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Ernst Gerhard Fitsch

Die Vision von Patmos

Die Offenbarung des Johannes neu entdecken

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ISBN 978-3-417-22971-4 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2020 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Soweit nicht anders angegeben sind die Bibeltexte durch den Verfasser selbst übersetzt.

Umschlaggestaltung: Stephan Schulze

Inhalt

Über den Autor

Vorwort

Patmos 2017

Vorschläge zum Gebrauch des Buches

Warum ist es wichtig, die Offenbarung zu lesen?

Wie können wir die Offenbarung auslegen?

Wie können wir die Offenbarung lesen?

I. Einleitung in die Offenbarung

Der Charakter des Buches

Die Empfänger der Offenbarung

Zahlen in der Offenbarung

Die Klammer der Liebe

Der Horizont

II. Das Thema der Offenbarung: Jesus Christus

Ein Buch des erhöhten Christus

Eine neue Faszination von Jesus

Eine neue Sicht der Gemeinde

Jesus und die Gemeinde

III. Ein Gang durch Offenbarung 2-22

Offenbarung 2-3
Briefe an die Gemeinden

Der Aufbau der Sendschreiben

Offenbarung 2,1-7
Der Brief an die Gemeinde Ephesus

Akzentverschiebung

Offenbarung 2,8-11
Der Brief an die Gemeinde in Smyrna

Gemeinde unter Druck

Offenbarung 2,12-17
Der Brief an die Gemeinde in Pergamon

Gefährliche Vermischung

Offenbarung 2,18-29
Der Brief an die Gemeinde in Thyatira

Innere Emigration

Offenbarung 3,1-6
Der Brief an die Gemeinde in Sardes

Eine „lebendige“ Gemeinde?

Offenbarung 3,7-13
Der Brief an die Gemeinde in Philadelphia

Eine offene Tür

Offenbarung 3,14-22
Der Brief an die Gemeinde in Laodizäa

Schein oder Sein

Ein Rückblick auf die „Sendschreiben“

Offenbarung 4

Ein Blick in die Welt Gottes

Offenbarung 5

Die Einzigartigkeit Jesu Christi

Offenbarung 6

Das Buch mit sieben Siegeln

Offenbarung 7

Was in der Zeit der Gerichte geschieht

Offenbarung 8,1-5

Die Gebete der Heiligen

Offenbarung 8,6-13

Die ersten vier Trompetengerichte

Offenbarung 9,1-12

Die fünfte Trompete

Offenbarung 9,13-21

Die sechste Trompetenvision

Offenbarung 10

Empfang und Weitergabe einer Botschaft

Offenbarung 11,1-2

Vorhof und Heiligtum

Offenbarung 11,3-14

Die geisterfüllten Zeugen

Offenbarung 12

Die Frau, ihr Sohn und der Drache

Der Gegenspieler

Offenbarung 13

Der Antichrist und sein Reich

Offenbarung 14,1-5

Die Überwinder

Offenbarung 14,6 – Offenbarung 15

Die letzten Gerichte

Offenbarung 16

Die Schalen des Zorns

Offenbarung 17–18

Braut oder Hure

Offenbarung 19

Die Braut des Lammes

Offenbarung 20

Das Tausendjährige Reich

Offenbarung 21

Ein Blick in die Vollendung

Offenbarung 22,1-5

Die neue Schöpfung

Offenbarung 22,17

Die große Einladung

Offenbarung 22,6-21

Ein Buch der Naherwartung

Dank

Über den Autor

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Ernst Gerhard Fitsch war nach einem Theologiestudium in Hamburg und Göttingen freikirchlicher Pastor in Berlin und Worms sowie in Bülach und St. Gallen (Schweiz). Nun lebt er im Ruhestand in Freiburg im Breisgau.

Vorwort

Nach seiner langen Laufbahn als Gemeindepastor hat Ernst Gerhard Fitsch nun etwas mehr Zeit, um den Schatz, den er in Jahrzehnten der Arbeit an den biblischen Texten gehoben hat, zu sortieren, genauer zu betrachten und anderen zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört die intensive, seriöse Auseinandersetzung mit dem Buch der Offenbarung.

Zahlreiche Autoren haben sich bereits daran gemacht, die Geheimnisse dieses letzten Buchs der Bibel zu entschlüsseln, doch nicht wenige dieser Publikationen erscheinen in fast reißerischem Gewand, kommen recht spekulativ daher oder spiegeln allzu deutlich die theologische Prägung und die Vorlieben des jeweiligen Autors.

Wie wohltuend ist es da, dass sich Ernst Gerhard Fitsch der Offenbarung eben nicht allein aus der persönlichen Perspektive nähert oder der Versuchung erliegt, im Text das zu suchen, was er gerne finden will, sondern behutsam und unter Berücksichtigung der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten und auch des historischen Kontextes an die Texte herangeht. Herausragend finde ich, dass er die reale Person Jesus Christus als Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse der Offenbarung versteht und den Text von ihm aus und auf ihn hin denkt und auch auslegt. Er greift den eigentlichen Titel des Buchs (die „Offenbarung Jesu Christi …“ Offenbarung 1,1) auf und erkennt ihn als Schlüssel zum gesamten Text.

In Die Vision von Patmos geht Ernst Gerhard Fitsch behutsam und Schritt für Schritt durch die einzelnen Kapitel der Offenbarung, verliert dabei aber nie sein Anliegen aus den Augen, das Herz und den Verstand des Lesers auf den zu richten, um den es in der Offenbarung vor allem anderen geht: Jesus Christus. Dieser Ansatz und dieses Ziel weckt Freude und Glauben beim Leser. Während mancher Hintergrund beleuchtet und manche Aussage verständlicher wird, wachsen zugleich die Ehrfurcht und die Liebe Jesus gegenüber.

Dieses Buch ist also eine Ermutigung und Hilfe, auf dem Gang durch die Offenbarung Jesus zu begegnen und neu von ihm fasziniert zu werden. Ein Vorhaben, das ihm gelungen ist. Von Herzen empfehle ich dieses wichtige Buch, das dem Herzen eines Mannes entsprungen ist, den ich als echten Nachfolger Jesu kennengelernt habe.

Rainer Harter
Leiter des Gebetshauses Freiburg

Patmos 2017

Urlaub auf der Insel Patmos. Ein griechischer Freund hat uns eingeladen, der einige Ferienwohnungen auf dieser Insel vermietet. Patmos ist ein Geheimtipp für Urlauber, die im heißen Sommer Urlaub in der Ägäis machen wollen. Wer immer kann, als Bewohner des griechischen Festlandes, begibt sich auf eine der zahllosen Inseln im ägäischen Meer. Wer kennt sie nicht, die Inseln Kreta, Rhodos, Kos, Samos, Santorini? Ein kühlender Nordwind und natürlich das erfrischende Meer machen die sonst oft erdrückende Hitze sehr erträglich.

Doch diese Inseln sind, wie fast alle bekannten schönen Ferienorte, vom Tourismus überlaufen, mit allen Kehrseiten des Massentourismus. Patmos aber gilt als Geheimtipp. Die Insel ist nicht so leicht zu erreichen, da sie keinen Flugplatz hat. Man braucht eine Fähre, entweder von Athen aus, oder von Samos, Leros oder Kos. Darum ist die Insel ruhiger und geheimnisvoller. Denn sie ist die Insel der Offenbarung des Johannes. Dieses Buch hat sie berühmt gemacht und hat Spuren und Erinnerungen daran hinterlassen. Man nennt sie darum in Griechenland auch „die heilige Insel der Ägäis“. Auf Patmos war Johannes verbannt „wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu“. Bei guter Sicht kann man das nahe gelegene kleinasiatische Festland sehen, auf dem die aus der Offenbarung bekannten Städte Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea liegen.

Als Lektüre haben wir in unserem Reisegepäck fast nur ein Buch: die Bibel und das griechische Neue Testament, beide wegen der Offenbarung, mit der wir uns in der Abgeschiedenheit der Insel noch einmal eingehend beschäftigen wollen. Die Offenbarung des Johannes ist mir seit über 40 Jahren ein treuer und vertrauter Begleiter geworden. Immer wieder habe ich sie gelesen und studiert, sie auch vorsichtig gedeutet und ausgelegt. Sehr geholfen hat mir dabei der Kommentar von Adolf Pohl1. An ihm habe ich meine eigenen Eindrücke und Entdeckungen geprüft und geschärft, wie ein Messer ein anderes schärft. Den Kommentar empfehle ich allen, die sich mit der Offenbarung eingehend beschäftigen wollen.

Dieses Büchlein schreibe ich, weil ich zum Lesen der Offenbarung anregen und ermutigen möchte. Immer wieder begegne ich Menschen, die die Bibel lesen, aber bei diesem letzten Buch aufgeben. „Das ist ein Buch mit sieben Siegeln!“, lautet ein oft gehörter Kommentar. So fristet die Offenbarung bei vielen Bibellesern ein Schattendasein. Schade, mehr als schade! Denn ich finde dieses letzte Buch der Bibel als unverzichtbar. Es steht nicht zufällig und beliebig da, sondern enthält eine Botschaft, die das Gesamtzeugnis der Bibel erst vervollständigt, und ohne das Wesentliches fehlt.

Die Offenbarung ist kein „Buch mit sieben Siegeln“, auch wenn diese Charakterisierung aus der Offenbarung selbst stammt; allerdings wird dort nicht die Offenbarung so gekennzeichnet, sondern eine Schriftrolle, die Jesus Christus selbst öffnet. Er bricht ihre Siegel.

Vielleicht fragt jemand: „Verstehst du denn, was in der Offenbarung so alles steht?“ Ich halte es da gern mit Mark Twain, der für eine Zeitung Leserfragen beantwortet hat. Ein Leser hatte geschrieben: „Es beunruhigt mich, dass ich so vieles in der Bibel nicht verstehe.“ Mark Twain antwortete darauf in seiner verschmitzten und prägnanten Art: „Die meisten Menschen haben Schwierigkeiten mit den Bibelstellen, die sie nicht verstehen. Ich für meinen Teil muss zugeben, dass mich gerade diejenigen Bibelstellen beunruhigen, die ich verstehe.“

Wir sind auf der Insel Kos gelandet und besteigen die Fähre, die uns an zahlreichen Inseln vorbei nach Patmos bringen soll. Der Katamaran gleitet mühelos über das leicht bewegte Meer. Inseln tauchen um uns her auf wie Fabelwesen, von denen nur etwas aus dem Wasser ragt: liegt dort nicht der riesige Zyklop träge im Wasser? Nur sein vollgefressener Wanst und sein Kopf ragen noch heraus. Und streckt zur Rechten nicht die Hydra ihre Köpfe lauernd hervor? Gleiten wir hier nicht gerade an Skylla und Charybdis vorüber? Und lassen wir nicht die Inseln der Kirke und die der Sirenen gerade hinter uns? Es ist eine von Geheimnissen umwitterte Inselwelt.

Ich werde an Odysseus erinnert, von dessen Irrfahrten in genau diesem Meer wir in der Schule bei Homer gelesen haben. Seine Fahrt durch diese unzähligen kleineren und größeren Inseln, oft von Abenteuern, Gefahren und Geheimnissen begleitet, ist ja ein treffendes Bild für unsere Lebensreise. Odysseus war aus seiner Heimat Ithaka aufgebrochen, hatte die Schlacht von Troja erlebt und zum siegreichen Ende beigetragen. Nun war er auf der Suche nach der Heimat. Viele Attraktionen und Reize suchten ihn aufzuhalten und auf eine der Inseln zu binden. Doch es zog ihn in seine eigentliche Heimat zurück. Geht es uns nicht ähnlich auf unserer Lebensreise? Damit sind wir auch wieder bei der Offenbarung angekommen. Denn hier berühren sich die Odyssee und die Offenbarung des Johannes.

Wir stehen vorne an der Reling der zügig dahingleitenden Fähre. Der Nordwind weht uns kräftig entgegen und wird durch den Fahrtwind noch verstärkt. Wir können uns fast in den Wind legen wie in ein unsichtbares Netz. Vor uns tauchen die für Griechenland so typischen weiß getünchten Häuser von Skala auf, der Hafenstadt von Patmos. Von Weitem leuchtet sie zuerst wie eine Aura aus der felsigen Insel hervor, dann zeichnen sich die einzelnen Häuser und die Masten der im Hafen liegenden Schiffe und Boote ab.

An Land empfängt uns unser Freund Kostas und bringt uns zu der Ferienwohnung. Oben auf einem Hügel thront das Haus fast wie eine Burg, ganz aus Steinen der Insel errichtet. Darum fügt es sich harmonisch in die Umgebung ein. Unter uns liegt malerisch der Hafen von Skala. Wie oft sitzen wir in den folgenden Tagen auf der Terrasse und können uns nicht satt sehen an dem Panorama. Und hier, in der Stille und Abgeschiedenheit dieser besonderen Insel, lesen wir wieder neu das Buch, das auf dieser Insel geschrieben wurde.

Am Vortag, kurz nach Mitternacht,
war ich auf der Insel, die Patmos heißt.
Bei Anbruch der Dämmerung war ich oben in Chora2.
Das Meer, reglos wie Metall, verband die umliegenden Inseln.
Kein Lufthauch regt sich in dem immer stärker werdenden Licht.
Die Stille war eine undurchdringlich Schale.
Ich blieb wie angewurzelt durch diesen Zauber;
danach glaubte ich zu flüstern: „Komm und sieh …“
Georgios Seferis3
Patmos, August 2017

Vorschläge zum Gebrauch des Buches

Das ganze Buch lesen

Am besten ist es aus meiner Sicht natürlich, das ganze Buch im Zusammenhang zu lesen. Aber man kann es auch anders gebrauchen.

Die einleitenden Kapitel lesen

Die ersten Kapitel bieten eine grundsätzliche Hilfe zum Lesen der Offenbarung. Denn die Offenbarung selbst gibt vor allem im ersten Kapitel wichtige Hinweise, die man beachten sollte. Die habe ich in den Kapiteln „I. Einleitung in die Offenbarung“ und „II. Das Thema der Offenbarung“ entfaltet. Gerade bei diesem letzten Buch der Bibel sollten wir keinen der zahlreichen Hinweise zum Umgang mit diesem Buch übersehen. Denn die Offenbarung ist nicht einfach das Schlusskapitel der ganzen Bibel, sondern ein eigenes Buch, dessen Schlüssel uns die Offenbarung selbst gibt.

Ein Leitfaden für Hauskreise und Gesprächsgruppen

Das Buch eignet sich auch als Leitfaden zur Beschäftigung mit der Offenbarung in Hauskreisen und Gesprächsgruppen. Dazu finden Sie am Ende der Kapitel Fragen, die in vertiefende Gespräche führen können.

Nachschlagen nach einzelnen Kapiteln

Man kann das Buch natürlich auch gebrauchen, um sich mit einzelnen Kapiteln oder Themen zu beschäftigen, ähnlich wie bei einem Kommentar. Dennoch meine ich, dass gerade die Offenbarung am besten ganz und im Zusammenhang gelesen werden sollte, weil sich vieles im Zusammenhang besser erschließt. Sie ist ja ein zusammenhängendes Buch.

Warum ist es wichtig, die Offenbarung zu lesen?

Ich halte das Lesen der Offenbarung aus mehreren Gründen für wichtig: Zum einen gibt sie uns eine Schau des erhöhten und wiederkommenden Christi, und das nicht nur in der Christus-Vision im ersten Kapitel. Damit wird das biblische Zeugnis von Jesus erst vollständig. Zum anderen gibt sie auch eine Schau vom Ziel und der Vollendung. Wie die ersten Kapitel der Bibel einen Einblick in Ursprung und Bestimmung der Schöpfung geben, so finden wir in dem letzten Buch der Bibel einen Blick in die Vollendung, mit auffallenden Entsprechungen zum Anfang.4

Die Offenbarung hat sich in der Geschichte der Kirche als eine starke Hilfe erwiesen, besonders in Zeiten von Verfolgung. Sie hat geholfen, Antichristliches zu identifizieren. Als im Dritten Reich viele Deutsche von den Erfolgen Hitlers geblendet waren und einige sogar göttliche Vorsehung am Werk sahen, gab es leider nur Wenige, die die Maskerade durchschauten. Nicht zuletzt die Offenbarung war eine entscheidende Hilfe, die Kräfte hinter den Ereignissen und die Geistesrichtung zu erkennen.5 Es ist tragisch, wenn wir die Hilfe vernachlässigen, die uns die Offenbarung gibt in einer Zeit zunehmender Fake News und Verführungen.6 Doch wie können wir die Offenbarung auslegen? Ein kurzer Gang durch die Geschichte der Auslegung soll uns einige Möglichkeiten zeigen.

Wie können wir die Offenbarung auslegen?

Die historische Auslegung

Die historische Auslegung sieht in der Offenbarung eine Darstellung der Geschichte. Der altehrwürdige Bibelausleger Johann Albrecht Bengel war ein Vertreter der historischen Auslegung. Er hat neben die Abschnitte der Offenbarung die nach seiner Meinung dazu passenden Ereignisse der Weltgeschichte geschrieben. Solche Versuche sind – bei allen interessanten Aspekten im Detail – schon dadurch ad absurdum geführt, dass sie vom tatsächlichen Verlauf der Geschichte überholt werden und immer wieder neu geschrieben werden müssen.

Die kirchengeschichtliche Auslegung

Eine Variante der historischen ist die kirchengeschichtliche Auslegung, die sich meist auf die Sendschreiben bezieht. Sie sieht in jeder der sieben Gemeinden eine Epoche der Kirchengeschichte repräsentiert. Die Gemeinde Ephesus stehe für die Kirche an der Schwelle von der apostolischen zur nachapostolischen Zeit. In dieser Blütezeit der Kirche läuft noch vieles vorbildlich. Aber der Verlust der „ersten Liebe“ kündigt schon den Beginn der Abwärtsentwicklung an. Smyrna verkörpere nach dieser Auslegung die verfolgte Gemeinde im 2. und 3. Jahrhundert. Die Gemeinde Pergamon stehe für Staatskirche und Papsttum. In Thyatira zeichne sich die römisch-katholische Kirche ab. Sardes weise auf die orthodoxen Kirchen, die die richtige Lehre für sich beanspruchen, aber kein geistliches Leben in sich tragen. Philadelphia wird in den unabhängigen Kirchen und Konfessionen gesehen, die den Missionsauftrag wieder ernst nehmen. Ihr steht die Gemeinde Laodizäa gegenüber, die Kirche, die äußerlich groß und reich ist, die der Herr aber ausspeien wird, weil sie weder kalt noch heiß ist.

Die kirchengeschichtliche Auslegung der Sendschreiben ist in mancher Hinsicht erhellend. Sie wird aber dem Wort im Einzelnen letztlich nicht gerecht. Sie kann im Detail hilfreich sein und den Blick für gewisse Entwicklungen in Geschichte und Gegenwart schärfen. Aber wenn man sie zum maßgebenden Leitfaden der Auslegung macht, erhebt sich der Ausleger leicht zum verallgemeinernden Richter über andere Konfessionen. Und er läuft Gefahr, sich dem Spiegel aller Sendschreiben nicht mehr zu stellen.

Die zeitgeschichtliche Auslegung

Die zeitgeschichtliche Auslegung geht davon aus, dass die Offenbarung nur für ihre Zeit geschrieben wurde. Alle Deutungen sind dann in der Zeit der Abfassung zu suchen. „Babylon“ ist Deckname für Rom, unter dessen Herrschaft die Empfänger des Buches standen und zu leiden hatten. Alle Bilder, Zahlen und Symbole werden allein aus der Zeitgeschichte gedeutet.

Dass die Offenbarung in eine bestimmte Zeit hineingeschrieben wurde, und die Auslegung die damaligen Verhältnisse und Bedeutung für die ersten Empfänger so weit wie möglich ermitteln muss, sollte selbstverständlich sein. Doch ob sie in der Zeitgeschichte aufgeht und ihre Bedeutung nur gegen Ende des 1. Jahrhunderts zu suchen ist, ist die Frage. Die Offenbarung wird ja als Buch der „Prophetie“ bezeichnet (1,3). Und Prophetie kann immer über die eigene Zeit hinaus gelten, wie wir bei den Propheten des Alten Testaments sehen, deren Worte ausdrücklich auch in ferne Zeiten verweisen. Nehmen wir also die Selbstaussage der Offenbarung ernst, ein prophetisches Buch zu sein, dann bedeutet das auch, dass sie nicht an die Zeit der Abfassung allein gebunden und nur aus ihr heraus zu verstehen ist. Das geht auch aus den Worten des erhöhten Christus hervor: „Schreibe, was du gesehen hast und was ist und was geschehen soll danach.“ (1,19) Das ist die Reichweite biblischer Prophetie: Sie kann Verborgenes der Vergangenheit ans Licht bringen, in die Gegenwart hineinsprechen und auch in die Zukunft blicken. Die Zeitgeschichte ist ein wichtiger Bezugspunkt zum Verstehen. Aber die Offenbarung erschöpft sich nicht darin.

Die endgeschichtliche Auslegung

Die endgeschichtliche Auslegung vertritt die Ansicht, dass nur die ersten drei Kapitel die Gegenwart beträfen, mit Kapitel vier aber ein Einblick in die Zeit nach der Entrückung der Gemeinde beginne. Der größte Teil der Offenbarung beträfe also gar nicht die heutigen Leser, sondern sei für sie nur interessant als Darstellung oder Skizze von Ereignissen, mit denen die entrückte Gemeinde nichts mehr zu tun habe. Solche Auslegungen, die Teile der Bibel nur für eine vergangene oder zukünftige Zeit gelten lassen, treten meist in bibeltreuen Gewändern auf, sind aber in Wirklichkeit Bibelkritik von großer Tragweite. Sie verschließen sich dem Reden Gottes und der Geltung seines Wortes für die Gegenwart und seinen Verheißungen.

EXKURS: Biblisch verstandene Endzeit

Gegenüber einem solchen Endzeitverständnis brauchen wir eine biblische Sicht der Endzeit. Die „Endzeit“ beginnt im Neuen Testament nämlich nicht im 20. Jahrhundert, sondern mit der Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten. Petrus sagte am Pfingsttag: „Hier erfüllt sich, was durch den Propheten Joel gesagt ist: ‚Es soll geschehen in den letzten Tagen (…), da will ich ausgießen von meinem Geist (…).‘“ (Apostelgeschichte 2,16-17; LUT 17) Die ganze Geschichte seit Pfingsten ist demnach letzte Zeit. Sie ist die Zeit der Ausbreitung des Evangeliums unter alle Völker. Die verbreitete Ansicht, oft mit leuchtenden Augen vertreten, dass jetzt die Endzeit angebrochen sei, ist kurzsichtig. Schon der 1. Johannesbrief sagt mit dankenswerter Klarheit (1. Johannes 2,18): „Kinder, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, sind jetzt viele Antichristen aufgetreten; daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist.“

„Den“ Antichristen vor allem in der Zukunft zu erwarten und zu spekulieren, wer sich als solcher entpuppen werde, macht blind für das Antichristliche, das schon die ganze Kirchengeschichte durchzieht und in vielen Erscheinungsformen auftritt, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei muss der Antichrist gar nicht unbedingt als erkennbarer Feind Christi die Bühne der Geschichte betreten, sondern „Antichrist“ bedeutet ja auch „Statt-Christus“, also jemand, der als der große Problemlöser der Gegenwart erscheint, vielleicht sogar in christlichem Gewand, als „Wolf im Schafspelz“. Auch hier trifft das hellsichtige Wort Goethes zu: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.“

Endgeschichtliche Auslegungen erscheinen in sensationellem Gewand und lassen sich gut verkaufen. Plötzlich werden Entwicklungen entdeckt, die sich gerade jetzt vor unseren Augen erfüllen. Es gehört ja zum Phänomen der Offenbarung, dass sie eine erstaunliche Aktualität in fast jeder Zeit und Epoche vermittelt; dass sie mit ihren Bildern in fast jeder Epoche den Eindruck frappierender Aktualität zu erwecken vermag. Liegt darin nicht ein Geheimnis, das sie aus nur vorübergehender zeitgeschichtlicher Aktualität heraushebt und sie mit fast jeder Zeit kompatibel macht? Das Wachen und Rechnen mit dem Auferstandenen im Heute gehört zur christlichen Existenz. Die Sensibilisierung für die Möglichkeit der Parusie, des Wiederkommens Christi, ist immer wieder neu notwendig.

Problematisch ist es allerdings, solche Deutungen als die eine wahre Erfüllung anzusehen. In der Geschichte wurden immer wieder Bezüge entdeckt und Erfüllungen erkannt, die dann doch wieder vergingen und neuen Deutungen Platz machten. Der Glaube ist nicht von kurzschlüssigen, sensationell aktuellen Deutungen abhängig. Aber wir tun gut daran, mit der Erfüllung von Aussagen in unserer Zeit zu rechnen und in der beständigen Erwartung Christi zu leben. Das ist das ausgesprochene Ziel der Offenbarung: „Der Herr hat seinen Engel gesandt, seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss. Siehe, ich komme bald. Glücklich zu preisen ist, wer die Worte der Weissagung in diesem Buch bewahrt.“ (22,6-7)

Christologische Auslegung

Ich möchte die Auslegung, die ich empfehle, christologische Auslegung nennen. Es ist meine Überzeugung, dass es in diesem Buch vor allem um eine Offenbarung Jesu Christi geht, und nicht zuerst um Sachen oder chronologische Abfolgen. Der gekreuzigte, auferstandene und wiederkommende Jesus ist das große Thema dieses Buches. Von ihm her gewinnen alle Ereignisse ihre Bedeutung; und auf seine Herrschaft und sein Kommen weisen sie hin. Das geht schon aus dem ersten Kapitel hervor.

„Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat.“ (1,1)

Man kann diese Aussage in zweifacher Hinsicht verstehen. Einmal als eine Offenbarung, die Jesus Christus dem Johannes gegeben hat, dann aber auch als eine Offenbarung, deren Inhalt Jesus Christus ist. Es geht also in erster Linie nicht um die Offenbarung von Geheimnissen und Sachen, von Zeitabläufen und Fahrplänen, sondern mehr als alles sonst um eine Offenbarung der Person Jesu Christi. In den Evangelien wird uns der menschgewordene Christus vorgestellt, der erniedrigte, leidende, sterbende und auferstandene Messias.7 In der Offenbarung bekommen wir eine Schau des erhöhten, regierenden und wiederkommenden Herrn. Wir brauchen diese Ergänzung, um den Messias in seiner umfassenden Bedeutung zu sehen, und nicht nur den aus den Evangelien vertrauten Teil. Für Johannes jedenfalls war diese Schau entscheidend wichtig, um die Zeit der Bedrückung und Verfolgung zu bestehen. In Zeiten der Verfolgung hat sich gerade die Offenbarung immer wieder als starkes Trostbuch erwiesen.

Wie können wir die Offenbarung lesen?

Ich empfehle, zuerst einmal die Brillen abzulegen, die uns durch Bücher über die Endzeit aufgesetzt wurden. Franz Stuhlhofer hat in seinem Buch „Das Ende naht – die Irrtümer der Endzeitspezialisten“8 viele Irrtümer zusammengetragen, die in Büchern mit Bestseller-Auflagen verbreitet wurden. Diese teilweise reißerischen, scheinbar aktuellen Darstellungen können einem den Blick verstellen für das, was uns der Geist Gottes durch dieses Buch zu sagen hat.

„Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ (2,7)

Dieser Ruf gilt nicht nur für die Sendschreiben, sondern ist eine Verheißung für die ganze Offenbarung. Das aufmerksame Lesen, ohne vorherige Einordnung in bestimmte Abläufe und Systeme, kann uns zu neuen Entdeckungen führen. Dann bleiben wir nicht bei gewohnten und bekannten Vorstellungen stehen. Vielmehr nimmt uns dann das lebendige Reden des Geistes mit auf einen Weg, der die Hoffnung erneuert und die Augen öffnet für einen tieferen Blick in die Gegenwart und ihre Hintergründe; der uns von Illusionen und verführerischen Faszinationen aufweckt zu einer neuen Faszination von Jesus, dem erhöhten und wiederkommenden Herrn.

Fragen für Gesprächsgruppen

1) Die Offenbarung ist ein „Buch mit sieben Siegeln“! Was reizt Sie dennoch, die Johannesoffenbarung zu lesen?

2) Welche ‚Bedenken‘ haben Sie vor Beginn der Lektüre? Was ist für Sie die größte Herausforderung?

3) Begeben Sie sich auf ‚Suche‘! Die Offenbarung nennt in ihren ersten Kapiteln ‚Schlüssel‘, die ein besseres Verstehen ermöglichen. Welche haben Sie gefunden?

4) Der Begriff der „Endzeit“ ist in einigen Gemeinden ein Thema. Was wissen Sie darüber? Welche Bibelstellen im Neuen Testament geben darüber Aufschluss?

I.

Einleitung in die Offenbarung

Die Offenbarung des Johannes beginnt mit einer kompakten Einleitung, bei der jedes Wort beachtet sein will. Denn diese Einleitung gibt entscheidende Hinweise, um was für eine Buchgattung es sich handelt und wie es gelesen und verstanden werden soll. Man überliest sie nicht ohne erhebliche Folgen.

Der Charakter des Buches

Apokalypse

„Offenbarung (griech.: apokálypsis) Jesu Christi“ (1,1)9

Apokalypse lautet die griechische Bezeichnung für Offenbarung. Apokalypse bedeutet Enthüllung von Verborgenem; von dem, was unserem Erkennen und Verstehen sonst verborgen bliebe. Die Apokalypse stellt keine Vermutungen oder Prognosen an. Sie ergeht sich nicht in Spekulationen über die Zukunft, sondern sie enthüllt aus göttlicher Eingebung, was unserem Denken und Prognostizieren verborgen ist.

Die Apokalypse zeigt, „was geschehen muss in einer Schnelle“ (1,1). Das ist ein Unterschied zwischen Apokalypse und Prophetie: Prophetie kündigt Dinge an, um zur Umkehr zu rufen. Findet Umkehr statt, kann das Angedrohte zurückgenommen werden. Klassisch wird das im Buch Jona beschrieben. Apokalypsen zeigen dagegen Ereignisse, die unausweichlich sind. „Es muss geschehen“ (Offenbarung 1,1). So heißt es auch in der Endzeitrede Jesu (Matthäus 24,6; LUT 17): „Seht zu und erschreckt nicht. Denn es muss geschehen.“ Bei den Gerichten der Offenbarung handelt es sich also nicht um zu verhindernde, sondern um notwendige Ereignisse.

Prophetie

„Glücklich, wer liest und hört die Worte der Prophetie.“ (1,3)

Die Offenbarung wird hier mit „Worte der Prophetie“ charakterisiert. Es handelt sich also um ein prophetisches Buch. Prophetie bedeutet weit mehr als ein Blick in die Zukunft. Prophetisches Reden ist Reden aus Eingebung aus göttlicher Inspiration. Dieses Reden kann sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen. Zum Charakter prophetischer Worte gehört, dass sie der Auslegung bedürfen.10

Wenn die Offenbarung ein prophetisches Buch ist, dürfen wir sie nicht einfach als Reportage zukünftiger Ereignisse lesen; auch nicht als vordergründige Beschreibung geschichtlicher Abläufe. Sondern wir haben es mit Prophetie zu tun, die zu deuten und auszulegen ist. Auffallend und typisch für den Stil dieses Buches sind zum Beispiel die Zahlen11: In diesem prophetischen Buch handelt es sich dabei nicht um bloße arithmetische Zahlen, sondern um Zahlen mit tieferer symbolischer Bedeutung.12

Prophetische Begriffe, Zahlen und Bilder bedürfen der Deutung. Dabei ist es zum Beispiel möglich, an die goldenen Leuchter zu denken, die Johannes in Kapitel 1 schaut. Sie sind nicht bloße Illumination, sondern stehen für die Gemeinden, deren Wesen und Berufung es ist, Licht der Welt zu sein. Die Sterne in der Hand des Erhöhten werden ebenso in Offenbarung 1,20 vorbildhaft gedeutet. Solche Auslegung und Deutung, die die Offenbarung am Anfang selbst gibt, braucht es bei vielen Begriffen, Bildern und Zahlen der Offenbarung. So etwa auch, wenn gegen Ende des Buches von 1000 Jahren die Rede ist. Diese Zahl wird in „Endzeitdarstellungen“ oft einfach als arithmetische Zahl genommen. Wenn wir bedenken, dass es sich um ein prophetisches Buch handelt, kann uns das vor vordergründigen Fehldeutungen bewahren.

Es gibt eine breite Tradition von Schriften über die Endzeit, die den prophetischen Charakter des Buches nicht beachtet und darum zu abenteuerlichen Auslegungen kommt, vor allem in amerikanischer Tradition. Solche sensationellen Bücher, die die Offenbarung als bloße Geschichtsdarstellung lesen, lassen sich gut an neugierige Leser verkaufen.

Ein Grund, warum sie die Offenbarung wie ein Geschichtsbuch lesen, ist, dass sie die Bibel einebnen und alle Bücher gleich behandeln, als handle es sich bei der Bibel um ein einziges Buch, bei dem jede Aussage gleichen oder ähnlichen Charakter trage. Dabei werden die unterschiedlichen Stile und Gattungen übersehen, die ein je eigenes Verständnis brauchen.13

Wenn wir aber den prophetischen Charakter des Buches beachten, kommen wir in vielem zu ganz anderen Konsequenzen. Dann suchen wir in der Offenbarung keine sensationellen Szenarien und lesen keinen Endzeitfahrplan heraus, der die vordergründige Neugier befriedigt und der ständig umgeschrieben werden muss. Wir dürfen nach meiner Überzeugung die Bibel nicht einebnen. Zwar handelt es sich bei ihr wirklich um ein Buch, das aber aus 66 ganz unterschiedlichen Büchern mit ganz eigenem Charakter besteht. Nur wenn jedes Buch für sich angemessen gehört wird, entfaltet sich der Chor der verschiedenen Stimmen zu einem vielstimmigen Gesamtklang von umso größerer Schönheit.

Die Charakterisierung „prophetisch“ kann uns vor einer platten Deutung bewahren. Wir brauchen vielmehr einen wachen Sinn und die Hilfe des Heiligen Geistes zum Verständnis und zur Deutung, nämlich den „Geist der Weisheit und der Offenbarung“, um den Paulus in Epheser 2,17 betet.

„Glücklich, wer liest und hört die Worte der Prophetie.“ (1,3)

„Lesen und Hören“ verweisen auf den Umgang mit dem Buch in den Gemeinden zur Zeit des Johannes. Die einzelnen Christen hatten noch nicht das Privileg, ein eigenes Buch in den Händen zu halten. Es gab von biblischen Büchern nur kostbare Abschriften, die der Gemeinde vorgelesen wurden.

Aber die Verheißung des Lesens und Hörens gilt auch uns: „Glücklich, wer liest und hört die Worte der Prophetie.“ Es kommt bei der Offenbarung nicht zuerst auf lückenloses Verstehen an, sondern zunächst auf das Lesen und Hören. Auch die Leser und Hörer damals haben sicher viele Dinge nicht gleich verstanden.

Ein Beispiel kann hier Maria sein. Sie verstand nach der Geburt Jesu die Bedeutung der Worte der Hirten noch nicht, als sie von der Erscheinung der Engel und ihrer Botschaft berichteten. Aber „sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“ (Lukas 2,19; LUT 17). Es folgten für sie Höhen und Tiefen und schmerzliche Missverständnisse, bis sie die Bedeutung der Worte mehr und mehr verstand.

So tun wir gut daran, die Offenbarung zunächst einmal aufmerksam zu lesen und uns die Worte einzuprägen und im Herzen zu bewegen. Die Zeit kommt, sowohl in unserem Leben als auch in der Geschichte der Kirche und der Welt, in der nach und nach vieles deutlicher wird.

Für das Verstehen der Offenbarung des Johannes gilt auch, was Daniel gesagt wird (Daniel 12,8-10; LUT 17): „Ich hörte es, aber ich verstand’s nicht und sprach: Mein Herr, was wird das Letzte davon sein? Er aber sprach: Geh hin, Daniel; denn es ist verborgen und versiegelt bis auf die letzte Zeit. Viele werden gereinigt, geläutert und geprüft werden, aber die Gottlosen werden gottlos handeln; alle Gottlosen werden’s nicht verstehen, aber die Verständigen werden’s verstehen.“

Daniel betete und fragte Gott um Verständnis und bekam Antwort (Daniel 9,1-3.18ff). Daniel rang in Flehen, Selbstprüfung und Schuldbekenntnis um Verständnis und Erfüllung von prophetischen Worten. Entscheidende Einsichten liegen nicht auf der Hand und erschließen sich nicht allein durch Zeitgeschichte und Sekundärliteratur; sie müssen uns gegeben werden. Wie bei Daniel kommt es auf die geschichtliche Stunde an; und auf die Bereitschaft zu beten und zu empfangen, manchmal verbunden mit Fasten, Tränen und Schuldbekenntnis. Gründliches Studieren kann das Offenbaren durch Gott selbst nicht ersetzen, sondern braucht es vielmehr.

Beim Lesen schwer verständlicher Passagen geht es uns manchmal wie beim Essen von Fisch. Die Gräten sind oft ein Hindernis, den Fisch zu genießen. Manche meiden aus diesem Grund das Essen von Fisch. Andere ärgern sich so an den Gräten, dass ihnen die Freude am Fisch vergeht. Doch wer es lernt, mit den Gräten richtig umzugehen und den Fisch zu kosten, der möchte ihn nicht mehr missen. Beim Lesen der Offenbarung stoßen wir auch auf manche „Gräten“. Doch statt sich an den schwer zugänglichen Stellen zu stören und womöglich das Buch ganz zur Seite zu legen, können wir uns auf das konzentrieren, was wir verstehen.

Wer allerdings die Offenbarung tiefer verstehen möchte, der kann Kommentare zur Hilfe nehmen. Dort finden sich Erläuterungen aus der Zeitgeschichte, Worterklärungen aus dem Grundtext und viele wertvolle Hinweise zum Verständnis und zur Auslegung. Ein solches Studium der Offenbarung ist kein Spaziergang, eher eine Bergwanderung mit einem erfahrenen Bergführer, die zu erhabenen Ausblicken und neuen Perspektiven führen kann.

Noch etwas gehört zum Verstehen. Wir lesen im ersten Vers: „Seinen Knechten zu zeigen, was in Bälde geschehen muss.“ Knechte sind Diener, die den Willen ihres Herrn tun. Wenn die Offenbarung „seinen Knechten“ gegeben ist, dann bedeutet das auch: Sie ist denen gegeben, die Gottes Willen tun und ihn nicht bloß erkennen wollen. Die Offenbarung ist uns nicht gegeben, um zu spekulieren und lediglich im Studierzimmer nach „Erkenntnissen“ zu forschen; sondern wenn wir sie lesen, um den Willen Gottes darin zu erkennen und zu tun, wird sie sich am ehesten erschließen. Diesen Schlüssel zum Verständnis hat Jesus selbst gegeben: „Wenn jemand dessen [Gottes] Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich aus mir selbst rede.“ (Johannes 7,17; LUT 17) Nicht als neugierige Zuschauer, sondern als Mitarbeiter Gottes werden wir die Offenbarung angemessen verstehen.14

EXKURS: Zum Verständnis der Zeit in der Offenbarung

„(…) denn die Zeit ist nahe.“ (1,3)

Die griechische Sprache, in der die Offenbarung geschrieben ist, hat zwei verschiedene Worte für Zeit. Es ist wichtig, diese Begriffe zu unterscheiden. Da ist einmal das Wort chrónos. Es ist uns bekannt aus Worten wie Chronometer (Zeitmesser, Uhr) oder Chronologie. Der Begriff bezeichnet die ständig laufende Zeit, etwa einer Uhr oder eines Kalenders. Das ist die Zeit, an die wir meist denken, wenn von Zeit die Rede ist. Dann gibt es aber auch das Wort kairós. Es beschreibt nicht die allgemein laufende Zeit, sondern den besonderen Augenblick, den richtigen Zeitpunkt, die gute Gelegenheit oder den kritischen Augenblick.15

In der Offenbarung steht in 1,3 und an anderen Stellen das Wort kairós. Das sollte uns davor bewahren, eine Chronologie zu entwickeln, als beschriebe die Offenbarung einen chronologischen Ablauf, einen Fahrplan, wo man wissen könne, wo der Zeiger der Weltenuhr jetzt stehe. „Die Zeit ist nahe“ schrieb Johannes den Gemeinden des 1. Jahrhunderts und nicht etwa erst uns. Hier steht kairós und damit schrieb Johannes der damaligen Generation und auch uns, dass die göttliche Stunde nahe ist. Gott ist dabei, seinen Plan zu vollenden. Und da bei Gott ein Tag ist wie 1000 Jahre, sind unsere Zeitvorstellungen doch sehr relativ.

In Offenbarung 1,1 heißt es: „(…) seinen Knechten zu zeigen, was in Bälde geschehen muss.“ Nimmt man die Übersetzung „in  en táchei