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Reiner Strunk

Absturz in Stuttgart

Ein Kirchenkrimi

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1„Wo willst du denn hin?“, fragte Beermann, der am Türpfosten seines Pfarrbüros lehnte und das ‚Evangelische Gemeindeblatt‘ durchblätterte.

„In die Stadt“, sagte Bettina, seine Frau, „was Buntes kaufen. Raus aus dem Wintergrau. Und aus der Schlafmützigkeit. Vielleicht auf dem Schlossplatz bei einer Tasse Cappuccino im Freien sitzen und begutachten, was vorbeiflaniert.“

Sie fragte nicht, ob er Lust hatte, mitzukommen. Sie wollte allein unterwegs sein. Zum Bummel in der Shoppingmeile war er nicht zu gebrauchen. Hielt sie sich bei Auslagen in einem Schaufenster auf, trat er abseits unruhig von einem Fuß auf den anderen oder drehte sich vielsagend im Kreis. Wirklich dabei war er nie, da konnte sie auch ganz auf ihn verzichten. …

Bettina hatte bloß eine leichte Wolljacke über die Schultern geworfen und Beermann zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange gehaucht. Jetzt spazierte sie durch den kleinen Park, freute sich an Primeln und sprossenden Tulpen in den Beeten und hatte überhaupt keine Eile. Die Sonne gab sich alle Mühe, ihrer Aufgabe gerecht zu werden, also hell zu sein und zu wärmen. Die Passanten wirkten aufgeknöpft, trugen Mäntel und Jacken offen und hatten die verkniffenen Gesichter weggepackt. Alles schien bereit zu einem Lächeln.

Die Königstraße war reich bevölkert, man schob sich in mehreren Spazierkolonnen aneinander vorbei und verständigte sich stillschweigend auf ein mäßiges Tempo. Bettler hatten ihre Reviere abgesteckt und ihre Positionen eingenommen, eine Combo mit riesigen Sombreros spielte mexikanische Weisen und auf dem Schlossplatz hatte die Gastronomie ihren Betrieb entschlossen nach außen verlagert. Zahlreiche Tische waren besetzt, und Bettina suchte nach einer freien Sitzgelegenheit, als sie von lautem Geschrei aufgeschreckt wurde.

Ganz in der Nähe, vermutlich beim Denkmal des Herzogs Christoph, schien es heiß herzugehen. Worum es sich handelte, entzog sich Bettinas Blicken, zu viele Fußgänger und Gaffer waren im Weg. Aber das Schreien hielt an. Neugierige strebten in Richtung des Tumultes, Ängstliche ergriffen die Flucht, um nicht Opfer einer unvorhersehbaren Gewalttätigkeit zu werden. Mit verrückten Selbstmordattentätern war immer und überall zu rechnen, besonders an Orten verstärkter Menschenansammlung, und psychopathische Amokläufer bevorzugten ebenfalls die Gelegenheit, wenn das Publikum zahlreich und mit niemandem von ihnen zu rechnen war.

Bettina blieb unentschieden. Sollte sie vorwärts gehen und auskundschaften, was da ein Stück weiter am Rand des großen Platzes vor sich ging, oder sollte sie zurückweichen, um sich den Genuss eines schmeichelnden Frühlingstages nicht verderben zu lassen? Sie stieg ein paar Stufen am Königsbau empor, bis sie unter den Kolonnaden stand und den gesamten Platz bis hinüber zum Neuen Schloss übersehen konnte. Tatsächlich hatte sich beim Denkmal eine Traube von Menschen gebildet, in der es aufgeregt hin und her wogte. Stimmen brüllten nach Sanitätern, nach der Polizei, und schon tönten deren gellende Signale vom Schillerplatz her, doch Autos kamen in der kompakten Menschenmenge nur allmählich voran.

Plötzlich sah Bettina, wie sich eine Gestalt mit wilden Bewegungen aus dem Knäuel beim stattlichen Herzog löste. Sie rammte Hinderliches mit dem Kopf beiseite, trat mit den Füßen um sich und bahnte sich in rasender Geschwindigkeit einen Weg durch die Versammlung. Auf einmal stand sie wie aus dem Boden gestampft vor Bettina, die außerstande war, nachzuvollziehen, auf welchem Weg und mit welchen Absichten der seltsame Mensch zu ihr gelangt war. Er schnaufte wie ein gehetztes Tier und sah sie an. Niemand hatte ihn aufhalten können und ernsthafte Verfolger schien es nicht zu geben.

Bettina überlief ein Schauder, vor allem deshalb, weil der Mensch eine Gesichtsmaske trug. Nicht von der Art, wie man sie von Bankräubern in Filmen kennt, die sich zu tarnen versuchen, sondern eine Art Totenmaske. Mit Augenhöhlen, aus denen sie Blicke trafen, die eher traurig als wütend wirkten, und mit einem grässlich bleckenden Gebiss, das zynisch zu grinsen schien. Ehe Bettina sich von ihrem Schreck erholen konnte, drückte ihr das Phantom ein Kleiderbündel in die Arme. Dann verschwand es wie der Blitz, rannte zwischen den Säulen hindurch und hinauf zum Kleinen Schlossplatz. Bettina sah ihm nach und dachte: Ein Zwerg ist er nicht, aber die Größe eines normalen Menschen hat er auch nicht.

Sie hatte noch gar nicht begonnen zu überlegen, was sie mit dem Kleiderbündel in ihren Armen anstellen sollte, da merkte sie, dass es sich bewegte. Etwas Lebendiges also. Sie schlug die leichte Wolldecke zurück und sah in das Gesicht eines Kindes, einjährig etwa, das sie mit staunenden Augen musterte. Und schon war Bettina umringt von rufenden, fragenden, gestikulierenden Personen, die ihr heftig zusetzten. Was sie mit dem brutalen Kindsräuber zu tun habe? Ob sie seine Komplizin sei? Wohin der Kerl sich abgesetzt habe? Und dann empörte Rufe: „Geben Sie das arme Kind her!“ „Fassen Sie das Kind nicht an mit Ihren dreckigen Pfoten!“ „Wir halten Sie fest, bis die Polizei kommt!“

Bettina wunderte sich, wie gelassen sie reagieren konnte. Sie hielt das Kind fest in ihren Armen, stieß Zudringliche beiseite und rief: „Wer ist die Mutter? Wo ist der Vater?“

„Die Mutter liegt zusammengeschlagen drunten beim Denkmal“, erklärte jemand, und Bettina erwiderte: „Dort gehört das Kind also hin!“

Sie bahnte sich einen Durchgang und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn erzwingen würde, wenn man ihr den Weg versperrte. Das Kind auf ihrem Arm fing an zu weinen und zappelte unter der Decke. Bettina versuchte es zu trösten, trug es, als sei sie schon lange mit ihm vertraut. Niemand machte mehr Anstalten, ihr das Bündel wegzunehmen. Die Aufgeregten beruhigten sich, Hilfsbereite führten sie die Stufen zum Schlossplatz hinunter und zu der Stelle hinüber, wo die Mutter vermutet wurde. Die Gruppe von Zuschauern, die sich immer versammeln, wenn ein Unglück passiert ist, das einen Nervenkitzel verspricht, wich immerhin einen Schritt zur Seite und bildete eine Gasse, durch die Bettina nach vorn durchgelassen wurde. Eine Frau, offenbar die Mutter des Kindes, lag regungslos auf dem Rücken, betreut von Helfern, die ihr einen Mantel unter den Kopf geschoben hatten. Ihr Gesicht war blutverschmiert, und mit ihren Händen schien sie ihren Hals zu schützen, als fürchte sie, erwürgt zu werden. Zwei Polizisten, ein Mann und eine Frau, standen daneben und nahmen erste Zeugenaussagen zu Protokoll. Als Bettina mit dem weinenden Kind hinzutrat, schlug die verletzte Frau ihre Augen auf, richtete sich mit einer heftigen Bewegung auf und streckte die Arme nach dem Kind aus. Bettina reichte es ihr und die Mutter vergrub ihr Gesicht in der Decke. Man ließ sie gewähren.

Bettina fand gar keine Zeit zu entscheiden, ob sie sich entfernen oder noch bleiben sollte, denn der Polizist, der gerade noch mit einem Zeugen beschäftigt gewesen war, wandte sich an sie und fragte, wie sie an das Kind gekommen sei. „Durch Zufall vermutlich“, entgegnete sie, schon ein wenig genervt vom unerquicklichen Ablauf ihres schönen Frühlingstages.

Der Polizist sah sie mit einer Amtsmiene an, die unverkennbar Respekt verlangte.

„Ich stand oben bei den Kolonnaden“, sagte Bettina bereitwillig, „als jemand mir das Bündel mit dem Kind einfach in die Arme drückte.“

Der Polizist nickte und krakelte etwas in seinen Notizblock.

„Sie kannten den Mann?“

„Natürlich nicht! Außerdem weiß ich nicht, ob es überhaupt ein Mann war oder eine Frau.“

„Wegen der Maske, klar. – Hat die Maske was gesagt?“

„Nein, kein Wort.“

Der Polizist bedankte sich, nahm ihre Personaldaten auf und betonte, sie solle sich in den nächsten Tagen bereithalten, man werde im Zuge der Ermittlungen sicher noch einmal auf sie zurückkommen. Bettina zuckte die Achseln, weil sie sich nicht vorstellen konnte, was sie weiter zur Klärung dieses merkwürdigen Falles beitragen sollte. Sie war schon dabei, auf dem Absatz kehrt zu machen und davonzugehen, um einen Rest des verkorksten Tages zu retten, als die Polizistin ihrem Kollegen eine Zusammenfassung ihrer Vernehmungsergebnisse gab: Demnach war die Frau mit dem Kinderwagen in der Königstraße unterwegs gewesen und hatte in Höhe des herzoglichen Denkmals Halt gemacht, weil das Kind erbärmlich schrie. Sie hatte es zu beruhigen versucht und aus dem Wagen auf den Arm genommen. Doch das Kind hatte weitergebrüllt. Die Mutter hatte es wieder hingelegt und ihm einen Schnuller in den Mund geschoben, der allerdings sofort energisch ausgespuckt wurde. Ab jetzt liefen die Zeugenberichte auseinander. Einige behaupteten, das Phantom mit der Maske sei unversehens herbeigesprungen, habe die verdutzte Mutter rüde beiseitegestoßen und ihr einen Fausthieb ins Gesicht versetzt. Dann habe er das Kind im Wagen gegriffen, es herausgehoben und gegen Umstehende, die ihn hindern wollten, wütend verteidigt. Es sei ihm gelungen, eine Bresche durch den Ring der Passanten zu schlagen und davonzulaufen, während die Mutter blutend am Boden lag. Eine zweite Version der Vorgänge, die von wenigen Beobachtern vertreten wurde, ging dahin, dass die Mutter ihr weinendes Kind gezüchtigt habe, bevor der Maskenmann intervenierte. Sie habe das Kind heftig geschüttelt und sogar geohrfeigt. Offensichtlich sei sie mit der Situation nicht zurande gekommen und habe überreagiert. Der Maskenmann habe ihr das Kind entrissen, als sie es auf dem Arm trug.

Da die Mutter im Augenblick noch nicht vernehmungsfähig war, musste der tatsächliche Hergang einstweilen offenbleiben. Für das Tätermotiv ergaben sich freilich, je nachdem, welche Variante die tatsächliche war, erhebliche Differenzen. Hatte die Mutter das Kind nicht misshandelt, lag ein rätselhafter Menschenraub vor. Hatte sie aber das Kind geschüttelt und geschlagen, konnte der Eingriff auf einen starken Schutzinstinkt des Täters zurückzuführen sein.

Wenige Schritte entfernt flutete das Leben auf dem Schlossplatz, als wäre nichts geschehen. Die Plastikstühle in den Freiluftcafés waren besetzt, man unterhielt sich, lachte und nahm Sonnenbäder, und Bettina wusste nicht recht, was sie mit sich und der verbleibenden Freizeit anfangen sollte. Die Lust, nach Textilien für die wärmeren Wochen Ausschau zu halten, war ihr gründlich vergangen, und sinnlos in der Gegend herumzulaufen machte auch kein Vergnügen. Sie entschied sich für eine Kaffeepause am Markt. Als sie am Espresso nippte, stand ihr wieder die Totenmaske vor Augen, samt dem seltsam traurig wirkenden Blick, der sie daraus getroffen hatte. Sicher handelte es sich um einen Mann, und zwar um einen Mann unbestimmten Alters, der gewiss kein planmäßiger Kindsräuber war. Warum sonst hätte er ihr das Kind abgetreten, statt es weiter mit sich zu schleppen? Über der Maske hatte er eine dunkle Wollmütze getragen, die ein Stück in die Stirn hinuntergezogen war. Seine Behändigkeit verriet ein eher jugendliches Alter und Sportlichkeit dazu. Die Maske verdeckte sein Gesicht, musste aber auch, da sie so auffällig war, höchst verräterisch wirken. Wenn er sie aufbehielt, würde er rasch der Polizei ins Netz gehen, und dann würde es ihm schwerfallen, die Tat als einen spontanen Akt von Barmherzigkeit erscheinen zu lassen.

Bettina blinzelte hinauf in die noch unbelaubten Kastanienzweige, durch die die Sonne ihren Weg auf die Erde wie durch ein kunstvoll gedrechseltes Gitterwerk suchte. Ja, es stimmt, dachte sie, der Herr lässt seine Sonne scheinen über Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte. Aber wem gelingt die schlüssige Unterscheidung zwischen den Guten und den Bösen? Wer weiß von vornherein, wer schuldig ist und wer nicht?

2Auf dem Heimweg überkam Bettina das eigenartige Gefühl, verfolgt zu werden. Infolgedessen wählte sie mit Absicht belebte Straßen mit viel Verkehr und mit Fußgängern auf den Gehsteigen. Es war nicht so, dass verdächtige Schritte in ihrem Rücken sie beunruhigten oder dass sie ‚den heißen Atem eines Verfolgers im Nacken spürte‘. Sie empfand einfach das Unbehagen, nicht unbeobachtet zu sein. Ab und zu hielt sie bei einem Aushang oder vor einem Schaufenster an, um einen raschen, wie zufällig erscheinenden Blick nach rückwärts werfen zu können. Doch die alte Frau mit dem Gehstock in der einen Hand und der Einkaufstasche in der anderen war kein Anlass zur Beunruhigung, ebenso wenig wie der Lieferant, der ein Paket aus seinem Transporter holte und damit durch einen Hofeingang verschwand. Lieber Himmel, ich bin dabei, mich vor Gespenstern zu fürchten, dachte Bettina, und das am hellen Tage. Wenn’s Nacht wäre und kein Mensch auf der Straße und die Laternen würden fiebrig flackern, als wollten sie nacheinander ersterben, und ein langer Menschenschatten würde die ganze Straße hinunterreichen wie im ‚Dritten Mann‘ … Sie lachte leise vor sich hin und schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie viel steuert uns das Hirn, überlegte sie, und wie sehr treiben uns die Nerven?

An der eigenen Haustür atmete sie auf und drehte sich zur Sicherheit noch einmal um. Aber da war nichts. Eine streunende Katze überquerte den Wiesenstreifen neben der Einfahrt zur Garage, und sie erweckte nicht den Eindruck, durch eine ungewöhnliche Erscheinung in der Nähe verunsichert zu sein. Bettina öffnete die Tür und schloss sie hinter sich mit einem Anflug von Erleichterung und Dankbarkeit. –

Abends saßen sie auf ihrer Wohnzimmercouch und buchstabierten miteinander das zurückliegende Tagesereignis durch. Beermann hatte eine Flasche Roten entkorkt und Knabberzeug auf den Tisch gebracht. Durch die großen Fenster konnten sie auf die Terrasse hinaussehen bis zu den nahen Büschen, deren Umrisse in der heraufziehenden Nacht verschwammen. Bettina kuschelte sich an Beermann und meinte, die Sache sei halt doch aufregender gewesen als anfangs gedacht.

„Und was es mit dem Kindsraub auf sich haben könnte, ist mir völlig schleierhaft.“

„Verständlich“, bestätigte Beermann, „Kindesentführungen passieren zwar immer wieder zum Zweck der Erpressung von Lösegeldern, aber mit Kleinkindern doch eher nicht. Die sind einfach zu unbequem für die schrägen Typen. Sie können nicht laufen, sie brauchen alle naselang das Fläschchen und haben ständig die Windeln voll. Das ist nichts für Ganoven. Deshalb bedienen die sich lieber bei Pflegeleichterem, das sie einschüchtern und ruhigstellen und auch mal allein in irgendeinem Keller wegschließen können.“

„Schweine sind sie so oder so“, schnaufte Bettina. „Nur – der Mann mit der Totenmaske war nicht von dieser Verbrechersorte, da bin ich sicher.“

„Weshalb? Wegen der Maske?“

„Mag sein. Ich denke, eine Totenmaske vor dem Gesicht soll etwas verbergen. Aber vielleicht soll sie umgekehrt auch etwas zeigen.“

„Was?“

„Weiß ich doch nicht, Helmut! Auf jeden Fall ist das Tragen einer Totenmaske eine sehr seltsame Sache und das diebische Fortschleppen eines fremden Kindes ebenfalls.“

„Und die unvermittelte Rückgabe dieses Kindes an eine beliebige Frau, die da zufällig im Weg herumsteht, ist es nicht weniger.“

Sie schwiegen und tranken einen Schluck.

„Weißt du“, setzte Bettina wieder an, „ich war, während das alles passierte, eigentlich ganz ruhig.“

„Weil du eine kontrollierte Person bist“, sagte Beermann.

„Schon. Aber als ich vom Tatort wegging und zum Markt hinüberschlenderte, da merkte ich auf einmal, wie meine Hände zitterten und die Knie weicher waren als gewohnt.“

„Klar. Solange du besetzt bist von der Anstrengung, eine prekäre Situation zu meistern, reagierst du nüchtern, weil du dich selbst im Griff haben musst, um die Herausforderung genau zu erkennen und zu bestehen. Nachher, wenn die Sache glücklich vorüber ist, erschlafft die übermächtige Anspannung und die Nerven fangen an zu flippern. Das ist vollkommen normal und du brauchst …“

Beermann brachte seinen Satz nicht zu Ende, weil Bettina einen schrillen Schrei ausstieß und beide Hände vors Gesicht schlug. Beermann erschrak. Er nahm seine Frau in die Arme, die geschüttelt wurde wie von einem Fieber und plötzlich zu schluchzen begann wie ein Kind. Er sprach ihr leise und beruhigend zu und trocknete mit seinem Taschentuch die Tränen, die ihr über die Wangen liefen.

„Bettina, hör doch, was ist? Was ist? Sag mir’s doch!“, flehte er und wusste nichts weiter, als sie fest im Arm zu halten und ihr sanft über die Haare zu streichen.

Nach einer Weile richtete sie sich auf, schnäuzte kräftig in sein Taschentuch und sagte: „Unsinn. Es ist alles Unsinn. Mir gehen die Nerven durch und ich bin eine dämliche Kuh.“

„Na, na“, beschwichtigte Beermann und fügte, um mit einem flauen Scherz zur Entspannung beizutragen, hinzu: „Die Kuh lasse ich gelten, die dämliche aber keinesfalls.“

Bettina sah nach draußen, nun wieder gefasst und ohne Tränen. „Vorhin war da was am Fenster“, sagte sie, „oder ich habe mir eingebildet, dass da etwas war.“

„Was denn?“, wollte Beermann wissen.

„Ein Gesicht. Nein, eine Maske. Eine Totenmaske, hell beleuchtet von unserm Licht im Wohnzimmer und unverschämt grinsend. Das war plötzlich da und im Nu auch wieder weg. Wie ein Spuk. Mein Gott, Helmut, ich bin wie verrückt und sehe Gespenster.“

Beermann ließ sie los und stand auf: „Vielleicht war’s ja auch kein Gespenst“, sagte er, öffnete die Terrassentür und ging hinaus. Bettina blieb zurück und verkrampfte ihre Finger im Schoß. Nach wenigen Minuten kehrte Beermann zurück, schloss die Terrassentür, setzte sich zu Bettina und legte ihr den Arm um die Schultern. „Keine Angst“, sagte er, „da war nichts.“ –

An den folgenden Tagen durchstöberten sie gespannt ihre Zeitung auf der Suche nach Details über den merkwürdigen Zwischenfall auf dem Schlossplatz. Fehlanzeige. Entweder war die Angelegenheit nicht wichtig genug, um in den Nachrichten berücksichtigt zu werden, oder sie war zu wichtig und zu sensibel, und man fürchtete, mit der Preisgabe von Einzelheiten des Geschehens und seiner Folgen die Chancen einer raschen Aufklärung zu verringern.

Zum Wochenende hatte Beermann dienstfrei. Für Vertretung war gesorgt, und die beiden hatten vereinbart, am Samstag ausgiebig, mit Rucksack und Proviant bestückt, auf der Schwäbischen Alb zu wandern. Möglichst stundenlang am Trauf entlang und dann im weiten Talkessel hinter Neidlingen zu dem entlegenen Waldhang, wo sie im vergangenen Jahr eine üppige Kolonie von Märzenbechern entdeckt hatten. Der noch winterliche Waldboden war auf breiter Fläche mit den grün-weißen Farben der Frühlingsblüher übersät gewesen, und man konnte vom Hangweg einen Pfad emporsteigen, der mitten durch die Blütenpracht führte. Allerdings war ihnen damals ein mächtiger Schreck in die Glieder gefahren, als plötzlich hinter Buschwerk ein kapitaler Eber auftauchte, seine eindrucksvollen Hauer zeigte und mitten auf dem Pfad in drohender Haltung stehen blieb. Beermann hatte seinen Wanderstock in der Hand, den er selber geschnitzt hatte und der zum Spaziergang taugen mochte, aber nicht als Waffe gegen eine angreifende Wildsau. Bettina verbarg sich hinter seinem Rücken und spielte halblaut mögliche Fluchtgelegenheiten durch. Auf dem abschüssigen Gelände um die Bäume herum davonzulaufen empfahl sich nicht, da war der Eber zweifellos im Vorteil. „Und auf die Bäume hinauf“, flüsterte sie, „das geht auch nicht. Die Buchen sind hier alle meterhoch ohne Äste und ihre Rinde ist glatt wie ein Kinderpopo.“ – Sie hatten keine Wahl, mussten warten und darauf hoffen, dass dem Tier die Begegnung, die sich ja glücklicherweise noch nicht zu einer direkten Konfrontation ausgewachsen hatte, langweiliger wurde als ihnen. Sie hatten Glück. Der Eber grunzte noch einmal energisch, als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er könne, wenn er wolle, darauf machte er kehrt und trottete stolz wie der Klügere, der nachgibt, davon.

Dort also wollten sie hin, und Bettina meinte, vielleicht müsse der Mensch älter werden, um von Abenteuern den Hals nicht vollzukriegen.

Leider fiel der schöne Plan mit einem Schlag in sich zusammen. Beermann erwachte zwar am Samstag in der Frühe und war guter Dinge, musste dann aber die überraschende Entdeckung machen, dass ihm die einfache Übung, aus dem Bett zu steigen, gründlich misslang. Er kam einfach nicht hoch, geschweige denn auf die Füße, nicht mal zum Sitzen auf der Bettkante. Er hob vorsichtig den rechten Arm, dann den linken. Das ließ sich machen. Schmerzen – nein. Bewusstseinstrübung – nein. Also das Herz. Seine schwache Stelle. Nur – wie schwach war diese schwache Stelle auf einmal geworden?

Bettina räkelte sich neben ihm, ahnungslos und mit der Entschlossenheit, die letzten Minuten vor dem Aufstehen unter der warmen Decke zu genießen. Recht hatte sie. Jede Stunde Leben sollte man genießen, jeden Augenblick. Im Grunde war es doch so, dass man durch die Tage taumelte oder rannte ohne den geringsten Gedanken ans allgemeine Gesetz der Endlichkeit. Die Meisterschaft im Verdrängen zeigt sich genau an diesem Punkt. Man tut, als ob man ewig zu leben hätte. Das heißt genauer: man weiß natürlich, dass es nicht so ist, man hat dieses Wissen selbstverständlich auf der Festplatte, aber es ist abgespeichert in einem entlegenen Ordner. Da mag es ruhen, solange es nicht gebraucht wird. Wann wird es gebraucht?

Wenn er auf dem Rücken lag, schien alles in Ordnung zu sein. Aber das Aufstehen missglückte bei wiederholten Versuchen. Endlich wurde Bettina aufmerksam und fragte, ob etwas nicht stimme. Beermann wollte sie nicht erschrecken und erklärte, er fühle sich schlapp.

„Wieso?“, meinte Bettina. „Schlapp nach der Nachtruhe?“

Als Beermann schwieg, wurde ihr klar, dass buchstäblich Not am Mann war. Sie sprang aus dem Bett, fühlte seinen Puls, seine Stirn, stürmte aus dem Schlafzimmer und alarmierte den Notarzt. Der stand erstaunlich schnell vor Beermann, zählte dessen Puls mit bedenklicher Miene, behorchte seine Brust und wies die Sanitäter an, den Patienten auf die Trage zu packen und schleunigst in die Klinik zu befördern.

Dort durchlief Beermann die Stationen der Untersuchung wie ein Fertigungsprodukt auf dem Fließband.

Nachher lag er noch erschöpfter im Klinikbett als am Morgen daheim. Bettina saß bei ihm und brauchte auffällig oft ihr Taschentuch, um ihre Nase zu betupfen. Umgeben war er von mehreren technischen Geräten, auf deren Bildschirm es flimmerte und flackerte wie bei einem defekten Fernseher. Er selber war rundum verkabelt. An Manschetten, die um seine Handgelenke gelegt waren, auf der Brust, irgendwie auch am Kopf. Leben in der Umarmung von Maschinen. War denen zu trauen?

Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Er wachte auf, als es schon Nacht geworden war. Das kleine Fenster zu seiner Seite war schwarz, über der Tür leuchtete nüchternes Neonlicht. Bettina musste sich leise verabschiedet haben und gegangen sein. Auf seiner Bettdecke fand er einen handgeschriebenen Zettel. Sie wünschte ihm eine ruhige Nacht und Zuversicht fürs Kommende. Der Herzmuskel sei betroffen, habe ihr der Arzt gesagt. Vermutlich irgendein Virus. Man müsse Geduld haben und zusehen. Die Sache sei nicht ungefährlich, aber auch nicht unbedingt dramatisch. Man müsse jetzt die richtigen Medikamente herausfinden, auf die der Patient positiv reagiere. Das könne dauern, sei jedoch, möglicherweise unter Assistenz eines Schrittmachers, ein prinzipiell lösbares Problem. Liebe Grüße, tausend Küsse, Bettina.

Das Zimmer war geräumig, aber von karger Ausstattung. Apparate, der fahrbare Tisch neben dem Bett, ein Stuhl, ein leeres Nachbarbett, eine gemütlose Beleuchtung. Beermann merkte, dass er es nicht gewohnt war, allein zu sein. Zwangsweise allein zu sein. Verängstigt fühlte er sich nicht deswegen, eher betrübt. Wie verloren in einer unwirtlichen Umgebung, einer lebensfeindlichen Landschaft. Er wandte den Blick zum Fenster in der Hoffnung, der Mond werde es sich einfallen lassen, als heimlicher Besucher vorbeizuschauen. Wie ein Tröster aus der Ferne.

Plötzlich kam heftiger Betrieb auf. Stimmen wurden laut auf dem Flur, die Tür sprang auf, zwei Nachtschwestern schoben ein Bett herein, auf dem ein offensichtlich alter Mann lag, eingewickelt in Schnüre und zugepflastert mit Verbänden. Er wurde präpariert für die Nacht, die Kabel wurden angeschlossen, Infusionsbeutel am Bettgalgen aufgehängt und zum Tröpfeln gebracht. Dann war der Spuk schon wieder vorbei. Der Alte lag wie tot. Sein Atem ging unhörbar. Nun war Beermann nicht mehr allein, aber angenehmer wurde die Lage deswegen auch nicht.

Mitten in der Nacht – Beermann musste eingenickt sein und ein wenig geschlafen haben – regte sich’s auf dem Nachbarbett. Der alte Mann machte Anstalten, den Ort seines unfreiwilligen Aufenthalts zu verlassen. In Beermann erwachte das gesunde Verantwortungsgefühl des Mitmenschen sowie die Pflicht zum pastoralen Beistand. Er sprach mit dem Mann und versuchte ihn zu beruhigen. Er sei nicht unruhig, entgegnete der. Dann möge er doch liegen bleiben mit all den Kabeln und Schläuchen, an die er angeschlossen sei.

„Grad net“, widersprach der Alte. „Des ganze Zeug kann i net brauche.“

Er hockte auf der Bettkante und zupfte sich Pflaster von den Armen und Kanülen aus den Venen. Beermann betrachtete es mit wachsender Besorgnis.

„Was wollen Sie denn eigentlich machen?“, fragte er hilflos.

„Hoimgange“, erklärte der Alte, „i will in mei eigen Bett neiliege, do isch’s recht für mi.“

Beermann wollte intervenieren, wusste aber nicht, wie.

„Sie können doch jetzt nicht aus dem Krankenhaus marschieren und in die U-Bahn steigen, die wahrscheinlich gar nicht mehr fährt in der Nacht …“

„’S gibt au Taxis.“

„Sie kommen nicht zehn Schritte weit, dann fallen Sie um, Mann, nehmen Sie doch Vernunft an!“

„I bin bei Vernunft, glaube Se mir’s.“

Schon stand er, befreit von allen Fesseln, splitternackt vor seinem Krankenbett.

Beermann begann zu begreifen, dass der Alte in seinem Freiheitsdrang nicht zu bremsen war. Jedenfalls nicht mit gut gemeinten Worten. Da entschied er sich, Alarm zu schlagen und nach der Nachtschwester zu läuten. Als die erschien, schlug sie die Hände vors Gesicht und bemühte sich dann nach Kräften, den Alten wieder ins Bett zu befördern. Der widersetzte sich jedoch und ließ sich, so klein und spindeldürr er war, von der Schwester nicht überwinden. Sie war sichtlich am Ende ihres Lateins, schüttelte den Kopf und betonte:

„Sie sind eingewiesen auf diese Station und können jetzt nicht einfach weg.“

„Und Sie könne mi net festhalte! I bin ein freier Mensch, und koiner hat des Recht, mi im Krankehaus anz’schnalle wie’n Verbrecher. Des dürfet Se gar net. Wenn i gange will, dann derf mi koiner uffhalte, auch Sie net!“

Während dieser Rechtsbelehrung hatte die Schwester den diensthabenden Arzt angerufen, der herbeieilte, um Schlimmes zu verhindern. Er redete dem Alten gut zu, warnte, drohte – alles ohne die geringste Wirkung, weil der vom Krankenlager Auferstandene seelenruhig sein Hemd überstreifte und in seine Hose stieg.

„Gut“, meinte der Arzt mit einem Achselzucken, „dann gehen Sie eben. Daheim ist niemand, der auf Sie wartet, und niemand, der Ihnen hilft. Aber gehen Sie. Legen Sie sich in Ihr eigenes Bett, das Sie partout nicht missen wollen.“ Und, auf Schwäbisch nachschiebend: „Passet Se bloß uff, des sag i Ihne. Die Nacht schlofet Se vielleicht, aber morge früh, do wachet Sie plötzlich uff und send dot!“

Auch von dieser Aussicht blieb der Alte unbeeindruckt und entwich, fröhlich winkend, durch die Tür.

Beermann sah ihm versonnen nach und überlegte, ob das nun Altersstarrsinn war oder der Souveränitätsakt eines leibhaftig freien Menschen.

3Anderntags verlegte man ihn in einen separaten Raum der Intensivstation, damit er mehr Ruhe habe sollte. Der Monitor neben ihm summte leise und kritzelte Zacken auf den Bildschirm. Gegenüber an der Wand hing die Kohlezeichnung eines betenden Engels mit mächtigen Schwingen. Rechts aus dem Fenster heraus wurde der Blick frei auf die Dächer benachbarter Häuser. Darüber ein Frühlingshimmel mit Schäfchenwolken. Vom Krankenbett aus, fand Beermann, war der Blick in den Himmel immer eine Wanderschaft. Nirgends sonst kann die Seele wandern und aufatmen wie hier. Eine merkwürdige und wichtige Entsprechung: die Zelle und der Himmel. Das enge, vom quirligen Klinikbetrieb abgetrennte Zimmerchen war wie eine Zelle. Aber da war auch weiter Himmel darüber. Ein Ausschnitt nur, vom Fensterrahmen begrenzt, aber im Ausschnitt verdichtete und vergegenwärtigte sich das Ganze.

Ohne den Himmel wäre die Zelle ein Gefängnis, beinahe ein Grab, fand Beermann. Und ohne Zellenerfahrung könnte der Himmel nicht sein, was er ist: Reiseland der Seele. Wo es nicht Nähe und Fernen gibt, sondern alles unmittelbar vor Augen tritt. Die Seele reist ja auch nicht, wie unsre Körper reisen, mit geplanten Wegstrecken und Zielen. Die Reise der Seele kennt keine vorgezeichneten, ausgetretenen Bahnen. Ihre Bewegung ist keine Fortbewegung, sondern Schwingung. ‚Swing low‘ heißt es im Gospelsong.

Aus Schockzuständen der Verzweiflung in die Schwingung von Zuversicht zu geraten, das ist eine Reise der Seele. Vielleicht, dachte Beermann, bedeutet Gotteserfahrung auch nichts weiter, als in eine solche Schwingung der Seele zu kommen, die über Zonen des Schweren hinaus ins Leichte und Lichte emportreibt. In der Zelle scheint das eher zu gelingen als ‚im Freien‘. Urerfahrung des Mönchtums. Die Zelle ist dem Himmel näher – und ein ganzer Himmel kann sich versammeln in der räumlichen Enge einer Zelle.