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Danksagung

Christoph Witte, meinem Freund, Kollegen und „Mit-Czyslansky“, ohne den dieses Buch in dieser Form niemals möglich gewesen wäre.

Inhalt

Vorwort

Die Geschichte des deutschen Unternehmertums wurde von starken Unternehmerpersönlichkeiten geschrieben: Männern und Frauen mit Ideen und Visionen, mit dem Mut zur Innovation und dem Geschäftssinn, das Beste daraus zu machen. Sie waren Einzelgänger, die unbeirrbar ihren Weg gingen und am Ende viel Erfolg hatten. Sie sind bis heute Vorbilder geblieben.

Doch die Zeiten ändern sich. Ein Robert Bosch oder Karl Benz, ein Max Grundig oder Hermann Bahlsen, eine Margarethe Steiff oder eine Caroline Märklin hätten heute vermutlich mit einem kleinen Laden kaum noch eine Chance, auf eigene Faust zum Erfolg zu kommen. Sie wären heute wahrscheinlich die Ersten, die Internet, moderne Kommunikation und Netzwerkeffekte für sich nutzen würden. Denn das zeichnet inzwischen den weitsichtigen Unternehmer aus: Er lässt den Wandel für sich arbeiten.

Solche Weitsicht ist heute mehr gefragt denn je. Der deutsche Mittelstand, die tragende Säule der deutschen Volkswirtschaft, droht eine der wichtigsten Weichenstellungen der Neuzeit zu verpassen: den Übergang von einer analogen zur digitalen Wirtschaft – einer Wirtschaft, in der es weniger auf unternehmerische Einzelleistung und mehr auf Vernetzung, auf Kommunikation und Kollaboration ankommt. Darauf sind die meisten Unternehmer und Manager in Deutschland auch heute noch, mehr als zehn Jahre nach dem Beginn der Internet-Revolution, noch nicht ausreichend gerüstet.

Wie soll es aber weitergehen? Wie sehen Unternehmen im Jahr 2020 aus, also wenn das kommende nächste Jahrzehnt der digitalen Wirtschaft vorüber ist? Wie wird der Standort Deutschland, der ein zutiefst mittelständischer ist, im internationalen Vergleich dastehen? Das sind Fragen, die nicht nur für die Unternehmen, sondern für alle Menschen in diesem Land von größter Tragweite sind. Der Konkurrent von morgen hat seinen Betrieb nicht in Wanne-Eickel oder Rosenheim, sondern in Hyderabad oder Fujian. Denn auch der deutsche Mittelstand muss auf der Globalisierungswelle mitschwimmen – oder untergehen.

Auch wenn Ausnahmen die Regel bestätigen, so muss man leider feststellen, dass die Mehrzahl der mittelständischen Unternehmen die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht ausreichend nutzt, um ihr Geschäft voranzutreiben und ihre Zukunft zu sichern. Gleichgültig ob Produktionsbetriebe, Handels- oder Dienstleistungsunternehmen: Die meisten setzen Informationstechnologie und Vernetzung längst nicht offensiv genug ein. Natürlich stehen überall in den Büros, in Lagerhäusern und Fabriken PCs, natürlich verfügen auch kleine und mittlere Unternehmen über Server und Datennetze zur Informationsübermittlung und -verarbeitung. Sie beschränken sich aber weitgehend auf die Automatisierung klassischer Abläufe und Verwaltungsprozesse, zum Beispiel im Rechnungswesen, in der Warenwirtschaft, in der Produktionssteuerung oder in Konstruktion und Planung.

Es stimmt zwar, dass viele Unternehmen in den letzten Jahren auch erste, meist zaghafte Schritte Richtung E-Business unternommen oder mithilfe mehr oder weniger funktionsfähiger Webshops den Einstieg in den E-Commerce gewagt haben, manchmal sogar mit einer Anbindung an bestehende Warenwirtschaftssysteme. Insgesamt aber bleiben Digitalisierung und Vernetzung in den meisten mittelständischen Unternehmen Stückwerk – digitale Inseln inmitten analoger, arbeitsintensiver und deshalb heute schon ineffizienter Geschäftsprozesse. Und dabei stehen wir mit der Digitalisierung ja eigentlich erst am Anfang!

Im Unternehmen 2020 wird es Brücken geben müssen, um die verschiedenen digitalen Inseln miteinander zu verbinden. Das ist leichter gesagt als getan. Bislang mussten die schmalen Brücken, die es bereits gibt, mühsam über technisch teilweise hochkomplexe Schnittstellen hergestellt werden. Nun weiß aber jeder Informationstechniker, wie schwierig es ist, Eingriffe in laufende Systeme vorzunehmen. „Never change a running system!“, lautet denn auch das erste Gebot aller IT. Jede kleinste Veränderung wirkt sich auf andere Systeme aus, wenn also ein Glied in der Kette verändert wird, müssen alle anderen angepasst und ebenfalls verändert werden. So viel zum Thema Flexibilisierung in der IT. In der Praxis ist es häufig aufwendiger, eine neue Software in die bestehenden Systeme zu integrieren, als die ursprünglich anvisierte Prozessunterstützung zu entwickeln. Wenigstens ist in der IT-Branche selbst langsam ein Umdenken zu erkennen, mit einer neuen Hinwendung zur Modularisierung und Wiederverwendbarkeit von System- und Softwareeinheiten. Dazu später mehr.

Doch die Technik ist nicht das Problem. Die wahren Defizite liegen im vernetzten Denken. Sie stellen die eigentliche Ursache für den zögerlichen Einsatz von Informationstechnologie und Internet in mittelständischen (und übrigens auch in vielen großen) Unternehmen dar. In diesem Buch wollen wir die These wagen, dass mit intensiverer Nutzung heutiger Technologien eine viel stärkere Verzahnung aller Geschäftsprozesse in einem Unternehmen und zwischen verschiedenen Unternehmen möglich wäre, wenn Unternehmer und Manager ihre Fähigkeit, vernetzt zu denken, entwickeln und verbessern würden.

Was ist damit gemeint?

In der westlichen Kultur steht seit alters her der Einzelne im Mittelpunkt. Individualismus und Eigenständigkeit (die oft nur eine nette Umschreibung für Selbstsucht sind) sind tief in unseren Traditionen und im unternehmerischen Selbstverständnis gerade des Mittelstandes verwurzelt. Ich bin mir selbst der Nächste, dann kommt lange nichts, dann mein Partner oder meine Partnerin, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde, meine Bekannten, mein Verein – kurz: mein ganz persönliches Beziehungsnetzwerk. Zumindest jene Menschen, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren und engagiert sind, zählen vielleicht noch ihre Kollegen, wenigstens ihre engste Arbeitsgruppe dazu: die Abteilung, den Bereich, bei kleineren Betrieben vielleicht sogar das ganze Unternehmen. Das ist im Prinzip gemeint, wenn wir von „ich“, „wir“ oder „uns“ sprechen. Der Rest sind eben die „anderen“. Aus dieser absolut egozentrischen Perspektive sind die anderen zunächst einmal unsere Feinde, auf jeden Fall aber Konkurrenten.

Fortschritt geht in dieser Weltsicht stets von „uns“ aus. Und wenn doch jemand anderer etwas besser macht, dann stachelt uns das an, diesen Vorsprung aufzuholen und den Konkurrenten möglichst zu überholen – anstatt, was vielleicht sinnvoller wäre, dessen Wissensvorsprung durch Kooperation und intensive Vernetzung zum gemeinsamen Vorteil zu nutzen. Das Gleiche gilt natürlich noch umso mehr, wenn wir uns selbst vorne wähnen. Dann suchen wir diesen Vorsprung durch Abschotten und Verheimlichen auszubauen, den Abstand zwischen uns und den – zum Glück – hinterherhinkenden Mitbewerbern mithilfe von Herrschaftswissen zu vergrößern. Wir verteidigen unseren Vorteil notfalls mit Zähnen und Klauen, solange es eben geht.

Doch dieses Denken ist längst überholt in einer Welt, in der Vernetzung zumindest im technischen Sinne immer mehr zur Determinante des Fortschritts wird, in der Datenströme unermesslichen Ausmaßes um den Globus kreisen und in der praktisch alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt. Hinzu kommt die wachsende Komplexität der gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten, die der Einzelne kaum noch zu überblicken vermag. Hier sei nur auf die ungelösten Menschheitsprobleme wie globale Erwärmung, Trinkwasser- oder Energieversorgung verwiesen. Wer immer noch glaubt, auf eigene Faust einen individuellen Vorsprung verteidigen und daraus Kapital schlagen zu können, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Uns geht es beileibe nicht darum, das Prinzip des freien Wettbewerbs zu verteufeln oder eine fundamentalistische Kapitalismuskritik zu üben. Wir alle sollten uns aber Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft die Grenzen des „Ichs“ oder des „Wir“ so auszudehnen vermögen, dass wir gemeinsam den größtmöglichen Gewinn daraus erwirtschaften. Wenn es stimmt, dass vier Augen mehr sehen als zwei, zwei kluge Köpfe bessere Ideen ausbrüten als einer, dann wird es höchste Zeit, dass wir diesen Gedanken auch in unsere Unternehmen tragen und ihn dort zu einem zentralen Wirkungsprinzip erklären. Merke: Vernetzung beginnt immer in den Köpfen!

Die Vorbilder von gestern sind ungeeignet, das nötige Bewusstsein für die Bedeutung von Vernetzung im Unternehmen 2020 zu fördern. Die großen Gründerpioniere des 19. und 20. Jahrhunderts waren mutige Alleinentscheider. Die neue Generation von erfolgreichen Unternehmern sind Brückenbauer: Menschen, die den Wert von Beziehungsgeflechten kennen und diese zum eigenen und zum gemeinsamen Vorteil zu nutzen verstehen. Die neuen Vorbilder heißen Sergey Brin und Larry Page von Google, Mark Zuckerberg von Facebook, Lars Hinrichs von Xing, Pierre Omidyar von eBay oder Jeff Bezos von Amazon. Sie werden wir im Jahr 2020 in unseren Jubiläumsreden feiern, über sie werden Wirtschaftsprofessoren vor staunenden Studenten referieren, nach ihnen wird man Straßen und Plätze benennen.

Natürlich gibt es bereits heute gute Beispiele für Firmen, die sich aufgemacht haben, die neue, vernetzte Welt ins Haus zu holen und aus dem erweiterten „Wir“ Vorteile zu ziehen. Die Hamburger Firma Tchibo ruft auf ihrer Website www.tchibo-ideas.de dazu auf, neue Ideen zur Lösung alter Probleme einzureichen. „Tchibo Ideas“ bezeichnet sich als „offene Plattform für Menschen, die neue Ideen entwickeln und diese gemeinsam mit anderen Menschen vorantreiben wollen“. Man versteht sich auch als Dialogplattform für den regen Austausch zwischen Designern, Erfindern und Entwicklern auf der einen, Kunden und Konsumenten auf der anderen Seite. Alle zusammen bilden die „Tchibo Ideas Community“: Eine Gemeinschaft, innerhalb derer jeder Einzelne vom Wissen und von der Erfahrung des anderen profitieren und dadurch die Möglichkeit erhalten soll, seine eigenen Ideen zu optimieren. Dass Tchibo nebenbei wertvolle Anregungen zur Optimierung des eigenen Produktsortiments erhält, ist aus Sicht des Unternehmens ein ganz handfester Vorteil. Aber nicht der einzige: Wer derart offen mit seinen Kunden umgeht, genießt natürlich einen Vertrauensbonus, kann mit Sympathie und Loyalität rechnen. Das alles ist Teil eines Vorgangs, den wir in diesem Buch als „Kunden-Selbstbindung“ bezeichnen werden, und der inzwischen dabei ist, die überholte Vorstellung von „Kundenbindung“ abzulösen. Ein gebundener Kunde ist nicht frei in seinen Entscheidungen. Der mündige Konsument des Jahres 2020 wird sich solche Handschellen nicht mehr überstreifen lassen. Wer ihn zum Stammkunden machen will, muss in Netzwerken denken können.

Gerade mittelständische Unternehmen werden die Vorteile der Vernetzung in einer globalisierten Welt nutzen müssen, um ihr Überleben langfristig zu sichern. Das erfordert aber eine andere Art der Unternehmensführung, der Arbeitsorganisation, der Produktentwicklung, der Fertigung und des Service. Das heißt nicht mehr und nicht weniger als die Notwendigkeit, das eigene Unternehmen fit zu machen für eine Zukunft, in der Digitalisierung und Vernetzung die treibenden Faktoren der mittelständischen Wirtschaft sein werden.

Dieses Buch wagt einen Blick in diese gar nicht allzu ferne Zukunft. Der Titel – Unternehmen 2020 – das Internet war erst der Anfang – soll bewusst provozieren. Hier wird versucht, die sich bereits deutlich abzeichnenden Trends und Entwicklungen vorsichtig fortzuschreiben und damit den Nachweis zu erbringen, dass in der Vernetzung der Hauptmotor des Fortschritts im kommenden Jahrzehnt liegen wird. Das Buch bringt immer wieder Beispiele von real existierenden Unternehmen, um mögliche Einsatzszenarien hier und heute zu schreiben und damit erreichbare Ziele zu setzen – mutige Macher und Manager, die bereits heute Weichen fürs Unternehmen 2020 gesetzt haben. Damit lädt es zu einer Reise ein in eine Zukunft, deren Ausgangspunkt der Leser schon kennt: sein eigenes Unternehmen.

Christoph Witte*, im März 2010

 

* Christoph Witte ist freier Kommunikationsberater und Publizist. Er war jahrelang Chefredakteur und Herausgeber der Zeitschrift Computerwoche. Witte lebt und arbeitet in München.

KAPITEL 1

Die vernetzte Wirtschaft

Vinton Cerf ist ein netter, etwas altväterlich aussehender Mann mit einem weißen Spitzbart und schütteren Haaren. Wenn er redet, beschreiben seine Hände bedächtige Gesten, die irgendwie beruhigend wirken. Sein Tonfall ist eher leise, seine Worte sind gewählt. Alles andere also als ein Revoluzzer. Und doch hat dieser Mann die vielleicht größte Revolution in der modernen Geschichte angezettelt. Wenn einer den Nobelpreis verdient hat, dann er – aber wenn Sie ihm auf der Straße begegnen würden, wüssten Sie vermutlich nicht einmal, wer er ist.

Vinton Cerf hat zusammen mit seinem Kollegen Bob Kahn Anfang der 70er-Jahre das TCP/IP-Protokoll erfunden. Bis dahin mussten digitale Daten stets über eine feste Leitungsverbindung zwischen zwei Computern hin und her geschickt werden. Dank TCP/IP werden die Daten für den Transport in kleine Pakete verschnürt. Diese können auf unterschiedlichen Wegen und unabhängig voneinander versendet und vom Empfänger wieder zusammengesetzt werden.

Das Internet hatte gleich zwei Väter

Ein bisschen erinnert das an den berühmten Satz von Neil Armstrong bei der ersten Mondlandung: „Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit.“ Denn mit den beiden für Laien kaum verständlichen Abkürzungen (sie stehen für „Transmission Control Protocol“ und „Internet Protocol“) stießen Cerf und Kahn die Tür auf für eine neue Epoche: das Internet-Zeitalter. Und damit haben sie alles verändert.

Wie umwälzend die Erfindung der beiden US-Amerikaner gewesen ist, wird immer klarer. Sie hat die Art verändert, wie wir kommunizieren, wie wir arbeiten und wie wir uns informieren. Aber nirgendwo hat sich das Veränderungspotenzial so deutlich gezeigt wie in den großen und kleinen Unternehmen der Wirtschaft.

Für die Älteren unter uns genügt es, kurz innezuhalten und sich die Frage zu stellen: „Wie haben wir das eigentlich früher gemacht?“ Für die Jüngeren hingegen ist es selbstverständlich, dass Briefe und Geschäftsunterlagen mit Lichtgeschwindigkeit um die halbe Welt sausen, dass Bilder und Videos nach wenigen Mausklicks wie von Geisterhand gemalt auf dem Computerbildschirm auftauchen, dass Menschen an entgegengesetzten Enden der Erde gemeinsam an Dokumenten arbeiten oder komplizierte Genehmigungsverfahren in Minutenschnelle über Netzwerke laufen, dass Manager in Flughäfen oder in Bahnabteilen ihre Arbeit so erledigen, als seien sie im Büro, oder die gar kein Büro mehr haben, weil das Internet feste Arbeitsplätze überflüssig gemacht hat.

Die Veränderungen, die Unternehmen in den letzten zehn bis 15 Jahren umgeformt haben, sind tiefgreifender als alles, was zuvor an Beschleunigung und Vereinfachung auf uns eingeströmt ist, aber wir bemerken es kaum, weil wir so sehr mit dem Augenblick beschäftigt sind. Tatsächlich war es keine Revolution, die das Internet ausgelöst hat, sondern eher eine Evolution, ein langsamer, schrittweiser Wandel, der den privaten und beruflichen Alltag erfasst und verändert hat. Und die Veränderung geht weiter. Was wird zum Beispiel in den nächsten zehn Jahren alles auf uns zukommen? Wie sieht das Unternehmen 2020 aus?

Der Internet-Kühlschrank

Nun, es wird anders aussehen. Das Problem ist nämlich, dass sich die Veränderung nicht aufhalten lässt. Warum das so ist, hat Vinton Cerf dem Schreiber dieser Zeilen vor ein paar Jahren einmal am Rande der CeBIT, der in Hannover stattfindenden größten Technikmesse der Welt, zu erklären versucht, und er hat dazu ein ganz einfaches Beispiel verwendet. „Stellen Sie sich einen Kühlschrank mit Internet-Anschluss vor“, sagte er, und er beeilte sich zu sagen, dass es solche Kühlschränke natürlich schon längst gibt. Sie werden von Firmen wie LG oder Samsung in Korea seit Jahren gebaut, und sie verfügen über einen kleinen eingebauten Computer, einen Webserver und einen Scanner, mit dem sie die Barcodes an den Lebensmittelpackungen lesen können, um beispielsweise festzustellen, ob die Milch schon sauer ist. Der Besitzer kann seinen Kühlschrank programmieren und ihm sagen, was er alles gerne vorfinden möchte, wenn er abends heimkommt. Der Kühlschrank kann die gewünschten Dinge per Internet beim Supermarkt um die Ecke bestellen. Und in Ländern, in denen die Servicekultur etwas ausgeprägter ist als hier bei uns, da werden die Waren ins Haus geliefert und sogar, wenn das gewünscht wird, in den Kühlschrank geräumt.

So weit, so gut. Das ist keine Science-Fiction, sondern längst Realität, auch wenn die Wenigsten unter den geneigten Lesern vermutlich schon einen solchen Kühlschrank in der Küche stehen haben. Aber was wäre, fragte Cerf, wenn es eine Personenwaage mit Internet-Anschluss gäbe. Vorstellbar wäre so was ja: Krankhaft übergewichtige Menschen könnten sich morgens draufstellen, und die Waage würde das Gewicht an den behandelnden Arzt übermitteln, der daraufhin die Medikamentierung entsprechend einstellen oder den Patienten in die Praxis bestellen könnte.

Was aber, wenn der Internet-Kühlschrank auf einmal anfangen würde, mit der Internet-Waage zu kommunizieren? Was käme dabei heraus? Schwer zu sagen. Vielleicht fände der Besitzer abends lauter Diätkost im Kühlschrank vor, oder vielleicht ließe sich die Kühlschranktür eine Zeit lang nicht mehr öffnen, weil die beiden das so beschlossen haben. Sicher ist nur: Es wäre nicht mehr alles so wie früher. „Und warum?“, fragte Cerf und lächelte triumphierend. „Weil die Vernetzung automatisch immer auch Veränderung bedeutet. Egal was Sie vernetzen oder wie Sie das tun. Es kommt am Ende etwas anderes heraus, etwas Unvorhergesehenes, etwas Überraschendes!“

Wenn man bedenkt, dass wir seit mehr als 20 Jahren dabei sind, die Wirtschaft zu vernetzen, darf es eigentlich niemanden überrasehen, wenn dadurch ständig massive Veränderungen in den Unternehmen, in den Behörden, in den Schulen und Wohnzimmern der Welt ausgelöst werden. Und dennoch schütteln wir manchmal kollektiv den Kopf und fragen uns: „Wie konnte das nur passieren?“

Der Netzwerkeffekt – und die Folgen

Die Antwort lautet: Digitalisierung und Vernetzung. Beide hängen eng miteinander zusammen, beide ergänzen und verstärken sich gegenseitig, beide tragen ein hohes Veränderungspotenzial in sich. Es ist wie bei Goethes Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswurde: Es gibt, wenn die Vernetzung erst einmal eine kritische Masse erreicht hat, kein Zurück mehr.

Seit etwa 20 Jahren ist die technische Vernetzung gelebte Wirklichkeit in Unternehmen und Behörden, in Schulen und Krankenhäusern und vor allem in den Wohnzimmern und sogar in den Schlafzimmern von Millionen von Menschen. Diese Vernetzung hat die Welt bereits so sehr verändert wie kaum eine andere Technik zuvor, und dabei stehen wir eigentlich erst am Anfang. Bis zum Jahr 2020 – und weiter wollen wir als fehlbare Menschen in diesem Buch lieber nicht blicken – ist noch mit viel gravierenderen Veränderungen zu rechnen. Aber es liegt im Wesen dieser durch Vernetzung ausgelösten Veränderungen, dass keiner ganz genau sagen kann, wann und wo sie stattfinden werden. Woraus wir die erste und wichtigste Regel für Entscheider im Unternehmen 2020 ableiten können: Seien Sie auf der Hut vor Veränderung! Und haben Sie sie erkannt, dann reagieren Sie schnell – wenn möglich schneller als die Konkurrenz.

Es liegt nämlich leider auch im Wesen der Vernetzung, dass sich das Tempo der durch sie ausgelösten Veränderungen ständig beschleunigt. Schuld daran ist der sogenannte „Netzwerkeffekt“. Er besagt, dass der Nutzen an einem Netzwerk für den Einzelnen wächst, wenn dessen Nutzerzahl größer wird. Der Erste, der diesen Effekt beschrieben hat, war Theodore Vail, der seit 1878 die von Alexander Graham Bell, dem Erfinder des Telefons, gegründete American Bell Telephone Company leitete. Ihm gelang es 1919, die US-Regierung davon zu überzeugen, dass es sinnlos wäre, mehrere konkurrierende Telefonsysteme im Land zuzulassen, weil dadurch der Nutzen für die Teilnehmer und folglich auch das Interesse der Kapitalanleger gering wären, in ein solches für das Land so wichtige System zu investieren. Vail nannte sein Konzept „one system, one policy, universal service“, und er hat damit eines der größten Monopole der Wirtschaftsgeschichte geschaffen, die American Telephone & Telegraph Company, AT&T. Auch nach der Zerschlagung durch die Kartellbehörde im Jahr 1982 ist AT&T immer noch eine der größten Telekomfirmen der Welt.

Wissenschaftlich formuliert wurde der Netzwerkeffekt Anfang der 80er durch den Kalifornier John Metcalfe, dem Chef der Firma Ethernet. Er ging als „Metcalfe’s Law“ in die Technikgeschichte ein, hat aber weit darüber hinaus Gültigkeit und Bedeutung. In seiner Kurzform lautet das Gesetz: Der Nutzen eines Netzwerks steigt im Quadrat zur angeschlossenen Teilnehmerzahl.

Das Gesetz ist universell, es gilt aber insbesondere für Unternehmen, in denen die seit Jahren fortschreitende, oft ziemlich willkürliche und vor allem nach wie vor lückenhafte Vernetzung zwar einerseits schon spürbaren Nutzen gestiftet hat, andererseits aber zu einer verwirrenden Komplexität von Geschäftsprozessen und Beziehungen, zum Beispiel zwischen Anbieter und Kunden, geführt hat. Wenn heute mancherorts von der „vollständigen Vernetzung der Wirtschaft“ gesprochen wird, so bleibt das bis heute leider noch ein ziemlich leeres Versprechen, oder, wie die Angelsachsen sagen würden, „work in progress“ – wir arbeiten noch daran…

Das Zeitalter der digitalen Transformation

Veränderung, die auf Digitalität und Vernetzung basiert, wird von Fachleuten inzwischen häufig als digitale Transformation bezeichnet. Je nachdem, welche Definition des Begriffs Sie heute hören, werden Ihnen auch verschiedene Stoßrichtungen und verschiedene Endziele dieser Entwicklung begegnen. Dem einen geht es um Verbesserung der Prozesseffizienz, dem anderen um die Senkung von Prozesskosten, der Dritte sieht darin die Unterstützung wertschöpfender Unternehmensaktivitäten, wieder ein anderer eher die elektronische Abstimmung und Steuerung von Geschäftsaktivitäten oder die Weiterentwicklung vorhandener Einzellösungen für Unternehmen durch konsequente Vernetzung.

Die Wirtschaftsberater von McKinsey haben digitale Transformation als ein komplexes, individuelles System zur Schaffung von Transparenz bezeichnet, das die unternehmensspezifischen Schwächen beseitigen beziehungsweise ihre Stärken unterstützen soll, um sie effektiver nutzbar zu machen.

Digitalität und Vernetzung sind wie gesagt die zwei treibenden Kräfte beim aktuellen Wandel in der Unternehmenswelt. Nur ist nicht immer sofort offensichtlich, wo sie stattfinden und wie groß ihre Tragweite sein wird. Die große Herausforderung an Manager in einer digitalisierten Wirtschaft wird darin bestehen, die Veränderung für das Unternehmen, für sein Geschäftsmodell und für sie persönlich zu erkennen und darauf zu reagieren. Wer das am besten und am schnellsten kann, wird zu den Gewinnern zählen. Die Langsamen werden unter die Räder kommen.

Es gibt heute kein Unternehmen, das nicht in irgendeiner Form schon von der digitalen Transformation erfasst worden ist. Es gibt kaum einen Bäckermeister in Deutschland, der nicht zumindest einen Internet-Anschluss hat. Über 80 Prozent der mittelständischen Unternehmen sind inzwischen online. Bald werden es alle sein.

Großunternehmen insbesondere haben viel Geld in „Insellösungen“ gesteckt – in einen teureren Webauftritt, zum Beispiel, in einen Online-Shop, ins Intranet, in Customer Relationship Management, in E-Procurement oder Demand Chain Management. Die meisten dieser Lösungen sind dezentral entstanden, oft aufgrund von Eigeninitiative einzelner Abteilungen oder Fachbereiche. Nun stehen Unternehmen häufig vor der schweren Aufgabe, diese Inseln miteinander verbinden zu müssen, damit sie sich endlich rentieren. Hier wird digitale Transformation zu voll vernetzten Systemen führen, bei denen bereits bestehende Lösungen mit den neuen verzahnt sind, um das Versprechen, das sich aus der Digitalität der Vernetzung ergibt, tatsächlich einlösen zu können.

Es geht darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit Information und Wissen im Unternehmen auch wirklich benutzt werden können. Unsere Systeme sind zwar teilweise schon digital, aber nicht ausreichend vernetzt. Wir können nicht wirklich auf diese Informationen, die heute einen wichtigen Teil unseres Firmenvermögens darstellen, in dem Augenblick zugreifen, wo wir sie eigentlich benötigen, weil immer irgendwo ein Schnittstellenproblem oder ein Kompatibilitätsproblem besteht. So kommt es immer wieder zu Medienbrüchen und Blockaden, die Zeit, Geld und Ärger kosten. Die digitalen Zahnräder greifen nicht ineinander, irgendwo klemmen immer ein paar Bits und Bytes.

E-Enabling: Startschuss zur totalen Vernetzung

Der erste Schritt auf dem Weg zur notwendigen digitalen Transformation der Unternehmen heißt „E-Enabling“, also das Unternehmen fit zu machen für die digitale Zukunft. Das ist heute die größte Aufgabe, vor der die Wirtschaft steht. Es beginnt damit, dass Prozessabläufe überhaupt digitalisiert werden müssen. Das ist keine triviale Aufgabe, denn um Prozessabläufe zu digitalisieren, muss man nicht nur etwas von Computern und von Software verstehen, sondern etwas von Prozessen. Gleichzeitig muss man seine Wertschöpfungsketten anzusehen und versuchen, durch Entbündelung und Neugestaltung, durch Outsourcing und Insourcing schlagkräftiger zu werden. Das sind keine typischen IT-Aufgaben, sondern Aufgaben des Topmanagements. Digitale Transformation ist Chefsache.

Die drei Ziele von digitaler Transformation kann man heute relativ gut beschreiben: Prozessoptimierung, Konzentration auf Kernkompetenzen und fokussiertes Wachstum. Bei Ersterem steht die operative Verbesserung im Mittelpunkt. Hier geht es um webbasierte Anwendungen, die sich modular erweitern lassen, die nach den Bedürfnissen und Erkenntnissen des Unternehmens wachsen können. So lassen sich schnell operative Verbesserungen und weitgehende Transparenz schaffen. Das gilt auch bei kleineren Firmen, die bisher nicht in der Lage waren, die Möglichkeiten von EDI (Electronic Data Interchange – Austausch von strukturierten Daten zwischen Geschäftspartnern) etwa zur Anbindung von Lieferanten, Kunden oder Vertriebspartnern zu nutzen, weil es für sie nicht wirtschaftlich gewesen wäre. Damit sind sie in der Lage, ihre Prozesskosten teilweise dramatisch zu senken, etwa durch ein webgestütztes Beschaffungswesen, aber auch durch flexible, situationsgerechte Anpassung der Prozesse.

Das zweite Element, die Konzentration auf die Kernkompetenzen, ist spätestens seit der Veröffentlichung von „Back To The Core“ durch Autoren der US-Unternehmungsberatung Bain & Company ein zentrales Thema in der Wirtschaft. Es wird zunehmend offensichtlich, dass wir uns in der Hochphase des Goldrauschs häufig verzettelt haben. Unternehmen wollten Wachstum um jeden Preis und in jeder Richtung, und irgendwie ging es ja auch lange gut: Man konnte als Manager ja fast keine Fehler machen. Man eröffnete nur irgendwo etwas Neues, und dann boomte es auch schon. Heute stellen wir plötzlich fest, dass wir uns häufig übernommen haben und uns mit Dingen belasten, die gar nicht zu unserer Kernkompetenz gehören. Diese unrentablen Nebenkriegsschauplätze wirken sich aber belastend auf das Unternehmensergebnis aus. Deswegen wird alles wieder dichtgemacht, womit wir aber natürlich auch Chancen vergeben, nämlich zur Neukonfiguration von Wertschöpfungsketten. Digitale Transformation bietet hier die Möglichkeit, durch effizientes und einfaches In- oder Outsourcing die Chancen auf fokussiertes Wachstum zu wahren.

Die Konzentration auf die eigenen Stärken zwingt das Unternehmen, sich in seiner Rolle neu zu definieren. Es gibt im Wesentlichen zwei Wege, die wir gehen können. Der eine ist der des Spezialisten, also desjenigen, der sich auf wenige oder auf eine Kernkompetenz konzentriert, meist also auf ein einziges Segment in der Wertschöpfungskette. Andererseits gibt es etwas, das wir als virtuelle Integratoren bezeichnen, also solche, die sich auf das Management von ganzen Wertschöpfungsketten von Lieferanten fokussieren. Für die IT-Branche lassen sich zwei Beispiele zitieren: einerseits als Spezialist die Firma Flextronics, die sich konsequent auf Komponenten und Speicher konzentriert hat, andererseits die Firma Dell als Paradebeispiel für einen virtuellen Integrator, der auf geschickte Art und Weise ein Heer von Lieferanten, Distributoren und Partnern so gewinnbringend miteinander vernetzt hat, dass daraus ein hochprofitables virtuelles Unternehmen geworden ist. Konzentration auf Kernkompetenz dient also in jedem Fall dem Ziel einer erhöhten Wettbewerbsfähigkeit.

Als drittes Element gilt die Erschließung von neuen Wachstumsoptionen. Die neuen Rollen von Spezialisten bieten dem Unternehmen jetzt die Möglichkeit, neue Dienstleistungen anzubieten und ihre Kernkompetenzen und ihr Spezialwissen anderen in der eigenen Branche, aber auch in anderen Wirtschaftszweigen zur Verfügung zu stellen. Viele große Erfolgsstorys der letzten Zeit wurden von Unternehmen geschrieben, die diesen Weg gegangen sind. IBM hat es in den letzten Jahren geschafft, sich als Service Company komplett neu zu erfinden.

Andere Möglichkeiten, durch digitale Transformation in neue Wachstumsgebiete vorzustoßen, sind die Angebote von digitalen Leistungen. Nicht umsonst ist es so, dass sich heute in allen großen Branchen teilweise mehrere Industrieplattformen oder von mehreren Herstellern gemeinsam betriebene elektronische Marktplätze etabliert haben, etwa in der Automobilindustrie oder in der Chemiebranche. Diese von Industrieriesen betriebenen Plattformen zwingen ihrerseits den Mittelstand, sich digital zu vernetzen, denn nur so bleiben sie mit den Großen im Geschäft. Wer nicht mitmacht, der ist früher oder später nicht mehr Lieferant.

Schließlich ist auch das Angebot von komplett neuartigen „E-Services“ denkbar, aufbauend auf der eigenen Kernkompetenz. Ein Maschinenbauunternehmen wäre beispielsweise in der Lage, externen Kunden sein eigenes Fachwissen im Bereich des Monitorings und der Fernwartung von Geräten anzubieten, etwa, indem es sie per Internet überwacht. Denkbar sind auch werkstückbezogene Services oder In-Process-Tests, die bei laufendem Betrieb der Maschine vorgenommen werden können, vor allem aber ohne die physische Präsenz eines Servicetechnikers. All dies kann Wachstumspotenzial für ein Unternehmen sein, das eigentlich in einem völlig anderen Bereich tätig ist. Möglich wird dies durch konsequente Nutzung von digitaler Transformation.

Bleibt die Frage: Ist das denn auch wirklich zielführend und kann man den Erfolg auch messen? Dazu zwei Aussagen: Einmal ein Zitat aus der Computerwoche, die kürzlich festgestellt hat, dass Firmen die konsequent E-Enabling betrieben haben, die Kosten für Auftragsabwicklung und Beschaffung deutlich, teilweise sogar um bis zu 90 Prozent gesenkt haben. Oder nehmen Sie die Firma Cisco, einer der Pioniere der digitalen Transformation. Cisco hat es nach eigenen Angaben geschafft, die Fehlerquote bei der Auftragsausübung durch E-Enabling um 90 Prozent zu senken. Die Kundenzufriedenheit sei exzellent, der Umsatz sei mittlerweile fast doppelt so hoch wie im vergleichbaren Branchendurchschnitt.

Digitale Transformation bedeutet also kein vages Zukunftsversprechen, sondern bereits hier und heute realisierte Renditevorsprünge. Es geht auch nicht um Peanuts, sondern um die großen Kostenblöcke im Unternehmen. Kein Wunder, dass die IT-Branche trotz allgemeiner Wirtschaftsflaute auch 2008 und 2009 stolze Wachstumsraten hingelegt hat. Merke: Vernetzung kennt keine Rezession.

Weg mit dem digitalen Müllberg

„40 Jahre Internet – und immer noch ertrinken deutsche Unternehmen in einem Meer von Papier!“ Steffen Tampe schüttelt den Kopf. Der Fachmann für Dokumentenmanagement ist Direktor bei der Unternehmensberatung BearingPoint in Leipzig, und er erlebt jeden Tag, wie kleine und große Firmen Geld vernichten mit Geschäftsprozessen, die seiner Meinung nach noch in der „digitalen Steinzeit“ festsitzen. Was ihnen fehlt? Der Sachse denkt kurz nach und fällt dann ein vernichtendes Urteil: „Sie haben leider immer noch nicht den Wert von Vernetzung verstanden.“

Tatsächlich hat sich der Büroalltag in vielen Firmen trotz PC und Internet in vielen entscheidenden Details nicht wirklich verändert. Noch immer wandern Papierdokumente von Schreibtisch zu Schreibtisch, werden E-Mails ausgedruckt und dem Chef in der Postmappe vorgelegt, suchen hoch qualifizierte Mitarbeiter oft stundenlang im Keller nach einem falsch abgelegten Vermerk oder einem wichtigen Vertrag, öffnen selber ihre Briefe und stellen sich am Kopierer hinten an – alles Dinge, die laut Tampe eigentlich längst der Vergangenheit angehören müssten, wenn Unternehmen „ihre Hausaufgaben gemacht und rechtzeitig in ECM investiert hätten.“

Die drei Buchstaben ECM stehen für „Enterprise Content Management“, zu Deutsch „unternehmensweites Dokumentenmanagement“, und sie beschreiben eine Welt, die seit Jahren zwar beschworen, aber nie wirklich ernsthaft in Angriff genommen worden ist, nämlich das (weitgehend) papierlose Büro. Nicht, dass Leute wie Tampe ernsthaft glauben, dass Papier ganz aus dem Arbeitsalltag verschwinden wird. „Aber wenn man konsequent versuchen würde, Papier überall dort durch Digitaltechnik zu ersetzen, wo es Sinn macht, könnte die Wirtschaft jedes Jahr Milliarden sparen“, ist er überzeugt.

Brinda Dalal, eine Anthropologin, die für das Entwicklungslabor der Firma Xerox in Kanada arbeitet, wühlt hauptamtlich in den Papierkörben anderer Leute und bezeichnet sich deshalb selbst als „garbologist“ – als Müllforscherin. Sie hat bei ihren Grabungen erstaunliche Erkenntnisse zutage gefördert, zum Beispiel die, dass der durchschnittliche Wissensarbeiter pro Monat 1 200 Blatt bedrucktes oder kopiertes Papier produziert – zweieinhalb handelsübliche Packungen also. Und was noch schlimmer ist: Ein Fünftel davon wandert noch am gleichen Tag in die Tonne. Insgesamt 44,5 Prozent aller Papierdokumente werden nur für den täglichen Arbeitsbedarf erstellt, also Auftragszettel, Entwürfe oder Notizen.

Wie es anders gehen kann, zeigt das Beispiel der Firma Gabel-Schmidt in Winsen an der Luhe, ein 300 Jahre alter Schmiedebetrieb. Etwa 30 Mitarbeiter fertigen hier Stahlzinken für Gabelstapler, und zwar sowohl Serienteile wie auch Spezialanfertigungen, für die zum Beispiel oft besondere Wärmebehandlungen nötig sind. Die Dokumentation der Bauteile sowie der Qualitätskontrolle erfordert eine Flut von Dokumenten und Formularen, die früher in Aktenordnern gesammelt wurden, die während der Fertigung durch den Betrieb wanderten. Nach der Auslieferung kamen Installationsprotokolle und Kundenberichte vom Außendienst hinzu – ein stattlicher Papierberg für jede ausgelieferte Gabel. Inzwischen sind die Ordner verschwunden. Stattdessen kann jeder Mitarbeiter bei Bedarf eine elektronische Akte aufrufen und bekommt alle wesentlichen Dokumente zu dem betreffenden Bauteil digital auf dem Bildschirm präsentiert. Selbst handgeschriebene Notizen sind dort abgelegt und können jederzeit abgerufen werden. „Wir wollten nicht mehr, dass wichtige Mitteilungen auf Papier in Schränken einstauben, sondern transparent für jeden zugänglich sind“, sagt Geschäftsführerin Michaela Schmidt-Lucht. Das System der Firma Mesonic aus Scheeßel in Niedersachsen wurde ursprünglich für die Warenwirtschaft eingeführt, steht aber inzwischen auch Mitarbeitern in der Finanzbuchhaltung ebenso zur Verfügung wie dem Vertrieb. Geplant ist auch die Anbindung einer bereits existierenden Reklamationsabwicklung.

Der Anteil an digitalen Dokumenten in einem normalen deutschen Unternehmen liegt einer Studie von IBM zufolge zwar inzwischen schon recht hoch; zwischen 70 und 80 Prozent der Papierdokumente werden irgendwann gescannt, dazu kommen von den Mitarbeitern bereits in Digitalform erstellte Word-Dokumente oder Excel-Tabellen sowie E-Mails. Doch bleiben die meisten davon ungenutzt, weil nicht zentral darauf zurückgegriffen werden kann. „Maximal 20 Prozent der Dokumente liegen in codierter Form vor, können also jederzeit gefunden und auch von anderen verwendet werden“, sagt Feri Clayton, Leiterin der ECM-Entwicklung bei der IBM Software Group. Der Rest lagert irgendwo auf den Festplatten der Mitarbeiter oder auf dem Mail-Server – „also de facto auf dem digitalen Müllberg, den es fast in jedem Unternehmen gibt“, wie sie behauptet.

Das Ziel von ECM, so Clayton, ist es, „Geschäftsprozesse stromlinienförmig zu verschlanken, damit Unternehmen Mehrwert aus den Informationen ziehen können, die bereits im Haus vorhanden sind. Das macht sie profitabler und produktiver.“

Die Einführung von ECM sollte bei den einfachen, alltäglichen Dingen beginnen wie beispielsweise dem Posteingang, rät Michael Schiklang, Analyst am Business Application Research Center (BARC), einer Ausgründung der Uni Würzburg. Die gängige Unternehmenspraxis sieht nach seiner Beobachtung so aus: Briefe werden entweder ungeöffnet in die Fachabteilung getragen oder, wenn der richtige Empfänger nicht sofort ersichtlich ist, in der Poststelle geöffnet und inhaltlich zugeordnet. Häufig bleibt die Korrespondenz im Posteingangskorb liegen, etwa wenn der Empfänger im Urlaub, außer Haus oder im Meeting ist – obwohl der Brief unter Umständen wichtige Informationen enthält, die zum Abarbeiten eines Geschäftsvorgangs benötigt werden. Häufig betrifft das Dokument mehrere Mitarbeiter, also werden Kopien gemacht und herumgeschickt. Ist der Vorgang abgeschlossen, wandern die Papieroriginale ins Archiv, wo sie gescannt und entweder weggeworfen oder – wenn es entsprechende Aufbewahrungspflichten gibt – in Aktenordnern abgelegt werden.

„Das Thema automatische Posteingangsbearbeitung gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung“, behauptet Schiklang. Grund dafür ist neben der Genauigkeit der Schrifterkennungssysteme auch das Bewusstsein von Unternehmen, dass die teilweise Automatisierung von Prozessen erhebliche Qualitätsund Zeitvorteile mit sich bringt sowie Kosten senkt.

Entscheidend ist, dass die Papierpost gleich zu Beginn durch Scannen digitalisiert wird. Das Original kann gleich im Archiv verschwinden, das elektronische Abbild nimmt seinen Weg durchs Unternehmen, wobei intelligente Software in der Lage ist festzustellen, um was für ein Dokument es sich handelt und zu welchem Vorgang es gehört, etwa durch Erkennen der Kunden- oder Rechnungsnummer. Sobald der zuständige Sachbearbeiter das Dokument öffnet, ruft das System sämtliche anderen für die Bearbeitung notwendigen Dokumente aus dem digitalen Archiv auf und zeigt sie ebenfalls an, was dem Mitarbeiter zeitraubendes Suchen erspart und die Genauigkeit der Bearbeitung erhöht. „Der entscheidende Unterschied ist, dass vorher gescannt wird und nicht nachher“, sagt Schiklang.

Besonders deutlich wird der Vorteil der digitalen Sachbearbeitung bei Dingen wie komplizierten Sammelrechnungen, die oft Dutzende oder Hunderte von Einzelposten enthalten. Alleine für die Prüfung einer einzigen Rechnung benötigte bei der Loewe AG in Kronach ein Buchhalter häufig bis zu einer halben Stunde oder mehr. „Heute schafft er das in zwei Minuten“, sagt Christoph Schüler, Chef des Rechnungswesens beim renommierten Fernsehhersteller. Bei einem Einkaufsvolumen von mehr als 200 Millionen Euro nur für die Fertigung schlagen solche Zeitersparnisse spürbar auf die Kosten durch. Das vom deutschen Spezialanbieter Beta Systems gelieferte digitale Rechnungsbearbeitungssystem hat nicht nur die Durchlaufzeiten verkürzt: Schüler kann jetzt auf einen Blick erkennen, welche Rechnungen im Haus unterwegs sind, und kann dort, wo es offensichtlich hakt, auch mal nachfassen. Loewe kann dadurch auch die Vorsteuer früher abziehen und die Skontomöglichkeiten voll ausschöpfen. „So verbuchen wir unmittelbare Zeitgewinne, bekommen unser Geld schneller vom Finanzamt zurück und konnten unseren Cashflow verbessern“, freut sich Schüler.

Aber auch wenn die interne Vernetzung bei solchen Prozessen wie Postbearbeitung oder Rechnungswesen wie ein Turbolader wirkt, hört der Effekt bei den meisten Unternehmen bis heute schon an der Haustür auf. Der Grund: Trotz Digitalisierung und des Siegeszugs von E-Mail werden beispielsweise Rechnungen immer noch wie zu Kaisers Zeiten mit der guten, alten „Schneckenpost“ versandt – ein Umstand, der bei Steffen Tampe blankes Unverständnis auslöst. „Mit digitalem Rechnungsversand kann jedes Unternehmen bis zu 95 Prozent sparen, und zwar sofort!“, sagt er, und seine Stimme klingt fast zornig.

Tatsächlich gibt es seit mehr als zehn Jahren das sogenannte „E-Invoicing“ oder „E-Billing“ auch in Deutschland, also die vollständig auf elektronischem Weg übermittelte Rechnung. Allerdings spielt sie im Geschäftsalltag bis heute so gut wie keine Rolle: Lediglich fünf Prozent aller Rechnungen in Europa werden digital verschickt, wie eine Studie der Deutschen Bank im Frühjahr 2009 ergab. Am häufigsten verwenden Firmen in Estland den elektronischen Rechnungsversand, Deutschland taucht in der Tabelle erst an sechster Stelle auf – hinter Ländern wie Norwegen und Italien!