Murges, Eva Glow – Die Macht der Gedanken

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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Der Songtext in Kapitel 2 stammt aus »Video killed the radio star« von »The Buggles«.
Lektorat: Linda Wäcken
Korrektorat: Sarah Nierwitzki, www.wortkosmos.jimdofree.com
Cover & Kapitelvignette: saje design (Sameena Jehanzeb), www.saje-design.de

 

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Widmung

Für Mama.

Deine positiven Emotionen leuchten stets am hellsten.

Prolog

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Ich habe die Gabe, das Leuchten der Menschen zu sehen. Man könnte sagen, ich laufe durch eine Welt voller Regenbögen. Denn auch, wenn jede Emotion einer Farbe zugeordnet ist, strahlt diese doch bei jedem anders.

Kapitel 1 – Reinweiß

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Ich warf mein Fahrrad ins nächste Gebüsch und sprintete los. Mir blieb keine Zeit, es an einer der prunkvollen Straßenlaternen festzuketten, welche die Alleen unserer Kleinstadt säumten und an das 19. Jahrhundert erinnerten. Meine Schritte waren verräterisch laut, aber zu rennen wie Forrest Gump und sich dabei unauffällig zu verhalten war quasi unmöglich. Doch gerade war meine Priorität, schnellstmöglich den Mann zu finden, der mir eben entwischt war. Er schien einer der zielstrebigen Sorte zu sein. Ich sah auf mein Zoom, das einem Smartphone zum Verwechseln ähnlich sah. Der rote Punkt, der mir seinen Aufenthaltsort anzeigte, entfernte sich in einem rasanten Tempo. Hektisch schaute ich mich um und suchte nach einer Möglichkeit, den Weg abzukürzen.

Eigentlich wollte ich das Grundstück von Mrs. Baker meiden, denn sie war eine furchteinflößende ältere Dame ohne jeglichen Sinn für Humor. Aber es war meine einzige Chance, den Mann noch zu erwischen. Also nahm ich Anlauf und setzte zum Sprung an, direkt über den verwachsenen Zaun. Doch ich sprang nicht hoch genug, mein Fuß blieb an einem der Eisenstäbe hängen und ich stürzte kopfüber nach unten.

Als ich auf dem Boden aufschlug, pikste mir etwas direkt ins Auge und ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Ich blinzelte und tastete blind nach dem Übeltäter. Wütend rupfte ich die Pflanze aus der Erde, die mich soeben fast um meine Sehkraft gebracht hatte. Mühsam rappelte ich mich auf und fischte einige Gräser aus meinen langen weißblonden Haaren. Hätte ich heute doch nur ein Haargummi benutzt. Die Wiese hatte schon länger keinen Rasenmäher oder sonstige Gartenutensilien zu Gesicht bekommen, so hoch wuchs hier das Unkraut. Glück für mich, denn der weiche Fall hatte Schlimmeres verhindert, dennoch musste ich mich erst durch das wuchernde Gestrüpp kämpfen, bis ich am anderen Ende ankommen würde. Von wegen Abkürzung. Doch umzudrehen war mittlerweile keine Option mehr. Dann würde mir der Mann auf jeden Fall entwischen.

Das Haus von Mrs. Baker war in ebenso schlechtem Zustand wie der Garten und baute sich bedrohlich vor mir auf. Ich schob das wilde Grünzeug zur Seite und ging auf das Gebäude zu. Die dunkelgraue Fassade bröckelte von den Wänden und die verwahrlosten Fensterläden klapperten leise im Wind. Die Steintreppe, die zur Eingangstür hinaufführte, stand nur noch zur Hälfte. Ich fragte mich, wie Mrs. Baker diese Treppe überhaupt benutzen konnte. Sie war mittlerweile weit über achtzig und körperlich nicht mehr so fit.

Geduckt schlich ich fast lautlos unter den Fenstern des Erdgeschosses entlang und umrundete das Haus. Mein Atem ging schneller. Obwohl ich es jeden Tag mit den Verbrechern unserer Kleinstadt aufnahm, machte mir keiner von ihnen solche Angst wie Mrs. Baker. Ich atmete tief durch und hielt einen Moment inne, um meinen Puls wieder auf Normalniveau zu bekommen. Ich hatte schon fast den Zaun auf der Hausrückseite erreicht, als ich ihre Stimme hinter mir hörte. Abrupt blieb ich stehen.

Mrs. Baker rief meinen Namen. Woher kannte sie meinen vollen Namen?

Natürlich lebte ich schon mein ganzes Leben in dieser Kleinstadt und irgendwie kannte man alle flüchtig, aber ich benutzte niemals meinen zweiten Vornamen. Niemals.

Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper und ich war unfähig, mich zu bewegen.

»Poppy Violet Harper«, brüllte die kratzige Stimme erneut und klang viel näher als zuvor. Das war merkwürdig. Letzte Woche hatte ich sie beim Einkaufen gesehen. Sie hatte für den kurzen Weg von der Kasse bis zum Ausgang ganze fünf Minuten gebraucht, in ihrem langsamen Tempo. Das wusste ich so genau, weil ich beim Anstehen mit Tate telefoniert und sie währenddessen beobachtet hatte. Eben diese fünf Minuten. Wieso war sie heute so schnell?

Jetzt musste ich reagieren. Zum einen wollte ich Mrs. Baker nicht die Chance geben, mich einzuholen. Vielleicht aß sie gern junge Frauen zum Abendbrot? In unserer modernen Welt konnte bestimmt auch ein altes Steinhaus ein verwunschenes Lebkuchenhaus sein, man wusste ja nie. Zum anderen durfte ich den Mann nicht verlieren, der sich bereits auf Eskalationsstufe Vier befand und den ich dringend finden musste, bevor er seinen Plan umsetzte. Meine Beine reagierten schneller als mein Kopf es in dem Moment konnte und rannten auf das Grundstücksende zu. Dieses Mal nahm ich den Zaun mit links und kam hart auf der asphaltierten Straße dahinter auf. Ich schlug einen Haken und rannte bis zum Ende der Allee. Als ich mich umdrehte und zu Mrs. Bakers Haus sah, konnte ich niemanden erkennen. Das Haus lag ruhig da, von der alten Dame war nichts mehr zu sehen. Fast so, als hätte ich mir die ganze Szene eben nur eingebildet. War das etwa möglich? War es schon so weit, dass ich anfing, meinen Verstand zu verlieren?

Als ich um die nächste Ecke bog, erblickte ich den Mann. Er stand vor einer der größeren Tankstellen der Stadt und starrte auf die Neonreklame, die den aktuellen Benzinpreis anzeigte. Da es bereits dämmerte, war die Beleuchtung eingeschaltet und tauchte die Umgebung in ein dunkles Flaschengrün. Der knochige Typ, den ich verfolgte, bildete einen starken Kontrast zur leuchtenden Tankstelle, denn seine Konturen glitzerten in Abermillionen dunkelroten Partikeln. Kleine signalgrüne Blitze zuckten immer wieder darin auf und durchbrachen das rote Leuchten. Er war nicht nur wütend. Er hatte Angst.

Sein Vorhaben war so stark ausgeprägt, dass mich das Glühen seiner Emotionen blendete. Er fummelte nervös in der Innentasche seiner Jacke herum und als ich näherkam, sah ich, dass ihm der Schweiß bereits die Schläfen herunterrann. Er war nicht maskiert, was mich verwunderte. Wer raubte schon eine Tankstelle aus, ohne seine Identität zu verbergen? War es ihm egal, erkannt zu werden? Oder war er sich sicher, dass es keine Überlebenden geben würde? Das glaubte ich nicht. Zumal die Tankstelle mit Sicherheit kameraüberwacht war. Sein Verhalten und die Ausprägungen seiner Emotionen sprachen eher dafür, dass er gerade dabei war, eine ziemlich unüberlegte Tat zu begehen. Vielleicht hatte er seinen Job verloren und war nun so wütend und verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg sah? Mein Zoom piepste und holte mich zurück in die Wirklichkeit. Wahrscheinlich hatte sich die Eskalationsstufe erneut geändert. Mit zitternden Fingern entriegelte ich die Tastensperre und starrte auf das Display. SUPERGAU blinkte mir in großen roten Lettern entgegen. Ich musste sofort reagieren. Ich startete die App Changeable und richtete das Zoom auf den Mann. Er hatte es mittlerweile geschafft, eine Pistole aus seiner Jackentasche zu ziehen und hastete auf den Eingang der Tankstelle zu.

Mist! Die Chance, ihn im Stehen zu fotografieren, hatte ich gerade verschenkt. Fieberhaft versuchte ich, ihn zu fokussieren, aber er bewegte sich so schnell, dass es mir unmöglich war, ein scharfes Foto zu schießen. Er war schon viel zu nah an der Tür. Noch zwei Schritte und er würde den Verkaufsraum der Tankstelle erreichen. Ich rannte ihm hinterher und versteckte mich hinter einer der Tanksäulen. Mit dem Arm stützte ich mich an der Säule ab, um das Zoom möglichst ruhig zu halten. Gerade als er den ersten Schritt ins Ladeninnere setzte, schaffte ich es, ein Bild zu schießen, das von der App akzeptiert wurde. Der schlaksige Typ, der so gar nicht wie ein Tankstellenräuber aussah, war bereits am Tresen angekommen und hielt die Pistole hinter dem Rücken. Da drehte sich der Tankwart zu dem Mann um. Schnell wandte ich mich wieder dem Zoom zu und bearbeitete das Bild des Räubers. Sein Vorhaben zu löschen war der erste Schritt meiner Mission. Im zweiten Schritt verpasste ich ihm eine gute Intention, die den Gedanken seiner ursprünglichen Tat ersetzen sollte. Dafür nutzte ich spezielle Filter, die mir Changeable zur Verfügung stellte. Bei diesem Mann entschied ich mich für einen Filter voller Liebe und Mitgefühl. Damit waren meine Möglichkeiten ausgeschöpft. Was nun geschehen würde, lag nicht mehr in meiner Hand. Angespannt starrte ich durch das Fenster in den Innenraum der Tankstelle. Der Tankwart war inzwischen hinter der Theke hervorgekommen und lotste den Mann, durch den ein kurzes Zucken gefahren war, quer durch den Verkaufsraum. Er stoppte vor ein paar Kübeln, in denen bunte Blumensträuße steckten. Der Mann folgte ihm und schob dabei die Pistole unauffällig dahin zurück, wo er sie erst vor einigen Minuten herausgeholt hatte. Ich konnte beobachten, wie sich die dunkelrot schimmernden Partikel langsam in Pastellgelbe verwandelten. Der Umriss des Mannes leuchtete nicht mehr so grell wie vor ein paar Minuten, sondern glich nun einer zarten Erleuchtung. Ich atmete erleichtert aus. Bei den Blumen angekommen, griff der Mann sich einen Strauß und lächelte den Tankwart an. Er bezahlte das üppige Kunstwerk, bevor er zum Ausgang ging. Schnell schlüpfte ich hinter der Säule hervor und lief zielstrebig auf den Verkaufsraum zu, um die Aufmerksamkeit nicht unnötig auf mich zu lenken.

»Meine Oma wird sich bestimmt sehr freuen. Einen schönen Tag und danke«, rief der Mann dem Tankwart zu, als er nach draußen trat. Ich lächelte. Das war gerade noch mal gut gegangen. Ich musste mir angewöhnen, direkt in der dritten Eskalationsstufe zu reagieren. Das nächste Mal würde ich es nicht mehr so weit kommen lassen.

***

»Und? Was war heute los?« Tante Sadie begrüßte mich in einer ihrer bunten Schürzen und wedelte beim Reden mit dem Kochlöffel, den sie in der rechten Hand hielt.

»Das Übliche«, erwiderte ich knapp und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Die heutige Verbrecherjagd war ein halber Marathonlauf gewesen. Ich sehnte mich nach einer Dusche und meinem warmen Bett. Erst als mir der unwiderstehliche Duft von Tante Sadies weltbestem Kartoffelauflauf in die Nase stieg, merkte ich, wie hungrig ich war. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? Zum Frühstück?

»Kindchen, das kann doch nicht sein, dass sie dich das ganze Zeug allein machen lassen.« Tante Sadie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber und stellte zwei üppig gefüllte Teller vor uns ab. Eifrig begann ich, die noch viel zu heißen Kartoffeln zu verschlingen. Ich nahm das Glas, das wie immer auf meinem Platz stand, und spülte den Rest hinunter. Meistens aßen wir nur zu zweit zu Abend. Dennoch ließ es sich Tante Sadie nicht nehmen, den Tisch schön zu decken und zu dekorieren. Heute zierten frisch gepflückte Wildblumen kleine Väschen, die sie aus alten Glühbirnen gebastelt hatte. In der Mitte des Tisches stand eine große Glaskaraffe, in der sich in dem obligatorischen Wasser verschiedene Halbedelsteine befanden, die den Körper energetisieren sollten. Tante Sadie liebte Kochen und Backen ebenso sehr wie Esoterik, was in unserem Haus nicht zu übersehen war. Jedes Zimmer schmückte mindestens eine Amethystdruse, ein violetter Halbedelstein, der sich laut Sadie optimal auf Stress auswirkte. Auch wenn ich ihr Faible für Räucherstäbchen, Kristalle und Co. nicht teilte, war Sadie ein wahres Goldstück und wir beide unzertrennlich. Sie war die Person, die sich jeden Tag um mich sorgte. Denn sie war es auch, die anfangs dagegen gewesen war, dass ich meiner Bestimmung folgte, als ich vor einem halben Jahr vom Rat der Ältesten von meiner Gabe erfahren hatte. In langen Gesprächen hatte sie mich überzeugen wollen, abzulehnen und mein normales Teenagerleben weiterzuführen. Sie sprach von Gefahren, einer großen Bürde und zu viel Verantwortung, und ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass es bezüglich der Changer Dinge gab, die sie mir verheimlichte. Sadie hatte mir zwar erzählt, dass mein Vater ebenfalls ein Changer gewesen war, aber ich merkte jedes Mal, wenn ich sie wieder darauf ansprach, dass sie dem Thema lieber aus dem Weg ging.

Obwohl ich ihre Meinung schätzte, hatte ich nicht auf ihren Rat gehört und war meiner Bestimmung gefolgt. Selbst wenn ich anfangs sehr skeptisch gewesen war. Immerhin griff ich aktiv in das Leben – ja sogar in die Gedanken – meiner Mitmenschen ein. Ich manipulierte sie quasi. Zwar mit den besten Absichten, aber ich mischte mich ein.

Seitdem war Sadie sehr ängstlich geworden. Sie hatte Angst um mich, sobald ich allein draußen unterwegs war. Das ging so weit, dass sie nicht schlafen konnte, wenn ich mich abends einmal verspätete. Sie war eine herzensgute Frau, der das Glück verwehrt geblieben war, eigene Kinder zu bekommen. Ich war wie eine Tochter für sie. Wegen eines Unfalls hatte ich meine Eltern nie wirklich kennengelernt, aber meine Tante war für mich der beste Ersatz, den ich mir hätte wünschen können. Sie überschüttete mich mit Liebe und hatte mir dennoch die Grenzen aufgezeigt, die ein Kind brauchte, um sich später als junge Erwachsene nicht allzu sehr daneben zu benehmen.

»Warum stellen sie keine neuen Officers ein?«, nahm Sadie den Faden wieder auf.

»Sparmaßnahmen?«, witzelte ich, auch wenn es eigentlich gar nicht so lustig war. In unserer Kleinstadt gab es immer mehr Menschen, die Verbrechen planten. Ich wusste selbst, dass ich es nicht mehr lange schaffen würde, diese allein zu verhindern. Zumindest fast allein.

Nachdem ich mich an meinem achtzehnten Geburtstag meiner Bestimmung angenommen hatte, waren die Verbrechen der Stadt rapide gesunken. Deshalb hatte sich die Polizei von Emerald Falls stark verkleinert, auch wenn sie nichts von mir und meiner Tätigkeit wusste. Sie bestand mittlerweile noch aus unserem Sheriff und ein paar Officers, die während der Arbeitszeit mehr Angry Birds spielten, als effektiv zu arbeiten. Da ich mich auf diese Schnarchnasen nicht unbedingt verlassen konnte, gab es Tage, an denen ich nicht einmal zur Arbeit ins Café meiner Tante gehen konnte, weil es auf dem Display meines Zooms vor lauter roten Punkten wimmelte. Mühselig spürte ich diese Menschen auf und brachte sie von ihren schlechten Vorhaben ab. Manchmal fühlte ich mich wie ein Hamster in seinem Rad. Eine wahre Sisyphusarbeit. An solchen trostlosen Tagen umsorgte mich meine Tante mit einer riesigen Tasse heißer Schokolade oder meinem heißgeliebten Kartoffelauflauf, und bestätigte mir zum tausendsten Mal, dass ich die Fähigkeit hatte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Dafür liebte ich sie. Sie hatte sich dagegen ausgesprochen, mich den Gefahren meiner Bestimmung auszusetzen, und trotzdem unterstützte sie mich, weil sie meine Entscheidung akzeptierte. Allein das tröstete mich meistens. Sie hatte recht. Auch wenn ich nur ein kleines Zahnrad in einer großen Maschinerie war, machte das doch einen Unterschied. Manchmal fragte ich mich, wie viele es noch von meiner Sorte gab. Andere Changer, die in der heutigen Zeit dafür Sorge trugen, dass die Welt nicht aus den Fugen geriet. Changer, die täglich ihr Leben riskierten, um das anderer zu retten.

Auch wenn ich diese außergewöhnlichen Fähigkeiten besaß, fühlte ich mich nie wie eine Heldin. Ich war einfach Poppy. Poppy Harper, achtzehn Jahre alt, Sternzeichen Fische. Ich war ein normales Mädchen, das die Menschen eben ein bisschen anders sah. Doch wie lange würde das noch funktionieren?

Kapitel 2 – Vanille

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»Video killed the radio star. In my mind and in my car, we can’t rewind we’ve gone too far.« Mein Kopf dröhnte. Der Tankstellenräuber hatte einen übergroßen Lautsprecher aus seinem Rucksack gezogen. Er schwang ihn wie ein Samurai sein Schwert und ging festen Schrittes auf den Tankwart zu. Der hielt sich schützend die Hände über die Ohren, doch der durchdringende Lärm dieses furchtbaren Songs zwang ihn in die Knie. Der Räuber lachte hämisch. Sein Lachen war schrill und hoch. Viel zu hoch. Es klang nach einer Frau. Es klang nach meiner Tante.

Ich schreckte auf und hatte Glück, mit dem Kopf nicht direkt Sadies Nase zu brechen. Sie hatte sich über mich gebeugt und hielt mir ihren riesigen alten Ghettoblaster ans rechte Ohr. Das war Sadie. Musik der 80er, Elektroschrott der 90er, volle Dröhnung am Morgen. »Na endlich«, sagte Sadie zufrieden. »Madonna und David Bowie hast du leider verschlafen.«

»Sag mal, spinnst du?« Empört zog ich mir die Decke über den Kopf, um das Gedudel nicht länger ertragen zu müssen. Das war definitiv nicht meine Zeit. Ich hatte einen eigenen Biorhythmus und der sah Aufstehen vor zehn Uhr morgens nicht vor. Zudem war ich letzte Nacht unterwegs gewesen, um eine Schlägerei in einer Bar zu verhindern. Mein Zoom hatte mich um halb vier aus dem Bett geklingelt und als ich endlich zu Fuß an der Bar angekommen war, hatte die Polizei das Ganze bereits aufgelöst. Manchmal konnte man eben doch auf sie zählen.

Meine Tante stellte den Ghettoblaster auf den Boden und erlöste mich endlich von der Musik.

»Heute ist Sonntag. Café-Tag«, flötete sie und schwang ihre Wünschelrute, die sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. Verdammter Mist. Ich hatte vergessen, mir den Wecker zu stellen. Seit ein paar Wochen besuchte Sadie sonntags einen Kurs zum Thema Radiästhesie. Kurz, einen Wünschelruten-Kurs. Seitdem war sie ständig dabei, jegliche Zimmer abzulaufen und nach Wasseradern zu suchen. Um nicht auf Störzonen zu schlafen, richtete sie unsere Betten neu aus und auch im Garten suchte sie nach Störfeldern in der Nähe ihrer geliebten Pflanzen. Möglicherweise hatte ich seitdem wirklich einen besseren Schlaf, aber das würde ich niemals zugeben.

***

Keine zwanzig Minuten später schwang ich mich auf mein Fahrrad, das sich glücklicherweise noch genau dort befand, wo ich es gestern zurückgelassen hatte.

Meine beste Freundin Tate wartete schon vor der Tür, als ich pünktlich um eine Minute vor neun Uhr das Café erreichte. Ihre kirschroten Haare leuchteten so grell in der Sonne, dass sie selbst das orange-gelbe Schimmern der Emotionspartikel überstrahlten, die sie umgaben. Das war typisch für Tate. Es gab selten Tage, an denen ihre Emotionen in anderen Farben leuchteten. Ihre Grundstimmung war fröhlich mit einer großen Prise Neugier. Die brauchte sie auch, denn sie arbeitete seit unserem High-School-Abschluss bei der Lokalzeitung von Emerald Falls. Ich schloss die Tür auf und Tate folgte mir hinein. Sie suchte sich ein Plätzchen vor den großen Sprossenfenstern und breitete sämtliche Arbeitsutensilien auf dem kleinen Tisch vor sich aus.

Das Café meiner Tante war einer der Lieblingstreffpunkte der jüngeren Generation unserer Stadt, obwohl die Einrichtung nicht unbedingt einen Designpreis gewinnen würde. Doch genau deshalb war es so beliebt. Es war ebenso liebevoll eingerichtet wie unsere eigenen vier Wände, was der inoffizielle Name »The Livingroom« bestätigte. Es war ein zweites Zuhause für viele von uns. Das zusammengewürfelte Mobiliar hatte Sadie auf einigen Flohmärkten erstanden. Sie hatte viel Freude daran, immer wieder neue Möbel zu suchen, und deshalb hatten die Gäste die Möglichkeit, jedes Stück des Cafés zu kaufen. Von der Kuchengabel bis hin zum Fußabtreter vor der Ladentür. Unverkäuflich waren nur die große Kaffeemaschine und die antike Vitrine, in der täglich frische, hausgemachte Kuchen und bunt verzierte Cupcakes für hungrige Gäste bereitstanden.

»Es ist so öde hier«, stöhnte sie, als ich ihr eine Tasse Kaffee und ein Stück des Kirschkuchens brachte, den Sadie heute Morgen gebacken hatte – Sie war im Gegensatz zu mir eine Frühaufsteherin.

»Ach komm schon. Wir finden bestimmt etwas Spannendes über das du schreiben kannst.« Ich lächelte ihr zu, doch sie verzog genervt den Mund und klappte ihren Laptop auf.

»Emerald Falls hat ein bisschen mehr Action verdient. Findest du nicht?«

Ich zog die Augenbraue hoch. »Du meinst, ich soll nächstes Mal zu Hause bleiben und den Verbrechern die Stadt überlassen?«

»Ja«, sie grinste breit. »Ich meine nein, natürlich nicht. Aber wenn das hier so weitergeht, kann ich bald einen Artikel über die Menschen schreiben, die hier aus Langeweile sterben.«

»Dann mache ich wohl einen guten Job.«

»Sowieso«, antwortete sie und nippte an ihrer Tasse. Die welligen Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich über den Laptop beugte. Flink begannen ihre Finger über die Tastatur zu sausen. Sie beherrschte das Zehnfingersystem perfekt, während ich jedes Mal mit zweien tippte und für eine lächerliche E-Mail eine halbe Stunde brauchte.

»Ich schreib mal weiter«, kündigte sie an und war schon völlig in ihren Artikel versunken. Im Café war noch immer nichts los, daher schnappte ich mir einen Cupcake und setzte mich zu ihr. Tate kam oft her, um zu schreiben. Sie war der Meinung, dass sie der Duft der alten Bücher inspirierte, die in antiquarischen Holzregalen an den Wänden standen. Tate dachte an die großen Autoren der vergangenen Jahrhunderte und träumte davon, einmal ein Buch zu veröffentlichen. Gedichte liebte sie besonders und schrieb selbst welche, solange ich denken konnte. Sie hatte die Fähigkeit, mit Worten zu verzaubern. Aber Tate war zu perfektionistisch, sodass all die Gedichte in einer ihrer stets aufgeräumten Schubladen versauerten. Es grenzte an ein Wunder, dass die Zeitung ihre Artikel wirklich veröffentlichen durfte.

Das melodische Geklapper der Tastatur wirkte einschläfernd. Ich trank einen großen Schluck Kaffee und unterdrückte ein Gähnen. Ich genoss die Tage, an denen Tate mich im Café besuchte. Ihre Anwesenheit hatte etwas Beruhigendes. Sie war meine Konstante, wenn mein Leben mal wieder einer Achterbahnfahrt glich. Eine wahre Freundin. Meine einzige Freundin.

Zugegebenermaßen hatte ich schon in der Schule kaum Freunde gehabt und meine Mitschüler hatten mich aufgrund meiner hellen Haut und den noch helleren Haaren immer etwas sonderbar gefunden. Doch Tate war anders. Sie machte sich nichts aus Äußerlichkeiten oder Ticks, die jemand hatte. Dieser Mensch sah das Innere, als könnte sie einem direkt in die Seele blicken, ganz ohne Gabe. Seitdem sie sich am ersten Schultag neben mich gesetzt hatte, waren wir unzertrennlich. Ich vertraute ihr. Da bildete sie eine große Ausnahme. Denn bis auf Tante Sadie und Tate vertraute ich niemandem.

»Um was geht’s?«, fragte ich schmatzend und deutete auf den Text, den Tate bearbeitete.

»Die lange Nacht der Bücher.«

»Ohh«, quietschte ich. »Die habe ich ja fast vergessen.« Schnell stopfte ich mir den restlichen Cupcake in den Mund und setzte mich hinter Tate, um den Artikel zu lesen. Ich konnte eine bunte Karte unserer Stadt erkennen, in der kleine blaue Fähnchen markierten, wer alles an der langen Nacht der Bücher teilnehmen würde. Es waren zu viele, als dass ich sie auf Anhieb zählen konnte. Diese Nacht war das Highlight unserer Stadt und ich freute mich jedes Jahr darauf. Alle Geschäfte, Cafés, Restaurants und Privatpersonen konnten daran teilnehmen. Jeder lud dazu ein, vorbeizukommen und Bücher zu lesen, zu tauschen oder zu verschenken. Es war ein passender Anlass, um Nachbarschaftsfreundschaften zu pflegen oder zu knüpfen und natürlich, um zu lesen. Außerdem gab es auf dem Marktplatz einige Stände, an denen die Autoren der Stadt ihre Bücher vorstellten. Tate träumte schon lange davon, an diesem Tag ihren eigenen Stand zu haben, um ihre Gedichte zu präsentieren. Deshalb wusste ich, dass sie der Nacht der Bücher nicht nur vorfreudig entgegensah, sondern auch immer etwas wehmütig.

»Klingt super.« Ich hob meinen Daumen nach oben und strahlte sie an.

»Findest du wirklich?«

»Aber so was von.« Tate erwiderte mein Lächeln und die melancholisch schimmernden lilablassblauen Partikel wurden immer mehr in den Hintergrund gedrängt und von sonnengelben Partikeln eingehüllt. Da war er wieder, der fröhlichste Mensch, den ich kannte. Das Klingeln des Messingglöckchens über der Eingangstür kündigte uns neue Gäste an. Drei Jugendliche gingen zielstrebig zu der Sitzgruppe flauschiger Ohrensessel. Sie ließen sich in die Sessel plumpsen und winkten mir zu. Ich stand auf, um mich um die neuen Gäste zu kümmern, als die Glocke erneut klingelte. Ich hielt inne.

Hereingekommen war ein Typ, der etwa in meinem Alter war. Vielleicht etwas älter. Er trug eine schwarze Lederjacke, eine schwarze Hose und ein dunkelgraues löchriges Shirt. Seine tiefgrünen Augen musterten mich, als er sich mit der linken Hand die dunklen Locken aus der Stirn strich. Sein Äußeres war es aber nicht, das mich so faszinierte. Es waren seine Emotionen. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen. Die Partikel leuchteten in allen Farben des Regenbogens. Es schien, als würde er alles gleichzeitig fühlen, was ein Mensch an Emotionen aufbringen konnte. Es war normal, dass Personen zwei- oder sogar dreifarbige Emotionspartikel hatten, da man selten nur eine Sache fühlte. Aber ein ganzer Regenbogen?

Wie war es möglich, sämtliche Emotionen auf einmal zu fühlen? Das pulsierende Blau deutete auf eine große Traurigkeit hin, aber auch die sonnengelben Partikel stachen heraus, die normalerweise dafür sprachen, dass er sehr fröhlich sein musste.

»Poppy? Alles in Ordnung?« Tates Stimme riss mich aus meiner Starre. Scheinbar hatte ich ihn einen Moment zu lange angesehen.

So leichtfüßig wie möglich drehte ich mich zu ihr um. »Alles bestens.« Ich setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und wusste sofort, dass sie mich durchschaut hatte. Sie war schließlich meine beste Freundin. Der Regenbogen-Typ stand mittlerweile vor dem großen Bücherregal und hielt ein dickes Buch in den Händen. Er blätterte behutsam durch die Seiten, bis sich sein Blick verfinsterte. Seine Muskeln verhärteten sich und die Finger umklammerten das Buch mit festem Griff. Mit dieser äußerlichen Anspannung veränderte sich auch sein Leuchten. Der Regenbogen wich einem grellen violett-roten Funkeln – Ablehnung und Wut. Oh, oh. Blitzschnell zog ich mein Zoom aus der Tasche. Das Display zeigte keinen roten Punkt an. Ich startete das Gerät neu, doch es tat sich noch immer nichts. Scheinbar konnte die Wut, die sich gerade in meinem Gegenüber ausbreitete, nichts an der heutigen Ruhe meines Zooms ändern. Das verwirrte mich. Ich besaß die Fähigkeit, mich in andere Menschen einzufühlen, da ich sah, was sie fühlten. Aber bei diesem Typ wusste ich gar nichts. Seine sich schlagartig verändernden Emotionen waren ein Mysterium. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Das Buch in der Hand ging der wütende Unbekannte zu einem der Tische am Fenster. Ohne einen Blick in die Getränkekarte zu werfen, wandte er sich erneut dem Buch zu. Hochkonzentriert beugte er sich darüber und die Ader, die sich sogleich auf seiner Stirn abzeichnete, pochte stark. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte ich mich etwas beruhigt und steuerte die Sitzgruppe mit den drei Jugendlichen an. Nachdem ich mich um ihre Bestellung gekümmert hatte, ging ich an den Tisch des lesenden Fremden.

»Hi. Was kann ich dir bringen?«, fragte ich und rückte die Blumenvase gerade, die Tante Sadie aus einer alten Konservendose, etwas weißem Lack und Spitzenbändern gebastelt hatte.

»Kaffee. Schwarz«, brummte er. Er hob den Kopf. Seine dunkelgrünen Augen fixierten mich. Ich hielt seinem Blick lange stand, bevor er sich wieder dem Buch widmete. Ich konnte nicht einschätzen, was gerade mit mir passierte. Er machte mir irgendwie Angst, aber faszinierte mich auch.

Fast verschüttete ich den Kaffee, der in der Glaskanne hin und her schwappte, die ich zu seinem Tisch balancierte. Ich stellte einen großen Becher vor ihm ab und goss das dampfende Getränk hinein. Meine Hand zitterte stark und ich hoffte, er würde es nicht bemerken. Als ich die Kanne anhob und um den Tisch zurück zur Theke gehen wollte, stolperte ich.

Mist. Ein dicker Tropfen Kaffee spritzte über den Rand der Kaffeekanne und hinterließ einen dunklen, nassen Fleck auf der Seite des Buches, die der junge Mann gerade las.

»Pass doch auf!«, schrie er und funkelte mich böse an. Augenblicklich verdunkelte sich das glänzende Rot seines Umrisses zu einem schimmernden Rubinrot. Dem Typen würde jeden Moment der Kragen platzen. Jetzt musste mein Zoom reagieren. Zumindest auf Eskalationsstufe Drei musste er sich nun befinden. Das war eine Form von intensiver impulsiver Wut, die Menschen teilweise zu Affekttaten trieb. Gleichbedeutend mit einer Niederlage der Lieblingsfußballmannschaft.

Im eigenen Stadion. Beim großen Finale.

Doch es passierte nichts. Mein Zoom blieb still. Da fand ich meine Sprache wieder.

»Entspann dich mal. Das ist doch mein Buch.« Da war sie endlich – die schlagfertige Poppy.

Schließlich hatte ich nicht sein Eigentum ruiniert, sondern das von Tante Sadie. Diese würde es mir ganz bestimmt nicht krummnehmen, da ständig jemand in die Bücher krümelte. Doch er lachte laut auf und drehte sich kopfschüttelnd weg. Mit seinem Lachen erlosch die lodernde Wut und wich erneut einem bunten Spektakel an glitzernden Emotionen. Was hatte das zu bedeuten?

»Oh mein Gott, ist der heiß«, flüsterte Tate, als ich zurück zu ihrem Tisch kam.

»Geht so«, sagte ich und verdrehte genervt die Augen, auch wenn ich genau dasselbe dachte. Zugeben würde ich das allerdings nicht. »Freundlichkeit ist nicht gerade seine Stärke.«

»Den nehme ich auch unfreundlich«, seufzte Tate und stützte den Kopf in die Hände. Meine beste Freundin, die hoffnungslose Romantikerin, die jedes Mal dachte, man könnte auch den größten Idioten bekehren.

»Das Zoom hat nicht reagiert. Dabei war er so wütend«, murmelte ich gedankenverloren und kramte es aus der Tasche. Ich startete die Kartenfunktion, jedoch befanden sich keinerlei rote Punkte innerhalb der Stadt. Ein Paar einzelne Personen auf Eskalationsstufe Eins, aber darum musste ich mir keine Sorgen machen. Irgendwas gab es immer, worüber sich die Leute ärgerten oder worauf sie neidisch waren.

»Kirschrot?«, fragte Tate.

»Rubinrot«, gab ich zurück.

»Oha.« Tates Augen weiteten sich. »Das ist gar nicht gut. Schade, vielleicht doch ein Bad Boy, unser Hottie.« Auch wenn Tate keine Ahnung hatte, wie es war, ständig das Leuchten der Emotionen zu sehen, wusste sie mittlerweile sehr gut über die verschiedenen Stadien und Farbverläufe Bescheid. Meist nahm sie alles mit einer großen Portion ihres eigenen Tate-Humors.

PIEP, PIEP, PIEP meldete sich das Zoom in meiner Hand. Vielleicht gab es heute doch noch etwas Action in Emerald Falls – zumindest für mich.

Kapitel 3 – Pastellgelb

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Drei Straßen vom Café entfernt konnte ich einen Jugendlichen gerade noch davon abhalten, einer älteren Dame die Tasche zu klauen, während Tate glücklicherweise meine Schicht übernahm. Die gebrechliche Frau hatte ihren Stock an eine Hauswand gelehnt, um Geld an einem Bankautomaten abzuheben, der in die Wand der Filiale eingelassen war. Als sie ihr Portemonnaie zurück in die Tasche steckte, schlenderte der Junge direkt auf sie zu. Er hielt den Blick gesenkt, starrte auf den Boden, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Das dunkle lila-rote Leuchten ließ darauf schließen, dass er neidisch, aber auch zu gewissen Teilen hasserfüllt war. Die abgewetzte Hose schlackerte um seine Knie und war sicher schon von mehreren Jungs vor ihm getragen worden. Sein T-Shirt war fleckig und die Haare wirkten fettig. Irgendwie tat er mir leid. Er streckte den Arm nach seinem Wunschobjekt aus, da erwischte ich ihn mit der Kamera meines Zooms. Ich startete Changeable und bearbeitete das Foto. Er schüttelte kurz den Kopf, als wollte er ein lästiges Insekt vertreiben. Das war ein gutes Zeichen, denn das passierte häufig, wenn ich die schlechten Gedanken der Menschen eliminierte. Anstatt zur Handtasche zu greifen, nahm er sich nun den Gehstock, der noch immer an der Hauswand lehnte und reichte ihn der Frau. Sie lächelte ihn freudig an, während er einen imaginären Hut hob und weiterlief. Sehr schön. Wieder eine gute Tat vollbracht.

Nach meinem ersten Einsatz an diesem Nachmittag genehmigte ich mir einen Kaffee und steuerte auf eine einsame Bank im Park zu. Ich hatte mich gerade hingesetzt, als sich mein Zoom meldete. Es zeigte mir eine Person an, die sich bereits auf Eskalationsstufe Vier befand. Wie war das denn passiert? Noch einige Minuten zuvor hatte mir das Zoom ausschließlich den Jugendlichen angezeigt und meistens dauerte es länger, bis sich die Eskalationsstufen änderten. Schnell stopfte ich das Zoom in meine Tasche und sprang auf mein Fahrrad.

***

An diesem wolkenverhangenen Sonntagnachmittag glich das Industriegebiet einer Geisterstadt. Nicht ein einziges Auto parkte am Straßenrand und keine Menschen waren zu sehen, die hier unter der Woche fleißig arbeiteten. Ich schob mein Fahrrad auf ein quadratisches Backsteinhaus zu, das zwischen den anderen Gebäuden hervorstach. Inmitten der typischen Büro-Betonklötze, die nicht schön, sondern praktisch waren, wirkte das Haus mit seinen braunroten Steinen völlig fehl am Platz. Dieses Mal nahm ich mir die Zeit, mein Rad ordnungsgemäß anzuketten. Ich wollte mich nicht noch einmal auf mein Glück verlassen, es im Gebüsch wiederzufinden. Zwar war ich für die Sicherheit der Stadt mitverantwortlich und würde als Erste wissen, sollte irgendwer planen, ein Fahrrad zu stehlen, allerdings nicht, wenn es jemand aus Langeweile tat. Taten dieser Art konnte ich, genauso wie Affekttaten, nicht beeinflussen oder kontrollieren, sofern ich nicht zufällig vor Ort war. Glücklicherweise passierten solche Verbrechen in Emerald Falls sehr selten und wenn doch, kümmerte sich die Polizei darum.

Ich musste an den Typen im Café denken. Seine Emotionen waren so stark ausgeprägt gewesen, bis sie sich schlagartig verändert hatten.

Die dunkle Tür des Backsteinhauses stand einen Spalt breit offen und mein Zoom vermittelte mir, dass sich die gesuchte Person innerhalb des Hauses befand. Das passte mir gar nicht.

Die meisten der angehenden Verbrecher waren gefährlich. Sie waren oftmals wütend und kurz davor auszuticken. Deshalb erledigte ich meinen Job gern auf offener Straße, falls etwas schiefging. Ich würde nur ungern das nächste Opfer werden. Ich atmete tief durch. Alles Grübeln half nichts. Mein Zoom konnte jeden Moment auf SUPERGAU umspringen und wenn ich dann nicht zur Stelle war, würde ich nichts mehr verhindern können. Das Spannende an meiner Gabe war, dass ich niemals vorab wusste, wer die Person war, die das Verbrechen plante, oder was sie vorhatte.

Ich versuchte, die dunkle Holztür mit der Fußspitze weiter aufzuschieben, aber sie war zu schwer. Langsam trat ich näher und drückte meine Schulter dagegen, bis sie schließlich nachgab. Ein lautes Knarzen erfüllte die Stille, die mich innerhalb des Hauses erwartete. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Vorsichtig tastete ich mich in dem Gang vorwärts. Das Innere des Gebäudes wirkte ebenfalls eher wie ein Wohnhaus als ein Bürogebäude. Ungewöhnlich, da es doch mitten im Industriegebiet stand. Entlang des langen Flures befanden sich rechts und links einige Zimmertüren. Sie waren alle geschlossen. Keinerlei Geräusche drangen aus den Zimmern im Erdgeschoss, also nahm ich an, dass ich den Täter oben finden würde. Auf Zehenspitzen schlich ich weiter an den Türen vorbei, bis ich die Treppe erreichte, die hinauf führte. Der erste Stock war nicht in Zimmer unterteilt, sondern bestand aus einem einzigen großen Raum. Als ich ihn betrat, erschauderte ich. Eine Faust schloss sich so fest um mein Herz, dass es drohte zu zerspringen. Mein Atem ging stoßweise und ich musste mich am Türrahmen festhalten. Der Raum sog mich hinein in seinen tiefschwarzen Schlund. Schwarz gestrichene Wände, dunkle Stühle in Reihen aufgestellt. Am Kopf der Stuhlreihen hing eine weiße Leinwand. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Kinosaal, doch an den Wänden standen ein Dutzend Namen in blutroter Schrift, einige davon durchgestrichen.

Größer als alle anderen, thronte mein Name über ihnen. Poppy Violet Harper.

Was zur Hölle war hier los? Mit Mühe löste ich den Blick von der Wand und ermahnte mich, weiterzugehen. Ich war hier, um etwas zu erledigen. Über die Namen konnte ich mir später Gedanken machen.

Mit Knien wie Wackelpudding stieg ich die zweite Treppe nach oben. Dort angekommen stellte ich fest, dass ich auch hier allein war. Vor mir lag der Dachboden, voller staubigem Krimskrams. Auf den ersten Blick erkannte ich nichts Wertvolles. Ein Dieb konnte derjenige also schon einmal nicht sein. Ich ließ mich hinter einer verstaubten Couch zu Boden gleiten. Für den Fall, dass die gesuchte Person noch auftauchen würde, konnte sie mich zumindest nicht direkt sehen. Mist, das konnte doch alles nicht wahr sein.

Ich fummelte mein Zoom aus der Tasche. Fassungslos starrte ich auf den Stadtplan, der sich gerade aktualisiert hatte. Meine eiskalten Finger schlossen sich fest um das kleine Gerät. Der rote Punkt war verschwunden. Kein einziger roter Punkt in der ganzen Stadt. Emerald Falls lag als friedliches Städtchen vor mir. Wie konnte das möglich sein?

Niemand war mir entgegengekommen. Kein wütender Mensch, kein fröhlicher Mensch. Ich war allein. Und das erleichterte mich keineswegs.

Auf dem Rückweg nach unten schoss ich Fotos der Wand, auf der mein Name prangte. Ich würde recherchieren müssen. Möglicherweise konnte ich etwas über die anderen Namen herausfinden. Seitdem ich vor einem halben Jahr von meiner Gabe erfahren hatte, war mir so was nicht passiert. Ein geplanter Mord war das Schlimmste gewesen, in das ich bisher reingeraten war. Aber dass ich selbst auf einer abartigen Liste stand oder es Personen gab, die sich, abseits der wenigen Menschen, denen ich aus anderen Gründen wichtig war, für mich interessierten, bereitete mir Magenschmerzen. Ich hatte mir nie vorstellen können, wie es war, selbst in eines dieser Verbrechen verwickelt zu sein. Jetzt konnte ich es und es machte mir Angst.

***

Am Fuße des smaragdgrünen Wasserfalls, dem unsere Stadt ihren Namen verdankte, fühlte ich mich jedes Mal geborgen. Wenn ich Zeit für mich brauchte, verkroch ich mich hierher. Ich lag im flachen Gras der Lichtung, starrte in den Himmel und lauschte dem friedlichen Rauschen des Wassers. Die Sonne hatte sich bereits verabschiedet und unzählige Sterne erhellten den noch jungen Nachthimmel. Den Polarstern suchte ich immer zuerst und prüfte jedes Mal aufs Neue, ob er der hellste Stern des Kleinen Bären war, meinem Lieblingssternenbild. Der Polarstern war mein Fixpunkt. Der Stern, der seine Position im Laufe der Nacht nicht veränderte. Er war nicht wie die anderen Himmelskörper. Er war besonders.

Ich strich mit den Fingerspitzen durch das Gras und saugte den erdigen Duft ein. Ich atmete laut aus und schloss die Augen. Die erhoffte Entspannung setzte leider nicht ein und umso mehr ich die unendliche Weite des Universums beobachtete, umso mehr erfasste mich das Gefühl von Einsamkeit. Ich beschloss, Tate anzurufen. Zwar wäre ich dann noch immer allein auf der Lichtung, aber selbst ihre Stimme würde mir guttun.

»Hey, ich hab mir schon Sorgen gemacht«, polterte sie los. Oh, oh! Ich hatte total vergessen, ihr Bescheid zu geben. Angsthase Tate bestand jedes einzelne Mal auf eine kurze Rückmeldung, wenn ich eine Verbrecherjagd erfolgreich abgeschlossen hatte.

»Sorry, vergessen. Alles gut. Wie war’s noch im Café?«, fragte ich unverfänglich, da ich nicht wollte, dass sie meine Anspannung bemerkte, die sich nicht abschütteln ließ.

»Vergessen?« Das zählte bei Tate nicht. »Ist irgendwas passiert?«