König und Königin aus der alchymistischen Prunkschrift Splendor Solis stehen für eine gereinigte Geschlechtlichkeit. Er identifiziert sich ganz mit dem solaren, sie mit dem lunaren Prinzip. Ein jeder von ihnen trägt im Inneren die Qualität des anderen. Demzufolge kann eine gelungenen Gegensatzvereinigung vollzogen werden.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Erste Ausgabe: Kösel-Verlag, 1986, München
Zweite Ausgabe: Eugen Diederichs Verlag, München 1998
© 2008 by Edition Pleroma, Frankfurt am Main,
dritte Ausgabe

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Titelgestaltung: Nicolas Vassiliev

Titelbild: Dante Gabriel Rossetti:

Dante Drawing the Angel, 1853

Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-939647-18-8

www.edition-pleroma.de

E-Mail: info@edition-pleroma.de

Inhalt

Angesichts des Themas

Die Vielfalt religionsgeschichtlicher Aspekte

Heilige Hochzeit im Alten Testament

Exkurs: Mandragora, das hochzeitliche Kraut

Hochzeitliche Stimmung im Neuen Testament

Gnostische Mysterien

Kabbalistische Konjunktionsmystik

Mystische Hochzeit

Jakob Böhme und die Vermählung mit der göttlichen Sophia

Exkurs: Der Mythos vom Androgynen

Im Umkreis der Alchymie

Die Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz

»Christus und Sophie«: Das Mysterium coniunctionis bei Novalis

Mystische Hochzeit heute: Ein Bericht

Mit der Tiefenpsychologie

als Erkenntnishilfe

Hinwege im Zeichen der Coniunctio

Epilog: »Im Fall du mehr willst lesen …«

Anmerkungen

Register

Über den Autor

Für Else

Der Archetyp des Hieros Gamos bestimmt die Hochphase der Menschheit und des Menschen als Motiv der schöpferischen Vereinigung der Gegensätze.

Erich Neumann

Das Mysterium der Hochzeit ist groß. (…) Der Bestand der Welt sind die Menschen. Ihr Bestand aber ist die Gemeinschaft der Hochzeit. Erkennt die unbefleckte Gemeinschaft, denn sie besitzt eine große Kraft!

Philippus-Evangelium. Spr. 60

Das Mysterium coniunctionis ist die Angelegenheit des Menschen. Er ist der nymphagogos (Brautführer) der himmlischen Hochzeit. Wie kann sich ein Mensch von diesem Geschehen distanzieren?

C. G. Jung an Erich Neumann (1952)

Angesichts des Themas

Unseren Besorgnissen und Ängsten stehen große Sehnsüchte gegenüber, ausgesprochene und unaussprechliche. Nicht nur was die Zukunft bringen mag, beunruhigt die Menschen auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend, sondern was bereits gegenwärtige Tatsache geworden ist. Dafür bedarf es keiner besonderen aktuellen Belege. Sie sind im übrigen der jeweiligen Tageszeitung in vielfältiger Abwandlung zu entnehmen. Was nun das Angstmachende, das Besorgniserregende anlangt, so ist nicht allein auf die äußeren Fakten zu verweisen. Sorge und Sehnsucht wurzeln in der menschlichen Existenz, in der Seele des Menschen. In jedem einzelnen werden sie erlebt und erlitten.

Nehmen wir einen Aspekt heraus, der in diesem Buch von verschiedenen Seiten her betrachtet werden soll: Was schmerzt mehr als das Wissen, vereinsamt und seelisch zerrissen, unvollständig, selbstentfremdet zu sein? Was wird mehr ersehnt als die Überwindung dieses Zwiespalts, nämlich in der Harmonie des Miteinanderseins, im Heilwerden von Ich und Du, in der glückhaften Vereinigung des Getrennten? Diese »selige Sehnsucht« ist Menschheitshoffnung und individueller Traum in einem. Selbst in der trivialen Idee vom »Traummann« bzw. von der »Traumfrau« schwingt noch ein schwacher Nachhall dieses Sehnens mit. Dass die zwei einander »kriegen« mögen, ist Thema und immer wieder abgewandelter Stoff für Sänger und Erzähler, für Dichter und Dramatiker aller Zeiten. Hochzeit bezeichnet das Leit- und Zielbild dieser Überwindung der Vereinsamung, auch der Aufhebung des inneren Zwiespalts. Von der Hochzeit mit der unerreichbar scheinenden, jedoch vom Schicksal vorbestimmten Braut träumt der verwunschene Prinz im Märchen. Und was sind die Märchen anderes als Zauberspiegel, in denen sich unser eigenes Suchen und Sehnen widerspiegelt, erhellt und illustriert durch urtümliche Bilder und Symbole? An keine Zeit oder Region gebunden, vermögen Mythen und Märchen mit erstaunlicher Unmittelbarkeit zu uns zu sprechen. Es ist, als bestehe ein heimlicher Kontakt zwischen den Gestalten und Wesenheiten dieser Mythen und unserer Seelentiefe. Gemeint ist jener Bereich unseres Unbewussten, der über unsere persönlichen Erlebnisse hinausreicht, also auch über das Vergessene oder Verdrängte. Immer wieder stellen sich Träume ein, die dies belegen, indem sie durch die rätselhaften Vorgänge oder Begebenheiten, in die wir dabei verwickelt werden, auf die weitgehend vernachlässigte transpersonale Dimension seelischer Wirklichkeit aufmerksam machen, um sie unserem Bewusstsein anzunähern. Die Tiefenpsychologie ist damit beschäftigt, die Symbolsprache der Träume wie auch der Mythen zu entschlüsseln, um die darin enthaltene Botschaft individuell verständlich und akzeptabel zu machen, so dass eine qualitative Bewusstseinserweiterung entstehen kann. Seelisches Wachstum, Persönlichkeitsreifung und Vervollständigung des Menschen wird dadurch gefördert. So liegt es nahe, das Symbol der Hochzeit als Ausdruck für diese Ganzwerdung zu verstehen. Polar Entgegengesetztes findet zueinander: Männliches und Weibliches, Lichtes und Dunkles, Inneres und Äußeres…

Um sich über sinnhaltige, sinnstiftende Zeichen im heutigen Leben klar zu werden, kann es hilfreich sein, die Geschichte zu befragen und in unserer geistig-religiösen Tradition Umschau zu halten. Hier ist der Ort, der die Wahrbilder, Sinnzeichen und Symbole birgt, die zusammen mit den Hervorbringungen des überpersönlich-kollektiven Unbewussten des einzelnen immer wieder spontan bedeutsam werden können. Das Symbol der Heiligen Hochzeit stellt eine Chiffre dar, eine Hieroglyphe, die der individuellen Aufschlüsselung bedarf, auch wenn damit ein sehr spezielles, um nicht zu sagen: ein abgelegenes Thema der Religions- und Geistesgeschichte angeschlagen wird. Auf den ersten Blick scheint die Distanz zu heutigen Fragestellungen erheblich zu sein. Gegenwartsbezüge lassen sich zunächst nur schwer herstellen. Auch ist nicht zu leugnen, dass es der Zusammenarbeit verschiedener Forschungsrichtungen bedarf, um die Fülle des vorliegenden Materials an Formen und Motiven überblicken zu können. Und doch beschränkt sich das zentrale Motiv der Heiligen Hochzeit bei weitem nicht allein auf religionshistorische, auf mythen- und mysteriengeschichtliche Fakten. Stets ist der erlebende, im Prozess geistig-seelischer Reifung befindliche Mensch mit im Spiel. Nicht vergangene Anschauungen sind zu verhandeln, sondern sein eigenes Geschick. Mit bloßer wissensmäßiger Kenntnisnahme ist daher nichts erreicht. Im Kraftfeld des Symbolischen geht es um lebendige Teilhabe, auch wenn ein bestimmtes mythisches Bild vor undenklichen Zeiten erstmals Bedeutung erlangt hat.

Als Symbol begriffen weist Heilige Hochzeit über sich hinaus. Echte Symbole verfügen über ein ungeahntes Potential an Lebendigkeit und Wirksamkeit. Sie bilden nicht ab; sie vergegenwärtigen vielmehr durch ihre Sinnbildlichkeit Sinn im Bild, eine mehrdimensionale Bedeutsamkeit im sinnenhaften Zeichen. Ohne dass hier Elementares über den in den weiteren Ausführungen verwendeten Symbolbegriff1 gesagt werden soll, sei nur erinnert: Ein lebendiges Symbol ist geradezu bedeutungsträchtig. Bedeutungsvoll ist es, insofern es sich nicht auf eine so oder so zu definierende Eindeutigkeit eingrenzen lässt, wie wir sie etwa von einem Zeichen verlangen müssen, das einem alltäglichen Zweck dient (z.B. Verkehrszeichen, technische Markierungen o.a.). Statt nur einen Wink zu geben, in eine bestimmte Richtung zu weisen oder eine reflexartige Reaktion zu erzeugen, wie dies z. B. in der modernen Technik und im Nachrichtenwesen erforderlich ist, hat ein echtes Symbol eine qualitativ andere Funktion. Es steht für eine Tiefe, für Mehrdimensionalität und für eine Sinnfülle, die sich einer zureichenden Definition letztlich entzieht. Was zur Wesensbestimmung eines solchen Symbols gesagt werden kann, ist bestenfalls vorläufiger Natur. Wohl lassen sich verschiedene Aspekte oder Bedeutungsschichten benennen. Aber die eigentliche Sinnmitte eines echten Symbols bleibt unanschaulich. Gleichwohl ruft es zu immer neuer Vergegenwärtigung dessen auf, was symbolisch gemeint ist. Man denke nur an die vielen Symbolträger im religiösen Kultus wie Wasser, Brot, Wein usw. In kultischer oder meditativer Vergegenwärtigung erweisen sie Mal um Mal ihre spirituelle Kraft, und zwar unbeeinflusst von rationaler Kritik oder theologischer Exegese.

Wohl lassen sich Chiffren beschreiben, die auf ein Mysterium hindeuten, wie es die Heilige Hochzeit darstellt. Aber das Eigentliche – eben das Mysterium coniunctionis, das Geheimnis der Einswerdung – bleibt verborgen, jedenfalls für den um seine »Neutralität« und um Distanz bemühten bloßen Zuschauer. Anders als durch Initiation,2 durch Vollzug und gestaltend empfangende Teilhabe ist kein Zugang möglich. Denn was ist – um einen Vergleich zu ziehen – die Beschreibung der Liebe gegenüber dem Akt des Liebens und des Geliebtwerdens! Hören wir auf Novalis‘ Hymne:

 

Wenige wissen

Das Geheimnis der Liebe,

Fühlen Unersättlichkeit

Und ewigen Durst.

Des Abendmahls

Göttliche Bedeutung

Ist den irdischen Sinnen Rätsel…

Das ist die Sprache des Wissenden, der von sich sagen kann, dass ihm »das Auge aufging / Dass er des Himmels / Unergründliche Tiefe maß«. Es ist die Sprache dessen, der den erfüllten Augenblick erlebt hat, in dem ihm die Tiefendimension der Wirklichkeit wahrnehmbar geworden ist, die die Heilige Hochzeit umschließt. Als ein im Innersten Ergriffener, als ein Gewandelter legt der jugendliche Novalis von seinem Erleben Zeugnis ab.

Und soviel ist vorweg zu sagen: Von einem Mysterium coniunctionis und von Heiliger Hochzeit darf gesprochen werden, weil die hier gemeinte Vereinigung sich nicht auf der menschlichen Ebene der Ich-Du-Beziehung erschöpft. Immer ist das »ewige Du« (M. Buber) mit im Spiel. Und erst unter dem Ewigkeitsbezug wird die zwischenmenschliche Begegnung in ihrer Fülle erfahren oder doch zumindest geahnt, ersehnt.

Zwei Grunderfahrungen sind auf das engste mit dem Weg und Wesen des Menschen bzw. des Menschseins verknüpft: die eine hat damit zu tun, dass der Mensch weder mit sich noch mit seiner Mitwelt in Einklang lebt. Wir denken an die leidvollen Erfahrungen des Gegensätzlichen, des Widersprüchlichen und der Entfremdung, religiös gesprochen: der menschlichen Heilsbedürftigkeit. Auf der anderen Seite wird die Aufhebung dieses Unheilszustandes herbeigesehnt. Sie ist seit je Inbegriff der Menschheitshoffnung. Damit hängt das Verlangen nach Identität, nach Ganzheit und Harmonie zusammen. Denn so wie jeder einzelne seinen Selbstverlust überwinden möchte, so verlangt die Gemeinschaft der Menschen angesichts der tödlichen Bedrohung ihrer Existenz nach Frieden und nach einem Ausgleich der auf Selbstzerstörung ausgerichteten Gegensätze. Damit ist nicht etwa die Aufhebung jeglicher Unterschiede gemeint. Es bedarf der Leben schaffenden Polarität. Gemeint ist das Mysterium coniunctionis als ein Mysterium des Verbundenseins. Es steht unter einem weiten Spannungsbogen. Erreicht vom Geburtsschrei des Neugeborenen, der erst auf diesem Planeten heimisch werden will, bis hin zum Aufschrei des Gekreuzigten: »Es ist vollbracht!« – Ausruf letzter Erfüllung. Dieses Mysterium reicht aber auch von der innigen Umarmung und wechselseitigen geistig-seelisch-leiblichen Durchdringung zweier Liebender bis hin zu der sakramentalen oder mystischen Vereinigung, deren »göttliche Bedeutung« – wie Novalis sagt – »den irdischen Sinnen ein Rätsel« bleibt.

Das ist alles noch recht vorläufig und andeutend-ungefähr gesagt. Was es mit dem Geheimnis der Heiligen Hochzeit auf sich hat, wird sich erst zeigen, wenn wir dieses Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten umkreisen. Und nochmals: mit bloßer Kenntnisnahme von Sachverhalten oder Anschauungen ist noch recht wenig ausgerichtet. Es geht um lebendige Teilhabe an einem Mysterium.

Die Vielfalt religionsgeschichtlicher Aspekte

Hieros Gamos oder Heilige Hochzeit ist eine im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike allgemein bekannte Vorstellung,1 wenngleich die Sache selbst vom Schleier des Mysteriums umgeben ist. Von diesem Geheimnis, dass Gott und Göttin, auch Gott und Mensch Hochzeit feiern, erzählt der Mythos in unzähligen Variationen. Der Tiefenpsychologe Erich Neumann bezeichnet in diesem Zusammenhang den Mythos als die immer »unbewusste Selbstdarstellung derartiger für die Menschheit entscheidender Lebenssituationen, und er ist unter anderem für uns schon deswegen von Bedeutung, weil wir an seinen durch kein Bewusstsein getrübten Selbstaussagen den echten Erfahrungsbestand der Menschheit ablesen können«.2

Die menschliche Erfahrung der ehelichen Vereinigung und die über die Einzelperson hinausweisende Erfahrung eines Numinosen, Göttlichen kommunizieren hier miteinander. Und eben dieses konkret-spirituelle Darüberhinaus macht die Heilige Hochzeit zum Mysterienvorgang, zum religiösen Fest, das den Menschen innerhalb seines Kultverbandes im innersten angeht. Denn, so könnte man mit Ulrich Mann die hier gemeinte Wirklichkeit andeuten: »Paarung gibt es auch im Tierreich, Trauung ist meist nur ein standesamtlicher Registrierakt, Hochzeit aber ist etwas im innersten Wesen Mythisches, etwas Heiliges sollte man sagen. Der Begriff des ›Hieros Gamos‹ drückt das aus, er ist der rituelle Nachvollzug des göttlichen Hochzeitsspiels. Kinder spielen Hochzeit, und sie spielen immer die Märchenhochzeit nach, die von Lichtheld und Königstochter. ›Und wenn sie nicht gestorben sind…‹, die heitere Schlusswendung umspielt die ernste Wahrheit, dass die heilige Hochzeit im Grund kein Ende hat, sondern immerwährende Feier ist. Denn im Göttlichen ist alles ewig.«3 Und so könnte man fortfahren: Teilhabe an der Ewigkeit ist dort beabsichtigt, wo der Ritus vollzogen oder wo er mythisch erzählend bezeugt wird; und seine Verkündigung ist qualitativ mehr als eine Mitteilung, die lediglich das Informationsbedürfnis befriedigt. Es stellt sich freilich bereits hier die Frage, inwiefern und auf welche Weise der heutige Mensch Mitbetroffener einer heiligen Hochzeit ist, inwiefern darin seine Sache verhandelt wird. Doch zuvor einige Daten, die uns die Annäherung erleichtern sollen.

Vor uns steht zunächst der uralte Fruchtbarkeitsmythos, der seit Menschengedenken in Feiern und heiligen Handlungen begangen wird. Er ist kein von Menschen ersonnenes oder erträumtes Phantasiegebilde. Für den Menschen, der am mythischen Bewusstsein seines Kultverbandes teilhat, ist der Mythos geistig-physische Wirklichkeit und hat den Charakter des Heiligen. Ihm kann er sich nicht entziehen. Alles menschliche Tun und Leben ist dem Tun und Leben der Götter unterstellt. Geburt, Hochzeit und Tod beruhen auf einer Dynamik, die über den Menschen hinausweist und die gleichzeitig tief in sein Leben hineingreift. In diesen Vorgängen walten Götter: »Das ist etwas ganz anderes, als wenn erfahrungsgemäß abergläubische Vorstellungen eine gewisse Macht ausüben. Hier ist echte Produktivität, hier entstehen unvergängliche Gestalten, hier wird der Mensch neu geschaffen«, gibt Walter F. Otto zu bedenken.4

So ist es der starke, der den Himmel mit all seinen Kräften beherrschende, der zeugende Gott, der sich am Beginn eines neuen Jahres mit der allbeschenkenden Erdgöttin verbindet. Die Frühjahrs- und Neujahrsfeste werden zu Fixpunkten der wiederkehrenden Götterhochzeit. Und gerade weil der ursprüngliche Mythos kein beliebiges Phantasieprodukt, etwa das einer prähistorischen Unterhaltungsindustrie, ist, sondern Begründung menschlichen Seins von einer höheren Seinsebene her, deshalb gilt seine kultische Vergegenwärtigung (nicht etwa ein bloßer Nachvollzug) als von den Göttern geboten. Der Mythos ist es, der »ein feierliches Verhalten und Tun« verlangt, »das den Menschen in eine höhere Sphäre erhebt« (W. F. Otto), und zwar inmitten seiner konkreten Lebensbezüge. Durch Mythos und Ritus bekommt das menschliche Leben erst Ordnung und Sinn. Was der Mensch im alltäglichen Tun wie im gottesdienstlichen Handeln unternimmt, das ist – zur Orientierung für die eigene Entscheidung – »oben« vorgebildet. Hier fallen die Grundentscheidungen des menschlichen Lebens. Unter diesem Gesichtspunkt kommt dem Offenbarungswissen von der göttlichen Abkunft des Menschen – »wir sind seines Geschlechts!« – besondere Bedeutung zu. In den Götterpaaren, im Zusammenwirken von Gott und Göttin, findet der Mensch das Urbild und Vorbild, das sein Leben trägt. Er muss daher nicht erst sein Fürchten und Hoffen an die imaginäre Projektionswand einer »jenseitigen« Welt werfen. Vielmehr ist er selbst »Entwurf« Gottes, nicht zuletzt bis in die Wurzeln seiner Existenz, d.h. in seiner Geschlechtlichkeit. Daher suchte der Mensch des Altertums – so Julius Evola – in der schaffenden Polarität des Göttlichen das Geheimnis und das Wesen seines eigenen Geschlechts zu ergründen. »Für ihn existierten die Geschlechter, ehe sie physisch existierten, als überindividuelle Mächte und Prinzipien; ehe sie in der ›Natur‹ in Erscheinung traten, walteten sie in der Sphäre des Heiligen, des Kosmischen, des Geistigen, des Übersinnlichen. In der Vielfalt göttlicher, als Götter und Göttinnen differenzierter Gestalten suchte er das Wesen des Ewig-Männlichen und des Ewig-Weiblichen zu erfassen, von dem die gegensätzliche Geschlechtlichkeit der Menschenwesen nur eine Widerspiegelung und nur eine besondere Erscheinungsform ist.«5 Und die Widerspiegelungen dieser Art sind Legion!

Symbolischer Ausdruck dieser kosmischen Verbundenheit ist vor allen Dingen das altchinesische Tai-Gi-Tu-Zeichen:

Hier ist in geradezu klassischer Weise eine dynamische Einheit zur Anschauung gebracht. Denn hier sind Yang (das Schöpferische, Helle, Männliche usw.) und Yin (das Empfangende, Dunkle, Weibliche usw.) so aneinandergeschmiegt, ineinandergefügt, dass beide eine runde Ganzheit ergeben. Der umfassende Kreis steht für Tao, für das Allumfassende, letztlich aber durch kein Wort Benennbare, in dem buchstäblich alle Polarität aufgehoben ist, und zwar ohne neutralisiert zu sein. Und doch oder gerade deshalb wird im Tai-Gi-Tu-Zeichen Heilige Hochzeit gleichsam anschaubar. Dem Menschen, der ein Wissender des Tao werden soll, obliegt es – im Sinne von Laotse – seine Mannheit zu erkennen und sein Weibsein zu wahren, um »Strombett der Welt« sein zu können. Im uralten Orakel- und Weisheitsbuch des I Ging findet die Dynamik, die zwischen Yang und Yin waltet, sowohl ihren graphischen wie auch ihren operativen Niederschlag. Denn einerseits sind die berühmten 64 Hexagramme Abwandlungen von Yang- bzw. von Yin- haltigen Zeichen. Andererseits wird auch noch heute der Benutzer dieses chinesischen Schafgarben- oder Münzorakels Zeuge jener Wandlung, die ihn selbst und seine augenblickliche Situation betrifft.6 Dass diese Yang-Yin-Symbolik als Weltformel zugleich einen verborgenen Schlüssel zum Leben- darstellt, wurde – erstaunlicherweise – erst in unseren Tagen ermittelt. Martin Schönberger zeigte die Entsprechung auf, die zwischen dem altchinesischen Weisheitsbuch und dem von der modernen Naturwissenschaft aufgestellten genetischen Code besteht.7 Da wie dort bleiben wir im Bereich der Mysterien des Lebendigen. Dabei sei nicht vergessen, aus welcher unmittelbaren Anschauung und aus welchem Erleben die Angehörigen ackerbauender Völker seit alters schöpfen: Es ist der vom Himmel niederströmende Regen, der die »Mutter Erde« befruchtet, eine selbstredende Gebärde der schaffenden Natur. Erfahrungen dieser Art spiegelt da und dort auch ein gewisser sprachlicher Parallelismus, etwa im Griechischen, wo säen (speirein) und pflügen (aroun) für zeugen stehen. Wohl gibt es religiöse Überlieferungen, nach denen Mutter Erde allein und ohne Mithilfe eines zeugenden Partners zu gebären vermag. Nach Hesiod gebar die Erde (Gaia) den Himmel (Uranos), von dem es in der Theogonie heißt, er sei ein Wesen, »ihr (der Erde) gleich, das sie überall umhüllen sollte«, also seiner Partnerin ehelich, d.h. auf ewig zugeordnet. Die Mythen berichten, dass Uranos und Gaia den Hieros Gamos vollziehen, damit Leben gedeihen kann. Die Erdmutter gilt als Allgebärerin und ist zugleich ein kosmisches Modell für die Fruchtbarkeit überhaupt.

Der kosmogonische Mythos, wonach Himmelsgott und Göttin der Erde Heilige Hochzeit feiern, ist weit verbreitet. »Man findet ihn vor allem in Ozeanien – von Indonesien bis Mikronesien -, aber auch in Asien, Afrika und in den beiden Amerika«, berichtet Mircea Eliade.8 Grundsätzlich ist bei allen Ackerbau treibenden Völkern. Natur- und frühen Kulturvölkern diese kosmische Verbundenheit anzutreffen. Das zeigt die Religionsgeschichte des Alten Orient und der griechisch-römischen Antike. In Mesopotamien geht der König zur Zeit des Neujahrsfestes mit einer Priesterin die heilige Ehe ein. Sie, die gleichsam inkarnierte Muttergöttin Inanna oder Ischtar, soll dafür sorgen, dass sich die Vegetation von neuem belebt und dass die Felder die erwartete Frucht tragen.

Der mütterlichen Göttin Ischtar steht Thammuz zur Seite, eine vom Schicksal gezeichnete Gestalt. Denn Jahr für Jahr muss er in das Totenreich hinabsteigen. Sein Tod ist unabwendbar. Ischtar aber folgt dem jugendlichen Gatten und ruft ihn, indem sie ihn mit all seinen Würdenamen benennt, aus dem Tod ins Leben zurück. Mit ihm begeht sie die Heilige Hochzeit. Frucht ihrer Umarmung sind die wiederbelebten Kräfte des Euphrattals. Aber auch der Sieg des machtvollen Gottes Marduk über die chaotischen Mächte, die Tiamat verkörpert, ist zu feiern. Zu diesem Neujahrsfest gehört die Heilige Hochzeit, die König und Priesterin stellvertretend für die Götter in einer Kammer eines Zikkurat begehen. Sie erfüllen damit das Gebot, das Wohl des ganzen Landes zu fördern.9

Baal, dem Fruchtbarkeits- und Wettergott aus dem altsyrischen Götterpantheon, ist Anat/Astarte, die Jungfrau, die Schwester und Gefährtin, zugeordnet. Auch hier ist der Naturmythos des Zeugens und Wachsens, des Reifens und Vergehens aufs engste mit dem Hieros Gamos verknüpft.

Am bekanntesten ist wohl das Götterpaar Isis und Osiris aus dem östlichen Nildelta. Als Verkörperung des fruchtbringenden Nilwassers, aber auch als Herr der Toten und der Wiedererweckung, verbindet sich der ermordete Osiris auf geheimnisvolle Weise mit seiner trauernden Schwester-Gattin. Denn als sich Isis über die Osiris-Mumie beugt, empfängt sie Horus, das göttliche Kind,10 dessen Blick Sonne und Mond vereint, eine Heilandsgestalt, die Erde und Menschheit erneuern soll. Die späteren Isis-Osiris- (bzw. Sarapis-)Mysterien. die in der hellenistischen Welt eine so große Bedeutung erlangen sollten, zeigen uns freilich, dass mit dieser Welterneuerung nicht allein Wiederbelebung der Erde, Fruchtbarkeit der Felder oder Kindersegen gemeint sind. Denn wenn es von Osiris heißt, dass er die Ägypter aus dem Zustand der Wildheit herausgeführt, sie dem Kannibalismus entfremdet und in ein durch Gesetze geordnetes Leben versetzt habe, so wird ihm damit der Titel eines Kulturbringers zuerkannt. Warum gerade ihm? Erich Neumann antwortet auf diese Frage: »Weil er nicht nur Fruchtbarkeitsgott im Sinne des Wachstums der Natur ist. Er ist dies auch, aber sein Schöpferischsein umfasst diese Stufe, ohne sich auf sie zu beschränken. Jedem Kulturbringer ist eine Synthese des Bewusstseins mit dem schöpferischen Unbewussten geglückt. Er hat in sich den schöpferischen Punkt erreicht, den Punkt der Erneuerung und Wiedergeburt, der im Fruchtbarkeitsritual des Neujahrsfestes in der Identifizierung mit der schaffenden Gottheit dargestellt wird, und von dem das Bestehen der Welt abhängt. Dies ›meint‹ der Ritus und die Menschheit in ihm. (…) Nicht der Naturverlauf, sondern die Beherrschung der Natur durch das in der Entsprechung schöpferische Element im Menschen ist der innere Gegenstand des Rituals. Die Findung des Schatzes aber ist unmöglich, ohne dass der Held seine Seele findet und erlöst, sein eigenes Weibliches, das empfängt, austrägt und gebiert…«.11

Damit ist uns – in der Sprache der modernen Tiefenpsychologie – eine wichtige Verstehenshilfe gegeben, die den urtümlichen Mythos der Heiligen Hochzeit entschlüsselt und den darauf bezogenen Ritus als einen Prozess im Individuum deutet. Namentlich die antiken Mysterien, die eleusinischen und dionysischen, nicht zu vergessen der Adonis- und der Attis-Kult, weisen in diese Richtung. Es ist der Myste, der im Mysteriengeschehen zu Reinigende, der zu Erleuchtende und der mit der Gottheit zu Vereinende, der an sich, in sich erlebt, was der Mythos erzählt. Er selbst geht »bis zur Grenzscheide zwischen Leben und Tod«; er selbst betritt »Proserpinas Schwelle«, wie es in dem aufschlussreichen Mysterienroman der »Metamorphosen« (Kapitel 11) des Apuleius heißt. Er schaut auch die »Sonne um Mitternacht«, die in weißglühendem Licht erstrahlt, eine Sonne, die dem Einzuweihenden den Weg zu den oberen wie zu den unteren Göttern erleuchtet.12

Wohl hören wir weiter von Götterhochzeiten: von dem indoeuropäischen Himmels- und Wettergott Zeus, der sich mit Göttinnen und mit irdischen Frauen in heiliger Hochzeit verbindet, oder von Dionysos, der sich auf Naxos mit Ariadne vermählt. Hesiod, Homer, Vergil und andere antike Autoren berichten dies von ihren überirdischen Helden und zeigen so, wie der Göttermythos jeweils zum »exemplarischen Modell für die Vereinigung der Menschen« erhoben wird.13 Doch im Gang der menschlichen Bewusstseinsgeschichte entspricht es durchaus einer inneren Konsequenz, dass auf das kosmisch bedeutsame Geschehen, das dem Schoß der Mutter Erde zugute kommen soll, ein mehr und mehr individuelles Erleben folgt. Das heilige Brautlager (Conubium) von König und Königin oder Priester und Priesterin bleibt nicht allein auf dieses ausgesonderte Paar begrenzt, denn in den Mysterien ist es immerhin eine, wenngleich zahlenmäßig begrenzte Schar von Einzuweihenden, die die Stufen der Läuterung und der Erleuchtung durchschreitet. Und nicht nur das. Denn die Mysterien lassen den Novizen auch den mystischen Tod erleben. Die große Bedeutung, die die griechisch-orientalischen Mysterien für die Religionsgeschichte haben, erblickt Mircea Eliade darin, dass sie »die Notwendigkeit einer persönlichen religiösen Erfahrung vor Augen führen, die sich auf das ganze Leben des Menschen erstreckt, das heißt, in christlichen Begriffen ausgedrückt, auch auf sein ›Heil‹ in der Ewigkeit. Eine solche persönliche religiöse Erfahrung konnte sich im Rahmen der öffentlichen Kulte nicht entwickeln…«. Aber die traditionsgebundenen Initiationsthemen leben fort; sie werden mehr und mehr verinnerlicht; sie erlangen ganz neue Erfahrungsqualitäten, eben die Erfahrung dessen, der das Neuwerden nicht allein am Gang des Jahreslaufes und der äußeren Natur abliest, sondern der selbst in einen Prozess der Erneuerung hineingenommen wird. Eliade fährt fort: »Ein archaisches Szenarium eignet sich dazu, für zahlreiche und verschiedenartige Zwecke wieder aufgenommen und verwendet zu werden, von der unio mystica [mystische Hochzeit] mit der Gottheit bis zur magischen Eroberung der Unsterblichkeit oder der Erlangung der endlichen Befreiung, dem Nirvana. Es ist, als ob die Initiationsszenarien unlöslich mit der innersten Struktur des geistigen Lebens verbunden wären und als ob die Initiation einen Prozess darstellte, der für jeden Versuch einer totalen Erneuerung, für jede Bemühung, die natürliche Lage des Menschen zu transzendieren, um zu einer geheiligten Seinsweise zu gelangen, unumgänglich notwendig wäre.«14

Schlussfolgerungen wie diese bedürfen freilich einer dokumentarischen Stütze. Wie allgemein bekannt, stellte aber eine überaus strenge Arkandisziplin jeglichen Mysterienverrat unter strengste Strafen. Die Frage, was eigentlich in Eleusis oder im Attiskult geschah, was den Mysten, den Einzuweihenden, widerfuhr und welche Mysterienhandlungen vollzogen wurden, wird seit je diskutiert, naturgemäß kontrovers. Immerhin sind uns Bruchstücke aus den geheimen Liturgien überliefert. Doch unsere Gewährsleute, frühchristliche Kirchenschriftsteller, berichten nicht etwa, um sachgemäß zu informieren, sondern um zu diffamieren. Das wirft Probleme auf, um so mehr, als die fraglichen Geheimriten einerseits um mystischen Tod und um Erweckung, andererseits um die Mysterien der Hochzeit und der Zeugung kreisen.

Offensichtlich lernte der Einzuweihende nichts Neues, keine Erweiterung seines Wissens. Manches deutet darauf hin, dass der zugrundeliegende Mythos bereits bekannt war. Nicht einmal sogenannte Geheimlehren wurden den Neo-phythen mitgeteilt, geschweige denn »doziert«. Es gab aber liturgische Gesten, die das Mysterium vergegenwärtigten, und es gab heilige Gegenstände; man konnte sie sehen, sogar berühren. Durch Clemens von Alexandrien, der aufgrund der zahlreichen Anspielungen, die sich in seinen Schriften finden, über mancherlei Mysterienzusammenhänge Kenntnis gehabt haben muss,15 ist (in: Protreptikos II, 21,2) die liturgische Formel überliefert:

Ich habe gefastet; ich habe den Kykeon getrunken; ich habe aus dem Korb genommen, und nachdem ich es befühlt hatte, legte ich es in das Körbchen, dann nahm ich es wieder aus dem Körbchen und legte es in den Korb zurück.

Eine unerheblich scheinende Gebärde, jedoch für den Agierenden eine heilige Handlung, der Umgang mit einem ungenannten Mysteriengegenstand – einem rituellen Phallos, wenn es sich, wie die einen vermuten, um die Heilige Hochzeit mit dem Gott gehandelt hat, oder eine Nachbildung des weiblichen Geschlechtsteils, wenn es nach anderer Annahme im Mysterium nicht um eine Ehestiftung ging, sondern um die Gotteskindschaft, der der Myste teilhaftig werden möchte.16 Aber schließt denn in einem so symbolgeladenen Geschehen die eine Bedeutung die andere aus? Der sich mit Gott verbindende Mensch wird in der heiligen Handlung doch zugleich »Gottes Kind«, der Wiedergeborene, der neue Mensch. Heilige Hochzeit und Geburt des neuen Menschen sind zwei Aspekte ein und desselben Mysteriums. Das auch zeitlich nahe Beieinander des Hieros Gamos und der Kunde von dem frohen Ereignis der Wiedergeburt legt eine solche Deutung nahe. Angesichts der schwierigen Quellenlage muss man sich freilich schon für ein recht breites Deutungsspektrum offenhalten, nimmt man hinzu, dass die uns überlieferten Fragmente aus relativ später Zeit und aus unterschiedlichen Mysterienbereichen stammen. Das Motiv des Hieros Gamos aber steht immer wieder im Mittelpunkt, wenn nicht ausgesprochenermaßen, so wird es doch vorausgesetzt oder zumindest berührt. Nehmen wir wenigstens noch ein zweites Fragment dazu. Es stammt aus der Feder des Hippolyt von Rom, der an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert literarisch in die Ketzerbekämpfung durch die Kirche eingreift und in diesem Zusammenhang aus den eleusinischen Mysterien den Ruf des Hierophanten überliefert, der während der nächtlichen Feier laut aufschreit:

Den Heiligen gebar die hehre Brimo, den Knaben Brimos, d.i. die Starke den Starken. Hehr ist die geistige, himmlische Geburt in der Höhe, stark aber ist der so Geborene!

Wieder eine Folge rätselhafter Worte, die wie die Mysterien in ihrer Gesamtheit der Forschung große Probleme aufgeben. Immerhin wissen wir, dass der zweite Grad der Initiation die sogenannte »Epopteia« umschloss, in der der Myste ein Epopte, ein »Sehender«, wurde. Dieses Sehen ist freilich anderer Art als das des physischen Auges. Es muss seine besondere Schaukraft bewähren, sobald die Fackeln im Telesterion (Heiligtum) ausgelöscht werden und der Hierophant mit einem Kästchen auftritt. Er öffnet es und entnimmt ihm das zentrale Symbol von Eleusis, eine Kornähre. Nach Walter F. Otto »besteht kein Zweifel in bezug auf die wunderartige Beschaffenheit des Geschehnisses. Die Kornähre, die mit übernatürlicher Schnelligkeit wächst und reift, gehört zu den Mysterien der Demeter, ebenso wie die in einigen Stunden heranwachsende Weinrebe zu den dionysischen Festen gehört…. In den Zeremonien der primitiven Völker finden wir die gleichen, eine Pflanze umgebenden Wunder.«17

Kurze Zeit nachher findet der Hieros Gamos zwischen dem Hierophanten und der Priesterin der Demeter statt. Der urtümliche Mythos, einst an den Agrarritus gebunden und auf die äußere Fruchtbarkeit bezogen, wird unerhörte Gegenwart, die den einzelnen ergreift und wandelt.

Selbst wenn wir vollständige Mysterienliturgien nach Art heutiger Agenden besäßen, ist aber das Mitteilbare doch nicht das Eigentliche, sondern es ist die zugleich erschreckende wie beglückende Feier, das numinose Erleben des heiligen Dramas. Nur so ist es zu erklären, dass die Wissenden von einst unter dem Eindruck ihrer Erfahrung bezeugen können, was die Hymne an Demeter besagt:

Glücklich, wer von den erdbewohnenden Menschen diese Dinge erschaut hat! Im dunklen Schattenreich ist das Geschick der Geweihten und der Ungeweihten nicht dasselbe.

Nicht anders gibt Pindar seiner Zuversicht Ausdruck: »Glücklich, der dies gesehen hat, bevor er unter die Erde hinabsteigt! Er kennt das Ziel des Lebens! Er kennt auch den Anfang.« Dass dieses »Sehen« einer inneren Wesenswandlung entspricht, entnehmen wir einem Text, der unter dem Namen »Mithrasliturgie«18 bekannt geworden ist. Darin heißt es u. a.:

…Und nachdem dieser heute von dir (Gott), gezeugt ist, der aus so vielen Tausenden zur Unsterblichkeit berufen ist. … « Und: »Durch die Geburt, die das Leben zeugt, geboren, werde ich in den Tod erlöst.19

Andere Zeugnisse sprechen von einem Selbstbewusstsein, das geradezu von einer Gottähnlichkeit des Eingeweihten spricht. Wer der Hochzeit des Gottes und der Göttin an heiliger Stätte beigewohnt und ein neues, ein größeres Leben von jenseits der »Schwelle Proserpinas« mitgebacht hat, der weiß auch den Satz zu würdigen, der sich in den Schriften von Firmicus Maternus findet:

 

Getrost ihr Mysten!

Wie der Gott gerettet,

so wächst für uns Errettung

aus den Leiden.

Apuleius schließlich hat uns das Dankgebet eines Mysten aufbewahrt, das Rudolf Bultmann als ein Beispiel für die Isis-Frömmigkeit betrachtet, in dem die ägyptisch-hellenistische Göttermutter in einer Weise angerufen wird, die in mancher Hinsicht an die frühchristliche Marienverehrung erinnert.20 Und Mircea Eliade resümiert: »Es handelt sich überall um eine geistige Wiedergeburt, eine Palingenesie, die in der grundlegenden Änderung der existentiellen Lebensordnung des Mysten zum Ausdruck kam. Dank der Initiation gelangte der Neophyt zu einer anderen Seinsweise: Er wurde den Göttern gleich, identifizierte sich mit den Göttern. Apotheose, Vergottung, Unsterblichkeit (apathanatismos) sind Begriffe, die allen hellenistischen Mysten vertraut waren.«21