kenntnisse naturgesetzlicher Gegebenheiten weit in den Schatten stellt“, präzisiert er. „Sozusagen die praktische Nutzanwendung einer gemeinsamen Religion.“

„Beispiele?“, will Vermehren wissen.

„Mathematische Kenntnisse höherer Ordnung. Eine vertiefte Kenntnis des goldenen Schnitts, zum Beispiel. Eine das richtige Verhältnis alles Körperlichen wiedergebende Schöpfungszahl, die den, der sie benutzt, dazu befähigt, monumentalste Bauwerke zu errichten. ’s ist kein Witz, wenn ich dir sage, dass die Brüder Steine und Metalle wie Butter schnitten. Ohne Reibungshitze! Nächstes Thema: Gravitation! War ein Fremdwort für die Bursch. Hebelten gravitatorische Gesetze buchstäblich aus, um entsprechende Bauklötze zu bewegen. Steinchen, die du heute noch in Gizeh besichtigen kannst. Die Pyramiden meine ich, wenn auch Nebenkriegsschauplatz heut’ Abend.“

„Mir ist immer noch nicht klar, worauf du …“

Worauf dein Führer hinaus will, meinst du?“, fällt er Vermehren ins Wort. „Sei so gut!“, nickt der.

„Du weißt wohl, dass die Juden irgendwann über Umwege nach Judäa auswanderten?“

„Selbstredend.“

„Na ja. Die Juden verfielen in den sumerischen Fehler. Hegten Großmachtsphantasien. Schworen dem konfessionslosen Gott ab und gingen folgerichtig ihrer babylonischen ‚Wunderwaffen’ verlustig. Mit dem Heben der Arme eine überlegene Armee zum Rückzug zwingen, meine ich. Oder ein ganzes Meer trockenlegen, um hindurch marschieren zu können. Wasser aus Felsen zu klopfen, Manna vom Himmel regnen lassen. Dinge, die die Juden nach den Sumerern zum auserwählten göttlichen Volk gemacht hatten.“

„Woher willst du das wissen?“, opponiert Vermehren.

„Steht hier drin.“ Er klopft auf die Marcionbibel. „Darf ich vorstellen? Die Glaubenslehre Herrn Hitlers. Hier drin verheißt Christus germanischen Söldnern, künftig das auserwählte Volk zu sein. ‚Ihr’, nämlich die Juden, ‚seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun’. Zitat Ende. Steht so da drin. Kein Witz! Weißt du, was das heißt? Das heißt für jeden eingeweihten ‚Marcionjünger’ inklusive deiner Schwägerin nichts anderes, als dass der jüdisch-christliche Gott der Teufel, und Christus der Messias des wahren, konfessionslosen Gottes ist. Folgt man also der messianischen Botschaft Christi, ist’s nicht mehr schwer, im Judenstern das Zeichen des Teufels zu sehen. Was jeden Judensternträger zur verfluchten, ausrottungswürdigen Kreatur stempelt.“

„Moment, Moment“, bremst Vermehren. „Marcion überhaupt!“

„Gleich, der Herr“, versetzt er. „Letzte Bestätigung meiner These, dass die Juden ihrer ‚Wunderwaffen’ ledig waren, ist doch wohl die Einnahme Jerusalems durch die Römer siebzig nach Christus.“

„Von mir aus! Was hat nun dieser Marcion mit der ganzen Chose zu tun? Woher will der Mann wissen, was sein heiliger Heiland denn wirklich gesagt hat?“

„Hast du dir schon mal klar gemacht, was die Siegesgöttin auf dem Brandenburger Tor in den Berliner Himmel stemmt?“, stellt er die Gegenfrage. „Hältst du mich für blöd?“, kollert Vermehren. „Das Eiserne Kreuz natürlich.“

„Urform des Eisernen Kreuzes ist das marcionitische Kreuz, das für die wahre, von der Kirche unterdrückte Lehre Christi steht“, legt er nach.

„Willst du mir jetzt im Ernst verklickern, dass auch die Preußen …?“

„Das eiserne Kreuz vom Deutschen Orden übernahmen“, fällt er Vermehren einmal mehr in die Parade. „Parallelentwicklung zum Templerorden, der das gleiche Kreuz führte. Wenn auch in schickem Rot mit Namen Tatzenkreuz.“

„Oh Mann“, stöhnt Vermehren. „Lass gut sein. Hakenkreuzreligion oder nicht, bin bedient. Danke verbindlichst. Lass uns …“

„Das Thema zu Ende bringen“, versteift er sich. „Zwölfhundertsechsunddreißig waren der Legende nach zwei Tempelritter in den Ruinen des alten Karthago unterwegs. Auf der Suche nach Hinterlassenschaften Marcions. Den Beiden trat eine ebenso ätherische wie weibliche Erscheinung entgegen und verhieß das Kommen eines lichten Reiches im Land der Mitternacht. Die Templer, und das ist Tatsache, gründeten daraufhin eine Siedlung. Hieß erst ‚Neu-Babylon’, später Tempelhof und ist mittlerweile Stadtteil einer Reichshauptstadt.“

„Verrückt“, murmelt Vermehren.

„Die Lieblingsfarben der Templer waren übrigens Schwarz-Weiß-Rot“, predigt er weiter. „Und war’s nicht die erste Amtshandlung Hitlers, seine Hakenkreuzkolonnen nach dem Wahlsieg ’dreiunddreißig durchs Brandenburger Tor marschieren zu lassen? Vielleicht wird dir auch allmählich klar, wen die Dame auf dem Brandenburger Tor denn in Wirklichkeit darstellen soll.“

„Wie passt Deiner Meinung nach der Deutsche Orden ins Bild?“, weicht Vermehren aus.

„Ich kann nur vermuten, dass die Herren Deutschritter das neue Ordensland erobern sollten und Kenntnis von der Templerprophezeiung hatten“, räumt er ein. „Die Deckungsgleichheit der Kreuze kann kein Zufall sein. Genauso wenig, wie sich alles bei diesem Thema um Religion dreht. Und wenn du mir jetzt mit dem Einwand kommst, dass den Preußen ab Friedrich dem Großen die Religion abging – die Preußen haben jedenfalls die Quadriga backen lassen, das Reich erobert und ein schwarz-weiß-rotes Fahnentuch darübergebreitet! Nimm’s hin: Wir sitzen im Land der Templerprophezeiung, bestätigt durch Christus, den Herrn höchstselbst und landen jetzt unter Regie unseres Oberpriesters Adolf Hitler in der Müllpütz der Geschichte. Weil es dem Herrn aus Braunau in seiner Weisheit gefallen hat, ein Jahrtausendwerk zu versauen.“

„Sei vorsichtig mit dem, was du sagst“, nuschelt Vermehren.

„Auf jeden Fall nette, ideologische Grundlage für die Rassegesetze, nicht?“ Unvermittelt springt ihn Resignation an. „Blutmäßige Rückverwandlung zum hakenkreuzwedelnden Übermenschen, um mit dem babylonischen Urgott in Verbindung treten zu können. Nebenbei Vernichtung des Weltjudentums und Konstruktion von kosmischen Wunderwaffen. – Ach, Scheiße zu Pferde! Soviel zur Hakenkreuzreligion, seinem Messias Adolf Hitler und seinen treudeutschen Jüngern, denen die Welt nicht abnehmen wird, nichts davon gewusst zu haben.“

„Glaubst du an diesen … äh, babylonischen Urgott? An Wunderwaffen auf Basis bislang unbekannter physikalischer Gegebenheiten?“, tastet Vermehren.

„Mein jüdisch-christlicher Gott ist vor achtundzwanzig Jahren im Bosporus baden gegangen. Jemand anderes hat sich mir bislang nicht vorgestellt. Wenn was dran war, – die Nazis haben’s versaut. Wunderwaffen sind aus, so sehr wir auch die Arme heben und ‚Heil’ brüllen. Und die von uns, die diesen Scheiß überleben, wird man an der Judenfrage aufknüpfen. Entschuldige! Ich wiederhole mich.“

„Machen wir Pause“, schlägt Vermehren vor und gerät damit zum Leitmotivschöpfer der nächsten halben Stunde.

Er ist aufgestanden, hat die Vorhänge zurückgezogen und starrt zum Fenster hinaus, indes Vermehren ununterbrochen pafft und sich über die letzte Flasche hermacht.

Der silberhelle Schlag einer Wanduhr schickt zwölf melancholische Klangintervalle durch die Stille.

Erst jetzt fällt ihm auf, dass Vermehren irgendwann das Radio leise gedreht haben muss. So, wie ihm unbewusst bleibt, wie er in seinen Sessel zurückgelangt ist. Wann Vermehren das Zimmer verlassen hat. Jedenfalls hält sein Gastgeber in diesem Moment flaschenbewehrten Einzug und vergräbt sich im Sessel.

„Woher hast du das alles?“, fragt Vermehren nach einer Weile. „Du meinst meinen kleinen Vortrag?“, antwortet er mechanisch. „Was denn sonst?“ „Hab’ Einzelunterricht genossen.“ „Bei wem?“ „Tut nichts zur Sache.“

„So, so!“ Vermehren grunzt. „Hast du ’ne Ahnung, bei wem meine Schwägerin Unterricht genommen haben könnte?“ „Frag’ sie einfach. Wollte sie nicht noch hereinschneien?“

„Glaub’ nicht, dass sie noch kommt.“

„Deine Ehe wirst du auf jeden Fall allein retten müssen“, entsteigt er endgültig längst ledig geglaubten Erinnerungen und schenkt sich nach. „Tut mir leid, wenn ich dich eben vollgequatscht haben sollte.“

„Geschenkt“, schnauft Vermehren. „Meinen Glauben an den Endsieg lass’ ich mir nicht vermasseln. War interessant, deine Predigt, aber doch wohl eher was für philosophische Gemüter.“

„Themenwechsel“, schlägt er vor.

„Lass uns die Krawatten wegschmeißen“, akzeptiert Vermehren. „Was ist mit dem Wein?“, fragt er. „Würde mich gern an den Unkosten beteiligen.“

„In diesen Dingen ist meine Schwägerin großzügig. Anders als … lassen wir das.“ Vermehren langt zur Zigarettenschachtel. „Merde! Die letzte. Hast du noch welche?“

„Gleich. Deine Schwägerin! Hat sie schon immer türkische Zigaretten geraucht?“, kleidet er eine ihn urplötzlich anspringende Ahnung in Worte.

„So weit ich weiß, erst seit ‘nem Jahr“, sinniert Vermehren.

„Zum Zeitpunkt also, als du mir unterstellt wurdest? Reiner Zufall, kurz zuvor Ilsa über den Weg gelaufen zu sein?“

„Was du wieder hast?“ Vermehren schüttelt den Kopf. „Ita hat schon vorher geraucht. Und das bei ihren Wurzeln! Weißt es ja. Eiserne Artamanenregel: Kein Nikotin, kein Alkohol. War mal dabei, als sie meinem Schwiegervater den Qualm ins Gesicht geblasen hat. Mit ’nem Cognacschwenker in der Hand. Alle Achtung! Hab’ meinen Augen nicht trauen wollen. Unfassbar! Der Alte hat klein beigegeben. Ein gestandener Gruppenführer13 der SA! Zieht vor seiner Ältesten den Schwanz ein. Bin nie ganz dahinter gekommen, was zwischen den beiden vorgefallen ist. War nämlich mal sein ganzer Stolz, das Mädchen. Und jetzt steht nicht ein Bild mehr von ihr im Haus. Ita besucht ihre Schwester nur, wenn die Mama außerhäusig ist. Selbst Ilsa darf kein Foto der großen Schwester in ihren Zimmern ausstellen. Befehl der Frau Mama. Ilsa hat keine Ahnung, warum.“

„Bei eurer Hochzeit hat’s uns an nichts gemangelt“, beschränkt er sich auf den sachlichen Aspekt.

„Einen Schluck Wein, eine Zigarette, schon konnte ich die Nacht auf dem Sofa verbringen. Ilsa …“

„Keine Intimitäten“, interveniert er. „Ilsa ist ‘ne großartige Frau.“

„Tschuldigung“, rülpst Vermehren. „Soll ich dir mal flüstern, wie ich meiner Gattin vorhin beiliegen durfte? Beschlafen hab’, mein ich?“

„Nein!“

„War auch so beschissen, dass…“

„‘s reicht!“, braust er auf.

„Schon gut, schon gut!“, kapituliert Vermehren, toastet ihm indes zu. „Auf die Scheidung!“

„Morgen denkst du anders darüber.“

„Hast du dir gedacht. Wo wir schon beim Auskotzen sind, wie wär’s damit? Wie ich zur Hochzeit überredet wurde? Ohne pikante Details. Versprochen.“

„Überredet? Von Ilsa?“

„Mit gehöriger Unterstützung des alten Herrn“, bekräftigt Vermehren. „Eiserne Artamanenregel Nummer zwo: Heirate den Mann, dem du dich hingegeben hast. Was meine spätere Gattin nach ‘ner Woche hinter sich hatte.“

„Wenn das nicht das nächste intime Detail ist“, knurrt er.

„Hab ja nicht erzählt, wie.“

„‘s reicht jetzt wirklich, Ludger!“