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CHRISTOPHER HITCHENS

THE HITCH

GESTÄNDNISSE EINES UNBEUGSAMEN

Aus dem Englischen

von Yvonne Badal

Karl Blessing Verlag

Titel der Originalausgabe: Hitch-22 – A Memoir

Originalverlag: Twelve, Hachette Book Group USA, New York

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Christopher Hitchens

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur,

Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-06969-8

www.blessing-verlag.de

Für James Fenton

Caute

Ein Urheberrecht kann ich nur für mich selbst und gelegentlich für bereits Verstorbene geltend machen, oder für alle, die über dieselben Ereignisse schrieben oder aus akzeptablen Gründen Anonymität erwarten, oder die derart himmelschreiende allgemein bekannte Scheißkerle sind, dass sie ihr Recht auf Meckern verwirkt haben.

Für alle die ich liebte, oder die so nachsichtig und gnadenreich waren, mich geliebt zu haben, finde ich hier nicht genug der Worte, erinnere mich aber dankbar, wie sprachlos sie ihrerseits mich machten.

Des Herzens Begehr ist wie die Wendel geschraubt.
Ungeboren zu sein ist für den Menschen das Beste.
Das Zweitbeste ist, du folgst einer Weisung,
Dem Muster des Tanzes: tanze solange du kannst,
Tanze, tanze, denn leicht ist die Figur,
Die Melodie reißt dich mit und endet nicht.
Tanze, bis die Sterne vom Himmelszelt fallen,
Tanze, tanze, tanze bis zum letzten Schritt.

W. H. Auden: »Death’s Echo« (übertragen von Yvonne Badal)

Wir alle müssen sterben, das heißt, wir haben Glück gehabt. Die meisten Menschen sterben nie, weil sie nie geboren werden. Die Männer und Frauen, die es rein theoretisch an meiner Statt geben könnte und die in Wirklichkeit nie das Licht der Welt erblicken werden, sind zahlreicher als die Sandkörner in der Sahara. Und unter diesen ungeborenen Geistwesen sind mit Sicherheit größere Dichter als Keats, größere Wissenschaftler als Newton. Das wissen wir, weil die Menge an Menschen, die aus unserer DNA entstehen könnten, bei weitem größer ist als die Menge der tatsächlichen Menschen.
Und entgegen dieser gewaltigen Wahrscheinlichkeit gibt es gerade
Sie und mich in all unserer Gewöhnlichkeit.

Richard Dawkins: Der entzauberte Regenbogen
(übersetzt von Sebastian Vogel)

Ach, Worte sind armselige Belege für das, was die Zeit gestohlen.

John Clare: »Remembrances«

Vorwort

Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben,
vielmehr schöpfe das Mögliche aus.

Pindar: Dritte pythische Ode

Ich hoffe, es erscheint nicht allzu vermessen, wenn ich die Vermutung äußere, dass der Leser, welcher sich dazu hinreißen ließ, diese deutsche Ausgabe meiner Memoiren zu erwerben, inzwischen weiß, dass ihr Autor zum Zeitpunkt, da er sie schrieb, noch nicht ahnte, ernstlich und möglicherweise tödlich erkrankt zu sein.

Unabhängig davon wird ihm vermutlich auffallen (was sich nun auch dem Autor mit aller Macht aufdrängt), dass nicht nur die drei ersten Kapitel, sondern auch viele spätere Passagen von einer tiefen Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod oder mit den Toden in meiner Familie sprechen. Bis zu einem gewissen Grad ist das natürlich angemessen für eine Autobiografie. Als ich mich dieser Aufgabe annahm, näherte ich mich gerade dem kleinen aber merklichen Schritt über die Grenze zu meinem sechsten Lebensjahrzehnt. Als ich diese Grenze überschritt – und somit ein Alter erreicht hatte, in dem man Namen von gleichaltrigen Zeitgenossen in den Todesanzeigen zu entdecken beginnt –, war ich noch immer mit ihr befasst. Als das Buch 2010 in den Vereinigten Staaten erschien, war ich gerade einundsechzig geworden. Und dieses Vorwort schreibe ich nun zu einem Zeitpunkt, an dem ich, so sagen meine Ärzte, nicht sicher sein darf, noch einen weiteren Geburtstag feiern zu können.

Auf der anderen Seite, sozusagen, darf ich der Brillanz und Fähigkeit dieser Ärzte sei Dank hoffen, noch einige Jahre zu leben und diese sogar erfreulich und lohnend zu finden. Wie unterscheidet sich das in letzter Konsequenz von dem Leben, das ich davor führte? Du weißt immer, dass deine Lebenszeit befristet ist, so wie du immer weißt, dass eine Krankheit oder ein Unfall oder eine physische, auch geistige Behinderung nie mehr als nur einen Atemzug entfernt sind.

Um hier ein kurzes narratives Resümee zu ziehen: Während sich das Buch seiner Vollendung näherte, hatte ich zunehmend das Gefühl, immer schneller und leichter zu ermüden. Ein, zwei Mal äußerten Menschen, die mich im Fernsehen gesehen hatten, Besorgnis angesichts meiner Erscheinung. Doch ich erholte mich ausnahmslos und ohne große Probleme von solchen Erschöpfungszuständen, auch die Ergebnisse sämtlicher Routineuntersuchungen sprachen von einer außerordentlich guten Gesundheit für mein Alter. Mein Leben ist Arbeit und Arbeit mein Leben, und ich habe immer sehr bewusst Sorge getragen, dass ich es über die Maßen auskoste. Zweifellos genoss ich es, auf Reisen zu gehen, um Aufträgen als Schreiber oder Redner nachzukommen, durchschnittlich einmal pro Woche, und dennoch alle Deadlines für meine Kolumnen einzuhalten. Niemals mangelte es mir an Freunden oder an Gesellschaft, trotzdem blieb ich unersättlich auf der Suche nach beidem. Wie dieser Mann in dem alten Märchen musste auch ich mir manchmal lachend eingestehen, dass ich wohl besser auf mich achtgegeben hätte, hätte ich gewusst, dass ich so lange leben würde. Die Stories über meinen unkonventionellen »Lebensstil« waren übertrieben, wie ich auf den kommenden Seiten verdeutlichen werde, aber letztendlich vielleicht doch nicht allzu aufgebauscht. Ich hatte eine sehr produktive und für mich zufriedenstellende Arbeitsweise entwickelt, und so deren Erfolg denn ein klein wenig von Cocktails und durchlesenen oder durchstrittenen Nächten abhing, oder gar (wie im Lauf der Arbeit an diesem Buch) vom Rückfall in alte Rauchergewohnheiten, dann, fand ich, war es das wert.

Daher also mein Zustand relativer Unbekümmertheit, als ich im Frühjahr 2010 den ersten Ablaufplan meiner bevorstehenden Publicity-Tour für das vorliegende Buch erhielt. Es war ein grandioser, ein verschwenderisch aufwändiger Plan, der mich von Australien über Großbritannien durch die gesamten Vereinigten Staaten und Kanada führen sollte. Ich halte nichts von Vorahnungen (heute ist unübersehbar, dass mein Körper mir etwas zu sagen versuchte), will nur konstatieren, dass ich ihn las und ziemlich gelassen dachte: »Ich werde das nicht bis zum Ende durchstehen.« Innerlich bereitete ich mich darauf vor, anschließend mehrere Monate »frei« zu nehmen (was ich mir noch nie zuvor gewünscht hatte) und ernstlich einen Termin beim Arzt zu machen. Die Tour begann gut, doch plötzlich verschaffte sich mein Körper Geltung. Zum ersten Mal holte es mich in New York von den Beinen. Es wurde mir nahe gelegt, eine Krebs-Biopsie machen zu lassen. Das nächste Mal – ich hatte die Biopsie hinter mir und beschlossen, während des Wartens auf die Ergebnisse so vielen Verpflichtungen wie nur möglich nachzukommen – in Boston. Mein lieber Freund Cary Goldstein, der beide Male an meiner Seite gewesen war, ist der Grund, dass ich das alles überhaupt aufschreiben kann. Seither habe ich von einer Chemotherapie zur anderen gelebt, in manchen Phasen von einem Painkiller zum nächsten, und auf die Möglichkeit einer Behandlung gewartet, die spezifisch auf mein Genom und mein Malignom zugeschnitten ist. (Ich leide unter Speiseröhrenkrebs im vierten Stadium. Ein fünftes Stadium gibt es nicht.)

Ein roter Faden durch The Hitch ist die Notwendigkeit, zweierlei Arten von Büchern zu führen. Mein gegenwärtiger Zustand verstärkt dieses Gebot eher noch. Ich sehe mich gezwungen, parallele Vorbereitungen für meinen Tod und für ein Weiterleben zu treffen: Anwälte am Vormittag, wie ich einmal sagte, und Ärzte am Nachmittag. Einer glücklicheren Dimension meines Lebens, der des Reisens, wurde ich zwangsberaubt: ein großes Elend. Aber ich habe festgestellt, dass ich noch immer den Willen besitze, zu schreiben, und nach wie vor auch die Gier nach dieser so unerlässlichen Sache für jeden Schreiber: dem Lesen. Wenn auch reduziert durch die kürzere Zeitspanne, die ich nun jeden Tag bei Bewusstsein bin, und eingeschränkt durch den Gedanken an den möglichen Verlust des Bewusstseins per se, bleibt damit letztendlich nur ein bisschen weniger für das, was mich insgeheim immer so dankbar machte: die Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt mit den beiden Tätigkeiten zu verdienen, die mir am teuersten sind.

Wie wichtig ein anderer roter Faden durch meine Memoiren ist – die ungemeine Bedeutung von Liebe, Freundschaft und Solidarität –, wurde mir durch meine jüngsten Erfahrungen noch um ein Vielfaches anschaulicher gemacht. Ich kann nicht einmal hoffen, Ihnen vermitteln zu können, welche Wirkung Umarmungen und Bekenntnisse wirklich haben, aber vielleicht darf ich einen kleinen Rat geben: Wenn es einen Menschen gibt, von dem Sie wissen, dass ihm ein Brief oder ein Besuch guttun würde, dann schieben Sie es unter gar keinen Umständen auf die lange Bank. Es wird etwas bewirken, das nahezu sicher weit mehr ist, als Sie es sich vorstellen konnten.

Was mich in meinem Leben vor allem antrieb, war die Bekämpfung des Aberglaubens. Und das bedeutet unter anderem, sich all dem Grässlichen entgegenzustellen, von dem er sich nährt. Aus unerfindlichen Gründen hält es unsere Kultur für normal, ja, sogar für anerkennenswert, wenn die Gottesfürchtigen sich derer annehmen, denen, wie sie glauben, das Ende naht. Ein ganzes Denkgebäude an Kitsch – an erfundenen »Bekehrungen am Totenbett« und an tränenreich erbaulicher Literatur – entstand aus dieser höchst fragwürdigen Anmaßung. Ich hätte beschließen können, es übelzunehmen (diese seidenweiche Einladung, meine Überzeugungen hinzugeben, wenn in höchster Not: welche Beleidigung, auch welches Non sequitur!). Doch tatsächlich war ich dankbar für die intensive Aufmerksamkeit, die mir von den Frommen entgegengebracht wurde: sie gab, wenn Sie so wollen, meinem Atheismus noch einmal neuen Auftrieb, und sie half mir, eine lange Debatte am Leben zu erhalten, zu der ich stolz ein wenig beigetragen zu haben sagen darf. Dass diese Debatte mich überleben wird, ist eine Bemerkung, die zu allen Zeiten zutreffend gewesen wäre.

Statt an Prayer Breakfasts zu meinen Ehren anlässlich eines im Web doch tatsächlich so geheißenen Pray for Hitchens Day teilzunehmen, habe ich auch diesen Tag wie den Großteil des vergangenen Jahres damit verbracht, mich als Versuchsperson für diverse klinische Tests und »Protokolle« zur Verfügung zu stellen, im Wesentlichen genetischer Art, die auf die Expansion des menschlichen Wissens und auf die Reduktion jenes Reichs der Dunkelheit und des Schreckens abzielen, in welchem der Krebs regiert. Es liegt auf der Hand, dass ich damit kein uneigennütziges Ziel verfolge, andererseits befinden sich viele dieser Experimente in einem so frühen Stadium, dass Ergebnisse in viel zu ferner Zukunft zu erwarten sind, um mir noch helfen zu können. Ich zitiere in diesem Buch Horace Manns mahnende Worte: »Solange du nichts für die Menschheit erreicht hast, solltest du dich schämen zu sterben«. Damit gebe ich also eine bescheidene und unbedeutende Antwort auf seine Herausforderung, so viel steht fest, aber es ist die, die ich geben kann. Der Einbruch des Todes in mein Leben hat es mir ermöglicht, meine Verachtung für den falschen Trost der Religion und meinen Glauben an die zentrale Bedeutung von Wissenschaft und Vernunft um eine Petitesse konkreter zum Ausdruck bringen zu können.

Nicht alle meine Meinungen stellten sich als gerechtfertigt heraus, nicht einmal vor mir selbst. Ich lese gerade nach, was ich in diesem Buch schrieb: »Ich persönlich möchte sterben ›tun‹, im Aktiv, nicht Passiv, möchte anwesend sein, um dem Tod ins Auge zu blicken und etwas zu tun, wenn er mich holen kommt.« Im Licht meines heutigen Wissens kann ich diese Sorglosigkeit nicht mehr teilen. Sollten die großen Mühen meiner Ärztefreunde vergeblich sein, dann verfüge ich über eine ziemliche klare Vorstellung, wie der Speiseröhrenkrebs im vierten Stadium seine Ernte einfährt. Das Endstadium lässt nicht mehr viel »Tun« zu, oder gar gefasste Verabschiedungen, geschweige denn einen stoischen und sokratischen Abgang. Deshalb bin ich dankbar, bereits ein luzides Intervall von einiger Dauer erlebt und es mit Freundschaft und Liebe und Literatur und dem Dialektischen gefüllt zu haben, mit all den Elementen, die, wie ich hoffe, auch das vorliegende Buch etwas beseelen. Ich wurde nicht geboren, um irgendwas von all den Dingen zu tun, die ich auf den kommenden Seiten schildere. Ich wurde geboren, um zu sterben. Und diese Coda kann nur mein Versuch sein, das Erzählte in sein Ende zu integrieren.

Christopher Hitchens

Washington, D. C.,

20. Januar 2011

Prolog mit Prämonitionen

Was kann das England von 1940 schon mit dem England von 1840 gemein haben? Andererseits, was hast du mit dem fünf-
jährigen Kind gemein, dessen Fotografie deine Mutter auf dem Kaminsims hütet? Nichts, außer dass du zufällig dieselbe
Person bist.

George Owell: »England Your England:
Socialism and the English Genius«

Wenn man seine eigene Todesanzeige liest, heißt es, lebt man länger. Läßt einen noch mal zu Atem kommen. Neues Leben in die Lungen.

Leopold Bloom in: James Joyce, Ulysses
(Übersetzung von Hans Wollschläger)

Vor mir liegt ein nobles Exemplar von Face to Face, dem eleganten Magazin, das an die Förderer der Londoner National Portrait Gallery versandt wird. Es enthält die üblichen Ankündigungen kommender Events und Ausstellungen. Die Seite, die mir sofort ins Auge fiel und mich in ihren Bann zog, macht auf eine Ausstellung aufmerksam, die am 10. Januar 2009 unter dem Titel »Martin Amis And Friends« eröffnen soll. Es ist eine Werkausstellung der begabten Fotografin Angela Gorgas, die von 1977 bis 1979 Martins Lover war. Auf der Seite ist ein Foto abgebildet, das 1979 in Paris aufgenommen wurde. Es zeigt von links nach rechts mich, James Fenton und Martin nebeneinander an eine Balustrade gelehnt, im Hintergrund der Blick auf Paris. Ich erinnere mich gut an diesen Moment: es war nach einem ordentlichen Lunch irgendwo am Montmartre, und wir blickten gerade auf die grässliche Zuckerbäckerarchitektur von Sacré-Cœur (was vielleicht meinen etwas säuerlichen Ausdruck erklärt) über Angelas wohlgeformten Schultern. In dem offenbar von Angela verfassten Begleittext steht über die Zeit, in der sie dem bezaubernden jungen Amis erstmals begegnet war:

Martin war Literaturredakteur beim New Statesman, wo er mit dem verstorbenen Christopher Hitchens und dem mit Martins damaliger Literaturagentin Pat Kavanagh verheirateten Julian Barnes zusammenarbeitete.

Da steht sie also in kalten Lettern, diese simple, schnörkellose Formel, die unbestreitbar eines Tages wahr werden wird. Es ist nicht jedem gegeben, von seinem eigenen Tod zu lesen, ganz zu schweigen dessen so prosaisch beiläufige Bekanntgabe. Ich schreibe diese Zeilen im sterbenden Jahr 2008, nachdem ich gerade diese mahnende Nachricht aus der Zukunft erhielt – eine Zukunft, die meine Teilnahme an der Eröffnung dieser Ausstellung und die Veröffentlichung meiner Memoiren vermutlich noch parat hält. Die Vorschau im Katalog, und die Auskünfte, die er gibt, zitieren beispielhaft noch andere mir sehr präsente Elemente aus meiner Vergangenheit, wobei mir ziemlich abrupt einfiel:

Between the idea
And the reality
Between the mo
tion
And the act
Falls the Shadow.1

T. S. Eliots »Hollow Men« sind nicht zu meiner Kohorte bestellt, hoffe ich jedenfalls, auch wenn man sich vielleicht manchmal wünscht, zu den Stoikern zu zählen, »die hinüber sind, sehenden Auges, ins andere Reich des Todes«.2 Tatsache ist, dass jeder Versuch, sich die eigene Auslöschung vorzustellen, per definitionem sinnlos ist. Man kann sich höchstens die banalen Aspekte dieses Vorgangs ausmalen, was in meinem Fall gewiss nicht die Trauernden beim Begräbnis wären (das würde wiederum von den eigenen Regeln dieses Spiels ausgeschlossen), sondern eher das stetige Plopp der E-Mails in meiner Inbox am Tage meines Ablebens, oder der Prozess des allmählichen Überquellens meiner irdischen Mailbox, bis irgendwer irgendwas tut, um dieser robotisch-elektronischen Stupidität Einhalt zu gebieten, oder bis Zahlungsversäumnisse zur abrupten Stornierung all der Rechnungen und Schecks und Anfragen führen, die zu meinen Lebzeiten niemals im richtigen Verhältnis am richtigen Tag eintrafen. (Gewährte man mir ein lebenslanges Abonnement von Face to Face, bedeutete das: bis ans Ende, oder bis in alle Ewigkeit?)

Der Direktor der National Portrait Gallery, der vortreffliche Sandy Nairne, schrieb mir einen bekümmerten Brief, in dem er sich nicht nur entschuldigte, weil er mich hat sterben lassen, sondern mir auch eine Erklärung und eine Art Entschädigung dafür bot. »Die Ausstellung«, schrieb er, »enthält auch eine Fotografie von Pat Kavanagh mit Kingsley Amis. In letzter Minute wurde eine Änderung am Text vorgenommen, und nun bezieht er sich auf Sie anstatt ›die verstorbene Pat Kavanagh‹.«

Diese nett gemeinte Sendbotschaft macht die Dinge eher noch schmerzlicher und gespenstischer. Gerade öffnete ich einen Brief von Pat Kavanaghs Ehemann Julian Barnes, in dem er mir für mein Kondolenzschreiben nach Pats so plötzlichem Sterben an einem Hirntumor dankt. Ich hatte ihm nicht nur zu dem ungemeinen Kritikererfolg seiner Meditation über den Tod gratuliert, einer ausführlichen Betrachtung über dieses »unentdeckte Land«, die jüngst unter dem sarkastischen Titel Nothing to Be Frightened Of erschienenen war, ich hatte auch seine Ausgewogenheit gepriesen, hinsichtlich der so gegensätzlichen Aussagen von Lukrez, welcher meinte, dass man den Zustand des Todes nicht fürchten müsse, da man nicht wissen werde, dass man tot ist, und von Philip Larkin, welcher in seinem unvergänglichen Gedicht »Aubade« konterte, dass genau dies der Punkt am Zustand nach dem Tode sei, der einen das Fürchten lehre und lehren müsse:

The sure extinction that we travel to

And shall be lost in always. Not to be here,

Not to be anywhere,

And soon; nothing more terrible, nothing more true […]

And specious stuff that says no rational being

Can fear a thing it will not feel, not seeing

That this is what we fear …3

So ist es also zugleich eine kleine wie eine große Sache, dass ich mir die transponierten Wörter »der verstorbene« einhandelte, welche redaktionell zu Julians verehrter Frau gehört hätten und versehentlich mir zugeordnet wurden. Als mir erstmals der Gedanke kam, Memoiren zu schreiben, hatte ich den üblichen Vorbehalt eines vielleicht »verfrühten« Plans. Doch nichts löst die Verschmelzung falscher Bescheidenheit mit natürlicher Zurückhaltung schneller auf als die schonungslose Vergegenwärtigung, dass ein solches Projekt jederzeit außer Betracht kommen könnte, weil es »zu spät« in Angriff genommen wurde.

Wir sind allesamt »Tote auf Urlaub«, wie der Revolutionär Eugen Leviné in seiner Verteidigungsrede sagte, als ihm nach der zweiten Münchner Räterepublik im Jahr 1919 der Prozess gemacht wurde. Es gibt noch immer Menschen, aus irgendeinem Grund sind es oft Inder, die ihr Auskommen haben, indem sie Grundpacht von Verstorbenen einfordern. Von Gogol bis Google: sucht man nach der Bruderschaft all jener, die zu Lebzeiten von ihrem eigenen Hinscheiden lasen, dann stößt man auf einen relativ heiteren Mark Twain, der die Nachricht von seinem Tod bekanntlich als Übertreibung bezeichnete; auf einen Ernest Hemingway, dessen Biograf uns berichtet, dass er jeden Morgen bei einem Glas Champagner in einer Kladde mit seinen Nachrufen las (bis ihn das Vergnügliche an diesem Novum zermürbte und er nach seinem Gewehr griff); oder auf den schwarzen Panafrikanisten Marcus Garvey, der diversen Berichten nach von einem Schlaganfall niedergestreckt wurde, als er gerade die eigene Todesanzeige las. Robert Graves lebte noch putzmunter fast sieben Jahrzehnte, nachdem man betrauert hatte, dass er an der Somme gefallen sei. Bob Hope wurde zwei Mal von der Presse für tot erklärt – beim zweiten Mal wurde ich von einem Sender angerufen, um die Nachricht zu dementieren oder zu bestätigen; heute wünschte ich, ich hätte darauf nicht gar so keck reagiert – nachdem ich gerade erst in der Britischen Botschaft in Washington einen Blick auf ihn erhascht hatte, erklärte ich, dass er beim letzten Mal, als ich ihn sah, tot genug auf mich gewirkt habe. Paul McCartney, Papst Johannes Paul, Harold Pinter, Gabriel García Márquez … die Ehrentafel ist lang und die Betretenheit bleibt, aber einen bemerkenswerten Fall, mehr als nur skurril, gibt es doch. Alfred Nobel, der gefeierte Sprengstofffabrikant, soll derart bestürzt gewesen sein, als er sich nach Falschberichten über sein Ableben zum »Händler des Todes« erklärt sah, dass er sofort überkompensierte und beschloss, fünf Preise für die größten Dienste an der Menschheit zu stiften, darunter einen für Frieden (welcher, möchte ich doch anmerken, von Anbeginn an ein großes Ärgernis und ein großer Schwindel war). »Solange du nichts für die Menschheit erreicht hast«, sagte der große amerikanische Bildungsreformer Horace Mann, »solltest du dich schämen zu sterben«. Nun ja, wie soll man diese Prüfung bestehen?

In mancher Hinsicht ist das Foto von mir mit Martin und James eines des »verstorbenen Christopher Hitchens«. Jedenfalls ist es das einer anderen Person, oder das eines Mannes, der nicht mehr in derselben materiellen Form existiert. Die Zellen und Moleküle meines Körpers und meines Gehirns haben sich erneuert respektive vermindert. Der relativ schlanke junge Mann, den Blick auf die Zukunft gerichtet, hat sich zu einer ziemlich korpulenten Person metamorphosiert, die sich kläglich, aber schicksalsergeben der Tatsache bewusst ist, dass jeder Tag Mehr und Mehr von Weniger und Weniger subtrahiert. Zu der Zeit, da ich dies schreibe, bin ich genau doppelt so alt wie der junge Typ auf dem Bild. Das gelegentliche Vergnügen am fortschreitenden Alter – das des Rückblicks und Nachsinnens darüber, wie man bis zum gegenwärtigen Punkt gekommen ist – wird schnell vom unmittelbar folgenden Gedanken an die relativ kurze Zeit getrübt, die noch bleibt, um weiterzumachen. Ich wusste immer, dass ich in einen Kampf hineingeboren wurde, den man nicht gewinnen kann, aber heute »weiß« ich das auf eine objektivere und subjektivere Weise als damals. Als in Paris der Auslöser klickte, focht ich gerade für den erhofften Sturz des Kapitalismus. Als ich mich niedersetzte, um dies niederzuschreiben, hatte ich aus dem Kapitalismus einiges mehr für mich herausgeschlagen, als ich es jemals erwartet hätte. Doch ziemlich genau an dem Tag, an dem ich neunundfünfzigeinhalb wurde und mir somit das Recht erwarb, meinen an der Wall Street verwalteten »Retirement Fund« in Anspruch zu nehmen, kam es zum Crash der Finanzmärkte. Während ich also über all die »verstorbene Arbeit« nachsann, die sich auf diesem Konto angehäuft hatte, kroch mein alter Marxismus wieder in mir hoch und sagte mir, dass meine Arbeit für den Sieg des Geldkapitals über das Industriekapital verschleudert wurde, ließ mich wieder an die alte Dichotomie zwischen Gebrauchswert und Tauschwert denken, ließ mich den Sieg der monopolistischen »Geldmacher« über all diejenigen sehen, die nur die Macht haben, es zu verdienen. Es war ausgesprochen interessant, dass ich versicherungstechnisch ausgerechnet im letzten Viertel des Jahres ausgelöscht wurde, in dem man mich auch in einem ästhetischeren, literarischeren Sinne »abgeschrieben« hatte.

Inzwischen besitze ich ein weiteres Foto aus diesen Tagen in Paris, das sich als ein noch sinnfälligerer Proust’scher Souffleur erwies. Aufgenommen wurde es von Martin Amis. Es zeigt mich mit der hinreißenden Angela vor einer Patisserie, wohl ganz in der Nähe der Rue Mouffetard, die Hemingway auf der ersten Seite von Paris – ein Fest fürs Leben besingt. (Und könnte es sein, dass die Konfektschachtel in meiner Hand Madeleines barg?) Nochmals, die Person auf dem Bild bin nicht mehr ich. Bis vor kurzem wäre ich nicht imstande gewesen, das zu erkennen, aber jetzt sehe auch ich sehr deutlich, was meine Frau sofort erkannte, als ich ihr das Foto zeigte: »Du siehst aus wie deine Tochter«, erklärte sie. Genau so ist es, oder vielmehr, um der Logik genüge zu tun: wie ich sieht sie heute aus, jedenfalls zumindest wie ich damals. Auch die nächste Beobachtung war für die Betrachterin offenkundiger als für mich: »Wie du da wirklich aussiehst«, sagte sie nach einer Weile, »ist jüdisch«. Und das bin ich gewissermaßen, wie noch zu erklären sein wird (ebenso wie noch zu berichten sein wird, weshalb der Junge auf dem Foto nichts von seiner jüdischen Herkunft wusste) – wenngleich sich etwas in mir sträubt bei der Idee von einem »jüdischen« Aussehen. Auch so ein Vater-Tochter-Vergleich führt zu Ahnungen von der eigenen Sterblichkeit, denn nichts erinnert einen mehr an die bevorstehende Auslöschung als das Heranwachsen der eigenen Kinder, für die Raum geschaffen werden muss, die versorgt werden müssen und die letztendlich der einzige Hinweis darauf sind, dass man wenigstens auf ein Gran Unsterblichkeit hoffen darf.

Doch noch bin ich da und entschlossen, weiter zu trotten. Unter den vielen einst so attraktiven und schönen Gesichtern in dem Katalog gehört eine bestürzende Zahl Freunden aus früheren Tagen (dem wunderbaren Illustrator und Cartoonisten Mark Boxer, dem charmanten, aber fragilen Amschel Rothschild, dem liebenswerten Salonlöwen und Tunichtgut – und Halbbruder von Prinzessin Diana – Adam Shand-Kydd), welche starben, lange bevor sie mein heutiges Alter erreicht hatten. Vom Hinscheiden einiger anderer hatte mich die Nachricht noch gar nicht erreicht. »I had not thought death had undone so many.«4 Während meiner Laufbahn schaffte ich es, so ziemlich jede Aufgabe zu übernehmen, die man von einem Lohnschreiber erwarten kann, ob als laienhafter Auslandskorrespondent, als Ersatzmann des Filmkritikers oder indem ich mir im Wettlauf gegen die Uhr polemische Leitartikel aus dem Ärmel schüttelte. Aber vielleicht sollte ich nicht von »jeder Aufgabe« sprechen, denn es gab zwei Jobs, zu denen ich schlicht nicht in der Lage war: über eine Sportveranstaltung zu berichten und den Nachruf über eine noch lebende Person zu verfassen. Im ersten Fall versage ich, weil ich über Sport nichts weiß und mich Sport nicht schert, im zweiten, weil ich – ungeachtet meiner festen Überzeugung, nicht abergläubisch zu sein – über das Hinscheiden eines Freundes oder Kollegen nicht schreiben kann, nicht einmal für gutes Geld, solange die Eule der Minerva ihren Flug nicht angetreten hat und ich nicht sicher weiß, dass die Dunkelheit angebrochen ist. Ich wage zu behaupten, dass irgendwer irgendwo bereits meinen einstweiligen Nachruf verfasst hat. (Stephen Spender war gerade bei W. H. Auden gewesen, als diesen die Einladung der Times erreichte, Spenders Nachruf zu schreiben. Er erzählte ihm davon beim Frühstück und fragte ihn schelmisch: »Hättest du gern was Bestimmtes?« Spender entschied, dass es nicht der Moment war, um Auden zu berichten, dass er selbst bereits für denselben Redakteur derselben Zeitung seinen Nachruf verfasst hatte.) Mich haben schon diverse Totenwächter diverser Zeitungen zu diversen Zeiten ersucht, es für Edward Said oder Norman Mailer oder Gore Vidal zu tun – um hier ein paar Namen fallen zu lassen, die noch häufiger auftauchen werden, falls Sie bei mir bleiben –, aber ich musste immer ablehnen. Doch nun sehen Sie mich bei dem Versuch, meine eigene Brücke zu bauen, wenn auch noch nicht von der Mitte des Flusses aus, so doch zumindest schon in Sichtweite des anderen Ufers.

Die heutige Zeitung brachte die Nachricht vom Tod Edwin Shneidemans, der sein Leben dem Studium und der Prävention des Suizids gewidmet hatte. Er selbst bezeichnete sich als »Thanatologe«. Der Nachruf, in dem es nur so wimmelt von dieser Pseudo-Ironie, die so beliebt ist beim fast schon todgeweihten Gewerbe des Zeitungsjournalisten, endet mit Sheidemans eigenen Worten: »Sterben ist die Sache – vielleicht die einzige Sache – im Leben, die man nicht tun muss. Man muss nur lange genug da bleiben und es wird für einen getan.« Einem geschliffeneren Nachrufschreiber wäre vielleicht der Querbezug zu einem gefeierten Knittelvers von Kingsley Amis aufgefallen:

Death has this much to be said for it:

You don’t have to get out of bed for it.

Wherever you happen to be

They bring it to you – free.5

Mir will es dennoch nicht so recht gelingen, diesem bewundernswerten Fatalismus zu applaudieren. Ich persönlich möchte sterben »tun«, im Aktiv, nicht Passiv, möchte anwesend sein, um dem Tod ins Auge zu blicken und etwas zu tun, wenn er mich holen kommt.

Als sich der große schottische Barde William Dunbar im frühen 16. Jahrhunderts die Liste all der Freunde betrachtete, die sich der Schnitter bereits reihum geholt hatte, schrieb er sein »Lament for the Makers« und beendete jeden Trauervers mit den Worten Timor Mortis conturbat me. Das ist ein fast schon liturgischer Refrain – »die Angst vor dem Tode peinigt mich« –, und ich würde keinem trauen, der nicht schon Ähnliches empfand. Doch man stelle sich einmal vor, wie zum Kotzen das Leben wäre, und wie schnell es das würde, erführen wir, dass es nie ein Ende habe. Ich empfände zum Beispiel keinerlei Anreiz mehr, diese Erinnerungen zu Papier zu bringen, welche auch Berichte über die Male enthalten, die mich leicht das Leben hätten kosten können und fast gekostet hätten.

Die Erwähnung einiger der oben angeführten Namen bringt mich auf die Frage, ob ich, retrospektiv betrachtet, also ohne mir dessen während des Geschehens bewusst gewesen zu sein, zum Bestandteil eines literarischen oder intellektuellen »Kreises« wurde. Die Antwort darauf scheint »ja« zu lauten, also verspreche ich auch zu berichten, weshalb »Kreise« weder bewusst gegründet noch gebildet werden, sondern vielmehr, wie Oscar Wilde einmal über die Entstehung von Gemälden sagte, »schlicht geschehen«.

Janus war der Name, mit dem die Römer den Schutzgott bedachten, der die Pforte bewachte und doppelgesichtig sein musste, damit er in beide Richtungen zugleich blicken konnte. In Kriegszeiten wurden die Tore zu seinen Tempeln immer offen gehalten, immer dann also, wenn naturgemäß Ideen von Unvereinbarkeit und Zwiespalt vorherrschten. Die erbittertsten Kriege sind Bürgerkriege, ebenso wie die heftigsten und zerfleischendsten persönlichen Konflikte immer die inneren sind. Ich hoffe, es wird mir gelingen, eine Vorstellung zu vermitteln, wie es ist, an zwei Fronten zugleich zu kämpfen, oder wie sich der Versuch anfühlt, unvereinbare Ideen in ein und demselben Geist wach zu halten und gelegentlich sogar zwei Gesichter in ein und demselben Moment zu zeigen.

1 Anm. d. Übers.: »Zwischen Idee / Und Wirklichkeit / Zwischen Regung /Und Tat / Fällt der Schatten.« (T. S. Eliot, »Die hohlen Männer«, Gesammelte Gedichte, Übertragung ins Deutsche von Eva Hesse, Frankfurt a. M., 1972, S. 134/35.)

2 Anm. d. Übers.: ibd., S. 130/131.

3 »Die sichere Auslöschung zu der wir streben / Um allzeit darin verloren zu gehen. / Nicht hier, nicht irgendwo zu sein / Und bald; nichts mehr arg, nichts mehr wahr […] Und chimärische Masse sagt, kein Vernunftwesen /Kann fürchten was es nicht fühlen wird, nicht sehend / Dass es das ist, was wir fürchten.« (Übertragen von Yvonne Badal)

4 Anm. d. Übers.: »Hätt nie gedacht, daß so vielen die Augen brachen.« T. S. Eliot, Das Wüste Land (in der Übertragung von Eva Hesse).

5 »Was für den Tod zumindest spricht: / Du musst dafür nicht aus dem Bau. / Wo immer du gerade bist / Sie bringen ihn dir – für lau.« (Übertragen von Yvonne Badal.)