Die Autorin

Kyra Groh – Foto © privat

Kyra Groh wurde 1990 in Seligenstadt am Main geboren. Nach einem kleinen Umweg über die Uni Gießen, verschlug es sie 2012 nach Frankfurt, wo sie Trambahnen, Apfelwein und Supermärkte, die bis Mitternacht geöffnet haben, zu schätzen lernte. Sie behauptet gerne, neben dem Schreiben keine weiteren Talente zu haben – daher veröffentlicht sie nicht nur seit einigen Jahren humorvolle Liebesromane, sondern treibt auch hauptberuflich als Texterin ihr Unwesen. Sie hat eine Schwäche für gutes Essen, Instagram und Bilder von gutem Essen auf Instagram. Außerdem liebt sie Schachtelsätze, Erdnussbutter, Netflix und – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – Sport.

Das Buch

Mara hat alles im Griff. Der Job als Assistentin einer erfolgreichen Influencerin ist zwar etwas nervig, aber läuft. Die Beziehung mit ihrem Verlobten Sebastian ist jetzt nicht gerade leidenschaftlich, aber dafür stimmt bei ihm die Altersvorsorge. Die Wohnung ist nicht unbedingt nach ihrem Geschmack eingerichtet, aber die Designermöbel sind schon schick. Kurzum: Maras Leben läuft planmäßig, ruhig und schön unaufgeregt. Bis Sebastian sich von ihr trennt und sie aus der Wohnung schmeißt. Plötzlich ist Maras ausgeklügelter Lebensplan dahin und sie muss sich einen Plan B überlegen. Aber was, wenn Plan B auch nicht funktioniert? Dann gibt es ja noch C, D, E, F, … Oder man macht einfach mal gar keine Pläne. So wie Marius. Seines Zeichen Filmemacher, wahnsinnig charmant, sieben Jahre jünger, und planlos glücklich. Also definitiv kein Mann für Mara. Bis sie merkt, dass manchmal gar kein Plan auch eine Lösung sein kann…

Von Kyra Groh sind bei Forever erschienen:
Mitfahrer gesucht, Traummann gefunden
Gar kein Plan ist auch eine Lösung

Kyra Groh

Gar kein Plan ist auch eine Lösung

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Dezember 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-495-4


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Widmung

Für Lukas.
Weil du mir Sicherheit und Freiheit gibst.

Plan A: Ein Leben voller Zufriedenheit


Du bist viel zu dünn! Geh mal lieber ein Sandwich essen!

Ich starre auf den Satz, der mir aus der weißen Kommentarbox unterhalb des neuesten Postings entgegenglotzt, und seufze tief. Ich wische über den Bildschirm nach links, das Mülleimer-Symbol erscheint, ich klicke darauf und weg ist der Hass. Wenn es nur immer so einfach wäre, unerwünschte Botschaften zu entfernen. Swipe und Adieu.

Ich scrolle mich weiter durch die Kommentare, die über Nacht eingetrudelt sind, und checke immer wieder die Uhr. Es ist Viertel nach sechs. Alex hat um sieben einen Termin mit ihrem Personal Trainer, etwa eine halbe Stunde vorher steht sie auf. Ich habe also noch gut fünfzehn Minuten Zeit, um alle Anmerkungen zu löschen, die ihr den Tag versauen würden. Alex hat nie gelernt, ihre Laune richtig zu kanalisieren. Oder vielleicht hat sie das – nur bin eben ich der Gulli, in den sie ihren Missmut hineinkippt.

Ich tilge einige Kritik, die die Echtheit ihrer Brüste infrage stellt, lösche den Hinweis, dass ihre Ernährung doch angeblich plant-based, ihre Schuhe aber aus Leder seien, und entferne noch viele, viele Anmerkungen zu ihrer schlanken Figur, die sich unter Alex’ gestrigem Blogpost gesammelt haben. Wenn ich eines niemals verstehen werde, dann ist es, wie manche Trolle die Zeit finden, nachts um drei eine junge Frau wegen ihres Gewichts zu beschimpfen. Es gibt nur eines, was das Internet mehr hasst als inkonsequenten Tierschutz oder Plastikbrüste. Und das sind Körpermaße, die aus der Norm fallen.

Der letzte Satz, den ich in den digitalen Papierkorb stopfe, ist ironischerweise die Rückfrage, wieso in letzter Zeit so viele negative Kommentare einfach gelöscht werden. Und was soll ich dazu sagen? Ich kann Alex‘ Followern schlecht offenbaren, dass ich dahinterstecke und Alex keine Ahnung von meinen Säuberungsaktionen hat. Das würde in mehrerlei Hinsicht für einen Super-GAU sorgen. Alex kann es gar nicht leiden, wenn ich ohne eindeutige Handlungsaufforderung auf ihrem Profil herumpfusche. Und Kommentare-Löschen geht schon mal gar nicht, das kann man in jedem Social-Media-Ratgeber nachlesen. Allerdings bin ich mir sicher, dass die Autoren dieser Ratgeber noch nie einen Arbeitstag mit Alexandra Unckmann verbringen mussten, wenn sie gerade vor siebenhunderttausend Followern auf der App Blogged dazu angehalten wurde, sich mal ein paar belegte Brote mehr zu gönnen.

Noch dazu wissen diese siebenhunderttausend Personen nichts von meiner Existenz. Auf Alex‘ Blogged-Profil gibt es mich nicht. Es gibt keine Mara, die im Hintergrund ihre Kooperationen organisiert, ihre Rechnungen schreibt, ihre Fotos schießt oder ihre Nachrichten beantwortet. Und eine Mara, die im Hintergrund respektlose Kommentare löscht, um das Seelenheil ihrer Chefin zu bewahren und sich selbst den Job zu erleichtern, gibt es schon mal gar nicht. Alex’ Mode- und Lifestyle-Blog war bereits vor einigen Jahren unfassbar erfolgreich, doch erst als sie sich der Community von Blogged anschloss, gingen sowohl der Blog als auch die Nutzerzahlen richtig durch die Decke. Die Plattform funktioniert ähnlich wie Instagram. Alex zeigt auf ihrem Profil wunderschöne Hochglanzfotos, teilt Storys aus ihrem Alltag und verrät immer nur so viel, dass die Follower neugierig werden und auf die Links unter den Fotos klicken. Die Werbepartner interessiert nämlich nur das: die Klickzahl.

Im Mittelpunkt von »A Galexy of Mine«, dem Blog, der meine Chefin zu einer Art Internetberühmtheit gemacht hat, steht Alexandra Unckmann. Schließlich beinhaltet der Blogname ein Wortspiel mit ihrem Namen, nicht mit dem ihrer Assistentin. A Galexy of Mine ist nach außen eine One-Woman-Show und diese Woman ist Alex.

 


Als ich eine Dreiviertelstunde später von meiner morgendlichen Laufrunde zurückkomme, blockiert Sebastian das Bad – wie fast jeden Morgen. Ich will nur raus aus den Klamotten, unter die Dusche und in den Arbeitstag starten. Stattdessen rutsche ich an der verschlossenen Badezimmertür herunter wie ein Schwerverwundeter.

»Sebastiaaan«, stöhne ich, »mach mal hinne! Ich muss um halb neun im Büro sein, ich habe doch freitags immer Wochen-Recap.«

Die genervte Reaktion meines Verlobten hallt im Bad wider. Bei ihm hört der Spaß definitiv auf, wenn man ihn bei seinem ersten wichtigen Meeting des Tages stört: nur er und sein iPhone, auf dem er bedeutende Dinge wie Börsenentwicklungen, Managernews und die Performance des FC Bayern abcheckt. Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass Basti meinen Job für nicht sonderlich relevant hält, und das Schlimme ist, dass ich es ihm nicht mal verübeln kann. Immerhin sorgt er mit seiner Arbeit dafür, dass jeden Tag Tausende Fluggäste sicher von A nach B kommen. Sebastian arbeitet bei einer Fluggesellschaft und leitet dort ein Team, das sich mit Flugplänen, Infrastruktur und all dem anderen Kram beschäftigt, der verhindert, dass zwei Maschinen mitten in der Luft zusammenkrachen. Ich hingegen bin dafür verantwortlich, einer Fashionbloggerin neue Kooperationen mit Mode- und Kosmetikmarken zu beschaffen. Daher kann ich es Sebastian nicht unbedingt zum Vorwurf machen, dass er seinen Stuhlgang wichtiger findet als meinen freitäglichen Wochenrückblick.

Während ich auf dem Fischgrätparkett hocke, ziehe ich erneut mein Handy aus dem Running-Gürtel, den ich noch immer trage, und öffne noch einmal die App mit dem verschnörkelten B im Logo. Obwohl ich erst seit gut drei Jahren für Alex arbeite und Blogged vorher gar nicht kannte, kann ich mir kaum noch vorstellen, wie mein Leben vorher war. Ich habe mich nie als Fashionvictim betrachtet. Vor meiner Zeit bei Alex konnte ich einen Stiletto kaum von einem Pantoffel unterscheiden. Ich hatte keine Vorstellung, wie teuer eine Designerhandtasche ist, wie förderlich Haustiere sein können, wenn man im Social Web erfolgreich werden will, und dass es sogar teure Designerhandtaschen gibt, die nur dem Transport dieser Vierbeiner gelten. Alex hat einen Pomeranian Spitz namens Zeus. Der kleine wuschelige Hund besitzt einen eigenen Kleiderschrank voller Luxusartikel, darunter glitzernde Halsbänder von Tiffany und Pullover mit original Burberry-Muster.

Seit ich als Alex’ Assistentin tätig bin, bestimmt die App meinen Alltag. Ihre Follower dort sorgen für die meisten Klicks auf ihre Website, weswegen ich täglich viele Stunden damit verbringe, Kommentare zu beantworten, auf Direktnachrichten einzugehen oder Fotos aus dem unendlich großen Vorrat an Alex-Porträts hochzuladen. Ich habe mir sogar ein eigenes Blogged-Profil angelegt, obwohl ich weder einen eigenen Blog zu promoten, noch die neuesten Balenciaga-Sneaker vorzuzeigen habe. Hach … das waren noch Zeiten, als ich nicht wusste, ob Balenciaga ein Modehaus oder ein italienischer Aperitif ist.

Beim Browsen durch Alex’ Account, stelle ich fest, dass kein weiterer Hasskommentar unter ihr Bild gepostet wurde, während ich joggen war. Im Gegenteil. Es scheinen ein paar Leute erwacht zu sein, die die abgebildete Alex in ihrem Yoga-Outfit ziemlich attraktiv finden und eifrig positives Feedback hinterlassen.

Ich atme erleichtert auf. Auch weil Sebastian genau in diesem Moment die Tür öffnet und mich endlich unter die Dusche lässt.


Das als One-Woman-Show getarnte Zwei-Frauen-Team hinter A Galexy of Mine hat sich in einem angesagten Coworking-Space nahe der Münchner Innenstadt eingemietet.

Das war nicht immer so.

Bis vor einem Jahr haben wir uns einen Schreibtisch in Alex‹ luxuriösem Dreizimmerloft in einem der teuersten Münchener Stadtteile geteilt (eine Wohnung, die ich vor zwei Jahren für sie ergattern konnte). Doch in ihren eigenen vier Wänden war sie oft schlechter Stimmung. Manchmal genügte schon der Anblick ihrer langsam vor sich hin sterbenden Monstera-Pflanze, um sie zum Heulen zu bringen. Wenn sie einen dieser miesen Tage hatte, musste ich mich oft für jede Kleinigkeit maßregeln lassen. Etwa, dass ich mein Haar nicht richtig gekämmt, ein Dokument schief abgeheftet oder die falsche Art Pflanzenmilch gekauft hätte.

Weil ich Alex nicht damit konfrontieren wollte, dass sie ihre Stimmungsschwankungen an der falschen Person ausließ (nur weil diese Hafer- statt Mandelmilch gekauft hat), setzte ich auf positive Impulse und schlug einen Tapetenwechsel vor. Zu meiner Überraschung war Alex sofort begeistert von meiner Idee, in ein Umfeld umzuziehen, in dem Kreativität förmlich in der Luft liegt. Und so zogen wir in ein Coworking-Office, das aufgrund seiner Lage am Odeonsplatz passenderweise »Odeon« heißt.

In dem Gemeinschaftsbüro treiben sich allerlei kreative und visionäre Menschen herum. Alex fällt mit ihren extravaganten Designer-Sneakern überhaupt nicht mehr auf und Zeus hat ein ganzes Rudel anderer Hunde zum Spielen. Auch ich habe von dem Umzug profitiert. Denn seit wir nicht mehr Schulter an Schulter an einem Schreibtisch hocken, hat sich die Lage entspannt. Oder zumindest habe ich nun neutralere Rückzugsorte als Alex’ Badezimmer, wenn sie ihre fünf Minuten hat.


Alex ist schon da, als ich eintreffe. Eines muss man ihr lassen: Sie opfert sich für ihren Traumjob wirklich auf. Wahrscheinlich ist es das, was ich an ihr bewundere. Dass sie einen Traum hat. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt nach etwas gestrebt habe. Vermutlich, als ich als Teenager davon geträumt habe, Schriftstellerin zu werden, oder als ich mit sechzehn die ersten Kapitel meines Romans schrieb, den ich dann aber für immer in eine Schublade steckte und zu vergessen versuchte. Ich bin eifrig. Aber ich bin nicht ehrgeizig.

Alex hat eine Menge Ziele. Selbst jetzt noch, wo sie beinahe jeden Monat eines der zuvor gesteckten erreicht. Ihre Ziele wachsen einfach nach wie die Köpfe einer Hydra. Ein Traum verwirklicht – tada, hier sind zwei neue. Ich hingegen setze auf Pläne. Die muss man nicht erreichen, die kann man abarbeiten.

Meine Chefin ist in ein Outfit gewandet, das geradewegs aus der neuesten Ausgabe der Vogue stammen könnte. Überhaupt sieht sie von Kopf bis Fuß so aus, als hätte man sie aus den Seiten eines Hochglanzmagazins herausgerissen. Riesige karamellfarbene Locken, vollwertiges Abendmakeup mit Highlighter, ein weit flatterndes Kleid mit Blumenmuster und eine kleine Handtasche von Dior. So sitzt sie am Schreibtisch und tippt mit den Fingernägeln auf dem MacBook herum, das Täschchen stramm unter die Achsel geklemmt, als sei sie eigentlich auf dem Sprung und hätte nur kurz auf einen Kaffee vorbeigeschaut.

»Da bist du ja«, sind ihre ersten Worte. Es ist fünf vor halb neun. Alex lässt es klingen, als wäre ich eine halbe Stunde zu spät.

»Entschuldige«, sage ich, obwohl ich gar nicht weiß, wieso. Weil ich pünktlich bin? Weil ich ihr von unterwegs einen Kaffee mitgebracht habe? Weil ich gestern zwei Stunden länger gearbeitet habe, um auf den letzten Drücker Alex’ Trip nach Marrakesch zu organisieren, zu dem sie morgen spontan aufbrechen möchte? Zusätzlich zu der Entschuldigung schiebe ich Alex ihren Latte mit Kokosnussmilch hin und sage unterwürfig: »Tut mir leid, sie hatten kein Mandel. Aber ich habe dir extra Zimt oben draufgemacht.«

»Es ist Mai, Mara, die Zeit für Zimt ist echt vorbei.«

»Oh, okay, entschuldige«, sage ich noch mal. Ich mache mir innerlich eine Notiz. Die saisonale Angemessenheit von Zimt verhält sich wohl synchron zu der von Miesmuscheln: Er wird nur in Monaten mit einem R im Namen konsumiert.

»Können wir anfangen?«, fragt Alex erneut mit übertriebener Dringlichkeit. »Wegen des Marrakesch-Trips läuft mir jetzt echt die Zeit davon. Wir müssen heute unbedingt planen, welche Postings du nächste Woche absetzen sollst.«

»Ist gut«, bestätige ich und ziehe so schnell ich kann mein eigenes MacBook aus dem Rucksack. Meine Handtasche habe ich schon vor langer Zeit aus Gründen der Praktikabilität ersetzt. Eine schicke Businesstasche reicht nicht aus, wenn man immer einen Laptop, zwei Handys, mehrere Powerbanks, eine Spiegelreflexkamera sowie stilles Wasser und überteuerte Obstriegel mit sich herumschleppen muss, um für den Job gerüstet zu sein. Wenn Alex’ Ansprüche an unentbehrliches Equipment weiterhin wachsen, muss ich demnächst wohl einen Praktikanten anheuern, der mit einem Kofferwagen hinter mir herrennt.

Den restlichen Arbeitstag verbringe ich damit, einen Plan für die kommende Woche zu schreiben, Alex in ihrem heutigen Outfit abzulichten und – die bei Weitem fürchterlichste Aufgabe – einem ehemaligen Kooperationspartner zu schreiben, dass A Galexy of Mine nie wieder mit ihm arbeiten werde, weil die von ihm eingesandte Gesichtsmaske nicht vegan gewesen sei. Wie der Hasskommentator heute Morgen bemerkt hat, ist das Alex bei ihrem Schuhwerk zwar nicht so wichtig, aber die Sache mit der Maske ging ihr wirklich nahe. Die kotzgrüne Pampe enthielt Honig und Alex war derart erbost darüber, dass sie mir drei Tage lang die kleine tätowierte Biene an ihrem Handgelenk unter die Nase hielt und eine flammende Rede auf ihre Tierliebe im Allgemeinen und ihre Zuneigung zu den putzigen Honiglieferanten im Speziellen hielt. Sie wurde so vorwurfsvoll, als hätte ich höchstpersönlich die Tinktur zusammengerührt.

Wie gesagt: Alex‹ zwischenmenschliches Einfühlungsvermögen ist nicht unbedingt der Grund, wieso ich meine Chefin bewundere. Wenn es danach ginge, hätte ich meinen Job schon längst an den Nagel gehängt. Es ist eher Alex’ Art, alles irgendwie hinzubekommen. Sie war neunzehn, als sie ihren Blog startete. Das war vor zehn Jahren, als »Influencerin« noch nicht zu den beliebtesten Berufswünschen von Teenagern zählte. Vor zehn Jahren bloggte man einfach aus purer Leidenschaft. Als sich Alex im Jahre 2009 die Domain von A Galexy of Mine sicherte, hatte ich gerade mein erstes Semester an der Uni begonnen und mich damit abgefunden, dass ich a) niemals ein Buch schreiben würde und b) wesentlich besser darin war, es anderen recht zu machen, als mich selbst zu verwirklichen. Eine bittere Erkenntnis, wenn man bedenkt, dass ich zu diesem Zeitpunkt gerade erst achtzehn war. In meiner Teenagerzeit wollte ich Autorin werden und las alles, was mir in die Hände kam. Ich schrieb heimlich Fortsetzungen meiner Lieblingsgeschichten, lange bevor ich erfuhr, dass der Internet-Fachbegriff dafür »Fan Fiction« war. Aber dann passierte die Sache mit meinem Vater, und irgendwie bekam mein Leben dadurch einen Riss, der die Realität eindringen ließ. Zunächst fehlten mir Zeit und Geduld, um mit dem Schreiben weiterzumachen. Und als es schließlich an die Wahl des Studienfachs ging, dachte sich die damals achtzehnjährige Mara: »Mit dem Schreiben verdienst du eh kein Geld.« Also ging ich nicht wie geplant auf eine Privatuni für Kreatives Schreiben, sondern entschied mich für BWL.

Das war zwar langweilig, aber ich war gut darin. Und jetzt bin ja eh hier. Bei Alex. Bei A Galexy of Mine im Odeon am Odeonsplatz. Das ist mein Leben und es ist okay.


Kurz nach der Mittagspause ist alles so weit dafür vorbereitet, dass Alex morgen früh in ihren Spontanurlaub nach Marrakesch fliegen kann. Wir (das heißt: ich) haben ihre kommenden Blogged-Postings durchgeplant, einen Artikel für ihre Website vorbereitet und alle Details besprochen, die ich beachten muss, wenn ich in ihrer Abwesenheit auf Zeus aufpasse. Dass ich die Babysitterin von Zeus sein würde, hat Alex mir übrigens in einem Nebensatz zwischen Redaktionsplanung und Steuerkram gesteckt, was mich nicht schlecht hat staunen lassen. Der kleine Pomeranian Spitz sah mich währenddessen an, als wollte er sagen: »Sorry, ich hatte auch keine Ahnung.« Ich bin sauer auf sie, aber gleichzeitig auch erleichtert, dass sie dieses Mal wenigstens daran gedacht hat, einen Aufpasser für den Hund zu organisieren. Bei einem ihren letzten Wochenendtrips war Alex derart überarbeitet, dass sie es vergessen und den armen Hund fast zwei Tage allein gelassen hat. Aus Protest hat Zeus ihr rosafarbenes Samtsofa vollgeschissen und die halbe Monstera-Pflanze abgeerntet.

Dennoch: Die dreiste Selbstverständlichkeit, mit der Alex meine Hilfe einkalkuliert, macht mich wütend. Um ein wenig Distanz von ihr zu bekommen, entschuldige ich mich kurz und verlasse unser gläsernes Büro.

»Ich bin dann vermutlich gleich weg. Muss noch etwas seeeeehr Wichtiges erledigen, bevor es losgeht«, flötet Alex mir hinterher. Ich verkneife mir den aufkommenden Neid. Zu gerne würde ich heute Abend auch meine Koffer packen und in ein fernes Land abzischen. Stattdessen bin ich jetzt Hundesitter und allein verantwortlich für die Arbeit einer ganzen Woche.

Auf dem Weg zur Gemeinschaftsküche gehe ich an zahlreichen gerahmten Kunstdrucken vorbei, an schwarzer Industrial-Einrichtung und hochgewachsenen Pflanzen, die überall in Marmortöpfen stehen. Der Odeon-Workspace ist wie gemacht für Kreative und alle, die ein Auge für das Schöne haben. Das beweist nicht nur das stylische Interieur des Gebäudes, sondern auch die vielen kleinen Eckchen, in denen man sich niederlassen kann, um den Kopf freizubekommen. Dahinter steckt die Philosophie, dass ein Ortswechsel für frische Ideen sorgt – eine These, die ich nur bestätigen kann, auch wenn ich mich nicht mehr zu den kreativsten Geistern zählen würde. Schon so manches Mal habe ich mich mit einem heißen Kaffee in eine dieser Ecken zurückgezogen und ein paar tiefe Atemzüge genommen, um den nagenden Gedanken loszuwerden, dass meine Chefin mich noch in den Wahnsinn treiben wird.

Am liebsten ist mir der Winkel genau neben der von Glaswänden eingefassten Küche, in dem ein gigantischer grauer Ohrensessel steht. Von diesem Sessel aus hat man nicht nur einen fantastischen Blick auf das Gewusel auf dem Odeonsplatz, man ist noch dazu schnell genug an der Siebträgermaschine, die einen unfassbaren Espresso macht – und die ebenfalls ein Zeichen dafür ist, wie gut die Vermieter des Odeons ihre Zielgruppe kennen.

Drei Minuten ohne Alex, ich brauche nur drei Minuten, sage ich mir. Ich hole mein Tässchen mit tiefbraunem Espresso unter dem Ausguss hervor und entsorge einhändig den Kaffeesatz aus dem Träger, ehe ich um die Ecke zu meinem Ohrensessel schleiche. Ich sage »mein Ohrensessel«, weil er unter den Coworkern anscheinend weniger beliebt und oft unbesetzt ist. Die meisten ziehen es vor, Deutscher Meister am Tischkicker zu werden, während ich als Einzige lieber mit dem Rücken zum Raum aus dem Fenster starre.

Oder auch nicht. Denn ausgerechnet heute ist mein Lieblingsplatz besetzt.

Ich habe mir schon ausgemalt, wie meine Pobacken sich in den weichen Stoff der Kissen kuscheln, da sehe ich einen Typen, der es sich auf eben jenem – also: meinem – Polster bequem gemacht hat. Er trägt das größte Paar Kopfhörer, das ich je gesehen habe, und lässt seine Finger über die Anzeigenleiste eines Tablets rutschen. Offenbar sieht er sich gerade einen Film oder eine Dokumentation an.

Es gibt vermutlich eine Zeit und einen Ort, um über einen Stammplatz zu streiten, aber heute und hier ist keines von beidem. Ich werde wohl einfach stillschweigend zurück ins Büro trotten und mir erneut eine Viertelstunde lang erklären lassen, wie man einem Vierbeiner artgerecht Thunfischtatar serviert.

Als ich umkehre, bemerkt mich der Sesselbesetzer, zieht die Kopfhörer vom Kopf und fragt mit einem freundlichen Lächeln: »Oh, hab ich dir deinen Lieblingsplatz geklaut?«

»Nein«, lüge ich. »Ich wollte nur …« Ich führe den Satz nicht zu Ende.

»Nur hier sitzen?«, ergänzt er und lächelt erneut. Dann greift er in eine Tüte, die er zwischen Oberschenkel und Seitenlehne eingeklemmt hat, und gießt eine Handvoll bunter Dragees in seinen Mund. »Auch ’n paar?«, fragt er und hält mir eine gelbe Tüte M&Ms hin.

Ich schüttele den Kopf und hebe meine Espressotasse an, als sei sie eine Erklärung für meine Ablehnung. Er zuckt die Schultern und kippt weitere Süßigkeiten in seine Handfläche, die er dann mit einem Happs verschlingt. Ich mustere ihn. Er hat sich fast vollständig auf das Sitzpolster des Ohrensessels gefläzt, die Beine angezogen und den Oberkörper tief in die Lehne gedrückt. Er hat es sich gemütlich gemacht, als wäre er bei sich zu Hause. Wobei »bei sich zu Hause« gut und gerne das Wohnzimmer seiner Eltern sein könnte, denn bei genauerem Hinsehen wirkt er außerordentlich jung. Fast wie ein Abiturient. Bestimmt ist er eines dieser Computer-Genies, die sich mit vierzehn schon in die Server des Bundesnachrichtendienstes einhacken konnten und zwei Jahre später ihr eigenes Tech-Start-up gegründet haben.

Mark Zuckerberg in spe rappelt sich auf, klopft sich die Oberschenkel ab und richtet sich vor mir auf. Wow, er ist groß! Viel größer, als ich es ihm sitzend zugetraut habe. Er muss seine Beine wie einen Brief zusammengefaltet haben, sonst hätten seine langen Gliedmaßen niemals auf die Sitzfläche gepasst. Er tritt einen Schritt zurück und bietet mir den Sessel mit einer ausladenden Geste an, aber es ist mir peinlich, ihn unter diesen Umständen anzunehmen.

»Ist schon okay«, sage ich und neige den Kopf. »Ich muss eh gleich weiterarbeiten.«

»Nein, nein, ich bestehe darauf.« Er lächelt. Zwischen seinen Schneidezähnen klebt ein winziges Stück blau gefärbter Zuckerschale. In einer Hand hält er nun das Tablet, mit der anderen preist er mir den knautschigen Sessel wie den Thron von England an.

Unwillkürlich muss auch ich grinsen und schließlich folge ich seinem Angebot. Ich setze mich, spüre die ungewohnte Vorgewärmtheit meines Sessels und die ebenfalls ungewohnte Einkerbung eines viel schmaleren Hinterteils. Verdutzt stelle ich fest, dass der Riese mich nicht alleine lässt. Seufzend stemmt er sich eine Hand in die Seite und wirft einen neugierigen Blick hinaus auf den Odeonsplatz. Dann lehnt er sich mit dem Rücken gegen die Fensterscheibe, überkreuzt lässig die Füße und sieht mich an, als schuldete ich ihm eine Geschichte.

Meine Pupillen wandern nervös von links nach rechts, dann senke ich sie vorsichtshalber auf den Espresso, den ich jetzt echt bald trinken muss, um mir den Nachmittag nicht zusätzlich noch mit kalter Plörre zu vermiesen. Ich trinke.

»Und was machst du hier so?«, fragt mein Gegenüber plötzlich, so als hätten wir uns mitten in einem regen Gespräch befunden, dessen Faden er wieder aufnimmt.

»Ach, ich … ich mag einfach diesen Platz. Ich trinke hier ab und an meinen Kaffee. Beobachte die Leute.« Ich lächle verlegen. Nun, da er den Sessel geräumt hat, fühle ich mich doch ein wenig Sheldon-Cooper-artig in meiner Unflexibilität bezüglich meiner Pausengestaltung.

Er lacht und entblößt dabei erneut eine Reihe unregelmäßig langer Zähne. Ob er mit denen ein Wildtier reißen kann? Oder den Hals einer Teenagerin, die einen Fantasy-Fetisch hat? Mir liegt ein Twilight-Witz auf der Zunge, aber vermutlich versteht Vampire-Boy den überhaupt nicht, weil er bei der Veröffentlichung der Buchreihe noch in die Grundschule gegangen ist.

»Nein! Ich meine natürlich hier im Odeon.«

»Oh.«

Der Moment, in dem ich Fremden meinen Beruf erklären muss, ist mir immer peinlich. Zu wenige Leute verstehen, wie Blogs funktionieren oder welches Potenzial in Social Media steckt. Meine Eltern lasse ich bis heute in dem Glauben, ich sei die persönliche Assistentin einer selbstständigen Online-Redakteurin. Das Wort selbstständig bedeutet für sie finanzielle Unsicherheit und schlechte Altersvorsorge und schon bei »online« wird es für die beiden zu abstrakt. Also will ich wirklich nicht die Predigt meiner Mutter über mich ergehen lassen, wenn ich ihr die Daseinsberechtigung von Influencern zu erklären versuche. Meine Eltern sind um die sechzig, also nicht uralt, aber was das Internet angeht, haben sie komplett den Anschluss verloren. Sie mussten sich nie um derlei Dinge kümmern, das habe ich ja immer für sie erledigt.

In einer kreativen Umgebung wie dieser wird mein Schaffen natürlich mit deutlich mehr Verständnis aufgenommen, aber mir ist aufgefallen, dass Influencer in der Hackordnung der Kreativberufe nicht gerade den Platz des Löwenkönigs einnehmen. Die persönliche Assistentin nimmt dann also bestenfalls die Rolle des nervigen Vogels Zazu ein.

»Ich bin Assistentin bei A Galexy of Mine. Das ist ein Fashionblog«, ist meine wahrheitsgemäße, aber dennoch ausweichende Antwort.

Er nickt, den Mund zu einer anerkennenden Miene verzogen, die ich weder als ironisch betrachten, noch ernst nehmen kann. »Fashion«, wiederholt er und sieht mich an. Ob er gerade die Gleichung »Mara + x = Fashion« aufstellt und verzweifelt versucht, sie nach x aufzulösen? Ich schreie nicht unbedingt nach Mode. Ich trage zwar Markenkleidung, aber die Poloshirts und schmal geschnittenen Tommy-Hilfiger-Jeans entstammen nicht gerade der Vogue. Andererseits sieht er nicht so aus, als kümmere ihn derlei Firlefanz überhaupt. Er trägt eine nachlässig hochgekrempelte Cordhose, ein ausgeleiertes weißes T-Shirt und graue Sneakers, von denen sich die Sohle abschält.

»Und du?«, frage ich mehr aus Höflichkeit zurück.

»Ach, ich bin offiziell gar nicht hier. Kennst du Silas? Den Designer im Büro direkt neben den Toiletten?«

Ich nicke. Ich habe Silas gezwungenermaßen kennengelernt, weil Zeus ihm einmal einen Haufen in sein Ein-Mann-Büro gesetzt hat, den natürlich ich entfernen musste. Alex war an diesem Tag schlechter Stimmung. Aber so ist das nun mal: Wenn man eine persönliche Assistentin bezahlt, entbindet einen schlechte Laune davon, die halbfeuchte Kacke des eigenen Hundes mit einem Kehrblech aufzuspachteln, den Kot samt Aufhebe-Utensil zu entsorgen und beim DM. gegenüber ein neues Besenset zu kaufen.

»Silas ist ein Kumpel von mir und gibt mir ab und an Obdach, wenn mir daheim die Decke auf den Kopf fällt.« Er grinst ein Du-weißt-schon-was-ich-meine-Grinsen. Ich weiß es tatsächlich. Wir sind alle hier, weil uns anderswo irgendwas auf den Kopf gefallen ist.

Bevor ich antworten kann, taucht Alex in voller Montur und mit besagtem Hund auf dem Arm im Windschatten meines Gesprächspartners auf. »Da bist du ja! Ich hab dich überall gesucht!«

Ich entschuldige mich wieder, ohne genau zu wissen, wofür.

»Ich muss jetzt wirklich los.« Alex wackelt mit dem auf ihrer Hüfte abgesetzten Hund. Ich strecke die Hände nach dem kleinen Tier aus und nehme ihn. Zeus rollt sich sofort auf meinem Schoß ein, als wäre ihm die Übergabe gar nicht so unrecht. »Ach ja, und dann haben wir hier noch diese situation!« Sie spricht es wie Sitjuäischän. Mit dramatischem Effekt lässt sie ein glockenförmiges Ding aus ihrer Hand fallen. Es hängt an einem kleinen Ring, der an der Spitze angebracht ist. Das Teil hat eine merkwürdige halb transparente Milchfarbe und sieht aus, als wäre es aus Silikon gefertigt. Ein bisschen wie der Sauger einer Babytrinkflasche.

»MARA! Ich hab dir gesagt, du sollst der Firma mit den Menstruationstassen eine Absage schicken. Ich habe zero Interesse daran, ihr Produkt zu testen. Ich weiß, dass die irre nachhaltig sind, aber bin ich wirklich die Person, die an ihrer Nachhaltigkeit arbeiten muss? Ich habe seit 2013 kein Fleisch mehr gegessen. ZWEI-TAU-SEND-DREI-ZEHN! Und ich unterstütze die Bienen!«

Sie dreht die Hand mit der Silikonglocke um hundertachtzig Grad, sodass das Bienentattoo zum Vorschein kommt. Dann macht sie die Drehung rückgängig und lässt die Glocke in meinen Schoß fallen. Sie landet auf Zeus' Kopf, der es mit einer verdrossenen Miene quittiert.

»Also?«, fragt Alex. Scheinbar erwartet sie, dass ich etwas sage. Aber ich bringe nichts mehr heraus, seit das Wort Menstruationstasse gefallen ist.

»Ich …«

»Hast du ihnen abgesagt oder nicht? Ich habe doch wohl deutlich gesagt, dass ich keinen brand deal mit ihnen eingehen möchte?!«

Ich zähle innerlich bis drei und rufe mir zur Beruhigung den Geruch und Geschmack meines Espressos ins Gedächtnis zurück. »Ich habe ihnen abgesagt«, erwidere ich. »Sie müssen es trotzdem geschickt haben, dachten vielleicht, dass du dich freust.«

»Na, dann kannst du ihnen ja eine Liste mit Dingen schicken, über die ich mich mehr freue als über wiederverwertbare Gummidinger, die ich mir in die Vagina stecken soll!«

Meine Blicke wandern von der wütenden Alex zu Zeus, der drauf und dran ist, die Menstruationstasse zum Kauspielzeug zu zweckentfremden, und zu dem hochgewachsenen Kerl, der sich sichtlich zusammenreißen muss.

»Es tut mir leid, Alex. Beim nächsten Mal schreibe ich deutlich in die Absage, dass du auch keine kostenlosen Produkte geschickt bekommen möchtest.«

Das scheint sie zufriedenzustellen. Zumindest geht sie.

Ich presse die Lippen aufeinander, möchte am liebsten einen Schreikrampf herauslassen, streichle stattdessen aber über Zeus’ flauschiges Köpfchen und nehme ihm das verschmähte Hygieneprodukt ab.

»Das wäre dann wohl die Fashionbloggerin.«

»Jap«, antworte ich resigniert, nehme Zeus fester in den Arm und rappele mich auf. »Ich mach mich dann mal an die Arbeit. Ich muss einer Firma schreiben, dass sie sich ihr Produkt laut meiner Chefin in eine Körperöffnung schieben können, für die es definitiv nicht gemacht wurde.« Die Worte verlassen meinen Mund, bevor ich darüber nachdenken kann. Ich sollte definitiv nicht so über meine Chefin lästern. Schon gar nicht vor jemandem, der ebenfalls hier arbeitet. So etwas macht schnell die Runde.

Die Spannung löst sich und er bricht in Gelächter aus. Ich stimme für zwei oder drei Lacher mit ein und breche dann auf.

»Falls du mal jemanden suchst, der euch bei Video-Content helfen kann, sag mir Bescheid. Frag einfach bei Silas. Ich bin Marius, übrigens.«

»Mara«, sage ich nach einem kurzen Zögern, in dem mir auffällt, dass wir praktisch den gleichen Namen haben.

»Ich weiß.« Er zwinkert, stößt sich vom Fenster ab und winkt mir auf halber Strecke noch mal zu, als er davongeht.

Plan B: Eine gesunde Beziehung


Ich mache mich pünktlich um achtzehn Uhr auf den Heimweg. Zeus ist verwirrt, weil er mit der Bahn fahren muss. Ich bin verwirrt, weil mich der Arbeitstag nicht loslässt. Die anderen Bahnfahrer sind verwirrt, weil ich einen Hund in einer Louis-Vuitton-Tasche durch die Gegend schleppe.

Zur Ablenkung überprüfe ich Alex’ letzten Upload auf Blogged.

Das Foto zeigt ihre sauber manikürten Finger, die gerade einen Zettel entfalten, auf dem (in meiner Schrift) »Nach Marrakesch reisen« steht. Im Hintergrund sieht man ein Marmeladenglas, das bis zum Rand mit weiteren Papierschnipseln gefüllt ist. So verkaufen wir Alex’ Last-Minute-Reise an ihre Fans: Wir tun so, als erfülle sie sich damit einen lang gehegten Traum von ihrer Bucket List. Dabei sind ihr in Wahrheit lediglich die Fotos von atemberaubenden Ferienorten ausgegangen, und Marrakesch war ein pittoreskes Ziel, das ich auf die Schnelle noch buchen konnte. Noch dazu hat Alex’ Freund endlich einmal kurzfristig Zeit, sie auf eine ihrer Pressereisen zu begleiten. »Ich erfülle mir mit dieser Reise einen Marmeladenglas-Wunsch« klingt als Bildunterschrift aber einfach besser als: »Kein anderes Hotel wollte mich auf die Schnelle bei sich einkehren lassen und als Bezahlung lediglich ein paar Erwähnungen auf einem Modeblog akzeptieren. PS: Bei den übrigen Zetteln im Glas handelt es sich um die zerrissene Speisekarte vom Vietnamesen um die Ecke. Byeee, love you guys!«


Ich habe kein Marmeladenglas voller besonderer Dinge, die ich in meinem Leben noch erreichen will. Ich habe nicht mal eine zerrissene Menükarte von Pho Ngon. Doch wenn ich ein solches Glas hätte, dann könnte ich zumindest einen Zettel herausnehmen und zufrieden als erledigt erachten: Ich habe einen Freund, mit dem ich sehr zufrieden bin. Er braucht zwar manchmal etwas länger im Bad, aber unsere Beziehung kommt dem Bild, das ich immer von meiner Partnerschaft hatte, schon sehr nahe. Sebastian ist ein Versorgertyp. Er ist jemand, der Dinge anpackt. Der mir sagt, welche Laufschuhe ich kaufen soll, wenn ich überfordert im Laden stehe. Der aktiv Vorschläge für Urlaubsreisen und Restaurants macht. Sebastian weiß, was er will. Dazu gehören zwar dummerweise auch eine ganze Menge Statussymbole, denen ich nicht allzu viel abgewinnen kann, aber wenn Basti diese Dinge nun mal besitzen möchte, kann ich ihm ja schwer reinreden.

»Sebastian?« Meine Stimme hallt merkwürdig, als sie durch den Flur der Eigentumswohnung dröhnt. Sebastian hat mich vor einer halben Stunde auf WhatsApp gefragt, wann ich daheim sein würde. Das habe ich als Ankündigung verstanden, dass wir den Abend gemeinsam verbringen werden. Zeus tapert über den Altbauflur und blickt neugierig in die offen stehenden Türen. Ich mache mich darauf gefasst, dass Basti wegen Zeus einen Nervenzusammenbruch bekommen wird und ich die nächsten fünf Tage damit zubringe, dem Hund hinterherzuputzen. Sebastian ist ein wenig penibel, wenn es um Schmutz und Bakterien geht. Schon das eine oder andere Mal habe ich ihn Hunde als »Keimschleudern« bezeichnen hören.

»Basti?«, frage ich noch einmal. »Es ist richtig gutes Wetter draußen, wir könnten uns eine Flasche Wein und ein Baguette besorgen und im Olympiapark zu Abend essen, wenn du magst.« Ich entledige mich meiner Jeansjacke und des vollgestopften Rucksacks und streife die Plateausandalen von meinen Füßen. Mein kleiner Zeh fühlt sich an, als hätte er sich in den hohen, noch sehr neuen Tretern einige Prellungen zugezogen. Ich kann förmlich spüren, wie sich je zwei Blasen an den Fußinnen- und Außenseiten mit Wasser zu füllen beginnen.

Beim Aufhängen meiner Jacke bemerke ich einen Flyer unter der blauen Keramikschale auf der Anrichte, in der wir Kleingeld und Schlüssel aufbewahren: »Haut und Haar – Dein Treatment-Center für Spa-Behandlungen und Haar-Entfernung«. Ich ziehe den Flyer mit zusammengezogenen Augenbrauen unter der Schale hervor und bin drauf und dran, einen Witz über die vielen Bindestriche durch die Wohnung zu rufen. Aber Sebastian findet es nicht lustig, wenn ich Dinge wie falsche Apostrophe oder unnötige Wortkopplungen korrigiere. Er sagt, das sei überheblich. Also verkneife ich es mir und entfalte das Flugblatt. »Haut und Haar« bietet anscheinend jede denkbare Dienstleistung an, mit der man die beiden namensstiftenden Körperregionen aufhübschen kann. Microblading, Microneedling, Acidpeeling und Laser-Haarentfernung … Irgendwie klingt das alles eher nach neumodischen Begriffen für mittelalterliche Foltermethoden. Aber die Preise, die »Haut und Haar« dafür veranschlagt, sind ganz und gar aus diesem Jahrhundert. Wieso hat Basti das nicht direkt in der Tonne versenkt? Will er sich ein Wimpernlifting machen lassen?

»Schnuppes? Hast du vor, dir die Achselhaare weglasern zu lassen?", witzele ich und sehe in der Küche nach ihm. Zeus folgt mir. Sicher hat er sich gemerkt, dass der klinisch weiße Raum am Ende des Flurs bei seinem letzten Besuch der Ort der Raubtierfütterung war.

Vielleicht habe ich mich geirrt und Basti ist noch gar nicht zu Hause? Er ist super ehrgeizig und macht nicht selten am Freitagabend oder an den Wochenenden Überstunden – eine Angewohnheit, der ich gleichermaßen mit Stolz und Argwohn gegenüberstehe. Ich habe mir schon zu oft ausgemalt, wie sich seine Arbeitswut auf unsere Beziehung auswirken wird, wenn wir eines Tages Kinder haben. Und in allzu weiter Ferne liegt dieses Szenario nicht. Ich gehe – wie meine Mutter mich bei jedem Telefonat nicht müde wird zu erinnern – stark auf die dreißig zu und Sebastian hat selbige schon vor sieben Jahren hinter sich gelassen.

Den enttäuscht wirkenden Zeus dicht auf den Fersen sehe ich im Arbeitszimmer nach ihm. Aber der Designer-Bürostuhl von Vitra ist leer und auch auf dem Schreibtisch und dem USM-Haller-Sideboard gibt es kein Anzeichen für seine Anwesenheit. Sein Knochen von einem Arbeitslaptop ist nirgends zu sehen, was ein todsicheres Zeichen dafür ist, dass Basti heute Abend nicht mehr arbeiten wird. Er hasst das fette Teil, weil es nicht mit seiner stylischen Büroeinrichtung harmoniert. Der Laptop »verschandelt den Raum«, hat er einmal gesagt, deswegen schließt er ihn immer weg, sobald er ihn nicht mehr braucht.

Sebastian umgibt sich gern mit schönen Dingen. Markenkleidung und Designobjekte sind sein Ding, seit ich ihn kenne. Selbst sein Haarschnitt wird in einem Münchner Edelsalon zurechtgeschnippelt, in dem die Rechnung dreistellig wird, sobald der Friseurmeister einem den Umhang umlegt. Tja, denke ich mit einem Blick auf den Flyer, so wie es aussieht, will Basti sein Beautyprogramm noch ein wenig erweitern … Schon bei dem Gedanken daran, spüre ich einen alten, wohlbekannten Druck in mir aufsteigen. Ich habe in den vergangenen Jahren eine nicht unerhebliche Zeit damit zugebracht, mich zu fragen, wie genau ich in Sebastians Welt der schönen Statussymbole hineinpasse.

Ich öffne die Schlafzimmertür einen Spalt weit, um zu verhindern, dass Zeus den Raum betritt. Sebastian bekommt einen Anfall, wenn Tierhaare auf den weißen Teppich oder gar ins Bett kommen! Das ist auch der Grund, wieso wir niemals Haustiere haben werden. Von dem Hund, den ich als Teenager immer haben wollte, habe ich mich also mit Sebastians Eintritt in mein Leben verabschiedet.

Ich quetsche mich mit größter Sorgfalt durch den Türspalt, halte mit dem Fuß Zeus zurück und schließe die Tür schnell hinter mir zu.

»Was zum …«, entfährt es mir. Vor Schreck lasse ich den Flyer mit den vielen Bindestrichen fallen.

Sebastian sitzt kerzengerade am Fuß unseres großen, mittig im Raum platzierten Boxspringbettes, die Hände sittsam im Schoß gefaltet wie ein Gläubiger im Beichtstuhl. Sein Hintern drückt eine fast schon zu perfekte Kuhle in die ansonsten makellose Oberfläche der blütenweißen Tagesdecke, die sorgfältig seitlich in den Bettrahmen gesteckt ist. Das Doppelfester zur Linken des Bettes steht weit offen und die zart durchscheinenden, ebenfalls weißen Vorhänge flattern in der Abendbrise.

»Gott, hast du mich erschreckt.« Ich greife mir ans Herz und lache. »Ist alles in Ordnung?« Ich mustere meinen Verlobten genauer und stelle fest, dass er wirklich viel zu perfekt auf dem Bett sitzt. Kerzengerade, die Beine in einem Neunzig-Grad-Winkel aufgestellt, den man mit dem Geodreieck nachmessen könnte. Gut, Basti ist manchmal schon ein bisschen steif. Aber normalerweise sitzt er nicht wie ein Benediktinermönch auf unserem gemachten Bett und sieht mich an, als wäre jemand gestorben.

Normalerweise ist er dabei auch nicht von vier großen Reisekoffern flankiert. Ich erkenne das teure Set, das Sebastian für unseren letzten Sommerurlaub in Thailand angeschafft hat. Das war der Urlaub, in dem er mir endlich den Heiratsantrag gemacht hat, für den ich bereits drei Jahre lang das ergriffene »Ja! Ja! Natürlich will ich dich heiraten« geübt hatte.

Beim Anblick der Koffer überrollt mich auf einmal eine Erkenntnis, die mich auflachen lässt. Natürlich! Sebastian hat etwas vorbereitet! Bestimmt springt er gleich auf, enttarnt seine festgefrorene Miene als Scharade und eröffnet mir, dass wir übers Wochenende wegfahren. Er wird »Ich hab dich drangekriegt, du hättest dein Gesicht sehen sollen!« oder so etwas Ähnliches jubeln und mir dann Tickets für einen Kurztrip in einen Wellnesstempel unter die Nase halten. Ha! Bestimmt war er auch deswegen bei »Haut und Haar« – in letzter Zeit haben ihn die vereinzelten Haare auf seinen Schultern in Panik versetzt. Für unser Wochenende in Bademode und Frotteemänteln hat er sich die vielleicht weglasern lassen?

Moment – ob die da Hunde zulassen? Wie Zeus wohl in einem winzigen Bademantel aussieht, Zehentrenner zwischen den lackierten Krallen und Kombucha aus einem Napf schlabbernd?

Sebastian erhebt sich mit einem tiefen Seufzer, tritt auf mich zu und nimmt meine beiden Hände. Wir waren oft knatschig zueinander in letzter Zeit. Wir haben kaum Zeit miteinander verbracht. Er musste ständig arbeiten und ich hing viel zu oft am Handy, um mich um A Galexy of Mine zu kümmern. Dass er uns auf diese Weise etwas Zweisamkeit verschafft, hätte ich nie gedacht. Das sieht ihm gar nicht ähnlich!

»Nu mach es doch nicht so spannend«, kichere ich und reibe aufgeregt mit beiden Daumen über seine Handflächen.

»Mara«, sagt Sebastian bedächtig. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, mein Verlobter ist im Begriff, mir schon wieder einen Antrag zu machen. »Ich trenne mich von dir.«