Über das Buch

Kasper Krone ist der berühmteste Clown Europas — und er hat ein phänomenales Gehör. Als eines Tages das Mädchen KlaraMaria — von der eine eigenartige Stille ausgeht — verschwindet, ahnt er, dass etwas Entsetzliches geschehen wird, wenn er sie nicht sucht und befreit. Autojagden, Fensterstürze, eine Flucht durch das Kopenhagener Kanalisationssystem und eine Naturkatastrophe: Peter Høeg ist ein Meister der Spannungsliteratur. Doch er erzählt auch von der Suche nach Weisheit und dem Sinn des Lebens - und von der großen Liebe.

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Peter Høeg

Das stille Mädchen

Roman

Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle

Carl Hanser Verlag

Erster Teil

1

Gott die Herrin hatte einen jeglichen Menschen in seiner eigenen Tonart gestimmt, und Kasper konnte sie heraushören. Am besten in den kurzen, ungeschützten Augenblicken, in denen sie schon in seiner Nähe waren, aber noch nicht ahnten, daß er lauschte. Deshalb wartete er am Fenster, auch jetzt.

Es war kalt. So kalt, wie es nur in Dänemark kalt werden konnte, und auch nur im April. Wenn die Leute in geistesverwirrter Verzückung über das Licht die Heizung ausgestellt, den Pelz beim Kürschner abgegeben, die langen Unterhosen vergessen hatten und ausgegangen waren. Und viel zu spät bemerkten, daß die Temperatur auf den Gefrierpunkt gefallen war, die Luftfeuchtigkeit neunzig Prozent betrug, der Wind aus Norden blies und Stoff und Haut durchdrang und sich ums Herz legte und es mit sibirischer Tristesse erfüllte.

Der Regen war kälter als Schnee und fein, dicht und grau wie ein Seidenvorhang. Durch diesen Vorhang rollte ein langer schwarzer Volvo mit getönten Scheiben heran. Dem Auto entstiegen ein Mann, eine Frau und ein Kind. Der Auftakt war verheißungsvoll.

Der Mann war groß und breit und schien gewohnt, seinen Willen durchzusetzen und seinen Mitmenschen, falls er ihn einmal nicht durchsetzen konnte, den Kopf zurechtzurücken. Die Frau war blond wie ein Gletscher, glich einem one million dollar baby und sah aus, als wäre sie clever genug gewesen, die Million selbst verdient zu haben. Das Mädchen trug teure Sachen und hatte Würde. Die Szene ähnelte dem Auszug der heiligen und hochvermögenden Familie.

Als sie etwa die Mitte des Hofs erreicht hatten, gewann Kasper einen ersten Eindruck von ihrer Tonart. Es war ein d-Moll in seiner schlimmsten Form. Wie in der Toccata und Fuge in d-Moll. Mächtige, schicksalsschwangere Säulen aus Musik.

Dann erkannte er das Mädchen. Zeitgleich mit dem Wiedererkennen trat die Stille ein.

Sie währte kurz, vielleicht eine Sekunde, vielleicht nicht einmal das. Aber während sie andauerte, riß sie die Mauern der Wirklichkeit nieder. Sie beseitigte den Hof, die Übungsmanege, Daffys Büro, das Fenster. Das schlechte Wetter. Den April. Dänemark. Die Gegenwart.

Dann war sie vorbei. Als hätte es sie nie gegeben.

Er hatte sich am Türrahmen festgehalten. Es mußte sich eine natürliche Erklärung finden lassen. Unwohlsein hatte ihn ergriffen. Ein Blackout. Ein vorübergehender Blutpfropf. Niemand verbringt ungestraft zwei Nächte hintereinander von zehn Uhr abends bis acht Uhr morgens am Kartentisch. Oder war es ein Beben gewesen? Die ersten großen Erdbeben hatte man sogar hier draußen spüren können.

Vorsichtig blickte er sich um. Daffy saß hinter ihm am Schreibtisch, als wäre nichts geschehen. Auf dem Hof kämpften die drei Menschen gegen den Wind an. Die Erde hatte nicht gebebt. Es war etwas anderes gewesen.

Talent ist die Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Aussondern hatte er 25 Jahre Erfahrung. Ein Wort, und Daffy würde seine Anwesenheit leugnen.

Er öffnete die Tür und streckte ihnen die Hand entgegen.

»Avanti«, sagte er. »Kasper Krone. Herzlich willkommen!«

In dem Moment, in dem die Frau seine Hand ergriff, begegnete er dem Blick des Mädchens. Ganz schwach, nur für ihn wahrnehmbar, schüttelte es den Kopf.

Er begleitete sie in den Übungssaal, sie blieben stehen und sahen sich um. Ihre Sonnenbrillen waren ausdruckslos, aber ihr Klang war angespannt. Sie hatten mehr Finesse erwartet. Etwas in der Art des Großen Saals, in dem das Königliche Ballett repetiert. Etwas wie die Empfangsräume im Schloß Amalienborg. Mit Merbauholz und sanften Farben und vergoldeten Paneelen.

»Sie heißt KlaraMaria«, sagte die Frau. »Sie ist nervös. Sie ist angespannt. Sie wurden uns vom Bispebjerg Krankenhaus empfohlen. Von der Kinderpsychiatrie.«

Selbst im System eines geübten Lügners ruft die Lüge ein feines Schnarren hervor. Auch bei ihr. Das Mädchen blickte zu Boden.

»Es kostet zehntausend pro Sitzung«, sagte er.

Das war die Eröffnung. Protestierten sie, käme ein Dialog in Gang. Und er hätte die Möglichkeit, sich tiefer in ihre Systeme hineinzuhorchen.

Sie protestierten nicht. Der Mann zog eine Brieftasche hervor. Sie entfaltete sich wie der Balg eines Akkordeons. Kasper hatte solche Brieftaschen bei den Roßhändlern gesehen, als er noch auf Märkten auftrat. In dieser hier hätte jedenfalls ein kleines Pferd Platz finden können, sagen wir ein Fallabella. Ihr entstiegen zehn steife, druckfrische Tausendkronenscheine.

»Ich muß Sie leider um zwei Sitzungshonorare im voraus bitten«, sagte er. »Auf Anweisung meines Finanzberaters.«

Zehn weitere Scheine wurden zutage gefördert.

Er zog eine seiner alten Visitenkarten aus der Tasche, in Stahlstichdruck, und den Füllfederhalter.

»Übrigens hat gerade jemand abgesagt«, sagte er, »zufälligerweise. Ich könnte sie dazwischenschieben. Ich muß sowieso erst den Muskeltonus und den Körperrhythmus untersuchen. Das dauert keine zwanzig Minuten.«

»In den nächsten Tagen«, sagte die Frau.

Er schrieb seine Telefonnummer auf die Karte.

»Und ich muß dabeisein«, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid. Nicht, wenn man so intensiv mit den Kindern arbeitet.«

Es geschah etwas im Raum, die Temperatur fiel, die Anzahl der Schwingungen sank, alles erstarrte.

Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, nach fünfzehn Sekunden, lagen die Banknoten noch da. Er nahm sie an sich, ehe es zu spät war.

Sie drehten sich um. Gingen durch das Büro hinaus. Daffy hielt ihnen die Eingangstür auf. Sie überquerten den Hof, ohne zurückzublicken. Setzten sich in den Wagen. Der Wagen rollte in den Regen hinaus und verschwand.

Er lehnte seine Stirn an die kalte Scheibe. Er wollte den Füller in die Tasche stecken, in die warme Tasche zu dem Geld. Es war weg.

Vom Schreibtisch her kam ein Geräusch. Ein Rischeln. Wie wenn man ein neues Kartenspiel von Piaget mischt. Vor Daffy, auf der Tischplatte, lag der niedrige, mahagonibraune Stapel frischer Banknoten.

»In deiner rechten Außentasche«, sagte der Verwalter, »stecken noch zweihundert Kronen. Für eine Rasur. Und eine warme Mahlzeit. Eine Nachricht ist auch noch drin.«

Die Nachricht war auf einer Spielkarte notiert, der Pikzwei. Auf der Rückseite stand, mit seinem eigenen Füller geschrieben: »Reichskrankenhaus. Aufgang 52.03. Nach Vivian fragen. Daffy.«

In dieser Nacht schlief er im Stall.

Es waren einige zwanzig Tiere dageblieben, Pferde und ein Kamel, die meisten waren alt oder wertlos. Der Rest war noch für die Wintersaison bei französischen oder süddeutschen Zirkussen.

Er hatte seine Geige dabei. Er legte das Laken und die Bettdecke in die Box zu Roselil, halb Berber, halb Araber. Sie war hiergeblieben, weil sie ausschließlich ihrem Kunstreiter gehorchte. Und nicht einmal ihm richtig.

Er spielte die Partita in a-Moll. Eine einsame Birne an der Decke warf ein weiches, goldenes Licht auf die lauschenden Tiere. Die spirituellsten Menschen stehen den Tieren am nächsten, hatte er bei Martin Buber gelesen. Ebenso bei Meister Eckhart. In Das Reich Gottes ist nahe. Gott soll man bei den Tieren suchen. Er dachte an das Mädchen.

Im Alter von etwa neunzehn Jahren, in der Zeit seines endgültigen Durchbruchs, hatte er entdeckt, daß mit der Fähigkeit, einen Zugang zur akustischen Essenz der Menschen zu finden, Geld zu machen war — besonders, wenn es sich um Kinder handelte. Er hatte sofort Kapital daraus geschlagen. Nach zwei Jahren hatte er zehn Privatschüler am Tag, genauso viele wie Bach in Leipzig.

Es waren Tausende von Kindern gewesen. Spontane Kinder, zerstörte Kinder, Wunderkinder, katastrophale Kinder.

Am Schluß kam das Mädchen.

Er legte die Violine in den Kasten, den er in seine Arme schloß wie eine stillende Mutter ihr Kind. Das Instrument kam aus Cremona, eine Guarneri, das letzte, was ihm aus den großen Jahren geblieben war.

Er verrichtete sein Abendgebet. Die Nähe der Tiere hatte ihm einen großen Teil der Angst genommen. Er lauschte der Müdigkeit, sie strebte aus allen Richtungen gleichzeitig heran. In dem Augenblick, in dem er ihre Tonart bestimmen wollte, kristallisierte sie und ging in Schlaf über.

2

Er erwachte viel zu früh. Die Tiere bewegten sich. Die Glühbirne brannte noch. Aber das Morgengrauen hatte sie verblassen lassen. Vor der Box stand so etwas wie ein Kardinal und sein Ministrant. In langen schwarzen Mänteln.

»Mørk«, sagte der ältere. »Justizministerium. Wir würden Ihnen gern eine Mitfahrgelegenheit anbieten.«

Es war, als brächten sie ihn nach Moskau zurück. Anfang der achtziger Jahre hatte er drei Wintersaisons beim russischen Staatszirkus zugebracht. Er hatte im »Haus des Zirkus« gewohnt, Twerskaja, Ecke Gnesdnikowskistraße. Die vorrevolutionäre Klasse dieses Gebäudes hatte er im Palais der Kopenhagener Steuerverwaltung in der Kampmannsgade wiedergefunden. Es war nun schon das dritte Mal innerhalb der letzten sechs Monate, daß man ihn herbrachte. Aber es war das erste Mal, daß man ihm einen Wagen geschickt hatte.

Das Gebäude war dunkel und verriegelt. Aber der Kardinal hatte einen Schlüssel, mit dem er auch die obersten Etagen erreichen konnte; sie waren auf dem Tableau des Aufzugs nämlich nur per Schlüssel zu bedienen. Kierkegaard hatte irgendwo geschrieben, alle Menschen besäßen ein mehrgeschossiges Haus, aber keiner steige bis zur Beletage hinauf. Kierkegaard hätte an diesem Morgen dabeisein sollen, sie fuhren nämlich bis ins oberste Stockwerk.

Die marmorne Eingangshalle mit den elektrischen Bronzefackeln war nur ein Präludium gewesen. Der Aufzug öffnete sich auf einen Treppenabsatz, auf dem ein Turnierbillardtisch hätte Platz finden können, aus großen Dachfenstern flutete das frühe Licht herein. Zwischen Aufzug und Treppe befand sich ein Glaskasten, in dem ein junger Mann saß. Weißes Hemd und Schlips, schmuck wie Ole Lukøie bei Andersen. Aber der Klang, der ihm innewohnte, tönte wie ein Stechschritt. Ein elektrischer Türschließer summte, die Tür, vor der sie standen, ging auf.

Dahinter lag ein breiter, langer Flur. Mit Parkett und behaglichem Lampenlicht und hohen Flügeltüren, die in geräumige Nichtraucherbüros führten, in denen Menschen wie im Akkord arbeiteten. Was für ein Vergnügen zu sehen, daß das Geld der Steuerzahler nicht zum Fenster hinausgeworfen wurde, hier brummte es geschäftig wie auf einem Zirkusplatz beim Zeltaufbau. Was Kasper bedenklich stimmte, war der Zeitpunkt. Als sie am S-Bahnhof Nørrebro vorbeifuhren, hatte er eine Uhr gesehen. Sie zeigte drei Viertel sechs in der Früh.

Mørk öffnete eine der letzten Türen und ließ Kasper eintreten.

In einem Empfangszimmer mit der Akustik eines Kirchenvorraums saßen zwei breitschultrige Mönche im Anzug, der jüngere mit Vollbart und Pferdeschwanz. Sie nickten Mørk zu und erhoben sich.

Eine Tür stand offen, sie gingen hinein. Im Flur war die Temperatur angenehm gewesen, hier war es kalt. Das Fenster, das auf den Sankt-Jørgen-See hinausging, stand offen, der hereinströmende Wind kam wahrscheinlich aus der Äußeren Mongolei. Die Frau am Tisch glich einem Kosaken, muskulös, schön, ausdruckslos.

»Warum ist er denn dabei?« fragte sie.

Vor dem Schreibtisch standen im Halbkreis einige Stühle, sie nahmen Platz.

Die Frau hatte drei Mappen vor sich liegen. An ihrem Revers steckte ein kleines Abzeichen, das die auserwählten Glückspilze tragen dürfen, denen Ihre Majestät die Königin das Ritterkreuz verliehen hat. Auf einem Regal an der Wand hinter ihr waren heidnische Silberpokale mit ausgestanzten Pferdeleibern zur Schau gestellt. Kasper nahm die Brille ab. Sie waren im modernen Fünfkampf errungen worden. Mindestens ein Pokal stammte von einer Nordischen Meisterschaft.

Sie hatte sich auf einen schnellen Sieg gefreut. Ihr herrliches helles Haar war wie bei einem Samurai stramm zurückgebunden. Nun hatte sich eine leichte Verwirrung in ihr Klangsystem gestohlen.

Mørk nickte den Mönchen zu.

»Er hat die Rückgabe seiner dänischen Staatsbürgerschaft beantragt. Die Abteilung Ausländerkriminalität ist schon dabei, seinen Fall im Auftrag des Amtes für staatsbürgerliche Angelegenheiten zu prüfen.«

Als Kasper zum erstenmal vorgeladen worden war, einen Monat nach seiner Ankunft in Kopenhagen, hatten sie ihm einen gewöhnlichen Gerichtsvollzieher zugewiesen. Beim nächstenmal war es schon die Amtmännin Asta Borello. Bei ihrem ersten Termin waren sie beide allein gewesen, in einem kleinen Visitationszimmer, etliche Stockwerke tiefer. Er hatte gewußt, daß sie da nicht hingehörte. Hier war sie dagegen zu Hause. An ihrer Seite saß ein blondgelockter Jüngling im Anzug vor einem Textverarbeitungsgerät, der nur darauf wartete, das Protokoll aufnehmen zu dürfen. Das Büro war hell und groß genug, um eine Kunstfahrarena auf den Boden zu kreiden. Das Fahrrad stand an der Wand, ein graues Rennrad aus gebürstetem Leichtmetall. Weiter hinten standen niedrige Tische und Sofas für zwanglose und informelle Gespräche. Außerdem zwei rechtwinklige Stühle und zwei Tonbandgeräte in Studioqualität für Erklärungen, die in Anwesenheit von Zeugen abgegeben wurden.

»Wir haben die amerikanischen Zahlen erhalten«, sagte sie. »Aus The Commissioner of Internal Revenue. Mit Hinweis auf das Doppelbesteuerungsabkommen vom Mai ’48. Sie gehen bis 1971 zurück, dem Jahr, in dem er augenscheinlich sein erstes selbständiges Einkommen erhalten hat. Sie belegen Honorare von mindestens zwanzig Millionen Kronen. Wovon weniger als siebenhunderttausend in der Steuererklärung auftauchen.«

»Vermögen?«

Die Frage kam vom älteren der beiden Mönche.

»Hat er nicht. Seit ’91 waren wir durch das Steuerkontrollgesetz befugt, auch sein im Ausland befindliches Vermögen einzufrieren. Als wir uns in der Sache an Spanien wenden, werden wir zunächst abgewiesen. Es heißt, Varietékünstler und Flamencotänzerinnen genießen eine Art gesetzeswidriger, diplomatischer Immunität. Aber dann sprechen wir mit einem internationalen Gerichtsentscheid erneut vor. Und es zeigt sich, daß er das bißchen Wohnungseigentum, das ihm noch blieb, liquidiert hat. Über die letzten Bankkonten, im ganzen einige Millionen, haben wir mittlerweile die Kontrolle.«

»Kann er sonst noch irgendwo Geld haben?«

»Kann man nicht ausschließen. In der Schweiz ist Steuerbetrug kein Verbrechen. Eher eine religiöse Tugend. Aber er würde das Geld nicht nach Dänemark schaffen können. Die Nationalbank würde ihm die Transaktion nie und nimmer erlauben. Er wird nie wieder ein Bankkonto eröffnen können. Er wird nicht mal mehr eine Tankkarte bekommen.«

Sie faltete die Hände und lehnte sich zurück.

»Paragraph 13 des Steuerkontrollgesetzes sieht Geldbußen — in der Regel zweihundert Prozent der hinterzogenen Steuer — und Haftstrafen vor, wenn es sich um vorsätzliche oder grob fahrlässige Hinterziehung handelt. Der vorliegende Fall wird mit einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung und einer kombinierten Buß-Rückzahlung von nicht unter vierzig Millionen Kronen geahndet. Im Oktober haben wir den Antrag auf Untersuchungshaft gestellt. Er wurde abgelehnt. Allerdings sind wir der Überzeugung, daß dieser abschlägige Bescheid nicht weiter aufrechterhalten werden kann.«

Es wurde still. Sie war am Ende angelangt.

Mørk beugte sich vor. Die Atmosphäre des Raums veränderte sich. Ein Aspekt von a-Moll breitete sich aus. Wenn es am stärksten ist. Insistierend und ernst. Im Gegensatz zu der Frau sprach der Beamte Kasper direkt an.

»Wir haben einen Ausflug nach London gemacht und zusammen mit Interpol mit der Anwaltskanzlei De Groewe gesprochen, die Ihre Verträge untersucht. Vor einem Jahr haben Sie innerhalb von 24 Stunden sämtliche eingehenden Verträge gekündigt, und zwar aufgrund eines ärztlichen Attests, das die WVVF nicht anerkannt hat. Man hat stillschweigend alle größeren internationalen Bühnen für Sie gesperrt. Während man den Fall vorbereitet. Er wird in Spanien aufgerollt. Parallel zu der spanischen Steuersache. Unsere Experten sagen, daß beide Fälle eindeutig sind. Die Rückzahlungsforderung beläuft sich auf mindestens 250 Millionen. Zusätzlich werden Sie wegen Trunkenheit am Steuer belangt, Sie sind schon zweimal verurteilt worden, das letztemal mit sofortigem Entzug des Führerscheins. Das gibt mindestens fünf Jahre Haft ohne Bewährung. Die Sie in Alhaurín el Grande verbüßen werden. Man sagt, das Gefängnis hat sich seit der Inquisition nicht verändert.«

Die Frau war schockiert. Sie versuchte Ruhe zu bewahren. Es gelang ihr nicht.

»Steuerhinterziehung ist gewöhnlicher Diebstahl«, rief sie. »Am Staat! Es ist unser Fall! Er muß hier vor Gericht!«

Die Gefühlsentladung offenbarte ihr wahres Wesen. Kasper konnte sie hören. Sie hatte schöne Seiten. Sehr dänische Seiten. Christliche. Sozialdemokratische. Ihr Haß auf den wirtschaftlichen Sumpf. Auf Exzesse. Übertriebenen Konsum. Wahrscheinlich hatte sie ihr Politologiestudium ohne Darlehen absolviert. Hatte auch schon für die Rente gespart. Fuhr mit dem Rad zur Arbeit. Ritterkreuz vor dem vollendeten vierzigsten Lebensjahr. Es war rührend. Er empfand uneingeschränkte Sympathie für sie, sie besaß eine ideale Charakterstruktur. Die er liebend gern selbst gehabt hätte.

Mørk ignorierte sie. Er konzentrierte sich ganz auf Kasper.

»Jansson hier hat einen Haftbefehl in der Tasche«, sagte er. »Wir können dich auf der Stelle zum Flughafen bringen. Kurzer Abstecher nach Hause, Zahnbürste und Paß einpacken, und ab geht die Post!«

Der Klang der anderen ebbte ab. Die Jungs und die Polizeibeamten waren nur Staffage gewesen. Die Frau hatte die Kadenzen gespielt. Aber die Partitur hatte Mørk die ganze Zeit über in Händen gehalten.

»Vielleicht gäbe es da noch eine andere Möglichkeit«, sagte der Beamte. »Angeblich sollst du ja jemand sein, zu dem die Menschen immer wieder zurückkehren. Du hattest eine kleine Schülerin namens KlaraMaria. Wir haben uns gedacht, daß sie vielleicht noch mal zu dir gekommen ist.«

Vor Kaspers Augen drehte sich alles. Wie nach einem dreifachen Purzelbaum, wenn man sich wieder aufrichtet. Orientierung bei weiteren Sprüngen vorwärts gleich Null.

»Kinder und Erwachsene«, sagte er, »kommen in Scharen wieder. Aber die einzelnen Namen …«

Er lehnte sich zurück, zurück in die Ausweglosigkeit. Der Druck im Zimmer war ungeheuer. Gleich würde etwas bersten. Er hoffte, es werde nicht er sein. Er spürte, wie das Gebet von selbst einsetzte.

Es war die Frau, die stolperte.

»Siebzehntausend«, sagte sie. »Für einen Anzug!«

Er war erhört worden. Es war eine minimale Blöße. Aber das würde ihm reichen.

Seine Finger schlossen sich um die Ärmel seiner Jacke. Maßgeschneiderte Jackenärmel haben echte Knöpfe am Handgelenk. Die Knöpfe an Konfektionsware sind dagegen nur Dekoration.

»Vierunddreißigtausend«, sagte er sanft. »Die siebzehntausend waren für den Stoff. Das ist Casero. Das Nähen hat noch mal siebzehntausend gekostet.«

Die Verwirrung von eben breitete sich in ihrem System aus. Noch hatte die Frau sie unter Kontrolle.

Kasper nickte Mørk, den Polizisten und den beiden Jungs zu. Zum erstenmal konnte er Astas Blick auffangen.

»Könnten die vielleicht mal für einen Moment den Raum verlassen?« fragte er.

»Sie sind unter anderem deshalb hier, um die Rechtssicherheit des Vorgeladenen zu garantieren.«

Ihre Stimme war tonlos.

»Es geht nur dich und mich etwas an, Asta.«

Die Amtmännin rührte sich nicht.

»Du hättest den Anzug nicht erwähnen sollen. Lediglich für Banken, Konten bei Privatunternehmen und Betriebe gilt die Auskunftspflicht über Schulden und Zinsen. Jetzt wissen sie es.«

Keiner sagte ein Wort.

»Dieses Doppelspiel!« sagte Kasper. »All diese demütigenden Treffen. Ohne daß wir einander berühren dürfen. Das schaffe ich nicht. Dazu habe ich keine Kraft mehr.«

»Das ist völlig absurd«, sagte sie.

»Du mußt darum bitten, von diesem Fall entbunden zu werden, Asta.«

Sie sah Mørk an.

»Ich habe ihn beschatten lassen«, sagte sie. »Es wurde ein Bericht eingereicht. Ich verstehe nicht, wieso ihr ihn nicht einkassiert habt. Ich verstehe nicht, wieso uns Informationen vorenthalten wurden. Irgend jemand muß die Hand über ihn halten.«

Sie hatte ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle.

»Deshalb haben wir das mit dem Anzug gewußt. Aber ich habe nie privat mit ihm verkehrt. Niemals.«

Kasper stellte sich ihr Parfüm vor. Der Duft vom Leben in der Steppe. Mit einem Akzent auf den wilden Kräutern der Taiga.

»Ich habe mich entschieden«, sagte er. »Du gibst deine Stelle auf. Wir studieren eine Nummer ein. Du nimmst fünfzehn Kilo ab. Und trittst im Netztrikot auf.«

Er legte seine Hand auf ihre.

»Wir heiraten«, sagte er. »In der Manege. Wie Diana und Marek.«

Sie war wie gelähmt. Dann riß sie ihre Hand zurück. Wie vor einer Vogelspinne.

Sie stand auf, ging um den Tisch herum und trat auf ihn zu. Mit der körperlichen Sicherheit einer Athletin, aber ohne klares Motiv. Vielleicht wollte sie ihm die Tür weisen. Vielleicht wollte sie ihn zum Schweigen bringen. Vielleicht wollte sie nur ihrer Wut Luft verschaffen.

Sie hätte sitzen bleiben sollen. In derselben Sekunde, in der sie sich erhob, war sie chancenlos.

In dem Augenblick, als sie seinen Stuhl erreichte, kippte dieser nach hinten. Für die anderen sah es aus, als hätte sie ihn umgestürzt. Nur sie beide wußten, daß sie ihn nicht einmal gestreift hatte.

Er rollte über den Boden.

»Asta«, sagte er, »keine Gewalt!«

Sie war in Bewegung, sie wollte ihm ausweichen, es gelang ihr nicht. Sein Körper wurde über den Boden geschleudert, für die Zuschauer sah es aus, als hätte sie ihn getreten. Er rollte gegen das Fahrrad, das auf ihn fiel. Sie griff danach. Es sah aus, als höbe sie ihn vom Boden hoch und schlüge ihn gegen den Türrahmen.

Sie riß die Tür auf. Vielleicht wollte sie hinaus, vielleicht wollte sie um Hilfe rufen, jetzt sah es aus, als schleuderte sie ihn durch das Vorzimmer. Sie folgte ihm. Griff nach seinem Arm. Hastig warf er einen prüfenden Blick auf die Türen, dann ließ er sich erst gegen die eine, dann gegen die andere prallen.

Sie gingen auf. Zwei Männer traten heraus. Weitere Leute aus anderen Büros. Auch Ole Lukøie war auf dem Weg.

Kasper rappelte sich auf. Strich seinen Anzug glatt. Er zog sein Schlüsselbund aus der Tasche, machte einen Schlüssel los und ließ ihn vor der Frau auf den Boden fallen.

»Hier«, sagte er, »dein Wohnungsschlüssel.«

Sie spürte die Blicke ihrer Kollegen. Dann warf sie sich auf ihn.

Sie kam nicht so weit. Der Seniormönch hatte sie an dem einen Arm gepackt, Mørk an dem andern.

Kasper zog sich rückwärts auf den Treppenabsatz zurück.

»Meinen Körper, Asta«, sagte er, »kannst du trotz allem nicht zum Pfand nehmen.«

Die Treppe erreichte man durch eine Tür in der Trennwand aus gehärtetem Glas gleich neben dem Kasten, Ole Lukøie hatte sie offengelassen, er war mit auf den Treppenabsatz hinausgetreten.

Kasper kramte in seiner Tasche nach einem Stück Papier, er fand einen Hundertkronenschein. Er benutzte die Glaswand als Unterlage und schrieb auf den Schein: »Ich habe eine Geheimnummer bekommen. Ich habe mein Schloß ändern lassen. Ich schicke dir den Ring zurück. Laß mich in Ruhe. Kasper.«

»Das ist für Asta«, sagte er. »Ich mache Schluß. Wie heißt dies set-up hier eigentlich?«

»Abteilung H.«

An der Tür waren keine Schilder gewesen. Er reichte dem jungen Mann den Schein mit der Nachricht. Er war Ende Zwanzig. Kasper dachte mit Wehmut an die Leiden, die einen jungen Menschen erwarten. Man konnte sie nicht einmal darauf vorbereiten. Konnte ihnen nichts ersparen. Höchstens versuchen, sie die bittren Erfahrungen, die man einst selbst hatte machen müssen, behutsam erahnen zu lassen.

»Nichts ist von Dauer«, sagte er. »Nicht einmal die Liebe einer Amtmännin.«

Die Kampmannsgade war weißgrau vor Frost. Aber als er auf den Bürgersteig trat, traf ihn grelles Sonnenlicht. Die Welt lächelte ihm zu. Er hatte einen Tropfen lebendigen Wassers in den vergifteten Brunnen der Traurigkeit fallen lassen und ihn dadurch zum Heilquell gemacht. Wie Maxim Gorki so treffend über den großen Dressurclown Anatoli Anatoljewitsch Durow geschrieben hatte.

Er wollte sich in Trab setzen, aber ihm schwindelte. Er hatte in den letzten 24 Stunden nichts zu sich genommen. An der Ecke Farimagsgade war eine Lotterieannahmestelle mit Imbiß, er rettete sich hinein.

Durch die Palette der Pornomagazine in den Zeitschriftenständern konnte er die Straße beobachten, sie war leer.

Ein Verkäufer beugte sich zu ihm herüber. Er hatte noch einen Schein in der Tasche, er hätte sich ein Sandwich und eine Cola kaufen sollen, aber er wußte, daß er nichts herunterkriegen würde, nicht jetzt. Statt dessen kaufte er ein Achtellos der Dänischen Klassenlotterie.

Im Laufschritt erschienen die Mönche auf dem Bürgersteig, aber ihre Glieder waren noch steif, sie waren noch ganz benommen von den Ereignissen. Sie blickten die Straße hoch und runter. Der ältere sprach in ein Mobiltelefon, vielleicht mit seiner Mutter. Dann setzten sie sich in einen großen Renault und waren verschwunden.

Kasper wartete, bis am Bahngraben ein Autobus hielt. Dann überquerte er die Farimagsgade.

Der Bus war fast voll, er fand noch einen Platz auf der letzten Bank, wo er sich in die Ecke sinken ließ.

Er wußte, daß er keinen echten Vorsprung hatte. Er sehnte sich nach Musik, etwas Definitivem. Er fing an zu summen. Die Frau neben ihm rückte von ihm ab. Was man ihr nicht verdenken konnte. Es war der zerrissene Beginn der Toccata in d-Moll. Nicht der dorischen, sondern des Jugendwerks. Er spielte mit dem Lotterieschein. Die Dänische Klassenlotterie war ausgeklügelt. Hohe Prämien. Gewinnchance eins zu fünf. Ausschüttung 65 Prozent. Eine der weltbesten Lotterien. Der Schein war ein Trost. Ein kleines verdichtetes Feld von Möglichkeiten. Eine kleine Kampfansage an das Universum. Mit diesem Schein forderte er Gott die Herrin heraus. Um herauszufinden, ob es sie gab. Sie sollte sich als Gewinn outen. Inmitten der trostlosen statistischen Unwahrscheinlichkeit des Monats April.

3

Für das gewöhnliche Gehör und Bewußtsein breiten sich Kopenhagen und seine Vororte waagerecht aus. Für Kasper hatte die Stadt immer an der Innenwand eines Trichters gelegen.

Oben am Rand, wo Licht und Luft und die Meeresbrise waren, die in den Baumkronen raschelte, lagen Klampenborg und Søllerød und zur Not noch Holte und Virum. Schon bei Bagsværd und Gladsaxe begann der Abstieg, und mit Glostrup hatte man praktisch den Tiefpunkt erreicht. Über der Wüstenei knauseriger Parzellen herrschte ein klaustrophobisches Echo, mit Glostrup und Hvidovre bekam man einen Vorgeschmack auf Amager, so als sänge man geradewegs in das Trichterrohr hinein.

Die bedeutende polnische Nonne Faustina Kowalska hatte einmal gesagt, wenn man nur innig genug bete, könne man sich in der Hölle komfortabel einrichten. Das konnte die Heilige nur sagen, weil sie nie in Glostrup gewesen war, hatte Kasper früher immer gedacht. Jetzt wohnte er seit sechs Monaten hier. Und hatte es liebgewonnen.

Er liebte die Grillbars. Die Jitterbugtanzschulen. Die Gruppen von Hell’s-Angels-Supporters. Die Sarggeschäfte. Die Bratwürste in den Fleischereien. Die Discountläden. Das besondere Licht über den Gärten der Einfamilienhäuser. Den existentiellen Hunger in den Gesichtern, die ihm auf der Straße entgegenkamen, den Hunger nach einem Sinn im Dasein, er kannte das von sich selbst. Manchmal versetzte ihn das in einen absonderlichen Glückszustand. Auch jetzt, am Rande des Abgrunds. Er stieg in Glostrup aus, maßlos glücklich, aber sehr hungrig. Es konnte nicht so weitergehen. Selbst Buddha und Jesus hatten bloß dreißig, vierzig Tage gefastet. Und hinterher gesagt, dann sei es auch echt nicht mehr lustig gewesen. Er blieb vor dem chinesischen Restaurant an der Ecke Siestavej stehen und warf einen diskreten Blick ins Innere. Heute arbeitete die älteste Tochter hinter der Theke. Er trat ein.

»Ich wollte auf Wiedersehen sagen«, sagte er. »Mein Typ wird verlangt. In Belgien. Zirkus Carré. Varieté Zeebrügge. Und dann das amerikanische Fernsehen.«

Er lehnte sich über die Theke.

»Nächstes Frühjahr komme ich wieder und hole dich ab. Ich kaufe eine Insel. Bei Ryukyu. Ich baue dir einen Tempelpavillon. An einer murmelnden Quelle. Moosbewachsene Felsen. Schluß mit den Frittierpfannen. Und während wir uns den Sonnenuntergang über dem Meer ansehen, improvisiere ich.«

Er beugte sich zu ihr herüber und sang:

Aprilmond schimmert

In Tropfen aus Tau

Ihr Kleid ist klamm

Sie beachtet es nicht

Lang spielt sie

Auf silberner Laute

Und fürchtet die einsame

Nacht im Gemach.

Zwei LKW-Fahrern blieb der Bissen im Halse stecken. Das Mädchen sah ihn ernst an, ein Blick unter weichen, gebogenen pechschwarzen Wimpern.

»Und was«, sagte sie, »soll ich dafür machen?«

Er senkte den Kopf, so daß seine Lippen beinah ihr Ohr berührten. Ein weißes Ohr. Wie eine Kreideböschung. Geschwungen wie eine Muschel, gefunden bei Gili Trawangan.

»Einmal gebratenes Gemüse«, flüsterte er. »Mit Reis und Tamari. Und meine Post.«

Sie stellte ihm das Essen auf den Tisch und entschwebte wie eine Tempeltänzerin am Hofe in Jakarta. Sie kam mit einem Brieföffner zurück und legte einen Stapel Umschläge neben seinen Teller.

Es war keine Privatpost dabei. Er machte die Briefe nicht auf. Aber jeden hielt er einen Moment in der Hand, ehe er ihn fallen ließ. Er lauschte seiner Freiheit, Beweglichkeit, Reiseerfahrung nach.

Eine Postkarte lud zu einer Ausstellung moderner italienischer Möbel, bei denen nicht einmal der Spumante darüber hinwegtäuschen konnte, daß man dermaßen schlecht darin saß, daß man von einem Chiropraktiker nach Hause begleitet werden mußte. Es gab düster schimmernde Umschläge von Inkassobüros mit Absenderadressen im Kopenhagener Nordwesten. Es gab Premierenkarten für die neue Oper. Rabattofferten von amerikanischen Luftfahrtgesellschaften. Ein Schreiben eines englischen Verlags über das Nachschlagewerk Great Personalities in 20th Century Comedy. Er ließ alles fallen.

Ein Telefon klingelte. Das Mädchen erschien mit dem Apparat auf einem goldenlackierten Tablettchen.

Sie sahen sich beide an. Kasper hatte eine private Postfachadresse im Gasværksvej. Von dort wurden ihm seine Briefe und Pakete zweimal die Woche hier ins Restaurant gebracht. Gemeldet war er c/o Zirkus Blaff am Grøndals Parkvej. Dort holte er sich alle vierzehn Tage die Behördenschreiben ab. Die private Postfachfirma unterlag der Schweigepflicht. Sonja im Grøndals Parkvej wäre für ihn auf den Scheiterhaufen gestiegen. Eigentlich hätte ihn niemand finden dürfen. Selbst das Finanzamt hatte das Handtuch werfen müssen. Nun hatte es doch jemand geschafft. Er hielt den Hörer ans Ohr.

»Würde es Ihnen passen, wenn wir in einer Viertelstunde vorbeikämen?«

Es war die Blondine.

»Ja, ausgezeichnet«, sagte er.

Sie legte auf. Er blieb mit dem summenden Hörer in der Hand sitzen.

Er erreichte das Bispebjerg-Krankenhaus über die Auskunft. Er wurde mit der Kinderpsychiatrie verbunden. Zusammen mit der schulpsychologischen Beratungsstelle hatten sie so ziemlich alle Informationen über Kinder aus dem Bereich Groß-Kopenhagen.

Die Zentrale stellte ihn zu Dr. von Hessen durch.

Sie war Professorin für Kinderpsychiatrie, er hatte mit ihr zusammengearbeitet, es ging damals um einige schwere Fälle. Für die Kinder war der Prozeß heilend gewesen. Für sie eher komplex.

»Hier ist Kasper. Ich habe Besuch von einem Mann, einer Frau und einem Kind bekommen, einem Mädchen, zehn Jahre alt. Sie heißt KlaraMaria. Sie sagen, du habest sie geschickt.«

Sie war zu überrascht, um Fragen zu stellen.

»Ein Kind mit diesem Namen hatten wir nicht. Nicht in meiner Zeit. Und wir würden nie jemanden überweisen. Nicht ohne Vereinbarung.«

Sie fing an zu rekapitulieren. Schmerzliche Teile der Vergangenheit.

»Jemanden an dich zu überweisen«, sagte sie, »würden wir unter allen Umständen möglichst vermeiden. Ob mit oder ohne Vereinbarung.«

Irgendwo im Hintergrund spielte Schuberts Klaviertrio in Es-Dur. Im Vordergrund summte ein Computer.

»Elizabeth«, sagte er, »schreibst du gerade eine Kontaktanzeige?«

Sie hielt den Atem an.

»Anzeigen haben eine viel zu begrenzte Reichweite«, sagte er. »Die Liebe erfordert, daß man sich öffnet. Die Kontaktfläche muß größer sein als das Internet. Körpertherapie, das wäre was für dich. Und etwas mit der Stimme. Ich könnte dir Gesangsstunden geben.«

Sie schwieg. In der Stille erkannte er Isaac Stern an der Violine. Das Sanfte sehr sanft. Das Harte sehr hart. Die Technik kein Problem. Und die Trauer an der Grenze des Unerträglichen.

Er spürte, daß jemand neben ihm stand, es war das Mädchen. Sie legte ihm einen Bogen Papier hin. Er war weiß.

»Das Lied«, sagte sie, »das Gedicht. Schreib’s mir auf.«

4

Darf Blünows Stallungen und Ateliers bestanden aus vier Gebäuden, die einen großen Hof umschlossen: einem Verwaltungsgebäude mit drei kleinen Büros, zwei Ankleideräumen und einem Übungssaal, einer Probemanege, die wie ein achteckiger Turm gebaut war, einer niedrigen Halle, hinter der sich Ställe, Auslauf- und Longiergehege befanden, sowie einem Lagerhaus mit Werkstätten, Nähstube und Speichern.

Der Zementboden im Hof war von einer dünnen Schicht stillen, klaren Regenwassers bedeckt. Kasper blieb am Eingangstor stehen. Die Sonne zeigte sich, der Wind machte eine kurze Atempause. Die Wasserfläche erstarrte zu einem Spiegel. Wo der Spiegel endete, hielt der schwarze Volvo.

Er ging bis zur Mitte und blieb, bis zu den Knöcheln im Wasser, stehen. Schuhe und Strümpfe sogen sich voll wie Schwämme. Es war, wie wenn man am Ersten Mai am Zeltplatz bei Rørvig Havn in den Fjord hinauswatete.

Die Autotür ging auf, das Mädchen trippelte an der Hauswand entlang. Die Kleine trug eine Sonnenbrille. Hinter ihr die Dame mit den gletscherblonden Haaren. Er ging zu ihnen und machte ihnen auf.

Er betrat die Manege, die kleine Leuchte am Klavier brannte, er schaltete das Oberlicht an.

Es befand sich noch eine vierte Person im Raum, ein Mann, Daffy mußte ihn eingelassen haben. Er saß sechs Sitzreihen weiter hinten, gleich neben dem Notausgang, die Feuerwehr hätte das nicht gern gesehen. Er hatte etwas am Ohr, das Licht war nicht sehr hell, vielleicht war es ein Hörgerät.

Kasper klappte einen Klappstuhl auf, hakte die Frau unter und führte sie an die Bande.

»Ich muß ganz nah dabeibleiben«, sagte sie.

Er lächelte sie an. Und er lächelte das Kind und den Mann am Notausgang an.

»Sie setzen sich hier hin«, sagte er ruhig. »Oder Sie müssen alle raus.«

Sie zögerte einen Moment. Dann setzte sie sich.

Er ging zum Klavier zurück, setzte sich davor, zog die Schuhe aus und die Strümpfe und wrang sie aus. Das Mädchen stand gleich neben ihm. Er klappte den Deckel hoch. Die Atmosphäre war leicht angespannt. Man muß Süße und Licht verbreiten. Er entschied sich für die Arie aus den Goldbergvariationen. Geschrieben, um die schlaflosen Nächte zu lindern.

»Ich bin entführt worden«, sagte das Mädchen.

Sie stand so nah am Klavier, daß sie es fast berührte. Sie war weiß im Gesicht. Das Thema modulierte zu einer Art Fuge, rhythmisch wie ein Guanaco, einschmeichelnd wie ein Wiegenlied.

»Ich bringe dich von ihnen weg«, sagte er.

»Dann tun sie meiner Mutter was an.«

»Du hast keine Mutter.«

Er fand, seine Stimme klang, als gehörte sie einem anderen.

»Du hast es nur nicht gewußt«, sagte sie.

»Haben sie sie auch?«

»Sie können sie finden. Sie können alle finden.«

»Die Polizei?«

Sie schüttelte den Kopf. Die Frau richtete sich auf. Der kleine CD-Spieler, den er für das Morgentraining benutzte, stand auf dem Klavier. Er suchte eine CD aus und drehte das Gerät, damit der Mann und die Frau genau in der Stereolinie saßen. Er zog das Mädchen in den Schallschatten und kniete sich vor sie hin. Hinter ihm schlug Richter die ersten Akkorde an, als wollte er den Flügel mit Steinen pflastern.

»Wie hast du’s geschafft, daß sie dich hergebracht haben?«

»Sonst hätte ich etwas nicht für sie getan.«

»Und zwar?«

Sie antwortete nicht. Er fing von unten an. Die Anspannung in Waden, Schenkeln, Gesäß und Unterleib war erhöht. Aber nicht krampfhaft. Ein sexueller Übergriff oder dergleichen lag jedenfalls nicht vor. Das hätte eine Stasis oder resignierte Unterspannung provoziert, sogar bei ihr. Aber ab dem Solarplexus, wo das Zwerchfell an der Bauchwand haftete, war alles dicht. Die Muskeln des doppelten Rückenstreckers waren gespannt wie zwei Stahltrossen.

Ihre rechte Hand, die dem Blick der Zuschauer entzogen war, suchte seine linke. In seiner Handfläche spürte er ein Stück fest zusammengefaltetes Papier.

»Du findest meine Mutter. Und dann kommt ihr mich holen.«

Die Musik verklang.

»Leg dich hin«, sagte er. »Wo meine Finger dich berühren, tut es weh. Du machst dich mit dem Schmerz vertraut und lauschst ihm. Dann vergeht er.«

Der Ton kam wieder. Richter spielte, als wollte er die Tasten durch den Eisenrahmen schlagen. Die Frau und der Mann hatten sich erhoben.

»Wo halten sie dich fest«, sagte er. »Wo schläfst du?«

»Nicht mehr fragen.«

Seine Finger fanden einen Muskelknoten, doppelseitig, unter der scapula. Er horchte hinein und vernahm Qualen, die einem Kind nicht bekannt sein sollten. Ein heller, gefährlicher Zorn stieg in ihm hoch. Die Frau und der Mann betraten die Manege. Das Mädchen richtete sich auf und blickte ihm in die Augen.

»Du tust, was ich gesagt habe«, sagte sie still. »Sonst siehst du mich nie mehr wieder.«

Er hob seine Hände an ihr Gesicht und nahm ihr die Sonnenbrille ab. Ein Schlag hatte sie am Rand der Augenbraue getroffen, das Blut hatte sich unter der Haut oberhalb des Kieferknochens gesammelt. Das Auge schien unverletzt zu sein.

Sie begegnete seinem Blick. Ohne zu blinzeln. Sie nahm ihm die Sonnenbrille aus der Hand. Setzte sie auf.

Er machte ihnen die Tür auf.

»Kontinuität ist ganz wichtig, gerade am Anfang«, sagte er. »Es wäre schön, wenn sie morgen wiederkommen könnte.«

»Sie muß in die Schule.«

»Man arbeitet am besten, wenn man die Zusammenhänge kennt«, sagte er. »In welcher Situation befindet sie sich, sind Vater und Mutter geschieden, gibt es Schwierigkeiten? Ein paar Informationen würden schon helfen.«

»Wir begleiten sie nur«, sagte die Frau. »Wir brauchen zuerst die Zustimmung der Familie.«

Das Gesicht des Mädchens war ausdruckslos. Kasper trat einen Schritt vom Auto weg, es rollte ins Meer hinaus.

Er steckte die Hand in die Tasche, um einen Zettel zu finden, auf dem er schreiben konnte. Er fand die Spielkarte. Mit dem Füller notierte er sich das Kennzeichen. Solange er sich noch daran erinnern konnte. Wenn man die Vierzig erreicht hat, läßt das Kurzzeitgedächtnis zunehmend nach.

Er spürte die Kälte von unten. Ihm fiel ein, daß er barfuß war. An seinen Fußsohlen klebte noch das Sägemehl der Manege.

5

Hinter der Manege, neben einer Reihe von Stromkästen und Wasseranschlüssen, stand das Wohnmobil. Er machte das Licht an und setzte sich aufs Sofa. Das Mädchen hatte ihm ein etliche Male gefaltetes, zu einem kleinen, harten Päckchen zusammengedrücktes DIN-A5-Blatt in die Hand gedrückt. Er faltete es ganz langsam auseinander. Es war eine Postquittung. Sie hatte die Rückseite beschrieben.

Es ähnelte einer Seeräuberkarte, entworfen von einem Kind. Sie hatte ein Haus gezeichnet mit einer Art Wirtschaftsgebäude auf jeder Seite; unter der Zeichnung stand »Krankenhaus«. Darunter drei weitere Wörter: »Lone Hebamme« und »Kain«. Mehr nicht. Er drehte den Zettel um und sah auf die Quittung. Der Absender war sie selbst, sie hatte nur ihren Vornamen vermerkt, KlaraMaria. Den Empfängernamen konnte er zunächst nicht entziffern, weil sein Gehirn aussetzte. Er schloß die Augen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Dann las er den Namen.

Er stand auf. Aus dem Regal bei den Noten zog er eine kleine gebundene Ausgabe von Bachs Klavierbüchlein hervor und schlug sie auf. Es war nicht das Klavierbüchlein, es war ein Paß darin verborgen, zwischen den letzten Seiten lag ein Zettel mit mehreren Telefonnummern.

Er ging mit dem Telefon zum Couchtisch und wählte die erste Nummer auf dem Zettel.

»Rabiastift. Guten Tag.«

Es war eine junge Stimme, die er nicht kannte.

»Hier ist der Amtsarzt. Guten Tag«, sagte er. »Ich möchte gern die stellvertretende Direktorin sprechen.«

Es verging eine Minute. Dann näherte sich ein Körper dem Telefon.

»Ja?«

Es war eine appetitliche Stimme. Die Frau, der sie gehörte, hatte er vor einem Jahr getroffen. Ein Bissen hätte einen sämtliche Zähne kosten können, in Ober- und Unterkiefer. Aber nicht heute. Heute war die Stimme heiser und beinah leblos vor Trauer.

Er legte auf. Er hatte nur das eine Wort gehört, das reichte. Es war eine Stimme, der ein Kind abhanden gekommen war.

Er wählte die nächste Nummer.

»Die Internationale Schule.«

»Hier Kasper Krone«, sagte er, »Truppführer bei den Freien Vögeln, ich habe eine Nachricht für eine meiner jungen Pfadfinderinnen, KlaraMaria, eins unserer Treffen ist verlegt worden.«

Die Stimme räusperte sich, versuchte sich zu sammeln. Versuchte sich trotz des Schocks daran zu erinnern, was sie in einem solchen Fall zu sagen hatte.

»Sie ist zwei, drei Tage in Jütland. Bei Verwandten. Kann ich ihr was ausrichten, wenn sie wieder da ist, kann sie Sie irgendwie erreichen?«

»Bestellen Sie ihr nur einen Pfadfindergruß«, sagte er. »Von der Einheit in Ballerup.«

Er lehnte sich im Sofa zurück. So blieb er sitzen. Bis alles normal war. Mit Ausnahme der Kälte und der Angst, die sich zu einem Punkt im Magen zusammengezogen hatten.

6

Seit sich James Stuart der Ältere Mitte des 19. Jahrhunderts im Pariser Zirkus Medranos hatte guillotinieren lassen und daraufhin seinen abgetrennten Kopf aufgehoben und die Manege unter apokalyptischem Applaus verlassen hatte, war es keinem mehr vergönnt gewesen, den Tod auf die Bühne zu bringen, es war das allerschwierigste überhaupt. Kasper hatte es zwanzig Jahre lang erfolglos versucht. Die Machtlosigkeit übernahm das Ruder, auch jetzt wieder.

Er überquerte den Blegdamsvej und benutzte einen der Nebeneingänge zum Fælledpark. Das Reichskrankenhaus glich dem Backstage-Bereich eines grauen Zirkus in der Unterwelt: das gedämpfte Licht der weißen Vorhänge, die Nacktheit der Menschen, die uniformierten Beamten. Die Hierarchien. Die Charakterrollen. Die Ansammlung polierten Stahls. Das Geräusch einer unsichtbaren Maschinerie. Der Geschmack von Adrenalin im Speichel. Das Gefühl, an einer Grenzlinie zu stehen.

Er stieg aus dem Fahrstuhl. Mit der Spielkarte in der Hand buchstabierte er sich durch das weiße Labyrinth der Bettentrakte, suchte das richtige Zimmer und öffnete die Tür.

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