Auf Spotify gibt es eine Playlist zum Buch. Unter dem Titel »Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion« findet ihr Mias Lieblingssongs!

Für Lucienne

(du weißt schon, wieso)

Prolog

Mia

Ich sitze in der Mitte einer Autorückbank. Auf diesem Sitz, den mein bester Freund Luca immer den Bitch Seat nennt, weil derjenige, der dort Platz nimmt, bei einem Unfall echt die Arschkarte gezogen hat.

Als ich an mir heruntersehe, stelle ich fest, dass ich im Falle eines Unfalls wirklich schlechte Karten hätte, denn um meine Hüfte liegt lediglich ein lockerer Anschnallgurt. Genau auf der Höhe, wo sonst der Gürtel sitzt. Nur trage ich keine Hose. Ich habe gar nichts an, bis auf eines dieser komischen weißen OP-Hemden mit blauem Muster, die am Rücken offen sind und nur mit einem Schnürsenkelknoten zusammengehalten werden. Und kaum wird mir das bewusst, spüre ich auch schon, wie mein nackter Hintern auf dem ledernen Sitzbezug festklebt.

Nackte Haut auf Kunststoff kann bei Reibung üble Verbrennungen verursachen, denke ich – eine Tatsache, die mir erst beigebracht wurde, nachdem mein sechsjähriges Ich mit kurzen Radlerhosen über den PVC-Boden der Schulturnhalle geschlittert ist. Für diese Aktion erntete ich von meinen Klassenkameraden so schockierte Blicke, als hätte ich eine lebendige Vogelspinne verspeist. Mit Sahne und Kirsche obendrauf.

Einen Vorteil hat der Bitch Seat natürlich: Ich kann ungehindert auf die Straße schauen. Gleißende Ampellichter kommen auf uns zu und ziehen am Auto vorbei. Der Mittelstreifen auf der Fahrbahn verschmiert zu einer durchgehenden weißen Linie, die im Rausch der Geschwindigkeit merkwürdig ausfranst.

Erst als wir über eine große Kreuzung brettern, fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Okay, zugegeben: Auch der OP-Kittel und mein blanker Hintern auf dem quietschenden Kunstleder hätten stichhaltige Beweise dafür sein können. Doch es ist die Schnelligkeit, mit der unser Wagen über rote Ampeln rast, die mir nun wirklich Angst einjagt. Denn Mama würde nie so schnell fahren. Nicht in der Innenstadt und schon gar nicht, wenn ich auf dem Rücksitz bin.

»Mama?«, frage ich. Meine Stimme klingt seltsam. Fast so, als wäre ich noch ein kleines Kind. »Mama, ist alles okay?«

Ich sehe den blonden Haarschopf meiner Mutter auf dem Fahrersitz, aber sie dreht sich nicht zu mir um. Also versuche ich es noch mal, viel lauter diesmal: »MAMA

Da dämmert es mir.

Wenn meine Mutter das Auto fährt, muss das hier ein Traum sein.

Es ist einer dieser Träume. Scheiße.

Ein kleiner Teil meines Gehirns ist jetzt wach. Verzweifelt versucht er, mich aus diesem Albtraum aufzuwecken. Mit nackten Backen auf dem Bitch Seat? Ich hätte es wissen müssen.

Ich rufe weiter: »MAMA

Mein waches Ich mahnt: »Sei vorsichtig, Mia. Lenk sie nicht ab, du weißt, was dann passiert!«

Aber ich höre nicht auf diese warnende Stimme. Ich schreie wie am Spieß. Und auf einmal passiert, was mein waches Ich schon vorher wusste: Mamas blonde, fransige Bob-Frisur wird von einem Windhauch ergriffen. Diese Frisur, die in meiner Erinnerung zum Inbegriff meiner Mutter geworden ist. Sie trug sie in unserem Sommerurlaub 2006, als Papa eine neue Kamera hatte und Fotos schoss wie ein Besessener.

Mamas Kopf dreht sich zur Seite.

Ab hier gibt es zwei Varianten für das Ende dieses Traums, den ich immer wieder träume, seit ich elf Jahre alt bin. Eine schlimme und eine nicht ganz so schlimme. Ich hoffe inständig, dass es die Letztere ist.

Mama wendet mir endlich ihr Gesicht zu. Sie ist schön. Wunderschön. So schön, wie bloß Menschen sind, die wir nur noch in Träumen sehen können.

Gott sei Dank! Es ist nicht die schlimme Version. Wie könnte es die schlimme sein, wenn Mamas Gesicht so wunderschön ist?

»Was ist denn los, Mia-Lotta?«

Mia-Lotta. Ein Name, der so schön klingt, weil ich auch ihn nur noch im Traum höre.

Ich lächle, als ich in das freundliche Gesicht meiner Mutter schaue. Doch dann gleitet ihr Blick an mir herunter und sie schreit. Sie schreit so sehr, dass die Scheiben der Autotüren springen.

»Mein Kind, mein Baby, meine Mia-Lotta«, schreit sie.

Der träumende Teil meines Gehirns versteht nicht, wieso sie so außer sich ist. Wieso schaut sie nicht auf die Straße?

Doch der wache Teil weiß Bescheid. Er meldet sich zu Wort und erinnert mich: »Du träumst, Mia. Mia, wach auf.«

Eine von Mamas Händen greift nach hinten. Sie tastet nach mir, hat jetzt keine Hand mehr am Lenkrad.

»Mama, die Straße!«

»Mein Kind, mein Baby, meine Mia-Lotta.«

»Mama! Mama, die Straße!«

Mamas Hände betasten meinen Schoß und kurz darauf sind sie voller Blut.

»Mama?«, frage ich, ganz überrascht darüber, wo all dieses Blut herkommt.

Ich schaue an mir herab und sehe, dass der gesamte Fahrzeugboden mit roter Flüssigkeit bedeckt ist, die unaufhaltsam aus meinem Unterleib hinauszufließen scheint.

Dachte ich wirklich, das sei die harmlose Variante des Traums? Ich habe mich geirrt, WOW! Und wie ich mich geirrt habe.

»Es tut mir leid, Mama«, sage ich.

»Mia-Lotta, tut dir etwas weh?«, fragt sie.

Ich runzele kritisch die Stirn. »Nein! Mama, ich bin’s! Du weißt doch, mir tut nie etwas weh!«

Das beruhigt meine Mama. Sie lächelt mich an.

In diesem Moment donnert unser Wagen frontal gegen ein Hindernis und mein Traum zerbirst mitsamt dem Auto in einem Kegel aus Licht, Farben und dem Weckerklingeln.

Prolog

Jake

Mir tut die Brust weh.

Das Ziehen beginnt oberhalb meiner Achseln und erstreckt sich über die Länge des Schlüsselbeins bis in den Pectoralis major.

Gestern hab ich zum ersten Mal hundertzehn Kilo gedrückt. Fucking hundertzehn Kilo.

Von draußen höre ich, wie ein Auto in die Garage fährt. Nicht irgendein Auto. Sein Auto. Das tiefe, bedrohliche Brummen des Mercedes-Maybach G650.

Ich muss schlafen. Erholung ist wichtig. Es gibt nichts Besseres als Schlaf, um sich zu regenerieren, und Regeneration ist essenziell, um sich noch weiter zu steigern, sagt Robby.

Früher habe ich den Mercedes-Maybach G650 für den dopesten Shit gehalten. Aber dann musste er sich ja unbedingt einen kaufen – natürlich! Jetzt hat mein Kopf angefangen, den Sound des V12-Motors mit seiner Anwesenheit zu verknüpfen. Seitdem hasse ich dieses Auto.

Einhundertzehn Kilo hab ich gedrückt, einhundertzehn Kilo. Ich forme meinen Mund zu einem O und atme tief ein und aus, imitiere die Atmung, mit der ich mich im Fitnessstudio vorbereite, wenn ich einen neuen Rekord aufstellen will.

Aber ich kann nicht verhindern, dass das Versiegen des Motorengeräusches etwas in mir auslöst. Panik. In meinem Kopf herrscht … Panik. Er ist da.

Ich lege meinen Arm quer über die nackte Brust, um meinen Muskel ein wenig zu stretchen. Rede mir ein, dass ich nur wegen meines Muskelkaters nicht einschlafen kann. Muskelkater, das ist alles. Was dagegen hilft, sind Schlaf und Regeneration.

Ich muss stärker werden. Muss mich steigern. Für den Fall, dass die 630 PS eines Abends die Einfahrt hinauffahren und ich das Piepen des automatisch schließenden Garagentors, die darauf folgenden Schreie im Erdgeschoss höre. Und dass dann – an diesem Abend – doch mal etwas passiert. Etwas, das schlimmer ist als ein blauer Fleck an einem Arm, der zu fest gepackt wurde.

Einatmen … ausatmen …

Ich habe den unstillbaren Drang, auf die Uhr zu gucken. Wenn ich schon keinen Schlaf bekomme, dann will ich wenigstens wissen, wie viel mir tatsächlich entgeht. Ich brauche diesen Moment des Zorns und der Enttäuschung, in dem mir klar wird, wie zerschlagen ich mich morgen fühlen werde. Bin ich zwei Stunden im Minus? Drei? Fünf? Oder nur fünfzehn Minuten?

Bevor ich nach meinem Handy greifen kann, geht das Schreien los.

Am Anfang ist es kaum mehr als ein dumpfes, lärmendes Geräusch. Dann wechseln sich ihre Stimmen in unterschiedlichen Oktaven ab. Mal tiefes Brummen. Mal hohes, hysterisches Keifen.

Sie brauchen wie gewöhnlich drei bis vier Minuten, um sich warm zu schreien. Drei bis vier Minuten, bis ich die Worte deutlich verstehen kann, die sie sich gegenseitig an den Kopf werfen. Wie ein alter Traktor tuckern die beiden langsam los, ehe sie so richtig in Fahrt kommen. Von null auf hundert in unter fünf Minuten. Eine zwanzig Jahre alte Ehe ist kein Mercedes-Maybach. Diese hier zumindest nicht. Die Ehe meiner Eltern ist ein Totalschaden.

Manchmal streiten sie sich jede Nacht, manchmal ist einen ganzen Monat lang Ruhe. Das ist die schlimmste Zeit: wenn nichts passiert und wir uns schon in der Hoffnung wiegen, das Sturmtief verlassen zu haben. Bisher war jede Streitpause allerdings nur wie die Stille zwischen Blitz und Donner. Das Unwetter ist nie richtig weitergezogen. Wenn ich in den letzten zwei Jahren eines gelernt habe, dann, dass es immer wieder zurückkommt. Dieser Sturm zieht nicht einfach so ab.

Ich kann den Streit der beiden fast schon synchron mitsprechen. Es fängt an mit einem »Wo kommst du so spät her?«, »Wo hast du dich herumgetrieben?« oder geht direkt in medias res mit einem »Wo hast du dich dieses Mal zulaufen lassen?«, begleitet von den Vorwürfen, dass Dad wieder einmal betrunken Auto gefahren ist.

Dad kontert mit Abstreitversuchen, Anschuldigungen und Ausreden. Die drei großen A in unserem Haus.

Und dann geht es meist erst richtig los. Früher hat Mom noch versucht, ihm nachzuweisen, dass er log. Sie hat es darauf angelegt, einen Rausch, eine Affäre oder eine Unwahrheit aufzudecken, indem sie aus Rechnungen, Handynachrichten und belauschten Telefonaten zitiert hat. Doch seit etwa zwei Jahren verschleiert mein Vater gar nichts mehr. Er trinkt, er vögelt andere Frauen, er macht einfach, was er will.

Wenn Tageslicht durch die viel zu großen Glasfronten unseres viel zu großen Hauses fällt, gehört es zu den Aufgaben meiner Mom, so zu tun, als wäre nichts. Sie überschminkt aufgequollene Augen und trägt breite Armreife an den Handgelenken, an denen er sie in der Nacht zuvor wieder einmal zu grob gepackt hat.

Und ich? Ich sehe weg.

Ich verschränke die Arme hinter dem Kopf und versuche mich auf meinen neuen Rekord zu konzentrieren. »Jake«, sage ich mir, »du hast gestern verdammte einhundertzehn Kilo gedrückt.«

»MIR GEHT ES NICHT DARUM, WAS DAS AUTO GEKOSTET HAT! DU BRINGST DICH UM, JACOB, DU BRINGST DICH UM MIT DIESER SAUFEREI

Als ich meinen Namen – seinen Namen! – in Moms verzweifeltem Kreischen höre, drehe ich meinen Arm so weit zur Seite, dass meine Brust maximal überdehnt wird. Es schmerzt höllisch. Aber es ist die gute Art Schmerz – die, die mich von all dem Geschrei ablenkt.

Einhundertzehn Kilo, Jake, du hast einhundertzehn Kilo ge …

Mit einem leisen Quietschen öffnet sich die Tür meines Zimmers und ein schmaler Streifen orangegelben Lichts fällt bis vor mein Bett.

»Jake? Bist du wach?« Franky steht in der geöffneten Tür. Seine dürren Beine in den Pyjamashorts sind eng zusammengepresst.

»Yo, Buddy.« Ich bemühe mich um einen heiteren Tonfall, so als wollte ich sagen: »Yo, Buddy, klar bin ich wach. Aber nur rein zufällig, es hat nichts mit dem Geschrei über den drohenden Tod unseres Vaters durch zu viel Single Malt am Steuer zu tun.«

»Ich weiß, ich bin viel zu alt für so einen Kinderkram, aber darf ich bei dir pennen?«

»Klar, Mann.«

Es ist seltsam, dass er sich als zu alt empfindet, um bei mir im Bett zu schlafen. Für mich ist er immer noch der Kleine. Ich bin achtzehn und Franky ist elf. Vermutlich fällt ihm erst in ein paar Jahren auf, wie jung er tatsächlich noch war, als er so hochgestochene Sachen wie »Ich bin viel zu alt dafür« sagte. Doch mir ist schon jetzt klar, dass mein Bruder keinesfalls zu alt ist, um in einer Nacht wie dieser bei mir Unterschlupf zu suchen. Wenn ich heute bei jemandem, der älter und größer ist als ich, unter die Bettdecke kriechen könnte, dann würde ich es sofort tun.

Also rücke ich an die Wand und hebe meine Decke. Franky huscht so schnell darunter, als wäre er mitten in einen Regenschauer gekommen und hätte nun endlich einen Unterstand gefunden. Aber gewissermaßen ist ihm ja genau das widerfahren. Der Sturm im Hause Macintosh macht vor niemandem halt. Er macht auch elfjährige Jungs nass.

Zwischen Franky und mir herrscht ein unausgesprochenes Einverständnis. Wir werden niemandem sagen, dass wir manchmal zusammen in einem Bett schlafen, genauso wie ich niemandem erzählen werde, dass ich ihm manchmal beim Wechseln der Laken helfen muss, wenn ihm in der Nacht ein Missgeschick passiert ist. Ebenso einig sind wir uns darin, dass wir garantiert nicht über den Grund dahinter sprechen. Wir tun so, als könnten wir das Gewitter im Erdgeschoss nicht hören, legen uns auf den Rücken, verschränken die Arme und starren an die Decke.

Dann erzähle ich ihm: »Ey, Franky, weißt du was? Ich habe gestern hundertzehn Kilo gedrückt.«

»Nee, hast du nicht!«

»Doch, ich schwör’s dir.«

»You are fucking with me!«, sagt er, weil manche Redewendungen in unserer Muttersprache leichter sind.

»Watch your language, Bro«, imitiere ich Moms strengen Tonfall.

Franky kichert und der Klang seiner lachenden Jungenstimme gibt mir zum ersten Mal in dieser Nacht Hoffnung, dass ich doch noch schlafen werde.

01 Mia

Es ist 06:57 Uhr. Wie jeden Morgen.

Ich habe mal gelesen, dass es besser sei, den Wecker auf eine ungerade Uhrzeit zu stellen, weil der Körper dann besser aus dem Tiefschlaf erwacht. Aber wahrscheinlich hat das eh nur eines dieser Fun-Fact-Profile erfunden, auf deren Fotos mich meine beste Freundin Hatice immer taggt. Hati fällt gerne auf so etwas rein.

Aber nach einem Traum wie dem von heute Nacht bin ich froh, wach zu sein. Egal ob zu einer geraden oder ungeraden Uhrzeit. Jeder andere würde nach diesem Albtraum wahrscheinlich ins Kissen schreien und das Laken mit tausend Tränen fluten. Doch ich weine schon lange nicht mehr. Natürlich nicht – ich bin einfach der totale Gefühlskrüppel.

Bevor mich die Kraft meiner eigenen Gefühllosigkeit zerquetschen kann, ertönt zum zweiten Mal an diesem Morgen mein nerviger Wecker. Was habe ich mir nur dabei gedacht, ausgerechnet einen Taylor Swift Song als Alarm einzustellen? In Kombination mit der absoluten Dunkelheit, die in meinem Zimmer herrscht, erzeugt Taylor ein Horrorszenario der ganz besonderen Sorte. Ich kann ihre Musik überhaupt nicht ausstehen! Aber das ist natürlich genau der Grund, wieso ich ihr die Ehre zuteilte, mich aufzuwecken. Ich will mir ja keinen wirklich guten Song damit versauen, dass mein Gehirn ihn mit »Achtung! Aufstehen!« assoziiert.

Ich muss in genau neununddreißig Minuten im Bio-Kursraum des Anne-Frank-Gymnasiums sitzen. Dass ich nur so wenig Zeit habe, um mich fertig zu machen, ist für mich längst kein Problem mehr. Ich muss mich schon seit der fünften Klasse selbst wecken und habe mich nie darauf verlassen können, dass mir morgens jemand in den Hintern tritt oder mir eine Brotdose einpackt. Nach sechs Jahren immer gleicher Morgenroutine habe ich also ein ziemlich ausgeklügeltes Zeitmanagement entwickelt.

Ich knipse die Lichterkette an, die sich um das Kopfteil meines Bettes und über die Wand dahinter schlängelt. Mit einem Mal wird mein kleines Zimmer erleuchtet von Dutzenden Lichtflecken, die dreieckige Kegel an die mit Postern beklebte Wand werfen.

Wo andere Menschen vielleicht ein Vision Board aufgehängt haben – wie meine Freundin Hati, die über ihrem Bett tiefschürfende Botschaften an ihre Seele notiert und ihre Lebensträume in Form von Zeitungsausschnitten und Fotos visualisiert –, hängen bei mir Bilder von Bands und Sängern, die meine unaussprechlichen Gedanken in Musik fassen.

Ich liebe es, mich morgens nach dem Aufstehen nach meiner bunten Wirrwarrwand umzudrehen und einen Blick auf den Mann zu werfen, der genau in der Mitte hängt und mich verschmitzt angrinst: Mark Hoppus, Bassist von blink-182, aufgenommen irgendwann im Jahr 2004. Das Poster zeigt ihn auf der Bühne, mitten in einem Sprung. Er hat die Beine in den Skatersocken eng angezogen und auf seinem Kopf steht die süßeste Frisur der Welt zu Berge. Dieses Poster ist wahrscheinlich der Grund, wieso ich im aktuellen Jahrzehnt in der realen Welt und vor allem in meinem Bekanntenkreis niemals einen Freund finden werde. Ich bin zu verknallt in das Foto eines Mannes, der nur ein Jahr später geboren wurde als mein Vater und den kaum einer meiner Altersgenossen überhaupt kennt. Mal im Ernst: Die meisten dieser Musikbanausen haben noch nicht einmal von blink-182 gehört. Dabei sind sie für mich die beste Band aller Zeiten – für mich und für meine Mutter, die mir ihre Musik schon vorgespielt hat, als ich noch klein und sie noch da war.

Nun ja … vielleicht bin ich aber auch einfach zu gefühlskalt, um mich im echten Leben überhaupt in irgendwen verlieben zu können.

Mein Vater würde sich wünschen, dass ich mir Bilder von gleichaltrigen Jungs aufhänge. Aber Papa findet auch, dass ich die drei übrigen Wände in meinem Zimmer nicht hätte grau streichen sollen, dass ich doch häufiger mal etwas Buntes tragen sollte und dass Sunrise Avenue eine richtige Band seien – egal, wie häufig ich ihm sage, dass Sänger von richtigen Bands niemals Juroren in Castingshows werden.

Ich klettere aus dem Bett und lande mit meinen Füßen in einem weichen Teppich aus getragenen Klamotten. Papa würde es übrigens auch begrüßen, wenn der Kleiderberg in meinem Zimmer etwas dezenter ausfallen würde. Dieser Kleiderberg, das Kleidergebirge trifft es wohl besser, erstreckt sich fast über den ganzen Boden und erreicht am höchsten Gipfel eine prächtige Größe von gut einem halben Meter. Mutig besteige ich meinen persönlichen Mount Waschmore und klaube mir ein Outfit heraus.

Nur wenige Minuten später stehe ich fertig angezogen im Badezimmer und bemerke bei einem kurzen Blick in den Spiegel, dass mein zufällig vor der Schmutzwäsche gerettetes Outfit gar nicht so übel aussieht. Der Spiegel in unserem Bad ist lächerlich groß und nimmt eine ganze Wand ein. Laut Papa ist das unbedingt notwendig, um sich aus allen Winkeln darin mustern zu können. Aber streng genommen führt es nur dazu, dass man selbst dann noch sein eigenes Abbild sehen kann, wenn man duscht oder auf der Toilette sitzt. Papa hat dieses Monstrum angebracht, um seine körperlichen Fortschritte zu begutachten. Dafür hat er ihn sogar mit einer vorteilhaften Beleuchtung ausgestattet. Mein Vater ist Bodybuilder und was soll ich sagen? Das ist genauso peinlich, wie es sich anhört.

An meinem Körper gibt es keine Muskelberge zu bewundern. Das grell von oben herabscheinende Licht strahlt bei mir heute nur einen riesigen Pickel an, der über Nacht auf meiner Stirn gewachsen ist. Er ist derart angeschwollen, dass er sich gut als Besetzung von Gregor Clegane alias Der Berg in Game of Thrones machen würde.

Er sitzt so zentral über meinen Augen, dass ich vermute, mein Hormonhaushalt hat mit Geodreieck und Zirkel exakt den Mittelpunkt meiner Stirn ermittelt, um das ekelhafteste Furunkel aller Zeiten besonders auffällig platzieren zu können.

Das Ding muss weg.

Ich gehe näher an den Spiegel, setze die unregelmäßig langen, schwarz lackierten Nägel meiner Zeigefinger neben den Pickel und drücke an meiner Stirn herum. Nichts passiert. Außer dass Der Berg jetzt auch noch glühend rot leuchtet. Ich drücke fester.

»Du weißt, dass du mit deinen Nägeln vorsichtig sein musst, Mia«, hallt die Stimme in meinem Kopf, die ich vor wenigen Minuten noch in meinem Traum gehört habe. »Du verletzt dich sonst!«

Du verletzt dich sonst. Einen Euro für jedes Mal, dass ich diesen Satz gehört habe, und ich könnte es mir leisten, blink-182 für einen Auftritt an meinem achtzehnten Geburtstag zu buchen.

Die Stimme in meinem Schädel macht mich wütend. Was dazu führt, dass ich die schwarzen Kanten meiner Nägel so tief in meine Stirn grabe, bis eine feine Linie Blut aus der Haut heraustritt. Der Pickel bleibt unverändert scheußlich, wird jetzt jedoch zusätzlich verunstaltet von dem blutigen Schnitt, dem Abdruck meiner Nägel und dem hässlichen, reuevollen Ausdruck in meinen braunen Augen. Der Berg: 1. Mia: 0.

Von meinen neununddreißig Minuten muss ich nun wertvolle Sekunden abzwacken, um die Blutung auf meiner Stirn zu stoppen und das Desaster mit Make-up zu vertuschen. Routiniert mache ich mich ans Werk, hole einen Wattebausch, beträufele ihn mit Jod und Desinfektionsmittel und drücke die Tinktur, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen die Verletzung. Eine Verletzung, die ich mir – Gott verdammt – beim Pickelausdrücken zugefügt habe! Fingernägel kurz schneiden, notiere ich mir auf meiner inneren Merkliste für Dinge, die ich in Zukunft besser beherzigen muss.

Das Bluten hört schnell auf. Ein Kratzer dieser Art am Arm oder so hätte wahrscheinlich nach einem Pflaster verlangt, aber der Kriegsschauplatz in meinem Gesicht ist schnell in Ordnung gebracht. Bekloppt sehe ich trotzdem aus, als ich mich kurze Zeit später mit Concealer zukleistere. Ich benutze im Normalfall nie einen Abdeckstift und bin daher nicht besonders gut darin, die sandfarbene Pampe aufzutragen. Resigniert fahre ich stattdessen mit dem Teil des Make-ups fort, der zu meinem Markenzeichen geworden ist: schwarzer Lidschatten, den ich mit den Fingern so verschmiere, dass es aussieht, als hätte ich ihn bereits gestern aufgetragen und über Nacht nicht weggemacht. Dazu ein bisschen Wimperntusche. Nicht zu viel. Meine Freundin Hati trägt jeden Morgen vier Schichten Wimperntusche auf und sieht damit aus wie die Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht. Wenn ich meine übernatürlich großen Augen zu heftig tusche, gleiche ich eher einem dauererschrockenen Reh.

Um 07:21 Uhr schließe ich die Wohnungstür hinter mir zu und schlüpfe in meine Sneakers. Ganz vorsichtig, da meine Vans eh schon an mehreren Stellen eingerissen sind. Ich würde Papa ja bitten, mir Geld für ein neues Paar dazuzuschießen, aber dann sagt er bestimmt, dass die Schuhe nicht so schnell kaputtgingen, wenn ich sie wie ein normaler Mensch schnüren würde, statt faul reinzuschlüpfen. Schnüren wie ein normaler Mensch. Welcher normale Mensch schnürt sich jedes Mal die Schuhe?

Wie jeden Morgen gehe ich die außen gelegene Wendeltreppe runter, die unsere Wohnung mit den Studioräumlichkeiten verbindet.

Das Fitnessstudio, dessen Eigentümer mein Vater ist, befindet sich in einem rot geklinkerten alten Lagergebäude mit sechs Meter hohen Decken, vergitterten, bodentiefen Fensterscheiben, unverputztem Backstein und frei liegenden Rohrleitungen. Mit dieser Architektur könnte Papas Kraftschmiede ein wahrer Fitness-Hipster-Tempel sein. Doch mein Vater hat nicht sehr viel Verständnis für solche Modeerscheinungen. Die Kraftschmiede sah schon so aus, bevor man Fitnessstudios absichtlich einrichtete wie rustikale Fabrikhallen, in denen die Gewichte wie zufällig zwischen Hightech-Laufbändern und Bizeps-Maschinen herumliegen. Die Trainingsgeräte in der Kraftschmiede sind dagegen alle ein wenig überholt – aber noch in einwandfreiem Zustand, wie Papa immer betont –, die sanitären Anlagen haben schon mal bessere Zeiten erlebt und die Musikanlage gibt etwa einmal im Monat den Geist auf.

Aber in den letzten zehn Jahren hat Papa dennoch einen treuen Kundenstamm aufbauen können. Gerade weil es in der Kraftschmiede so anders ist als in anderen Fitnessstudios. Papa ist nie irgendeinem neumodischen Konzept oder einer Trendsportart nachgejagt. Auf Spinningkurse oder Bauch-Beine-Po-Programme reagiert er geradezu allergisch. Die alte Lagerhalle ist primär ein Ort, an dem Männer ihre Muskeln stählen.

Auch wenn ich meinen Vater wirklich in allem unterstütze, wundere ich mich schon manchmal, wieso die Gen-Lotterie ausgerechnet uns beide zu Verwandten ersten Grades auserkoren hat. Wenn er mit Maßband und Körperfettwaage vor dem Spiegel im Badezimmer steht und seinen massigen Körper in seine anatomischen Einzelteile zerlegt, dann frage ich mich, ob mein Apfel echt von diesem Stamm gefallen ist. Ich habe für Muskelkult und Kraftsport in etwa so viel übrig wie für den Song, den mein Wecker jeden Tag spielt. Früher bin ich mal ganz gerne laufen gegangen, aber seit mir klar geworden ist, wie gefährlich es sein kann, wenn ein Trottel wie ich durch die freie Wildbahn joggt, mache ich das nicht mehr. Es ist zu riskant.

Ich betrete die Kraftschmiede durch den Hintereingang. Das sanfte Klatschen meiner Gummisohlen hallt durch das fast leere Studio. So früh sind nur wenige Stammsportler hier und ich kenne sie alle mit Namen. Und sie alle kennen mich.

»Morgen, Mia!«, begrüßt mich Fred. Mit seinem winzigen Trägerhemdchen und seinen riesigen Pumphosen ist er ein Bodybuilder wie aus dem Bilderbuch und er ist tagein, tagaus der Erste im Studio.

»Guten Morgen, Mia«, höre ich Ginas Stimme. Sie ist die gute Seele der Kraftschmiede und arbeitet für meinen Vater, solange ich denken kann. Gina Arena ist nicht nur seine Thekenkraft und Buchhalterin, sondern auch seit jeher eine Freundin der Familie und die Mutter meines besten Freundes Luca. Ihre kurvige Figur, die hochgesteckten braunen Locken und ihr italienischer Charme bilden einen schönen Kontrast zum restlichen Publikum der Kraftschmiede. Ohne Gina würde der Schuppen vor lauter Testosteron wahrscheinlich überkochen.

Und das Wichtigste: Sie und Papa haben etwas miteinander. Sie wissen nicht, dass ich das weiß, aber sie wissen auch, dass ich nicht dumm bin. Ich habe die beiden nie miteinander erwischt – Gott sei Dank nicht! Aber ich weiß es eben, weil man manche Dinge im Leben einfach weiß. Dass echte Musiker nicht Juror bei einer Castingshow werden, zum Beispiel.

»Dein Vater ist da vorn.« Sie nickt zu dem Bereich, in dem man Bankdrücken machen kann, und ich sehe, dass Papa die morgendliche Leere für seine eigene Trainingseinheit nutzt.

»Ist gut«, murre ich.

»Was ist mit deiner Stirn passiert?«, fragt mich Gina. In ihrer Stimme liegt eine Besorgnis, die für einen aufgekratzten Pickel mehr als übertrieben ist. Was daran liegen könnte, dass ich es beim Aufkratzen des Pickels tatsächlich maßlos übertrieben habe. Und daran, dass Gina weiß, dass ich unvorsichtig bin. Oder besser gesagt: dass ich ich bin.

»Nichts. Alles okay.«

»Weiß dein Vater Bescheid?«

»Worüber? Dass ich einen Pickel von der Größe einer karibischen Urlaubsinsel habe, den ich versucht habe auszudrücken, so wie jeder andere gottverdammte Teenager es getan hätte?« Ich weiß, dass es nicht fair ist, meinen Frust an Gina auszulassen. Deswegen schiebe ich schnell hinterher: »Sorry, war nicht so gemeint.«

Sie lächelt mich freundlich an. »Weiß ich doch, Principessa.«

»Ich muss mich beeilen«, bemerke ich dann mit einem Blick auf die Uhr, die über der Theke hinter Gina hängt. »Sag Papa, dass ich schon weg bin.«

»Alles klar, bis heute Abend, Mia.« Schon seit vielen Jahren gehen wir jeden Freitagabend zu den Arenas zum Abendessen. Es ist der einzige Tag der Woche, an dem mein Vater alle fünfe gerade sein lässt und seinen Ernährungsplan über Bord wirft. Im Hause Arena zählen keine Kalorien. Was auch besser ist, denn ich fürchte, ich kenne gar nicht so hohe Zahlen, die ich für die Kalkulation von Ginas öltriefenden Gerichten benötigen würde. Meistens gibt es käseüberbackene Pasta mit cremigen Saucen und zum Nachtisch geschichtete Desserts mit Sahne und Mandelkeksen.

»Okay«, sage ich und winke ihr versöhnlich zu.

»Es gibt Pasta!«

Ich bin schon halb durch das Industrie-Rolltor verschwunden, das wir im Sommer als Ein- und Ausgang zum Studio nutzen, da donnert Papas tiefe Stimme durch die Halle.

»Fräulein!«

Och nee! Outfit-Predigt in drei … zwei … eins …

»Du könntest es wenigstens so aussehen lassen, als würdest du eine Hose tragen!« Papa nähert sich mit federnden Schritten, von oben bis unten verschwitzt, die Brustmuskeln aufgepumpt.

»Dasselbe könnte ich über dein Hemdchen sagen!«, spotte ich und zeige auf sein rosafarbenes Trägershirt, das weiß war, bevor er es mit einer roten Unterhose von mir gewaschen hat. Es ist so schlabberig und weit ausgeschnitten, dass Papas Brustwarzen blankliegen.

»Free the nippels!«, skandiere ich und boxe mit der Faust in die Luft. Papa wirft Gina einen Blick zu, mit dem er ihre Unterstützung einfordert. Doch Gina zuckt nur die Schultern.

»Wieso musste ausgerechnet ICH eine so schlagfertige Tochter abbekommen?«, fragt er dann und reibt sich mit den Handflächen über den glatt rasierten Schädel.

»Jeder bekommt, was er verdient«, erinnere ich ihn.

»Ach ja? Dann bekommst du eine Blasenentzündung«, meckert mein Vater und kann sich ein Lächeln über seinen superschlauen Spruch nicht verkneifen. Was die Schlagfertigkeit angeht, ist der Mia-Apfel vielleicht doch nicht so weit vom Stamm gefallen.

Ich verdrehe die Augen und hebe dann resignierend den Saum meines übergroßen Vintage-Bandshirts von The Cure an, das früher meiner Mutter gehört hat. Meinen Vater scheint die Tatsache, dass ich darunter nicht bloß die schwarzen Strumpfhosen, sondern auch ausgefranste schwarze Jeansshorts trage, nicht wirklich zu beruhigen.

»So. Hat mich gefreut, die Sittenpolizei zu treffen, aber ich muss jetzt echt los.«

Papa beugt sich zu mir runter und deutet mit einem Zeigefinger an seine verschwitzte Wange. Ich verdrehe noch einmal die Augen, drücke ihm dann aber doch einen Schmatzer auf die gewünschte Stelle.

»Du bist zu spät«, zischt Hati, als sie mich am Eingang vor dem Biologieraum abfängt. Sie starrt mich aus ihren dunklen, mysteriösen Augen mit vier Lagen Mascara und einem erschreckend akkuraten Lidstrich an. Da ich es heute Morgen nicht mal hinbekommen habe, mir einen Pickel auszudrücken, ohne dabei fast meinen Schädel zu spalten, will ich gar nicht wissen, was passiert, wenn ich versuchen würde, mir mit Pinsel und Tinte die Augen zu bemalen.

Hatice ist meine beste Freundin, seit ich denken kann. Wir sind schon zusammen in die erste Klasse gegangen und so dicke befreundet, dass ich manchmal nicht weiß, wo ich aufhöre und sie anfängt.

»Wieso bist du so spät?«, fragt sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Auch die sind formvollendet geschminkt. Hati sieht sich neuerdings Make-up-Tutorials auf YouTube an und seitdem malt sie ihre schwarzen, perfekt geschwungenen Brauen noch schwärzer und noch geschwungener nach.

»Ich musste meinem Vater schwören, dass ich mir in diesem Outfit keine Blasenentzündung einfangen werde.«

»Hä?«

Hati ist die lustigste Person, die ich kenne – manchmal wissentlich, aber auch ziemlich oft unfreiwillig. Denn obwohl sie clever ist, hat sie eine gewaltige Schwäche, was Redewendungen, Scherze und Ironie betrifft. Sie kapiert es manchmal einfach nicht.

»Ah, nicht so wichtig, lass uns reingehen.«

»Nach Bio haben wir Englisch«, erinnert sie mich.

»Jap«, murre ich und weiß schon, worauf sie hinauswill. Innerlich verdrehe ich die Augen und mache mich auf meine tägliche Dosis Hati-Gefühlsduselei gefasst.

»Sehe ich gut genug aus?«

»Du siehst fantastisch aus.«

»Ist der Rock too much?«

»Nein, der Rock ist okay.«

»Okay ist nicht gut genug, Mia.«

»Na, dann ist der Rock eben perfekt! Kurz genug, um Dominik deine wunderbar gebräunten Beine zu präsentieren, lang genug, um keine Blasenentzündung zu riskieren. Und jetzt los, lass uns reingehen.« Ich schubse sie vor mir in den Bioraum, wo unsere LK-Lehrerin schon mit der nächsten Einheit zum Thema Genetik auf uns wartet.

»Ich verstehe diesen Genetikkram eh nicht. Bio ist nur Zeitverschwendung vor Englisch.«

»Zeitverschwendung heißt in deinem Fall, dass du dich zweihundertachtzig Mal im Handspiegel bewundern wirst, um deinen Lippenstift zu checken.«

Hati sieht mich böse an, knickt dann aber ein und bestätigt: »Wahrscheinlich. Vielleicht mach ich aber auch ein bisschen auf Dreizehnjährige und übe meine Unterschrift mit Dominiks Nachnamen.«

Frau Waterstreit, unsere Lehrerin, hat bereits die Zeichnung eines DNA-Strangs an die Wand projiziert und klatscht nun in die Hände, um uns zum Schweigen zu bringen. Das Gerede wird sofort durch einen Klangteppich aus Stuhlgerutsche, Flüsterstimmen und dem Klackern von Fingernägeln auf Smartphone-Screens ersetzt.

»Hatice Günther klingt schon ziemlich fantastisch«, lobe ich leise lachend. Ihr türkischer Vorname harmoniert einfach erstklassig mit dem urdeutschen Namen Günther.

»Hatice Günther«, sie schaut verträumt in Richtung Decke. »Das ist doch gelebte Integration, oder?«

Ich schmunzele und sehe ihr dabei zu, wie sie einen Kugelschreiber aus ihrem Mäppchen zückt und tatsächlich anfängt, die Buchstaben ihres zukünftigen Namens auf ihren Collegeblock zu kritzeln. Derweil setzt unsere Biolehrerin die Einheit über menschliches Erbgut fort.

Es kommt mir surreal vor, dass überall in unserem Körper Gene sind. Unsere Haut: Gene. Unser Herz: Gene. Unser Gehirn: Gene. Und sie alle enthalten Informationen, die der Körper zum Funktionieren braucht.

Frau Waterstreit erklärt uns schon seit einigen Wochen, dass sich der gesamte Organismus aus Zellen zusammensetzt und dass in jedem Zellkern unsere gesamte Erbinformation enthalten ist. Und dass die Zellen, die unser Gehirn formen, auch die Infos enthalten, die eigentlich dazu da sind, das Herz zum Schlagen zu bringen. Der Körper ist also wie ein einziges großes Netz. Alles interagiert. Alles ist verbunden. Jede Zelle kennt die andere, weil sie gewissermaßen alle Zwillinge sind. Und wenn ich Zwillinge sage, meine ich natürlich Hundertbillionlinge, denn in etwa so viele Zellen hat der menschliche Körper.

Ich bin von der Thematik fasziniert und verstehe alles, was Frau Waterstreit erklärt. Aber gleichzeitig will sich ein kleiner Schalter in meinem Hirn einfach nicht umlegen. Ein Teil von mir kann nicht akzeptieren, was sie sagt. Wenn in wirklich jeder Zelle meines Körpers jede Information gespeichert ist, die mich, Mia, zu dem macht, was ich bin – wie soll sich dann jemals etwas verändern? Wenn das, was man sprichwörtlich »in den Genen trägt«, wirklich an jedem noch so kleinen Quadratmillimeterchen klebt – dann bin ich verflucht, auf ewig so zu bleiben, wie ich bin. Ich kann mir ja schlecht meine Zellen amputieren lassen.

Eigentlich weiß ich das alles schon lange. Ich bin mit dem Mantra groß geworden, dass die Krankheit, an der ich leide, bleiben wird. Trotzdem tue ich immer so, als wäre mir das egal. Aber als ich jetzt an die hundert Billionen Zellen meines Körpers denke, die alle ganz genau wissen, wie es um mich bestellt ist, da frage ich mich doch, wieso sie an diesem einen Abend vor sechs Jahren nicht mal ein Auge zukneifen konnten. Wieso meine kranken Zellen dafür gesorgt haben, dass alles so verdammt … so verdammt scheiße wurde!

Ich sitze im Biounterricht und balle meine Hände unter meinem Stuhl zu Fäusten. Wieso ist die Sache mit der Genetik nur so verdammt unfair?

Ich bin froh, dass keiner bemerkt, wie ich die Lippen aufeinanderpresse und nervös am Saum meines T-Shirts herumspiele. Das T-Shirt, das ich aus dem Kleiderschrank meiner Mutter retten konnte, ehe Papa all ihre Sachen weggeschafft hat.

»Du bist durchgeknallt!«, urteile ich schlicht, als Hati mir auf dem Weg von Bio zu Englisch die aus ihrem Block herausgerissene Seite unter die Nase hält. Die zukünftige Hatice Günther hat ihren Wunschnamen etwa eine Million Mal in den unterschiedlichsten Handschriften auf das Blatt gekritzelt und erwartet nun allen Ernstes von mir, dass ich die beste Unterschrift heraussuche.

»Nein. Ich bin verliebt!«

»Sag ich ja, durchgeknallt.«

»Nur, weil du ein gefühlloser Eisklotz bist!«

Noch bevor ich darauf reagieren kann, schlägt Hati sich die Hände vor den Mund und ächzt: »Scheiße, Mia, das habe ich nicht so gemeint! Ich meinte natürlich nur die richtigen Gefühle. Also die innen drin.«

»Weiß ich doch«, antworte ich, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es so viel besser ist, dass sie nur meine innere Gefühlswelt für gestört hält. Richtige Gefühle? Was soll das schon heißen? Schmetterlinge und Romantik und der ganze Rotz?

Ja. Was das angeht, bin ich wohl tatsächlich ein gefühlloser Eisklotz.

»Bitte sei nicht sauer!«, fleht Hati mich an. »Ich bin ein Vollidiot. Ein liebestrunkener, hirnloser Vollidiot.«

»Ist schon okay, Frau Günther.«

»Du tust jetzt nur so, als wäre alles wieder gut, aber in Wahrheit überlegst du dir gerade, wie du mich umbringst und es wie einen Unfall aussehen lässt.«

Ich hake mich lachend bei ihr unter, während wir die Treppe in den ersten Stock hochsteigen.

»Ich müsste mir nichts überlegen. Ich würde Herrn Günther verraten, dass du seit der zehnten Klasse hoffnungslos in ihn verschossen bist und nur seinetwegen den Englisch-LK gewählt hast. Wenn dich das nicht umbringt, weiß ich auch nicht.«

Hati bleibt wie vom Donner gerührt mitten auf der letzten Treppenstufe stehen und starrt mich entsetzt an. »Das würdest du nicht!«

Ich rolle mit den Augen, greife nach ihrer Hand und bugsiere sie hinter mir her.

»Natürlich nicht, du Schaf! Es ist gruselig genug, dass du auf jemanden stehst, der bekennender U2-Fan und zehn Jahre älter ist als du.«

Dominik Günther hat letztes Jahr an unserer Schule als Lehrer für Englisch und Politik und Wirtschaft angefangen. An seinem ersten Arbeitstag sind ihm etwa fünfundsiebzig Prozent aller Schülerinnen verfallen und bis heute muss ich darüber den Kopf schütteln, dass ausgerechnet meine beste Freundin dazugehört. Zwar ist es irgendwie aufregend und sexy, wenn eine Siebzehnjährige in Pretty Little Liars eine Affäre mit ihrem Lehrer hat, aber in der echten Welt – einer Welt ohne mysteriöse Geheimbotschaften und wilde Highschool-Partys – sind Schwärmereien für Lehrpersonal eher seltsam.

Doch Hati ist und bleibt eine hoffnungslose Romantikerin. »Ganz ehrlich, Mia. Ich verstehe nicht, wieso du den Musikgeschmack immer zu so einem großen Thema machen musst!«

Als wir vor dem Raum angekommen sind, in dem wir gleich Englisch bei Dominik haben (mein bescheuertes Gehirn hat sich tatsächlich angewöhnt, ihn beim Vornamen zu nennen!), drängen sich ein paar Mitschüler an uns vorbei. Darunter Felix, der mich mit einem erniedrigenden Blick mustert. Von meinem Haar bis zu meinen Strumpfhosen und wieder zurück.

»Wieso siehst du so aus?«, scheint er mich zu fragen. Ich feuere ihm einen Blick entgegen, aus dem er hoffentlich die Antwort ablesen kann: »Darum! Und vor einem Dreivierteljahr hat dich das noch nicht gestört.«

Felix Meier. Ein Typ, so banal wie sein Name und trotzdem der größte Fehler in meinem Leben. Den ich hätte vermeiden können, wenn ich vor einigen Monaten der Regel gefolgt wäre, die ich Hati nun vorpredige: »Der Musikgeschmack verrät dir alles, was du über einen Menschen wissen musst.«

»So?«

»Ja«, beharre ich und starre Felix Meier hinterher. Er ist ein blonder Angeber mit anrasiertem Nacken, der »Alles aus den Charts« für eine Stilrichtung und Kay One für einen respektablen Musiker hält.

»Ich habe einmal den Fehler gemacht, über schlechten Geschmack hinwegzusehen. Das passiert mir kein zweites Mal.« Für einen kurzen Augenblick spüre ich wieder, wie es sich angefühlt hat, mit Felix auf der Silvesterparty von Leo zu knutschen, und mein Magen zieht sich zusammen. »Gott, ich glaub, ich muss kotzen«, grummele ich.

»Hast du wieder an Felix’ Waschlappenzunge gedacht?«

»Leider ja«, würge ich und gebe mir absichtlich nicht die geringste Mühe, unsere Unterhaltung vor dem Rest der Klasse zu verbergen.

Hati setzt sich auf ihren Platz hinten links in der Ecke und schmeißt ihre Umhängetasche darauf. Ich lasse mich neben sie fallen und beobachte argwöhnisch, wie Felix und seine Kumpels anfangen, über mich zu lachen. Ich weiß, dass sie über mich lachen, weil Leo gut hörbar mein »Ich glaub, ich muss kotzen« nachäfft und dabei Felix’ Gesicht mit beiden Händen fasst, es sehr nah an seinen Mund zieht und Schlabbergeräusche imitiert. Sie ernten dafür einige Lacher aus dem gesamten Englisch-LK. Am liebsten würde ich aufstehen und langsam anfangen zu klatschen. Wow, Jungs. Wirklich eine tolle Vorstellung.

»Ich finde U2 wirklich nicht besonders schlimm«, murmelt Hatice.

»Eben!«, brülle ich sie geradezu an. »U2 sind der langweiligste, nichtssagendste, durchschnittlichste Bullshit! Jeder mag U2. Die sind ja so nett und Bono ist so ein Wohltäter und jeder kann auf Kommando »With or without you« singen. U2 haben einfach nichts mit Geschmack zu tun. U2 sind …«

»Jetzt sag bitte nicht Mainstream.«

»Nein! Schlimmer als Mainstream. Es wird immer jemanden geben, der den Mainstream hasst. Aber es wird nie jemanden geben, der so etwas Langweiliges wie U2 hasst. Diese Band zu feiern ist, wie wenn deine Lieblingseissorte Vanille ist.«

»Vanille ist doch okay.« Hati will meinen Punkt nicht verstehen. Aber das ist in Ordnung. Solche Diskussionen führen wir beinahe täglich und es macht mir sogar ein bisschen Spaß, dass wir in vielen Punkten so unterschiedlicher Meinung sind. Sie wird meine Aufopferung für Themen wie Musik nie verstehen. Ich hingegen werde nie ihre Begeisterung für Romane teilen, auf denen oberkörperfreie Typen abgebildet sind, die aussehen, als würden sie sich selbst an den Achseln riechen.

»Aber wer würde freiwillig Vanille nehmen, wenn es noch dreißig andere Sorten gibt.«

»Wir können ja nicht alle auf Punkrock aus den Neunzigern stehen.«

»Zum Glück nicht«, schließe ich. Genau in diesem Moment wirft sich Hati in die Brust, als würde sie dazu ansetzen, beim Finale eines internationalen Sportevents die Hymne zu singen.

Dominik aka Herr Günther hat die Bühne betreten. Er legt seine Tasche aus abgewetztem Leder aufs Pult, zieht sein hippes Flanellhemd aus, hängt es über die Stuhllehne und demonstriert uns dabei, dass er auf dem rechten Oberarm ein Tattoo hat, das unter seinem T-Shirt-Ärmel zum Vorschein kommt.

Hati seufzt leicht.

»Good morning, guys«, sagt er. Auch das soll natürlich beweisen, dass er keiner dieser Dinosaurier-Lehrer ist und wir ganz locker miteinander umgehen können. Er erntet dafür prompt ein Echo von unserem Pausenclown Leo: »Good morning, dude!« Noch bevor er es ausgesprochen hat, sieht er sich schon bei seinen Kumpels nach Applaus um. In Gedanken klatsche ich wieder langsam und zynisch.

So. Witzig. Leo.

»Great, Leo. I assume this means you want to start with your homework. Please read out your essay about immigration in the UK

Hati lacht und wirft mir einen demonstrativen »Guck! Er steht auf unserer Seite!«-Blick zu. Ich lächle entgegenkommend, weil ich Herrn Günthers Reaktion wirklich ziemlich cool finde. Leo hingegen versucht sich mit einem Witz aus der Situation herauszuwinden: »I have a pretty bad Sehnenscheidenentzündung, Mister Günther, and you really don’t want to know how I got it – höhöhö!«

Wieso? Wieso sind Typen in der elften Klasse eigentlich so himmelschreiend bescheuert? Wiesooo?

02 Jake

Die internationale Schule, auf die ich gehe, ist so etwas wie der Rolls-Royce unter den Bildungseinrichtungen. Die meisten Schüler sind Sprösslinge von reichen ausländischen Geschäftsleuten, Auswanderern oder Diplomaten, die ihre Kinder nicht in eine staatliche deutsche Schule stecken wollen. Viele stammen aus japanischen, chinesischen oder koreanischen Familien, einige aus dem europäischen Ausland und manche, wie meine Eltern, aus den Staaten. Die Väter bekleiden meist hohe Posten in der Industrie oder sind Chef ihrer eigenen Firma. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie besitzen Geld. Viel Geld. Ein Schulhalbjahr auf der International School kostet gut und gerne zwanzigtausend Scheine. Oft werden die Schulgebühren von den Firmen bezahlt, in denen die Eltern tätig sind – wahrscheinlich aufgrund eines attraktiven Passus in ihren Arbeitsverträgen: »Komm nach Deutschland und arbeite für uns, dafür schicken wir deinen Nachwuchs auf eine Eliteschule, an deren Toren er jeden Morgen vom Sicherheitspersonal auf Waffen und Drogen überprüft wird.« Und das ist mein Ernst! Das Gelände der Schule ist in etwa so gut gesichert wie Fort Knox oder Guantanamo. Rein kommt nur, wer einen Lichtbildausweis an der Hose oder an einem Schlüsselband um den Hals trägt. Wobei Letzteres ein Fehler ist, der nur neuen Schülern passiert. Nichts sagt deutlicher »Ich will unbedingt gemobbt werden«, als wenn man seinen Ausweis um den Hals trägt.

Ich fahre mit meinem eigenen Auto her und nehme Franky mit, der in die sechste Klasse geht. An unserer Schule macht man einen Doppelabschluss, erst den amerikanischen, dann den deutschen. Dieses Schuljahr mache ich mein Abi – hoffe ich zumindest. Gut sieht es dafür zurzeit nicht aus.

Ich parke meinen Wagen direkt neben einer Rostlaube, die ich als Bennis Seat Ibiza identifiziere, und ziehe den Schlüssel ab.

Franky sieht ein bisschen übermüdet aus. Wir haben kein Wort darüber verloren, dass wir die Nacht gemeinsam in meinem Bett verbracht und dabei mindestens einmal in Löffelchenposition gekuschelt haben. Ich bin kein Kuscheltyp, das habe ich bisher jedes Mädchen wissen lassen, aber – Gott – wenn dieser klapperdürre elfjährige Floh sich an mich drückt, dann kann ich einfach nicht anders, als ihn in den Arm zu nehmen.

Beim Aussteigen entdecke ich Benni, der neben seiner Karre steht und auf mich wartet. Benni ist so klein und zierlich, dass man ihn neben seinem weinroten, uralten Auto leicht übersehen könnte.

»Hey«, grüßt er uns.

Einige sagen, Benjamin Wecker sei der deutscheste Schüler, der die International School jemals von innen gesehen hat. Seine Mutter ist eine Deutsche, sein Vater kommt aus den USA, aber Benni hat ihn niemals kennengelernt. Er gehört zu den wenigen Schülern, die mit einem hundertprozentigen Stipendium ausgestattet sind. Es ist nicht leicht, an eine solche Förderung zu kommen, und nur sehr wenige Familien schaffen es, die Anforderungen zu erfüllen. Man muss bei der Anmeldung nachweisen, dass man englischsprachige Eltern hat, deren kulturelles Erbe man fortführen will – oder so ein Bullshit –, und finanziell muss man sich natürlich auch komplett blankmachen. Die Kids mit den Stipendien stechen aus der Masse der Markenkleidung tragenden Übrigen heraus wie Kerle bei einem Konzert von BTS. Oder eben: wie Bennis Seat Ibiza auf dem Schulparkplatz. Es versteht sich von selbst, dass einhundertprozentige Stipendien auf der Rangliste der Statussymbole direkt hinter Schlüsselbändern rangieren.

Ich weiß nicht genau, wieso Benni mein bester Freund ist. Es muss daran liegen, dass er anders ist. Dass er auf die Rangliste der Statussymbole einfach scheißt.

»Buongiorno«, grüße ich in meinem amerikanischsten Italo-Akzent und versuche dabei, so zu klingen wie Brad Pitt in Inglourious Basterds.

»Hey«, sagt Franky und bedenkt Benni mit einem Kopfnicken.

»Was geht, Frank the Tank?«

»Nich’ viel«, antwortet mein kleiner Bruder.

»Was macht deine Karriere als Drummer?«

Franky hat vor etwas über einem Jahr zu seinem zehnten Geburtstag ein Schlagzeug geschenkt bekommen, obwohl er nie danach gefragt hat. Mein Vater hatte sich immer gewünscht, dass seine Kinder Gefallen an Musik finden. Da er selbst im Musikgeschäft ist, hielt er es wohl für eine Selbstverständlichkeit, dass wir einmal in seine Fußstapfen treten würden. Als sei es ganz normal, dass sich Hobbys und Vorlieben so weitervererben wie Haar- und Augenfarbe.

Wie sich vor einem Jahr herausstellte, verfügt Franky tatsächlich über musikalisches Talent. Im Gegensatz zu mir. Es gab eine Zeit, da hab ich mich selbst darin versucht, Rhymes zu schreiben. Aber ich war grottenschlecht. Die Welt hat sicher nicht auf einen Teenager gewartet, der Bullshit auf Superhit reimt. Dad war dennoch ganz verzückt von meinen Gehversuchen im Hip-Hop … und vielleicht ist das der Grund, dass ich es wieder aufgegeben habe. Es kam mir nicht fair vor, dass mir alle Türen offen stünden, nur weil mein Vater selbst mal ein Rapper war. 1980 landete Dad mit einem seiner Songs aus dem Nichts auf Platz 1 der deutschen Charts. Er war ein schwarzer, damals erst vierzehnjähriger Oldschool-Rapper, der sich unter dem Künstlernamen Lil Mac gegen Nena durchsetzte. Gegen Nena! Mit einem Rapsong! In Deutschland! Es war eine Sensation.

Mittlerweile sind Dads Tage als Lil Mac vorbei. Aber mit dem Geld und den Connections, die er aus dieser Zeit mitnahm, hat er ein eigenes Plattenlabel gegründet, ist noch erfolgreicher geworden und … Und, nun ja, hat ein Suchtproblem entwickelt, kommt fast nie nach Hause, und wenn doch, dann zittern wir alle davor, dass ihm seine so oft hoch erhobene Hand eines Tages ausrutschen wird. Aber natürlich ahnt das niemand. Schon gar nicht die Fernsehsendungen und Magazine, die ihn immer noch gerne zu Interviews einladen. Ich glaube, mein Vater saß im letzten Jahrzehnt häufiger auf dem Sofa der Ultimativen Chartshow als auf unserem eigenen.

Manchmal frage ich mich, ob Frankys Begeisterung für Musik nur andauert, weil er glaubt, dass sie etwas ändern wird. Dass sie ihm Dads Liebe einbringt, dass sie die Ehe unserer Eltern rettet. Und ich überlege, wie es ihn wohl verändert, wenn er eines Tages realisiert, dass das nicht eintreten wird.

»Was geht heute Abend?«, fragt Benni, nachdem wir die Sicherheitskontrollen passiert und uns von Franky getrennt haben, der in einen anderen Korridor zu den Klassen der Unterstufe abgebogen ist.