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INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Glossar

FÜR ORION,
DER NACH DEN STERNEN BENANNT IST –
K. G.

PROLOG

In den tiefen Schatten einer Höhle, weit, weit unter dem Olymp, rutschte sie rastlos auf ihrem Thron herum, die Flügel eng um sich geschlungen. Noch war nicht Nacht, was hieß, dass sie eigentlich ein wenig hätte schlafen können. Doch sie fand keine Ruhe.

Und das war nicht ohne Grund so. In tiefer Verneigung stand er vor ihr. Alle Götter hatten Ehrfurcht vor ihr, denn sie war schon lange da gewesen, ehe die anderen überhaupt das Licht der Welt erblickt hatten. Um genau zu sein, war sie es gewesen, die ihnen das Leben geschenkt hatte – zumindest vielen von ihnen.

„Hilf mir“, flehte er.

„Warum sollte ich?“, erwiderte sie.

„Weil …“ Er griff in seinen perlmuttfarben schillernden Chiton und brachte eine lange silberne Feder zum Vorschein, die funkelte wie ein Stern. Eine Feder des ersten geflügelten Pferdes Pegasus, das schon seit langer Zeit als Sternbild am Nachthimmel erstrahlte. „Deshalb.“

Sie nahm die Feder und betrachtete sie nachdenklich. Vor ihrem inneren Auge sah sie alle vor sich, sah, wie ihr Umhang sie blenden würde – weit strahlender als der ihrer Tochter. Und obwohl sie sich geschworen hatte, sich niemals in den Dienst anderer zu stellen, überraschte sie sich selbst mit ihrer Antwort.

„So sei es“, sagte sie.

 

Hoch über den Hügeln und Tälern Thessaliens fegten die Wolken über den Himmel wie Pferdeschweife. In der Ferne sah Pippa, wie sich ein paar besonders dicke, dunkle Exemplare über dem Olymp zusammenballten, doch sie beachtete es nicht weiter, weil sie alle Hände voll zu tun hatte.

Ächzend wuchtete sie einen weiteren Steinbrocken hoch, um ein Loch in der Mauer der Koppel auszubessern, und rieb sich dann die Hände an ihrem Chiton ab. Natürlich war ihr klar, dass sie ihn nicht dreckig machen sollte, aber manchmal vergaß sie das eben einfach. Deshalb trug sie auch lieber eine kurze Tunika als dieses Unterkleid oder als den feinen, bestickten Peplos, den Helena ihr immer aufschwatzen wollte.

„Du musst mir wirklich nicht helfen“, sagte Baz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch schien die Sonne – auch wenn man bereits erahnen konnte, dass sich ein Gewitter zusammenbraute.

„Will ich aber“, sagte Pippa. Die Alternative behagte ihr nämlich gar nicht. Denn im Haus wurde sie schon von Baz’ Mutter Helena zum Unterricht erwartet, die mit ihr zusammen an ihrem Webstück weiterarbeiten wollte, ehe sie sich um die Zubereitung des Abendessens kümmern musste. Und Pippa schleppte tausendmal lieber Steine, als sich einmal mehr hoffnungslos mit den Fingern im Garn zu verheddern. Ja, wenn sie im Handarbeiten so gut wie Baz’ Schwestern wäre oder es ihr wenigstens ein klein wenig Spaß machen würde – aber so war es eben nicht. Und das machte es nicht gerade besser.

„Na ja, wir sind sowieso fast fertig“, meinte Baz und schob mit einem schiefen Grinsen hinterher: „Zumindest bis das nächste Loch in der Mauer klafft.“

Die Wildpferde durchbrachen die Einfriedung immer wieder, um zu den alten Stallungen zu gelangen, die nun leer standen und nur noch als Heulager dienten. Pippa nahm es ihnen nicht weiter übel. Sie mochte die kleinen, robusten Pferdchen, die nach Lust und Laune über die sonnenbeschienenen Hügel Thessaliens streiften. Nur wenige Male hatte Pippa sie auf ihren Ausritten mit Zephyr zu Gesicht bekommen, doch beim Anblick ihrer zerzausten Mähnen und ihrer Schweife voller Zweige und Blätter machte ihr Herz stets einen Sprung. Natürlich besaßen sie keine Flügel so wie Zeph früher, trotzdem waren auch sie etwas ganz Besonderes und ebenso stolze Geschöpfe wie die geflügelten Rösser.

„Das sind keine Wildpferde, sondern Gemeinschaftseigentum“, berichtigte Baz’ Vater Pippa immer gern mit einem kleinen Augenzwinkern, wenn Pippa von ihnen schwärmte. „Sie sind vor vielen, vielen Jahren von einem Hof wie dem meinen weggelaufen.“

Aber für Pippa waren und blieben es Wildpferde – ungebändigt und frei.

„Geschafft“, ächzte Baz und hievte den letzten Steinbrocken auf seinen Platz ganz oben auf der Mauer, die nun noch höher wirkte als zuvor und sich schier endlos über die Hügelketten zu erstrecken schien. In der Ferne sah Pippa Zeph grasen. Sein silberweißer Schweif schwang rhythmisch hin und her. Weiter hinten standen noch mehr Pferde, die stets Abstand von Zeph hielten, auch wenn es mit ihm bisher nie Probleme gegeben hatte, nicht einmal mit den Stuten. Hinter den Pferden leuchteten die Lehmziegel des Oikos, des Gutshauses, golden im Licht des Nachmittags.

Pippa warf Baz einen Blick zu und konnte sein stolzes Lächeln gut verstehen.

Nachdem sie mit ihm von dem Wettrennen auf dem Götterberg zurückgekehrt war und all das zum ersten Mal erblickt hatte – die Koppeln, die Stallungen, das herrschaftliche Haus mit seinem Innenhof, der so groß war, dass darin ein Olivenbaum gedieh –, war Pippa auf Anhieb klar geworden, wie wohlhabend Baz’ Familie sein musste. Nur die Reichen, die Hippeis, konnten sich Pferde leisten. Auf einmal hatte sie Angst davor bekommen, seinen Eltern gegenüberzutreten, und sich gefragt, ob sie wirklich bereit waren, ein Findelkind wie sie aufzunehmen – und dann auch noch dessen Pferd mit durchzufüttern.

„Ich habe so viele Schwestern, da kommt es auf eine mehr oder weniger auch nicht an“, hatte Baz ihr versichert. „Du wirst schon sehen, sie werden dich lieben. Du hast ein gutes Händchen für Pferde.“

Das hatte sie in der Tat. Menschen waren ihr allerdings oft ein Rätsel. Pippa hatte nur zwei richtig gute Freunde: Baz und Sophia, wobei Letztere das Rennen der geflügelten Pferde gewonnen hatte und nun bei den Göttern auf dem Olymp lebte.

Pippas Sorge war jedoch unbegründet gewesen. Baz hatte recht behalten: Seine Familie hatte sie mit offenen Armen aufgenommen. Sie sahen in ihr nicht das Findelkind, sondern die Reiterin, die von Aphrodite, der Göttin der Liebe, auserwählt worden war. Und Zeph war und blieb für sie ein geflügeltes Pferd. Egal ob mit oder ohne Flügel. Also war alles bestens gewesen. Zumindest am Anfang …

Baz fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Haare. „Ich gehe mal meinen Vater suchen und sage ihm, dass wir fertig sind.“ Er sah sie an. „Kommst du mit?“

„Ich komme gleich nach“, sagte Pippa und ihr Blick wanderte sehnsüchtig zu Zeph hinüber.

Baz zog die Augenbrauen hoch. „Du denkst jetzt aber nicht über einen Ausritt nach, oder?“

Pippa schüttelte den Kopf.

Aber natürlich hatte Baz den Nagel auf den Kopf getroffen.

Sobald Baz außer Sichtweite war, lief Pippa zu den Stallungen und stibitzte sich ein paar Feigen, denn die liebte Zeph heiß und innig. Wenn sie sich beeilten, wären sie und Zeph vor dem Gewitter zurück und Helena würde nicht einmal merken, dass sie weg gewesen waren.

Als sie bei Zeph auf der Koppel ankam, erwartete er sie schon ungeduldig. Sein erhobener silbriger Schweif flatterte im Wind und seine Stirnlocke stand hoch wie ein winziges Horn. Pippa strich ihm die widerspenstige Strähne zärtlich glatt.

Satteldecke und Zügel hatte sie nicht mitgebracht. Das brauchte sie bei Zeph nicht. Schnell saß sie auf – eine Bewegung, die einiges an Kraft und Geschick erforderte, ihr aber in Fleisch und Blut übergegangen war – und schon galoppierten sie los.

Es ging vorbei an Olivenhainen und Gerstenfeldern, die grün und golden das Flussufer säumten, vorbei an Weinstöcken, deren Reben gerade erst Knospen trieben, vorbei an anderen Höfen, die in den letzten Sonnenstrahlen glühten. Bald schon erreichten sie die kleine Stadt mit der Agora, dem Marktplatz, wo Leierklänge die Luft erfüllten und Sklaven mit den Händlern und Budenbesitzern um den Preis von Käse und Oliven, Eiern und Brot feilschten. Lachend flitzten Kinder vorbei, die mit Stöcken Reifen vor sich hertrieben und sich gegenseitig in kleinen Spielzeugstreitwagen zogen. Als sie Pippa und Zeph erblickten, hielten sie inne und starrten sie tuschelnd an. Alle in der Stadt wussten Bescheid über sie und Zephyr, das geflügelte Pferd ohne Flügel.

In der Stadtmitte erhob sich auf einem Hügel ein zu Ehren des Götterfürsten Zeus erbauter Tempel. Dieser Ort war einzig und allein den Orakeln und Priestern vorbehalten. Kurz darauf ließen Pippa und Zeph die Stadt und damit auch das Kopfsteinpflaster hinter sich und schlugen einen Feldweg ein, der durch Wiesen und Weiden führte.

Die Sonne wärmte Pippas Wangen und sie sog tief den frischen Duft nach Fluss und Erde, Pferd und Gras ein. Neben ihr schwappten Wellen sanft ans Ufer. Sie liebte das leise Klipp-Klapp von Zephs Hufen und das fröhliche Geschaukel seines Schweifs. Genau genommen liebte sie einfach alles an ihm.

Sie drückte ihre Knie in seine Flanken, damit er Tempo aufnahm und schnell an der Hütte der alten Leda vorbeigaloppierte, deren Augen so scharf wie die des vieläugigen Riesen Argus waren. Wenn Leda Pippa sah, würde sie das Mädchen zweifellos so bald wie möglich bei Helena verpetzen. In der Stadt lebten viele alte Frauen, aber keine konnte es an Boshaftigkeit mit Leda aufnehmen. Man wusste kaum etwas über sie, außer, dass es besser war, ihr aus dem Weg zu gehen. Während sie ihre Nase nur allzu gern in fremde Angelegenheiten steckte, verbarg sie ihre eigene Vergangenheit ebenso sorgsam wie ihr Haar unter ihrem Himation, dem wollenen Umhang, ohne den sie nie das Haus verließ.

Nach kurzer Zeit kamen sie an eine Weggabelung. Der eine Pfad führte zur nächsten Stadt, der andere in einsames, hügeliges Gelände. Pippa entschied sich für die zweite Variante. Die Wälder hier hatte sie bereits ausführlich erkundet und dieser Weg durch die Hügel war besonders schön.

Natürlich wusste sie, dass sie eigentlich umkehren sollte. Wenn sie sich einen Tag vor dem Unterricht drückte, bedeutete das, dass sie ihn am nächsten nachholen musste – da war Helena unerbittlich. Aber je eher sie nach Hause kam, desto früher würde sie am Webstuhl sitzen müssen.

Pippa griff fester in Zephs Mähne. Er prustete und seine Schultern zuckten auf so eine ganz besondere Art, wie sie es nur von ihm kannte. Sie fragte sich dann immer, ob er vielleicht versuchte, die Schwingen auszubreiten. In den ersten Wochen, nachdem er seine Flügel verloren hatte, hatte Pippa ihn kaum aus den Augen gelassen, weil sie wissen wollte, ob er das Fliegen sehr vermisste. Doch es schien ihm nichts auszumachen. Weder damals noch jetzt, zwei Jahre danach.

Und ihr?

Ehe sie den Gedanken weiterspinnen konnte, erbebte der Boden und es gab einen gewaltigen Schlag. Pippa blickte zum Himmel auf. Die dicken, dunklen Wolken waren jetzt direkt über ihnen, sodass man fast meinen konnte, es wäre Nacht – nur ohne Sterne. Wieder donnerte es. Diesmal so laut, dass Pippa zusammenfuhr. Zeph erstarrte und stellte die Ohren auf.

Wenn das Grollen dermaßen ohrenbetäubend war, musste Zeus ganz in der Nähe sein. Pippa hielt am Himmel Ausschau nach einem Blitz oder zumindest einem kurzen Aufblitzen von Schwingen und Hufen. Doch es war nichts zu sehen. Keine Spur von Zeus oder seinem geflügelten Ross Ajax, dem Gewinner des letzten Wettrennens der geflügelten Pferde.

Pippa seufzte, während Zeph mit noch immer wachsam gespitzten Ohren seinen Weg durch die von Blüten übersäten Wiesen fortsetzte. Wie gerne würde sie wieder einmal ein fliegendes Pferd sehen! Ihr war nichts als eine Flügelfeder von Zeph geblieben. Das hatte sie sich von Zeus abgeschaut, der sich eine Feder von Pegasus, seinem ersten geflügelten Ross, an den Umhang geheftet hatte.

Der himmlische Wettstreit schien schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Sie war sich nicht sicher, ob Zeph das Fliegen vermisste – sie jedenfalls tat es.

Doch dieses Geheimnis behielt sie für sich. Nicht einmal Baz wusste davon. Er würde es auch nicht verstehen. Vor lauter Heimweh nach seiner Familie hatte er nicht auf dem Olymp bleiben wollen. Außerdem war es zwecklos, anderen damit die Ohren vollzujammern. Sie und Baz waren vom Götterberg und damit auch von den geflügelten Rössern verbannt worden. Das war die Strafe dafür gewesen, dass sie sich nicht an die Regeln gehalten und am Morgen des Wettrennens heimlich die Pferde getauscht hatten. Und es bestand auch keinerlei Hoffnung darauf, dass Pippa ein zweites Mal für das Rennen der geflügelten Pferde auserwählt würde, denn man hatte sie nicht nur vom Olymp verbannt, sondern der Wettstreit fand auch nur alle hundert Jahre statt. Vielleicht konnte ja ihre Tochter – nein, eher ihre Enkeltochter … Aber das wiederum würde bedeuten, dass Pippa heiraten und in der Folge noch mehr Zeit mit Weben, Kochen und Waschen zubringen müsste – also mit all jenen Dingen, die Frauen eben so taten. Mit all den Dingen, die sie nie gelernt hatte, weil sie ohne Mutter aufgewachsen war. Deshalb brachte Helena sie ihr jetzt bei. Sie biss sich auf die Lippe.

Auch Baz hatte Unterricht, jedoch von einem Hauslehrer, der ihn im Lesen und Schreiben unterwies. Nur zu gut konnte Pippa sich vorstellen, wie sich Sophia über diese Ungleichbehandlung aufregen würde. Sophia liebte Bücher über alles und war immens wissbegierig. Nun, da sie in den Stand einer Halbgöttin auf dem Olymp versetzt worden war, durfte sie, wenn sie wollte, mit den Jungen zusammen am Unterricht teilnehmen. Mehr noch, sie konnte sogar Jungen Unterricht geben.

Manchmal fragte Pippa sich, ob Baz’ Schwestern wirklich so zufrieden mit der ihnen zugedachten Rolle waren, wie sie vorgaben. Wenn nicht, zeigten sie es Pippa jedenfalls nicht. Allerdings wusste sie, dass Astrea, die Jüngste, fast so eine Pferdenärrin war wie sie und sehr zum Unmut ihrer Mutter am liebsten in den Stallungen spielte.

Pippa seufzte und ließ ihre Hand in die Tasche ihres Chitons gleiten, um nach ihrer Münze zu tasten, dem Einzigen, was ihr von ihren Eltern geblieben war.

Sie hatten sie als Säugling ausgesetzt. Lange hatte Pippa geglaubt, die silberne Münze mit dem geflügelten Ross wäre ein Obolus, eine Münze, die man den Todgeweihten gab, damit der Fährmann sie sicher in die Unterwelt brachte. Doch Aphrodite, Pippas Patronin bei dem Wettrennen, hatte ihr erklärt, dass es sich dabei um einen Glücksbringer handelte, ein Zeichen der Liebe ihrer Eltern – und eine stete Erinnerung, dass sie, Pippa, anders als die anderen war. Pippa ärgerte sich über sich selbst. Sie hätte darauf bestehen sollen, dass Aphrodite mehr über ihre Eltern herausfand. Darüber, warum sie sie ausgesetzt hatten. Aber die Götter konnte man schlecht zu etwas zwingen. Sie machten, was sie wollten.

Genau wie jetzt. Was hatte Zeus bloß vor?

Die Wolken türmten sich bedrohlicher und dunkler über ihr auf, als Pippa es je zuvor gesehen hatte. Dann fielen die ersten Tropfen, die auf ihrer Haut prickelten und brannten.

Seltsam, dachte Pippa.

Sie streckte probehalber die Zunge aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück. Das war kein normaler Regen! Er schmeckte nach Salz!

 

Der Regen wurde stärker, ja, es ergossen sich wahre Sturzbäche vom Himmel, und im Handumdrehen waren Pippas Haare und Zephs Mähne klitschnass. Um ganz sicherzugehen, probierte Pippa noch einmal und leckte Wasser von ihrer Hand. Tatsächlich: Salz!

Gewitter brachten doch keinen salzigen Regen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie erschauderte und legte auf der Suche nach Zeus erneut den Kopf in den Nacken. Doch es war nichts von ihm zu sehen, nur riesige schwarze Wolken, die dicken Blutergüssen glichen.

„Komm, Zeph. Reiten wir nach Hause.“ Pippa zog an der Mähne ihres Pferdes. Zeph rührte sich nicht von der Stelle. Seine Muskeln waren angespannt, die Ohren aufgestellt.

„Komm schon“, trieb Pippa ihn an. Doch statt umzudrehen und sich in Richtung der heimischen Stallungen aufzumachen, tat er nun genau das Gegenteil und lief weiter geradeaus, wobei er ständig die Ohren hin- und herbewegte, als würde er etwas hören, das Pippa verborgen blieb.

„Nein, Zeph!“ Pippa drückte ihm die Beine in die Seiten, aber er reagierte nicht.

Rums! Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft und ließ den Boden mit einer Wucht erzittern, die mehr an ein Erdbeben als an einen Blitzschlag erinnerte.

Zeph stieg und Pippa geriet ins Rutschen. „Ruhig!“, rief sie, warf sich nach vorn und schlang ihre Arme um seinen Hals.

Als Zephs Vorderhufe wieder auf dem Boden aufsetzten, ging er durch und stürmte in so rasendem Galopp los, dass der Matsch unter seinen Hufen nur so spritzte. Pippa musste all ihre Kraft aufbieten, um sich auf seinem Rücken zu halten. Durch den starken Regen rutschte sie immer wieder ab. Das Salzwasser brannte in ihren Augen und raubte ihr fast die Sicht. Zeph galoppierte so schnell, dass Pippa dachte, er würde jeden Moment abheben – fast, als hätte er seine Flügel wiedergefunden.

Der Pfad schlängelte sich am Fluss entlang und führte erst durch Wiesen, dann in den Wald. Zeph raste zwischen Pinien, Steineichen und Lorbeerbäumen dahin, deren Äste unter der Wucht des Wolkenbruchs wogten.

„Brrrrr, bleib stehen!“, rief Pippa, doch Zeph war wie ausgewechselt und gebärdete sich wie wild. Er gehorchte ihr nicht, genau genommen benahm er sich, als würde er sie nicht einmal kennen.

Pippa wusste, dass er seine Schwächen hatte und sich leicht ablenken ließ. Deshalb hatte man ihn auch nach Zephyr, einer Windgottheit, benannt, denn als geflügeltes Ross war er mal stürmisch über den Himmel gefegt, mal hatte er sich wie eine sanfte Brise hierhin und dorthin treiben lassen. Nie jedoch hatte er so entschlossen und zielstrebig, ja, fast schon getrieben gewirkt wie jetzt – außer vielleicht bei dem himmlischen Wettstreit.

Über Pippas Kopf flogen die Äste nur so vorbei und stießen sie beinahe von seinem Rücken. Jetzt reichte es aber! Sie musste ihn durchparieren!

Mit aller Kraft riss sie ihn an der Mähne zurück, doch Zeph galoppierte nur noch schneller und diesmal konnte Pippa sich nicht mehr obenhalten.

Im Fallen rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und landete auf der Seite. Wusch! Zum Glück fing der matschige Untergrund ihren Sturz etwas ab.

Sofort war sie wieder auf den Beinen. Im prasselnden Regen war Zeph kaum mehr als ein silberner Schimmer, der verschwommen zwischen den Bäumen aufblitzte.

„ZEPH!“, schrie sie. Sie rannte ihm nach, sprang über Pfützen und Wurzeln. Um sie herum lag der Wald düster und verlassen da, als hätten alle Tiere – Vögel, Wildschweine und all die anderen – vor dem Unwetter Reißaus genommen und sich verkrochen.

Ein weiterer Blitz zuckte vom Himmel und wieder bebte die Erde. Pippa klammerte sich an einen Baumstamm, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Ein Gewitter verursachte doch keine Erdbeben und brachte auch keinen salzigen Regen! Nein, hier hatten die Götter die Finger im Spiel. Sie ließen ihrem Zorn freien Lauf. Aber auf wen waren sie so schrecklich wütend? Pippa betete zu Aphrodite, dass diese Zeph und sie beschützen möge.

Inzwischen war sie nass bis auf die Haut, der Chiton klebte ihr am Körper und aus den Haaren liefen ihr Rinnsale in die Augen. „Zeph! Zeph!“, schrie sie weiter. Dann lauschte sie, doch da war nichts als das Prasseln des Regens.

„ZEPH!“, brüllte sie wieder.

War das ein leises Wiehern?

Sie rannte weiter durch den Matsch, zwischen Bäumen und Gestrüpp hindurch, immer weiter und weiter.

Da war es wieder! Es war ein Wiehern. Schrill und verzweifelt.

Hatte er sich verletzt?

„ZEPH!“, schrie sie mit sich überschlagender Stimme.

Sie lief noch schneller, schlitterte, glitt aus und fiel, rappelte sich hoch und stürzte wieder. Bis die Baumreihen sich endlich vor ihr auftaten und sie auf einer Lichtung stand.

Zeph!

Pippa seufzte erleichtert auf. Sie hatte ihn gefunden! Und er schien unverletzt. Mit klatschnassem Fell lief er vor einem alten Tempel auf und ab.

Pippa hatte von diesem alten Zeus-Tempel gehört, ihn aber noch nie gesehen, obwohl sie oft die umliegenden Wälder durchstreifte.

Schon lange bevor sie nach Thessalien gekommen war, hatte man Zeus einen neuen Tempel errichtet. Einst musste das alte Heiligtum ein imposantes Bauwerk gewesen sein, aber das lag wohl eine ganze Weile zurück. Nun rankten sich wilder Wein und Efeu um seine Säulen, die vor lauter Moos ganz grün waren. Die Wurzeln einer Eiche hatten die Eingangsstufen emporgedrückt, bis sie geborsten waren, und von den Wänden schälte sich silberne und goldene Farbe ab. Zu allem Unglück war auch eine Säule eingestürzt, sodass ein Teil des Daches heruntergebrochen war und sich im Innenraum ein großer Trümmerhaufen türmte. Allem Anschein nach war das erst vor Kurzem passiert – vielleicht sogar gerade eben, während des Unwetters.

Zeph tänzelte unruhig und wieherte verzweifelt.

Und plötzlich verstand Pippa, warum.

Denn aus dem Inneren des Tempels ertönte ebenfalls ein Wiehern!

 

Pippa stockte der Atem.

Sie kam ein paar Schritte näher und blieb dann neben Zeph stehen. Durch den Schutt und den Regenschleier konnte sie das Pferd nicht genau erkennen, sie sah nur das silbrige Aufblitzen einer Mähne und eines Schweifs. Es musste sich um ein Wildpferd handeln. Vermutlich hatte es dort drinnen Zuflucht gesucht und dann war der Tempel eingestürzt. Bestimmt bahnte es sich gerade durch die Ranken auf der anderen Seite einen Weg nach draußen – außer, ihm war der Weg abgeschnitten.

Doch dann wieherte es wieder. Diesmal klang es eher wie ein Schrei und Pippa wurde klar, dass es schreckliche Angst hatte. Bei panischen Pferden war es nicht anders als bei Menschen in Panik: Ihr Verstand war wie ausgeschaltet.

Zeph drehte sich zu Pippa um und stieß ein verzweifeltes Schnauben aus.

„Woher hast du das gewusst?“, fragte sie.

Zephs helle Augen waren auf sie gerichtet, stumm und flehend.

„Ganz ruhig!“, rief sie dem Pferd in der Tempelruine zu, obwohl ihr bewusst war, dass ihm das nicht weiterhelfen würde. Sie musste etwas tun.

Also machte sie sich daran, den Schutt aus dem Weg zu räumen. Nass und glitschig, wie die Steine waren, ließen sie sich nur mühsam bewegen. Ein paar konnte Pippa anheben und wegtragen, andere rollte sie zur Seite. Rums! Mit lautem Gepolter landeten sie draußen vor dem Tempel im Dreck. Wenn ein Brocken so schwer war, dass Pippa ihn allein nicht wegschaffen konnte, kam Zeph ihr zu Hilfe und schob ihn mit der Nase beiseite.

Währenddessen redete Pippa unablässig beruhigend auf das fremde Pferd ein, obwohl ihre Stimme im Rauschen des Regens unterging. „Schhhhh, schhhhh“, japste sie. „Alles in Ordnung.“

Schließlich hatten sie eine Öffnung freigeräumt, die groß genug war, dass das Pferd hindurchpasste. Sie spähte zu ihm hinein, doch im Dämmerlicht konnte sie kaum etwas erkennen.

„Hierher! Komm her“, lockte Pippa das Pferd mit sanfter Stimme. „Schau, der Weg ist jetzt frei.“

Zeph wieherte leise, als würde er ihre Worte wiederholen.

Das Pferd schnaubte. Zeph ebenso. Eine schmale silbrig-weiße Nase erschien in der Lücke und beschnupperte seine.

Pippa gab ein leises, sanftes Pfeifen von sich und streckte die Hand aus. Das Pferdchen wich einen Schritt zurück und verschwand wieder im Schatten. Auf einmal fielen Pippa die Feigen ein, die sie für Zeph eingesteckt hatte. Sie holte eine Frucht aus der Tasche und hielt sie dem Pferd hin.

Zeph stieß ein gieriges Prusten aus.

„Das ist nicht für dich, du Schleckermaul“, schalt sie ihn lächelnd.

Geduldig wartete sie, bis die silberne Nase wieder zum Vorschein kam, gefolgt von einem Kopf. Die Nüstern waren groß und rund, aufgebläht wie zwei Drachmen, und die Ohren zuckten nervös. Die Augen des Pferdes hatten einen tiefen, samtigen Schwarzton wie die von Zeph, nur womöglich noch einen Hauch dunkler. Es schnupperte und dann schob es zaghaft, ganz zaghaft seine Nase in Pippas Hand.

Sein Maul war weich wie Wolken.

„Na, komm her“, sagte Pippa mit sanfter Stimme.

So langsam, wie Sonnenstrahlen über eine Wiese wandern, wagte sich das Tier Schritt für Schritt aus dem Tempel. Es war ein Fohlen!

Inmitten des prasselnden Regens und tosenden Sturms stand es da und bebte vor Aufregung – von den langen, staksigen Beinen und knubbeligen Knien bis hin zu den …

Pippa rang nach Luft.

Flügeln! Aus seinem Rücken wuchsen zwei Schwingen empor, feingliedrig und silbrig, mit goldenen Sprenkeln darauf, die glitzerten wie Sterne. Wie hauchzarte Fächer waren sie halb zusammengefaltet, dennoch war zu erkennen, wie riesig sie waren. Der Regen troff von den langen Federn und bildete Pfützen unter den Hufen des Pferdchens.

Geflügelte Rösser hatten jenseits des Olymps eigentlich nichts verloren. So waren die Regeln. Deswegen hatte Zeph auch auf dem Weg vom Berg hinab ins Tal seine Flügel eingebüßt. Vor langer Zeit hatte Bellerophon bei einem seiner Heldenabenteuer Pegasus mithilfe von goldenem Zaumzeug gebändigt, aber der Versuch, auf dem geflügelten Ross durch die Lüfte zum Palast der Götter hinaufzureiten, hatte ihn fast das Leben gekostet. Jetzt war Bellerophon unsterblich und die Götter hatten ihn zum Stallmeister auf dem Olymp erhoben. Doch seit dieser Zeit hatte kein fliegendes Pferd mehr die Gefilde der Sterblichen betreten.

Bis jetzt.

Obwohl das Hengstfohlen gewaltige Schwingen besaß, wirkte sein Körperbau ansonsten eher zierlich. Es war noch lange nicht ausgewachsen, aber auch nicht mehr ganz klein – ein Jährling vielleicht, so alt, dass es die Mutter nicht mehr unbedingt brauchte, aber noch immer zu jung, um ganz auf sich allein gestellt zu sein. Nun, das war es nun ja nicht mehr. Zeph beugte seinen Kopf zu ihm hinunter und stupste es zärtlich mit der Schnauze an.

Plötzlich musste Pippa an die Koppel und die Wildpferde denken. So oft hatten sie die Mauer durchbrochen! Vielleicht hatte eine der Stuten das nicht grundlos getan, sondern um Zeph einen Besuch abzustatten. Das war die einzige Erklärung. Und es erklärte auch, warum ihm das Wohlergehen dieses kleinen Pferdes so am Herzen lag. Das hier war sein Sohn.

Und der war verwundet.

Pippas Herz klopfte aufgeregt. Sie spürte, wie plötzlich ein Gefühl tiefer Verbundenheit in ihr aufstieg – und ein ungekannter Beschützerinstinkt.

Der linke Flügel sah merkwürdig aus und der kleine Hengst hielt ihn enger am Körper. Er war verletzt. Ob ihn ein herabfallender Stein getroffen hatte?

„Alles gut, mein Kleiner“, sagte Pippa. Sie konnte ihn nicht zurücklassen. Sie musste ihn mitnehmen. Er brauchte etwas zu fressen – am besten Gerstenbrei mit Bohnen – und jemand musste sich um seinen Flügel kümmern.

Noch immer schüttete es wie aus Kübeln.

Sie hatte keinen Führstrick dabei, aber ihr Gürtel – das lange, schmale Stoffband, das ihren Chiton zusammenhielt – würde es auch tun. Sie knotete ihn auf und band ihn zu einer Schlaufe.

Als das Fohlen daraufhin ein Stück zurückwich, holte sie aus ihrer Tasche eine weitere Feige hervor und legte sie auf den nassen Boden. Das Fohlen blähte die Nüstern, kam mit gespitzten Ohren einen Schritt näher und schnappte sich die Frucht.

Mit einer schnellen Handbewegung schlang Pippa ihm das Seil um den Hals.

Das gefiel dem Kleinen ganz und gar nicht. Die Ohren flach an den Kopf gelegt, setzte er sich zur Wehr und hätte sie fast von den Beinen geholt. Pippa stemmte sich, so gut es bei dem rutschigen Untergrund ging, dagegen.

Zeph stupste das Fohlen an und wieherte beschwichtigend, wodurch es sich so weit beruhigte, dass Pippa schnell die letzte Feige herausholen konnte. „Mehr habe ich nicht“, sagte sie. „Aber bei mir zu Hause gibt es jede Menge davon.“

Das Pferdchen stieß ein weiteres Schnauben aus. Es schien Schmerzen zu haben, doch in seinen riesigen, von langen Wimpern umkränzten Augen blitzte zugleich ein Hauch von Neugierde auf. Ganz der Vater!

Mit dem Strick in der Hand schwang Pippa sich behutsam auf Zephs Rücken. „Los geht’s“, sagte sie mit weicher Stimme zu ihm.