Maya Angelou

Was für immer mir gehört

Aus dem amerikanischen Englisch
von Melanie Walz

Mit einem Nachwort von
Verena Lueken

Suhrkamp

Was für immer mir gehört

Dieses Buch widme ich meinem Blutsbruder Bailey Johnson
und den anderen echten Brüdern, die mich ermutigt haben,
so tollkühn zu sein, mein eigenes Leben täglich zu erfinden:
James Baldwin, Kwesi Brew, David Du Bois, Samuel Floyd,
John O. Killens, Vagabond King, Leo Maitland, Vusumzi Make, Julian Mayfield, Max Roach.

Mit besonderem Dank an meine Freundin Dolly McPherson

Es war eine Party nach dem Motto »kein Kleiderzwang« und »jeder ist willkommen«. Brachte man was zu trinken mit, wurde erwartet, dass man es teilte, und wenn nicht, dann war das auch okay, jemand würde seine Flasche mit einem teilen. Jeder war ein Held. Hatten wir uns nicht alle zusammengetan, um de Gruber und diesem fetten Itaker die Hölle heiß zu machen und den kleinen Reisfresser Tojo an seine Stelle zu setzen?

Schwarze aus dem Süden, die keine komplizierteren Geräte als Pflüge gewohnt waren, hatten gelernt, Drehmaschinen, Bohrer und Schweißpistolen zu benutzen, und hatten ihren Beitrag zur Kriegsmaschinerie geleistet. Frauen, die nur Hausmädchenuniformen und von der Mama gefertigte Kleider kannten, hatten die unbequemen Männerhosen angezogen und sich Stahlhelme aufgesetzt und hatten dafür gesorgt, dass in den Schiffsausrüstungshallen für ihre Freunde gesungen wurde. Selbst die Kinder hatten Papier gesammelt und auf den Rat Älterer, die sich an den Ersten Weltkrieg erinnerten, die Aluminiumfolie aus den Zigarettenpackungen mit Kaugummi zu kopfgroßen Bällen geknetet. Oh, war das eine Zeit.

Soldaten und Seeleute und die wenigen schwarzen Marineinfanteristen, gerade zurück, nachdem sie auf einem sandigen Strand am Südpazifik Tote begraben hatten, standen da und blickten stolz aus kriegsklugen Augen.

Schwarzmarkthändler hatten keine Mühen gescheut, die Gegend mit Zucker, Zigaretten, Lebensmittelmarken und Butter zu versorgen. Prostituierte nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihre fünfundsiebzig Dollar teuren Schuhe auszuziehen, um es einem für zwanzig Dollar zu besorgen. Jeder nahm teil am Krieg gegen den Krieg.

Und zuletzt hatte es sich für die Schwarzen ausgezahlt. Wir hatten gewonnen. Zuhälter stiegen aus ihren polierten Autos und wanderten etwas unsicher über die ungewohnte Gymnastik die Straßen von San Francisco entlang. Spieler dachten nicht an ihre empfindlichen Finger und gaben Schuhputzern die Hand. Von den Kanzeln tönte es: »So habe ich es vorausgesagt«, von Geistlichen, die wussten, dass Gott auf der Seite der Gerechten war und nicht zulassen würde, dass ihnen Unrecht geschah oder ihre Kinder um Brot betteln mussten. Frisöre unterhielten sich mit den Werftarbeitern, die sich wiederum mit den Damen vom Straßenstrich unterhielten. Und jedermann trug ein lässiges Lächeln zur Schau, das hieß, man sei bereit zu lächeln.

Ich dachte mir, wenn der Krieg nicht mit Toten verbunden wäre, hätte ich nichts dagegen, jeden Tag einen zu erleben. Etwas wie ein großes Fest.

Alle Opfer hatten uns den Sieg gebracht, und nun würden die guten Zeiten anbrechen. Ganz klar, wenn wir schon mehr verdienten, als die Rationierung in Kriegszeiten uns auszugeben erlaubt hatte, würde es ab dem Moment, ab dem es keine Beschränkungen mehr gäbe, noch besser werden.

Es gab keinen Anlass, über Rassenvorurteile zu sprechen. Hatten wir nicht alle, Schwarze und Weiße, die überlebenden Juden eben erst aus der Hölle der Konzentrationslager gerettet? Rassenvorurteile waren von gestern. Ein Irrtum in einem jungen Land. Etwas so Verzeihliches wie das unerfreuliche Handeln eines Freundes im Drogenrausch.

Während der Krise hatten Schwarze in einem Monat oft mehr Geld gemacht, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatten. Schwarze Männer verließen ihre Frauen nicht wie früher, getrieben von dem Unvermögen, ihre Familien zu ernähren. Sie fuhren in öffentlichen Verkehrsmitteln nach dem Motto »Wer zuerst kommt, sitzt zuerst«. Und öfter als nicht wurden sie als Mister und Missus in ihrer Arbeit oder von Verkäufern angesprochen.

Zwei Monate nach dem V-Day wurden nach und nach die kriegsbedingten Fabriken stillgelegt und sie entließen ihre Angestellten. Manchen Arbeitern wurden Fahrkarten für die Rückfahrt nach Hause in den Süden angeboten. Zurück zu den Mauleseln, die sie auf der Hinterwäldlerfarm von ole Mistah Doo am Baum angebunden gelassen hatten. Scheiße auch. Ihr erweiterter Horizont konnte sich nie wieder in diese engen Grenzen einpferchen lassen. Sie waren frei oder wenigstens freier als je zuvor und würden nicht zurückgehen.

Diese militärischen Helden von vor wenigen Monaten, die in der Stadt, die wusste, wie das geht, entlassen wurden, sah man bald an den Ecken im Ghetto herumhängen wie vergessene Wäsche am Zaun eines Hinterhofs. Ihre einst gestärkten Khaki-Uniformen wurden allmählich unansehnlich. Ihre wasserfesten Armeejacken samt Medaillen, aber ohne Streifen, wurden zu unmodischen Angeberhosen getragen. Über den schmucken Armeehosen mit ihren symmetrischen Falten hingen kreischend bunte Hawaiihemden. Die Schuhe blieben. Die Armee hatte diese Schuhe für die Ewigkeit produziert. Und, verdammt, so war es.

So durchlebten wir einen größeren Krieg. Die Frage im Ghetto war, ob wir auch einen kleineren Krieg überstehen konnten?

Ich war siebzehn, sehr alt, peinlich jung, mit einem zwei Monate alten Sohn, und wohnte immer noch bei meiner Mutter und meinem Stiefvater.

Sie boten mir an, auf mein Baby aufzupassen, damit ich wieder zur Schule gehen konnte. Das lehnte ich ab. Erstens dachte ich – mit der selbstgerechten Ernsthaftigkeit junger Menschen –, dass ich nicht Daddy Clidell Jacksons leibliche Tochter war und mein Kind nur so lange sein Enkel sein würde, wie die Verbindung zwischen Daddy und Mutter anhielt, und ich hatte bereits viele Schwachstellen in ihrer Ehe ausgemacht. Zweitens überlegte ich mir, dass ich zwar das Kind meiner Mutter war, sie mich aber bis zum Alter von dreizehn Jahren anderen Leuten überlassen hatte, und warum sollte sie für mein Kind mehr Verantwortung empfinden als für ihre Tochter? Das waren die Bruchstücke, aus denen meine Weigerung sich zusammensetzte, doch der Kern der Sache war schmerzlicher, stärker und wahrer. Eine inhärente Schuld war mein privater Dämon, mein Bettgefährte, dem ich den Rücken gekehrt hatte. Mein täglicher Gefährte, dessen Hand ich nicht halten wollte. Die christliche Lehre, die mir in der Kleinstadt in Arkansas in die Ohren gehämmert worden war, ließ sich von dem Lärm in der Großstadt nicht übertönen.

Mein Sohn hatte keinen Vater – und was hieß das für mich? Nach der Glaubenslehre hatten Bastarde in der Gemeinde der Rechtgläubigen nichts zu suchen. So war das. Ich würde einen Job finden und ein eigenes Zimmer und meinen schönen Sohn in die Welt mit hinausnehmen. Ich dachte mir, ich könnte sogar in eine andere Stadt ziehen und uns einen neuen Namen aussuchen.

In den Monaten, in denen ich mit meiner Zukunft und der meines Sohnes kämpfte, begann das große Haus, in dem wir wohnten, zu sterben. Arbeitslose Mitbewohner, die ihre Koffer mit Erinnerungen ausschmückten, bevor sie massenhaft Enttäuschungen einpackten, verließen San Francisco und gingen nach Los Angeles, Chicago oder Detroit, wo »es hieß«, man suche händeringend nach Arbeitern. Das laute Krachen der Haustür wurde immer seltener, und die Küche im Obergeschoss, wo die Mitbewohner kochen durften, ließ immer weniger exotische Düfte wahrnehmen, die dazu geführt hatten, dass ich voller Appetit in unsere Küche gelaufen war.

Die Spieler und die Prostituierten, die Schwarzhändler und die Zukunftsgläubigen, all diese Schmarotzer, die sich an der Unterwelt des Krieges dick und fett gefressen hatten, waren die Letzten, die merkten, dass es enger wurde. Sie hatten Unmengen Geld angesammelt, das in keine Bank kam, sondern unter ihresgleichen zirkulierte wie zügellose Frauen, und ihr Beruf hatte sie an die Treulosigkeit der Dame Glück und die Unzuverlässigkeit des Lebens gewöhnt. Es tat mir leid, dass die Tänzerinnen gingen – diese wundervollen Frauen, nur unwesentlich älter als ich, die pfundweise Max Factor Nr. 31 aufgetragen hatten, künstliche Wimpern trugen und aus dem Mundwinkel redeten, wobei ihre Stimmen sich um Zigaretten wanden, die an ihren Lippen baumelten. Sie hatten ihr Auftreten oft in der Küche unten im Haus geübt. Das B.-S.-Tanzgruppen-Programm. Die richtigen Schritte, Gleiten, Springen und Pausieren, und all das die ganze Zeit rauchend. Ich war mir ziemlich sicher, dass man rauchen musste, wenn man in einer Tanzgruppe tanzen wollte.

Nicht mit dem fleißigsten Üben in Wunschdenken hätte man meine Mutter als nachsichtig bezeichnen können. Großzügig war sie, aber nie nachsichtig. Freundlich ja; aber nie nachsichtig. In ihrer Welt paddelten Leute, die sie akzeptierte, das eigene Kanu, hoben die eigenen Gewichte, stemmten die Schulter an den eigenen Pflug und ackerten wie die Wahnsinnigen, und ich saß hier in ihrem Haus und weigerte mich, wieder zur Schule zu gehen. Verschwendete keinen Gedanken ans Heiraten (na ja, niemand hätte sich um mich bemüht) und dachte nicht daran zu arbeiten. Niemals forderte sie mich auf, mir Arbeit zu suchen. Jedenfalls nicht in Worten. Aber der Stress ihrer Abende am Kartentisch und die Verantwortung für das viele Geld, das sie im Schlafzimmerschrank bunkerte, strapazierten ihr ohnehin zornmütiges Temperament.

In früheren unbeschwerteren Zeiten hätte ich ihre Übellaunigkeit vielleicht lediglich zur Kenntnis genommen, doch nun befeuerten meine Schuldgefühle, die ich wie ein rohes Ei mit mir herumtrug, meine Paranoia, und ich fühlte mich zunehmend als Störenfried. Wenn mein Baby weinte, beeilte ich mich, seine Windeln zu wechseln, es zu füttern, mit ihm zu schmusen, ihm letzten Endes den Mund zu stopfen. Meine Jugend und meine ängstlichen Selbstzweifel machten mich unfair gegenüber dieser lebenstüchtigen Frau.

Sie war mächtig stolz auf ihr wunderschönes Enkelkind, und wie die meisten Egozentriker sah sie in allem, was es auszeichnete, ein Spiegelbild ihrer selbst. Er hatte niedliche Hände … »Ja, genau wie meine.« Seine Füße waren makellos, mit hohem Spann, genau wie ihre. Sie war mir nicht böse; sie spielte wie immer das Blatt aus, das das Leben ihr zugeteilt hatte, und das tat sie fantastisch.

Die Mischung aus Arroganz und Unsicherheit ist so entzündbar wie Alkohol und Benzin, die dafür berüchtigt sind. Der Unterschied ist nur, dass im ersten Fall ein langes inneres Brennen vorausgeht, das in der Regel in eine selbstzerstörerische Implosion mündet.

Ich würde ausziehen, mir einen Job suchen und der ganzen Welt (dem Vater meines Sohns) beweisen, dass ich meinem Stolz gewachsen war und mehr zu bieten hatte als meine Anmaßung.

1

Ich war zutiefst gedemütigt. Eine dumme weiße Kuh, die vermutlich ihre Zehen zum Zählen benutzte, sah mich an und sagte, ich sei durchgefallen. Die Prüfung hatten Schwachsinnige für Idioten zusammengestellt. Natürlich hatte ich sie im Eiltempo absolviert, ohne mir groß Gedanken zu machen.

Ordnen Sie diese Buchstaben neu an: ASU – AGR – ATS.

Okay. Aus. Arg. Ast. Und?

Sie stand hinter ihrem Make-up und ihren toupierten Haaren und manikürten Fingernägeln und Kommodenschubladen parfümierter Angorapullover und Jahren weißer Ignoranz und sagte, ich sei durchgefallen.

»Die Telefongesellschaft gibt Tausende von Dollar für die Ausbildung von Telefonistinnen aus. Wir können es uns nicht leisten, jemanden einzustellen, der solche Ergebnisse erzielt hat. Bedaure.«

Sie bedauerte? Ich war platt. In meiner Verblüffung überlegte ich, ob meine ausgeprägte intellektuelle Überheblichkeit mich dazu verführt haben konnte, die Prüfung für ein Kinderspiel zu halten. Und vielleicht hatte ich die Abreibung dieser anmaßenden Hexe verdient.

»Darf ich den Test noch mal machen?« Das zu fragen war schmerzlich.

»Nein, bedaure.« Wenn sie das noch einmal sagen würde, war ich bereit, sie an ihren bedauernden Schultern zu packen und einen Job aus ihr herauszuschütteln.

»Aber es gäbe eine Möglichkeit« – offenbar hatte sie meine unausgesprochene Drohung gespürt – »als Hilfskraft in der Cafeteria.«

»Was hat eine Hilfskraft zu tun?« Ich war mir nicht sicher, ob ich die Arbeit tun konnte.

»Das erklärt Ihnen der Küchenjunge.«

Nachdem ich den Antrag ausgefüllt hatte und von einem Arzt für gesund erklärt worden war, marschierte ich in die Cafeteria. Der Küchenjunge, ein Opa, wies mich ein: »Du räumst das Geschirr ab, wischst die Tische ab, überprüfst, ob Salz- und Pfefferstreuer sauber sind, und hier ist deine Uniform.«

Das weiße Kleid und die weiße Schürze waren mit Beton gestärkt worden und viel zu lang. Ich stand an der Wand der Cafeteria und wartete darauf, die Tische abzuräumen. Viele der Telefonistinnen in Ausbildung waren mit mir in die Schule gegangen. Jetzt standen sie vor vollbeladenen Tischen und warteten darauf, dass ich oder eine andere der dämlichen Hilfskräfte das schmutzige Geschirr abräumten, damit sie ihre Tabletts abstellen konnten.

Den Job machte ich eine Woche lang, und der Lohn war mir so verhasst, dass ich ihn an dem Nachmittag verpulverte, an dem ich aufhörte.

2

Können Sie kreolisch kochen?«

Ich sah der Frau in die Augen und verpasste ihr eine Lüge, so weich wie schmelzende Butter. »Ja, klar. Anders kann ich gar nicht kochen.«

Das Creole Café hatte im Fenster ein Pappschild, das angeberisch verkündete: KOCH GESUCHT. Fünfundsiebzig Dollar Wochenlohn. Sobald ich das Schild sah, wusste ich, dass ich kreolisch kochen konnte, egal wie.

Die verzweifelte Suche nach einer Küchenkraft muss die Besitzerin für mein Alter geblendet haben oder der Umstand, dass ich ziemlich groß war und ein Auftreten hatte, das nicht meinen siebzehn Jahren entsprach. Sie fragte mich nicht über Rezepte und Menüs aus, aber ihr langes braunes Gesicht verlief in Falten nach unten, und Zweifel machten sich in ihren Fragen bemerkbar.

»Können Sie am Montag anfangen?«

»Mit Vergnügen.«

»Sie wissen, dass wir eine Sechs-Tage-Woche haben. Sonntags ist geschlossen.«

»Das ist mir recht. Ich gehe sonntags gerne in die Kirche.«

Es ist ein scheußlicher Gedanke, dass der Teufel mir diese Lüge eingab, aber sie kam wie von allein und wirkte wie Dollarscheine. Argwohn und Zweifel waren wie weggewischt, und sie lächelte. Ihre Zähne waren alle gleich groß, ein kleiner weißer Pfahl aus Zähnen als Halbkreis in ihrem Mund.

»Ich seh schon, wir werden uns verstehen. Sie sind eine gute Christin. Das mag ich. Ja, Ma’am, das tu ich.«

Ich brauchte den Job und widersprach ihr nicht.

»Um wie viel Uhr am Montag?«

»Sie kommen um fünf.« Du lieber Himmel!

Fünf Uhr morgens. Die schäbigen Straßen, bevor die Verbrecher ins Bett gehen und sich auf anderer Leute Träume betten. Bevor die Straßenbahnwaggons zu rattern beginnen und ihr beleuchtetes Innere wie vornehme Häuser im Nebel wirkt. Fünf Uhr!

»In Ordnung, ich werde Montag früh um fünf hier sein.«

»Sie kochen das Essen und stellen es auf die Wärmeplatte. Extrabestellungen müssen Sie nicht machen. Die mach ich.«

Mrs Dupree war eine untersetzte dicke Frau um die fünfzig. Ihre Haare waren von Natur aus glatt und dicht. Wahrscheinlich Cajun-Indianer-Afrikaner-Weiße und natürlich schwarz.

»Und wie heißen Sie?«

»Rita.« Marguerite war zu feierlich und Maya zu exotisch. »Rita« klang nach dunklen feurigen Augen, scharfen Peperoni und kreolischen Abenden und Gitarrengeklimper. »Rita Johnson.«

»Das ist ein richtig netter Name.« Und wie manche Leute, die ihre Vertraulichkeit beweisen wollen, kürzte sie den Namen sofort ab. »Ich nenn Sie Reet. Okay?«

Natürlich okay. Ich hatte einen Job. Fünfundsiebzig Dollar die Woche. Also war ich Reet. Reet, Reet. Reet mit dem Kartoffellied, und fertig. Alles Reet. Jetzt musste ich nur noch kochen lernen.

3

Ich bat den alten Papa Ford, mir das Kochen beizubringen. Er war erwachsen gewesen, als das 20. Jahrhundert auf die Welt kam, und hatte eine große Familie von Brüdern und Schwestern in Terre Haute in Indiana (immer als Ostküste bezeichnet) verlassen, um herauszufinden, was die Welt einem »gutaussehenden jungen Schwarzen ohne Bildung im Kopf, aber mit einer Menge diebischer Gedanken im Herzen« zu bieten hatte. Er arbeitete in Reisezirkussen, »Elefantenscheiße wegschaufeln«. Dann würfelte er in Frachtzügen und spielte in allen nördlichen Bundesstaaten in Hinterzimmern Glücksspiele und Shanties.

»War nie in Hang’em High. Die weißen Hungerleider hätten mich umgebracht. Ich war hübsch genug, dass die weißen Weiber immer hinter mir her waren. Und die weißen Jungen hatten immer was gegen einen hübschen Nigger.«

Als ich ihn 1943 kennenlernte, war sein gutes Aussehen so zerbrechlich wie das Gedächtnis eines alten Mannes, und die Enttäuschung saß auf seiner Miene wie ein Reiter ohne Sattel. Seine Hände waren ruiniert. Die Spielerfinger waren während der Depression geschwollen, und sein einziger ehrbarer Beruf, das Tischlern, hatte seine »Geldmaschine« noch schwieliger gemacht. Mutter rettete ihn von einem Job als Putzmann in einem Spiellokal und nahm ihn mit zu uns nach Hause.

Er sortierte und zählte die Wäsche, wenn der Wagen der Wäscherei sie abholte und zurückbrachte, und händigte dann widerstrebend den Untermietern frische Sachen aus. Er kochte üppige und köstliche Mahlzeiten, wenn Mutter zu tun hatte, und saß in der Küche mit der hohen Decke und trank eimerweise Kaffee.

Papa Ford liebte meine Mutter (wie fast jedermann) mit kindlicher Hingabe. Er beherrschte sogar seine Ausdrücke in ihrer Anwesenheit, weil er wusste, dass sie es nicht leiden konnte, wenn geflucht wurde, außer sie war die Fluchende.

»Warum verdammt willst du in einer verschissenen Küche arbeiten?«

»Papa, ich kriege dafür fünfundsiebzig Dollar die Woche.«

»Dreckige Brühe aus verschissenen Töpfen waschen.«

»Papa, ich bin zum Kochen angestellt, nicht zum Geschirrspülen.«

»Farbige Frauen haben so lange gekocht, ich dachte, du wärst es jetzt langsam leid.«

»Wenn du mir einfach –«

»Hast alles in der Schule gelernt. Warum findest du keine verschissene Arbeit, wo du dich sehen lassen kannst?«

Ich probierte es mit einer anderen Methode. »Wahrscheinlich könnte ich sowieso nicht lernen, kreolisch zu kochen. Es ist zu schwierig.«

»So ein Kack. Ist nix als Zwiebeln, grüne Peperoni und Knoblauch. Wenn du das überall reintust, hast du kreolisches Essen. Wie man Reis kocht, weißt du ja wohl?«

»Ja.« Ich konnte Reis kochen, bis jedes Reiskorn strammstand.

»Mehr ist nicht nötig. Dieses Gullahpack kann ohne den Fraß aus den Sümpfen nicht leben.« Er kicherte über seinen Scherz, wurde wieder ernst. »Gefällt mir trotzdem nicht, dass du eine verschissene Köchin sein willst. Geh heiraten, dann musst du für niemand anderen kochen als für deine Familie.«

4

In dem Creole Café dampfte der Geruch von Zwiebeln und Knoblauch, Tomatennebel und Peperonisprühregen. Ich kochte und schwitzte in den erdrückenden Dünsten und fand es großartig. Endlich hatte ich die Autorität, nach der ich mich immer gesehnt hatte. Mrs Dupree bestimmte das tägliche Menü und legte mir einen Zettel auf die Wärmeplatte, der mich über ihre gastronomischen Entscheidungen unterrichtete. Aber ich, Rita, Chefköchin, beschloss, wie viel Knoblauch an die geschmorten Rippchen à la Creole kam und wie viele Lorbeerblätter die gedämpften Kutteln à la Shreveport würzen würden. Über einen Monat war ich in die Mysterien der Küche verwickelt mit der Erwartung eines Alchemisten, im Begriff, die geheime Zusammensetzung von Gold zu ergründen.

Eine lederhäutige alte Frau, die Mutter ausfindig gemacht hatte, kümmerte sich um mein Baby, wenn ich in der Arbeit war. Ich hatte ihn nur ungern ihrer Obhut überlassen, aber Mutter hatte mich daran erinnert, dass sie ihre weißen, schwarzen und Filipino-Kinder alle gleich gut behandelte. Ich dachte mir, dass ihr hohes Alter sie wohl über die Hürden rassistischer Probleme hinweggetragen hatte. Jemand, der so lange lebte, war zweifellos damit beschäftigt, müßige Augenblicke damit zu verbringen, über den Tod und das Leben im Jenseits nachzudenken. Sie konnte einfach nicht die Zeit erübrigen, sich mit Vorurteilen auseinanderzusetzen. Der größte Trost für das Übel der Jugend ist die völlige Ahnungslosigkeit über den Ernst des Leidens.

Erst nachdem das Geheimnis des Kochens zur Alltäglichkeit geschrumpft war, begann ich die Gäste wahrzunehmen. Es waren in der Hauptsache hellhäutige, glatthaarige Kreolen aus Louisiana, die ein französisches Patois sprachen, das kaum weniger kompliziert war als der Inhalt meiner Kochtöpfe und nicht weniger würzig. Ich fand es angemessen und überhaupt nicht ungewöhnlich, dass ihnen mein Essen schmeckte. Ich befolgte Papa Fords Vorschriften ziemlich lässig und fügte eigene künstlerische Akzente hinzu.

Unsere Gäste beschränkten sich nie darauf, zu essen, zu bezahlen und zu gehen. Sie saßen auf den hohen Stühlen ohne Rückenlehne und tauschten Klatsch oder teilten die geduldige Philosophie des schwarzen Südens.

»Greasy, immer mit der Ruhe, nimm’s leicht.«

Mit der Toleranz von Jahrhunderten gaben sie Ratschläge und ließen sich Ratschläge geben.

»Nimm’s leicht, aber nimm es hin.«

Ein massiger Mann mit roten Backen, dessen Namen ich nie erfahren habe, stützte sich an der Theke mit den zwölf Stühlen auf seine Ellbogen und erzählte Geschichten über den Hafen von San Francisco. »Haben da Hafenratten, denen es nix ausmacht, einen Mann anzufallen.«

»Echt?« Eine ungläubige, aber neugierige Stimme.

»Hab gesehn, wie eins dieser Dreckviecher eines Nachts einen weißen armen Schlucker gegen eine Frachtkiste gedrängt hatte. Und wenn ich und zwei andere, Farbige« – selbstverständlich – »uns nicht eingemischt hätten, wär es ihm in den Hals gesprungen und auf seiner Leber rumgehopst.«

In der Nähe der Wärmeplatte mischten sich die weichen Töne schwarzer Unterhaltung, lautes Gelächter und das Schlurfen von Füßen auf dem gefliesten Boden mit dem Essensdunst, und ich war zufrieden.

5

Ich hatte in einem großen beeindruckenden Haus im San-Francisco-viktorianischen Stil ein Zimmer gemietet (mit Erlaubnis zu kochen) und meine ersten Möbel und einen weißen Bettüberwurf aus Chenille gekauft. Mein Gott, er sah aus wie ein Beet winziger Christrosen. Ich hatte ein wunderschönes Kind, das lachte, wenn es mich sah, eine Arbeit, die ich gut machte, eine Babysitterin, der ich vertraute, und ich war jung und so verrückt wie eine Eidechse in der Sonne am Straßenrand. Zweifellos war ich auf dem Weg zum Erfolg.

Eines nebligen Abends an meinem freien Tag hatte ich meinen Sohn abgeholt und trug ihn mit der beiläufigen Lässigkeit einer erfahrenen Mutter die vertrauten Straßen entlang. Er schlummerte in meinem angewinkelten Arm, und ich dachte an das Abendessen, das Radioprogramm und nächtliche Lektüre. Zwei ehemalige Klassenkameradinnen kamen den Hügel hinauf mir entgegen. Sie zählten zu der seltenen Sorte in San Francisco geborener Schwarzer. Im Gefühl meiner Überlegenheit geborgen, kam ich nicht auf die Idee, mich noch weiter zu bewaffnen. Ich hatte die kugelsichere Weste erwachsenen Selbstvertrauens und ließ sie einfach näher kommen.

»Lass uns das Baby sehen … Hab gehört, er sei süß.« Sie war dick, hatte einen habsüchtigen Blick und war für ihren begrenzten, aber boshaften Geist bekannt. Ihre Freundin Lily war schon als Teenager uralt und ewig gelangweilt.

»Ja. Heißt, du hättest ein hübsches Baby fabriziert.«

Ich lüpfte die leichte Decke vom Gesicht meines Sohns und trat zur Seite, sodass sie meinen ganzen Stolz sehen konnten.

»Mein Gott, den hast du gemacht?« Das Gesicht der Dicken öffnete sich zu einem verletzten Grinsen.

Ihre schwermütige Freundin sagte düster: »Du lieber Himmel, er sieht aus wie ein Weißer. Könnte man ihn glatt für halten.« Ihre Worte schlängelten sich in mein Gefühl von Bewunderung und Erstaunen. Ich zuckte zusammen, dass sie so etwas Schreckliches von meinem Baby sagen konnte, aber ich war nicht in der Lage, meinen Schatz zuzudecken und wegzugehen. Ich stand nur da, ratlos und sprachlos.

Die kleine Dicke lachte heiser und stieß mir das Messer noch tiefer zwischen die Rippen. »Er hat eine Stupsnase und schmale Lippen.« Ihre Überraschung machte mich rasend. »Solange du lebst und es Ärger gibt, solltest du den Mann dafür bezahlen, dass er dir dieses Baby gemacht hat, haha. Eine Krähe gebiert ein Täubchen. Das muss das Vogelreich ganz schön verblüfft haben.«

Es gibt einen Moment im Zorn, der einen hilflos macht. Reglos. Ich erstarrte, wie es Lots Frau ergangen sein muss, nach einem letzten Blick auf diese geballte Böswilligkeit.

»Und wie hast du ihn genannt? Dank dem Allmächtigen?«

Ich hätte ihn dort hinlegen können, in seinem Tuch und mit seinen Sachen, und jemandem mit mehr Anmut, Eleganz und Schönheit überlassen. Der Stolz auf die Selbstbeherrschung erlaubte mir nicht, den Mädchen meine Gefühle zu zeigen, und ich packte mein Baby ein und ging nach Hause. Keine Abschiedsworte – ich verließ sie, als wollte ich über das Ende der Welt hinausgehen. In meinem Zimmer legte ich mein fünf Monate altes Ein und Alles auf die Chenille-Tagesdecke und setzte mich daneben, um seine Vollkommenheit zu bewundern. Sein Köpfchen war kugelrund, und das weiche Haar ringelte sich zu schwarzen Locken. Arme und Beine waren entzückende rundliche Wunder, und sein Oberkörper war so gerade wie ein Blick zwischen Liebenden. Aber worum es mir ging, war sein Gesicht.

Zugegebenermaßen waren die Lippen schmal und unter der kleinen Nase kaum zu erkennen. Aber er war ein Baby, und wenn er wuchs, würden diese Abnormitäten fleischiger werden, richtig werden und die Gleichmäßigkeit meines Aussehens annehmen. Selbst geschlossen richteten seine Augen sich schräg zu den Schläfen. Er sah aus wie ein kleiner Buddha. Und dann sah ich mir seinen Haaransatz an. Er entsprach meinem in jeder Einzelheit. Und das würde sich nicht auswachsen oder verändern, und es bewies, dass er unstreitig zu mir gehörte.

6

Butterbraun, honigbraun, zitronen- und olivenfarben. Schokolade und Pflaume, Pfirsich und Sahne. Sahne. Muskat und Zimt. Ich fragte mich, warum meine Leute unsere Farbskala in Begriffe wohlschmeckender Nahrungsmitteln fassten. Und dann wurde der schönste Mann auf Erden Gast in unserem Restaurant.

Er saß neben den hellhäutigen Kreolen, und sie verblichen, erblassten und verschwanden. Seine dunkelbraune Haut glänzte, und das reflektierte Licht erschwerte den Blick in meine geheimnisvollen Töpfe. Wenn er mit der Kellnerin sprach, erzeugte seine Stimme ein dumpfes Dröhnen in meinen Achseln. Ich konnte seine Anwesenheit nicht aushalten, weil sie mich nervös machte, aber ich konnte es nicht ertragen, wenn er ging, und es kaum erwarten, dass er wiederkam.

Die Kellnerin und Mrs Dupree nannten ihn »Curly«, aber ich dachte mir, dass dieser Name nicht von viel Fantasie kündete. Wenn er die vom Kochdampf bedeckte Tür des Restaurants öffnete, war das zweifellos Christi Wiederkehr.

Seine Tischsitten gefielen mir. Er aß manierlich und langsam, als wäre ihm wichtig, was er in den Mund nahm. Er lächelte mich an, aber die nervösen Grimassen, mit denen ich reagierte, konnte man kaum als Lächeln bezeichnen. Er war freundlich zu den anderen Gästen, zur Kellnerin und zu mir, denn er kam immer allein. Ich fragte mich, warum er keine Freundin hatte. Jede Frau würde wer weiß was geben, um mit ihm auszugehen, oder angerannt kommen, um bei ihm zu sitzen und mit ihm zu plaudern. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, er könnte mich interessant finden, höchstens, um sich über mich lustig zu machen.

»Reet.« Das war es. Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört.

»Reet. Du hast mich gehört. Komm her.«

Ich habe gesehen, wie läufige Hündinnen sich auf dem Boden schlängeln, locken und sich darbieten. Ich würde gerne sagen können, dass ich so natürlich zu ihm ging. Leider aber nicht. Ich spielte die Gleichgültige und quetschte meiner Stimme einen verächtlichen Ton ab.

»Haben Sie mit mir gesprochen?«

»Komm her, ich beiße nicht.« Ich erwog seine Aufforderung und gab nach. War er schön aus der Entfernung, war er in der Nähe die Vollkommenheit in Person. Tiefschwarze Augen mit schweren Lidern. Seine geschwungene Oberlippe fiel über weiße Zähne, in der Mitte von einer leisen Spur gelben Golds zusammengehalten.

»Seit wann kannst du so kochen?«

»Seit ewigen Zeiten.« Ich brachte die Lüge fast nicht über die Lippen.

»Verheiratet?«

»Nein.«

»Du musst aufpassen, dass nicht jemand herkommt und dich mitnimmt.«

»Danke.« Warum tat er es nicht? Natürlich hätte er mich niederschlagen, fesseln und knebeln müssen, aber nichts anderes wünschte ich mir.

»Möchten Sie ein Glas Soda?«

»Nein, danke.« Ich drehte mich um und ging zu der Wärmeplatte zurück. Schweiß zwickte mich über der Oberlippe und unter den Achseln. Ich wünschte ihn weg, spürte aber seinen Blick in meinem Rücken. Ich hatte so viele Jahre damit verbracht, jemand anders als ich selbst zu sein, dass ich weiter rührte und mischte und die Gasflammen kleiner stellte, als wäre nicht jeder Nerv meines Körpers an den dritten Hocker an der Theke gebunden.

Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, und ich drehte mich um in dem Wunsch, seinen Rücken beim Gehen zu sehen, und stellte fest, dass ein anderer Gast gegangen war. Ich sah mich sofort nach ihm um und begegnete seinem ernst auf mich gerichteten Blick. Ich hatte keinen anderen Wunsch, als mich hinzugeben.

Er nickte mir zu, dass ich kommen solle.

»Wann hast du frei?«

»Um eins.«

»Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Ich geh mein Baby holen.«

»Du hast ein Baby? Das muss dir jemand zu Weihnachten geschenkt haben. Ein Puppenbaby. Wie alt bist du?«

»Neunzehn.« Manchmal war ich zwanzig oder achtzehn. Hing von meiner Stimmung ab.

»Neunzehn in Richtung siebzehn.« Sein Lächeln war nicht ironisch. Nur eine Spur nachsichtig.

»Okay. Ich bringe dich zu deinem Baby.«

Er fuhr seinen Pontiac Jahrgang 1941 völlig unangestrengt. Ich saß an die Wagentür gedrückt und versuchte verzweifelt, nicht zu ihm hinzusehen.

»Wer ist der Daddy von dem Kleinen?«

»Weiß ich nicht.«

»Er wollte dich nicht heiraten, wie?« Seine Stimme wurde bei dieser Frage härter.

»Ich wollte ihn nicht heiraten.« Teilweise wahr.

»Na ja, in meinen Augen ist er ein dreckiger Bastard und hat es verdient, dass man ihm in den Arsch tritt.« In diesem Augenblick begann ich ihn zu lieben.

Ich bewegte mich etwas, um ihn anzusehen. Mein rächender Engel. Mutter und mein Bruder hatten sich so viel Mühe gegeben, mir Mut zu machen und mich zu unterstützen, dass beide nicht daran gedacht hatten, ich könnte Rachegelüste hegen. Ich glaube, ich hatte selbst noch nie daran gedacht. Und jetzt war die Wut eine Injektion, die meinen Körper durchströmte und mich wärmte und erregte.

Es stimmt, er war ein elender Bastard. Er hätte mir die Möglichkeit geben müssen, seinen Heiratsantrag abzulehnen. Aus meinem Kopf und ins Vergessen wanderte die Erinnerung daran, dass ich selbst meine erste sexuelle Erfahrung provoziert hatte. Meine privaten Gründe und mein aggressives Vorgehen hatte ich selbstgerecht bemäntelt. Selbstmitleid in seinem frühen Stadium ist so gemütlich wie eine Federkernmatratze. Nur wenn es sich verhärtet, wird es unbequem.

Curly stand mitten im Wohnzimmer der Babysitterin und sagte all die mütterlichen Dinge wie: »Was für ein hübsches Kerlchen … Sieht dir ganz ähnlich … Wird ein großer Junge werden … Und die goldigen Füßchen.«

Wieder im Wagen zeigte ich keinen Widerstand, als er sagte, wir würden in sein Hotel gehen. Ich wollte tun, was er tun wollte, und saß ruhig da.

Als wir das Hotelfoyer durchquerten, merkte ich zum ersten Mal, dass sich Widerstand in mir regte. Halt mal, Augenblick. Was hatte ich hier zu suchen? Wofür hielt er mich? Er hatte nicht einmal gesagt, er liebe mich. Wo blieb die sanfte Musik, die ich hören sollte, als er mein Ohrläppchen küsste?

Er spürte mein Zögern und nahm meine Hand, um mich über den Teppich des Flurs zu führen. Seine Berührung und sein Selbstvertrauen beflügelten meine Zweifel. Aber offenbar konnte ich nicht mehr zurück.

»Mach es dir bequem.«

Er zog seinen Mantel aus, und ich saß ruhig in dem großen Sessel seines Zimmers. Auf dem Toilettentisch stand neben Karten und Toilettengegenständen eine Flasche Whiskey.

»Kann ich einen Drink haben?« Ich hatte noch nie etwas Stärkeres als Dubonnet getrunken.

»Nein. Ich glaube nicht. Aber ich nehme mir einen.« Er schenkte den Whiskey in ein Glas ein, das er von einem Regal über der Waschschüssel nahm. Wasser gurgelte, und er spülte seinen Drink runter. Im nächsten Augenblick beugte er sich über mich. Ich wollte zu ihm aufsehen, aber mein Kopf weigerte sich.

»Komm her, Reet. Steh auf.« Das wollte ich, aber meine Muskeln waren wie gelähmt. Ich wollte für ihn nicht eine sein, die Männer heißmacht und sich vor den Konsequenzen drückt. Unehrlich. Aber mein Körper wollte mir nicht gehorchen.

Er beugte sich zu mir herunter, ergriff meine Hände und stellte mich hin. Er schloss mich in die Arme.

»Du bist fast so groß wie ich. Ich mag große Mädchen.« Dann küsste er mich zärtlich. Und langsam. Als er aufhörte, hatte mein Körper seinen eigenen Weg gefunden. Mein Herz raste, und meine Knie waren steif. Mein Zittern war mir peinlich.

»Komm zum Bett.« Er zog mich geduldig von dem Sessel weg.

Wir saßen beide auf dem Bett, und ich konnte ihn fast nicht sehen, obwohl er so nah war. Mit seinen großen dunklen Händen hielt er mein Gesicht.

»Ich weiß, dass du Angst hast. Das ist normal. Du bist jung. Aber wir feiern hier eine Party. Stell es dir einfach so vor. Wir feiern eine Liebesparty.«

Meine früheren Begegnungen mit Sex waren nichts weiter als das gewesen. Begegnungen. Einmal heftig, einmal indifferent, und nun fand ich mich in den Händen und Armen eines liebevollen Mannes wieder.

Er streichelte mich und redete. Er küsste mich, bis mir die Ohren dröhnten, und er brachte mich zum Lachen. Er unterbrach seine Leidenschaft, um kleine Scherze zu machen, und sobald ich darauf reagierte, war er wieder zärtlich.

Danach lag ich in seinen Armen und weinte.

»Glücklich?« Das Gold in seinem Mund glitzerte wie ein kleiner Stern.

Ich war so glücklich, dass ich am nächsten Tag zu einem Juwelier ging und ihm einen Onyxring mit einem Diamantensplitter kaufte. Ich ließ die Rechnung auf das Konto meines Stiefvaters anschreiben.