Über Juri Buida

Juri Buida wurde 1954 in Snamensk, im Kaliningrader Gebiet, geboren. Nach dem Studium in Kaliningrad war er Fotojournalist, Journalist und stellvertretender Chefredakteur einer Regionalzeitung. Seit 1991 lebt Buida in Moskau, wo er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig ist. Er veröffentlichte seitdem mehrere Romane und Erzählungen, die vielfach ausgezeichnet wurden.

Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, studierte russische Sprache und Literatur in Woronesh (Russland). Seit 1991 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin und übertrug u. a. Ljudmila Ulitzkaja, Boris Akunin, Jewgeni Wodolaskin und Leonid Zypkin ins Deutsche. Ganna-Maria Braungardt lebt in Berlin.

Informationen zum Buch

Eine große Parabel über die zerstörerische Kraft der Diktatur

Die Siedlung Nummer 9 ist ein kleines Glied in der endlosen Kette des Gulag-Systems. Ihre Einwohner haben nur eine Aufgabe: Sie müssen täglich um null Uhr einen rätselhaften Zug passieren lassen. Niemand weiß, wohin er fährt, und was er in seinen plombierten Güterwagen befördert. Die Leute leben ihren Alltag, trotz Hunden und Stacheldraht. So verdreht die schöne, verheiratete Jüdin Esphira allen Männern den Kopf. Auch Don Domino, der als Letzter in der Siedlung zurückbleibt, ist ihr verfallen. »Nulluhrzug« ist ein gewaltiger Roman über die Gewalt von Diktaturen – bewegend und unvergesslich.

»Wie in Buidas ›Nulluhrzug‹ der Einzelne zum Verlorenen im Mechanismus eines Systems wird, das er nicht durchschauen kann, erinnert an Kafka und an Platonow.« Julia Franck

»Ein auf brutale Weise kraftvolles Buch, das von Beckett stammen könnte, aber durchwoben ist von einer grotesken, surrealen Poesie.« Time Out

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Juri Buida

Nulluhrzug

Roman

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Mit einem Nachwort von Julia Franck

Inhaltsübersicht

Über Juri Buida

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Nachwort

Anmerkungen

Impressum

»Die Juden ziehen weg!«, rief er in die hallende Leere des Hauses und trat, als keine Antwort kam, wieder ans Fenster. »Die Juden ziehen immer weg. Nur wir Dummköpfe, wir bleiben.«

Von hier konnte er gut sehen, wie Frauen und Männer, gebeugt unter der Last ihres Gepäcks (nun waren es keine Sachen mehr, kein Besitz, kein Plunder, von Fira in den über vierzig Jahren ihres Lebens an der Bahnstation angesammelt, nun war es einfach nur Gepäck, die Habe einer Flüchtlingsfrau, einer Reisenden – krepieren sollte sie), auf dem schmalen lehmigen Pfad vorsichtig zur Brücke liefen und einer nach dem anderen auf dem rostigen, klirrenden Stahl den tosenden Fluss überquerten, zum anderen Ufer, wo ein riesiger Laster auf sie wartete. Fira saß reglos auf einem Stuhl mit geschwungener Lehne, mitten auf dem Hof, zwischen Gerümpel, weggeworfenen Lumpen und Papieren, die der Wind mal alle zusammen emporwirbelte wie eine Schar schmutzig-weißer Vögel, mal in alle Richtungen schleuderte und an die abgebröckelten Mauern des sich leerenden Hauses klebte, an den schiefen Zaun und an den glänzenden schwarzen Regenumhang, den jemand der alten Frau über die Schultern geworfen hatte. Sie starrte vor sich hin, bemerkte weder ihren Sohn noch dessen Freunde, die sich beeilten, noch vor Einbruch der Dunkelheit alles auch nur einigermaßen Wertvolle ans andere Ufer zu bringen.

Währenddessen stand er die ganze Zeit am Fenster, beobachtete Fira und wie ihr Leben – Ding um Ding, Kleidungsstück um Kleidungsstück, Fotografie um Fotografie – dieses Haus verließ und hastig in den schmutzbespritzten riesigen Laster geworfen wurde, um für immer, endgültig, auf ewig abzureisen, um zu versuchen, irgendwo dort, weit weg, in einem neuen und ganz bestimmt fremdem Leben Halt zu finden. Auf einem Foto sind die ersten Siedler abgebildet: Fira, ihr Mann Mischa, er – Iwan Ardabjew, wegen seiner Leidenschaft für die Spielsteine Don Domino genannt –, sein Wahlbruder Wassili, dessen Frau Gussja, irgendwelche Soldaten, die ihnen geholfen hatten, am anderen Ufer abzuladen und über die Steine an dieses Ufer zu gelangen, an dem zwei zugige Baracken standen. Die dicke Gussja trugen sie auf den Schultern herüber und ließen sie fast ins Wasser fallen, Fira dagegen – mit Hochfrisur, in einem Seidenkleid in der Farbe des Abendrots und auf hochhackigen Schuhen – überquerte den Fluss allein, sie zog die Schuhe aus und hüpfte barfuß über die bläulichen Buckel, die aus dem schäumenden gelben Wasser ragten, obwohl mehr als genug Männer sie gern auf den Armen ans andere Ufer getragen hätten. Auf diesem Foto waren weder Aljona noch der rothaarige Oberst, niemand sonst, nur sie, die Erstbesiedler, die in diese, auf geheimen Karten mit einer Zahl markierte Bahnstation gekommen waren, in zwei zugige Baracken. Hier mussten noch Gleise verlegt und eine Brücke gebaut werden, außerdem Baracken für die Streckenläufer und – etwas später – für diejenigen, die im Sägewerk und bei der Schwellenimprägnierung arbeiten würden. Damals. Jetzt. Und nun. Keiner mehr da. Manche weggezogen, andere gestorben und begraben auf dem kleinen Friedhof, der vor langer Zeit am anderen Ufer angelegt wurde, möglichst weit weg von der Brücke und den Häusern, weit weg von den Lebenden, die emsig arbeiteten und nicht so viel an den Tod denken sollten, und wenn, dann nicht an einen natürlichen, sondern an einen Tod als Strafe – für Ungehorsam, für überflüssiges Geschwätz oder für einen Fluchtversuch. Nun ist niemand mehr da. Fira zieht weg. Bleibt nur er, der alte Ardabjew, und er kann mit niemandem mehr Domino spielen. Und Gussja, die sich irgendwo in der hallenden Leere dieses Hauses verkrochen hat und nicht reagiert, mit keinem Wort und mit keiner Regung. Vielleicht ist auch sie – gestorben …

Er setzte die Ohrenklappenmütze auf, zog die Wattejacke an und ging hinunter zum Fluss, wo ein schmaler lehmiger Pfad zur durchgerosteten Brücke hinauf führte, deren plumpes Metallgerüst unter dem Druck des angeschwollenen Flusses bebte.

Gestützt auf ihren Sohn, der überdies noch den Stuhl mit der geschwungenen Lehne trug, bewegte Fira mühsam die zitternden, in Galoschen steckenden Füße durch den aufgeweichten Lehm.

»Grüß dich, Onkel Wanja.« Igor schnäuzte sich und fingerte eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche seiner Jacke. »Rauch eine.«

Don Domino schüttelte den Kopf.

Die alte Fira setzte sich seitlich auf den Stuhl und umklammerte mit beiden Händen das morsche Geländer, das sich den Pfad entlangzog und an die Zeiten erinnerte, als hier sichere Holzstufen gewesen waren, jedes Jahr erneuert von Ardabjew.

»Na, fährt der Nuller noch?«, fragte Igor augenzwinkernd.

»Was sonst«, antwortete Ardabjew mürrisch.

»Da sind keine Gleise mehr, Onkel Wanja«, sagte Igor. »Da nicht und dort auch nicht.« Er wies mit der Hand in Richtung Siedlung. »Da ist nichts mehr. Nur die hier haben sie beim Abräumen vergessen. Zieh weg. Was willst du hier allein? Erst recht im Winter?«

Kopfschüttelnd warf er den Zigarettenstummel fort und half seiner Mutter aufstehen.

Don Domino nahm die Mütze ab und lächelte gequält, wobei er zwei gerade Reihen funkelnder Metallzähne entblößte.

Fira seufzte tief. Zwischen den braunen und lila Flecken in ihrem runzligen Gesicht trat plötzlich der Mund zutage, in dem chaotisch da und dort gelbe Zähne steckten. Mit zitternder Hand bekreuzigte sie Ardabjew.

»Leb wohl, Iwan … jetzt – für immer leb wohl …«

Vorsichtig drückte er ihren leichten, schon fast körperlosen Leib an seine Brust.

»Leb wohl, Fira.« Er hustete. »Frühling ist eine schlimme Zeit … Schlimmer geht’s nicht …«

Sich an das hin und her schwankende Geländer klammernd, schleppte sich die Alte aufwärts, wobei sie immer wieder im Lehm ausrutschte – ihr Sohn fing sie auf, doch sie stieß ihn mit dem Arm weg und kraxelte weiter und weiter, bis sie endlich am eisernen Brückengeländer Halt fand.

»Aber der Stuhl!«, rief plötzlich Ardabjew. »Igor! Fira! Ihr habt den Stuhl vergessen! Den Stuhl!«

Igor winkte ab.

Gebeugt unter den heftigen kalten Windstößen, überquerten sie den angeschwollenen Frühjahrsfluss und stiegen die Treppe hinunter zum Auto. Igor half seiner Mutter beim Einsteigen. Mühsam und dreckspritzend wendete der Laster, ließ den Motor aufheulen und kroch die Straße entlang hinter die Hügel.

»Sense«, sagte Don Domino laut und stülpte sich die Mütze auf die grauen Zotteln. »Ausgespielt.«

Er packte sich den Stuhl auf die Schulter und trottete langsam den kahlen Hügel hinauf zur Siedlung, an deren Rand, dem Fluss am nächsten, ein einstöckiges Ziegelgebäude stand, einst das Wohnhaus der Stationsarbeiter und ihrer Familien, nun nur noch das von Don Domino und Oma Gussja, die sich nach der Beerdigung in wer weiß welche Ritze verkrochen hatte und schon seit drei Tagen nicht mehr auf sein Rufen reagierte. Auf halber Höhe des Hangs rammte Ardabjew wütend die Stuhlbeine in den Schlamm, zog die Wattejacke fester zu und setzte sich, um zu rauchen. Ausgespielt. Sense. Allein. Er legte die großen roten Hände schützend um die Streichholzflamme und zündete sich bedächtig eine Papirossa an.

»Nun sind also auch die Juden weg«, sagte er noch einmal und schaute mit blicklosen Augen auf die in Wasserstaub gehüllten Hügel, gleichförmige rotbraune Wellen, die auf den gezackten Wald zuliefen, dessen Wipfel sich wie Sägezähne in den niedrigen Himmel fraßen, einen Himmel mit kaum erkennbaren Nuancen von Blau, der wie nasses Löschpapier über den rostigen Gleisen hing, über der vom unaufhörlich wütenden Druck des braunen Flusses bebenden eingleisigen Brücke, über den Dächern der Siedlung, genauer, über dem, was von ihr übrig war: Einige Güterwagenskelette auf den Abstellgleisen, der Güterschuppen ohne Dach, das Stationsgebäude mit dem verglasten, über den kleinen Bahnsteig ragenden Balkon, Firas ziegelverkleidetes Haus, auf dessen Hof der feuchte Wind noch immer schmutzigweiße Vögel herumwirbelte … Eingefallene Zäune, Wände und mit rostigen Drähten umwickelte umgestürzte Masten dort, wo einmal Häuser gestanden hatten, das Sägewerk, die Schwellenimprägnierung, die Verwaltung, die Bierstube, die Reparaturwerkstätten – all das, was jahrzehntelang in Schuss gehalten worden war, damit Punkt Mitternacht der Nuller-Zug von oder nach dort durchrasen konnte, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, weder in der Kurve noch auf der donnernden und stöhnenden Brücke – hundert Waggons mit fest verrammelten und verplombten Türen, zwei Lokomotiven vorn und zwei hinten, tschu-tschu, uuu! Hundert Waggons. Abfahrtsort unbekannt. Bestimmungsort geheim. Halt deine Zunge im Zaum. Ihr habt euch nur um eins zu kümmern: dass die Gleise in Ordnung sind. Von da bis da. Auf den Punkt. Das hatte der Oberst gesagt, der sie gleich am ersten Abend in einem engen Zimmerchen in einer der Baracken versammelt hatte. Der Rotschopf mit den blauen Augen. Wie hieß dieser Oberst gleich? War er wirklich Oberst gewesen, dieser NKWD-Mann? Nach Armeemaßstäben also General? In Ordnung halten – und keine Fragen. Fragen? Nein, Genosse Oberst. Wird in Ordnung gehalten, Genosse Oberst. Daran hegte der Oberst auch keine Zweifel. Niemals. Warum war er sonst hier? Warum sonst waren all diese zigmal überprüften Leute hier? Bis zum Winter hatten Eisenbahnpioniere bereits das Wohnhaus für die Stationsangestellten und -arbeiter errichtet, den Güterschuppen, eine kleine provisorische Werkstatt, ein Pumpenhaus und einen Kohlebunker. Im Frühjahr war auch die Brücke gebaut, deren knochiger Körper sich über die Auen des launischen Flusses erstreckte und an den Gipfel eines entfernten Hügels stieß, der zwischen den zu einer kompakten Masse verschmelzenden Bäumen kaum zu sehen war. Ende Mai waren das Sägewerk, die Schwellenimprägnierung und die Bierstube fertig. Und am ersten Juni – diesen Tag vergaß Don Domino nie – fuhr der erste Nuller-Zug.

Mischa Landau, Fira, Wassja Dremuchin, seine Frau Augustina, Iwan Ardabjew, der später den Spitznamen Don Domino bekommen sollte, weil er ein richtiger Spieler geworden war, und außerdem – weil sein Gesicht etwas Zigeunerhaftes hatte, etwas »Spanisches«, wie Fira sagte. Wer noch? Lenka Ambarzumjan und ihr Mann Rafik. Ja, natürlich der Oberst und seine Leute, alle in ordentlich gebügelter Uniform und glänzenden Stiefeln, die mit heißem Bügeleisen in schicke Form gebracht worden waren. Außerdem der Chef der Sägewerksverwaltung Udojew. Der Sägewerksbuchhalter und seine zweischläfrige Frau, eine herrische Dicke, die einmal im Monat zu entlegenen Bahnstationen fuhr, um sich dort, weit weg von Leuten, sie die kannten, mit jedem zu vergnügen, der wollte, und da das nicht sehr viele waren, zahlte sie großzügig für jedes Mal eine Flasche, und die Trunkenbolde kamen zu zweit und zu dritt, denn die Buchhaltergattin zahlte nur für gewissenhafte Arbeit. Wer noch? Vergessen, ihre Gesichter sind in der Erinnerung verblasst, abgewetzt wie eine Münze, aber sie und die Erinnerung an sie sind ohnehin unwichtig. Sie alle schliefen in jener Nacht nicht, sie alle zitterten, überprüften wieder und wieder, ob alles in Ordnung war, ja, das war es wohl, Gott sei Dank. Und das? Auch das. Jener lange Junitag ist nur wegen des Nuller-Zugs im Gedächtnis haften geblieben. Genau wie die Gesichter, die Worte und Gesten, der Morgentau auf den Gleisen, die am Mittag glänzten wie heißes Silber, das Zirpen der Grillen im harten Gras, das nach Kreosot roch, und alles andere, alles, alles, alles – war nur ein Schatten des Wartens auf den Nuller. Nach zehn (die Sonne schickte sich gerade an, hinter den gezackten Wald zu sinken) lungerten alle an der kleinen Station herum, waren nervös, begannen nichtssagende Gespräche und brachen sie sofort wieder ab, rauchten, überprüften zum wiederholten Mal die Bügelfalten an ihrer Hose und ob der Rock gut saß und die Strumpfnaht auch nicht verrutscht war, besprühten sich erneut mit Eau de Cologne und Parfüm, das der rothaarige Oberst eigens für diesen Tag mitgebracht hatte; auf dem gestärkten Tischtuch im Hof blinkten schlanke Flaschen und Gläser, stapelten sich blitzsauber abgewaschene Teller, und feuerrot leuchteten Pfingstrosen, einstweilen deponiert auf den aus sämtlichen Wohnungen zusammengetragenen Stühlen.

Um halb zwölf flüsterte Fira: »Ich glaube, ich höre ihn.«

Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Noch eine halbe Stunde. Das bildest du dir ein, Häschen.«

Die schwerleibige Augusta schnappte mit weit offenem Mund nach der mit Kreosot, Wachs und Eau de Cologne gesättigten Luft, die zum Schneiden dick war. Zehn vor begannen ihre Wehen.

»Das ist symbolisch.« Der Oberst zog eine Grimasse. »Die Geburt eines neuen Menschen fällt zusammen mit der Geburt der neuen Bahnstrecke.«

Die nach Wodka riechende Arzthelferin aus dem Sägewerk kam herbeigelaufen. Augusta wurde untergefasst und in das kleine Krankenhaus gebracht. Nach fünf Minuten kehrte Wassja Dremuchin zur Station zurück, jemand goss ihm ein Glas Wodka ein, randvoll, er trank mit geschlossenen Augen, verschluckte sich, der Wodka rann ihm übers Kinn und über den beim Rasieren geritzten Kehlkopf.

»Jetzt aber«, sagte Fira und ließ sich kraftlos auf einen Stuhl sinken. »Mir knicken die Beine ein, Mischa.«

Landau hob den Stuhl mitsamt seiner Frau hoch und trug ihn auf den Bahnsteig.

»Was für eine Finsternis«, sagte der Oberst. »Er kommt.«