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VORWORT

Die größte Herausforderung unseres Lebens ist der Umgang mit unseren Mitmenschen. Wie in einer Ehe. Oder in der Beziehung zwischen Trainer und Spieler. Um diese Herausforderung zu meistern, sollte man Situationen richtig bewerten können und seine Erfahrungen richtig einsetzen. Erfahrung ist ein hohes Gut.

Es hat einen Grund, warum ich seit 55 Jahren mit meiner Beate verheiratet bin.

Es hat einen Grund, warum Mario Basler heute sagt, dass ich der einzige Trainer in seiner Laufbahn war, der ihn wirklich verstanden hat.

Als ich Mario 1993 aus der Zweiten Bundesliga zu Werder Bremen holte, war er bereits ein begnadeter Fußballer. Aber auch ein außergewöhnlicher Typ, der nicht einfach zu handeln war. Mein alter Freund Bernd Stange sagte damals einen Satz, der ihm später leidtun sollte, den er vermutlich aber nicht völlig grundlos von sich gab: „Mario ist bis zum Hals Weltklasse. Darüber Kreisklasse.“ Mir war das egal. Ich wollte mir mein eigenes Urteil bilden. Ich wollte die Herausforderung Mario Basler annehmen.

Zugegeben: Es war nicht immer einfach mit diesem Typ, der so anders war als ich. Ich komme aus einer anderen Zeit, bin im Geiste immer ein alter Preuße geblieben, für den Disziplin und Ordnung sehr wichtig waren. Im Vergleich zu mir war Mario ein Hallodri. Einer, dem Zucht und Ordnung nicht so viel bedeuteten. Für den Regeln vor allem dazu da waren, um ihre Grenzen auszuloten. Und doch waren wir uns vom ersten Tag an sympathisch. Und sind es bis heute geblieben.

Das hat viele Gründe. Zum einen, weil wir vor allem in Bremen sehr erfolgreich zusammenarbeiteten. Und gerade in der Welt des Leistungssports hängt am Ende alles vom Ergebnis ab. Aus Mario, dem unbekannten Zweitligaspieler, wurde in wenigen Monaten Super-Mario, der Nationalspieler und Torschützenkönig. Einer der besten offensiven Mittelfeldspieler Europas. Ein spektakulärer Fußballer, der auf dem Rasen Dinge tat, die bis heute nicht vergessen sind.

Zum anderen, und das ist viel entscheidender als alle Vorlagen und Tore zusammen, ist Mario im Grunde seiner Seele ein lieber Kerl, von dem ich ohne Zweifel sagen kann, dass er einer der besten Spieler war, die ich in meiner langen Karriere je trainiert habe.

Otto Rehhagel

PROLOG

BARCELONA

Noch eine Stunde bis zum größten Spiel meines Lebens. Heute ist der 26. Mai 1999 und draußen warten 90.245 Menschen im legendären Camp Nou von Barcelona auf den Anstoß. Das Finale der Champions League. Mein FC Bayern gegen Manchester United. Wer heute gewinnt, ist die beste Mannschaft Europas.

Auf der Toilette bin ich ungestört. Erstmal eine rauchen. Jeder hat seine Art, sich auf die nächste Partie vorzubereiten. Effe und Oli Kahn sind schon längst im Tunnel, für die zählen jetzt nur noch die kommenden 90 Minuten. Der lange Jancker schiebt sich die Schienbeinschoner zurecht. Der kleine Scholl lässt sich tapen. Und mittendrin Ottmar Hitzfeld, unser General. Ich mag ihn, ich respektiere ihn. Er ist ein hervorragender Trainer. Er lässt mich spielen. Und vor allem meine Kippe rauchen.

Die Zigarette ist fast runtergebrannt. Vermutlich denken ein paar der Jungs noch an die Mannschaftsbesprechung von heute Vormittag. „Die betrachten jeden Eckball als Torchance“, hatte Michael Henke unser Co-Trainer erklärt. „Die englischen Fans haben das verinnerlicht, die gehen bei jedem Eckball hoch, als gäbe es einen Freistoß direkt an der Strafraumgrenze.“

Ich gehe zurück in die Kabine. Völlig tiefenentspannt, ich bin null Komma null nervös. Warum auch? Ich liebe solche Spiele. Genau dafür wollten wir doch alle Fußballer werden. Aber ein paar der Jungs wirken nervös. Ich finde: Wer sich bei so einem Spiel in die Hosen scheißt, hat den Beruf verfehlt. Kann es etwas Geileres geben, als gleich vor 90.000 im Camp Nou das Champions-League-Finale zu spielen?

Fußball ist wie Theater. Und meistens spiele ich dabei die Hauptrolle. Eine bessere Bühne als das Camp Nou kann es nicht geben. Draußen sind die Leute schon am Kochen, wir können das bis in die Kabine spüren. Unsere Fans haben sich die Spider Murphy Gang als Vorband für dieses Spiel gewünscht, das ganze Stadion feiert den Skandal im Sperrbezirk: „Unter zwounddreißig sechzehn acht herrscht Konjunktur die ganze Nacht.“

Apropos. Die Nacht vor dem wichtigsten Spiel seiner Karriere hat Mario Basler an der Theke verbracht. Hier, in der Bar des Teamhotels, hat er Zigaretten geraucht und Weißbier getrunken und darauf gewartet, dass er müde wird. Um halb drei Uhr morgens nimmt sich Bayern-Manager Uli Hoeneß seinen Angestellten zur Brust.

„Wenn du jetzt nicht schlafen gehst, kannst du morgen auch nicht spielen!“

Antwort Basler: „Dann können wir auch nicht gewinnen.“

Endlich geht es raus aus der Kabine, rein in den Tunnel und dann aufs Spielfeld. Das ganze Stadion ist rot und weiß, was für eine geile Atmosphäre. Bei der Champions-League-Hymne bekomme ich eine Gänsehaut.

Die Meister

Die Besten

Les grandes équipes

The champions

Nach zweieinhalb Minuten komme ich das erste Mal an den Ball und kann mit der Hacke unseren ersten Angriff einleiten. Doch die Gefahr verpufft. In der vierten Minute kloppt Tanne Tarnat den Ball lang nach vorne, Jeremies schickt Jancker und der wird kurz vor der Strafraumkante gefoult. Freistoß für uns. Freistoß für mich. Her mit dem Ball.

Schmeichel postiert hektisch seine Mauer. Soll er nur. Ich weiß ganz genau, wohin ich schießen werde. Uniteds Keeper geht hundertpro davon aus, dass ich den Ball über die Mauer zirkele. Also hau ich ihm das Ding direkt auf seine Torwartecke. Wenn er nur den einen Schritt zur Seite macht, ist der Ball drin. Effe kommt zu mir, was will der denn jetzt? „Mario“, raunt er mir zu, „den musste nur über die Mauer heben!“ Von wegen.

Schiedsrichter Pierluigi Collina gibt den Ball frei. Markus Babbel schiebt Nicky Butt zur Seite und ich habe freie Bahn. Schmeichel hat tatsächlich den Schritt gemacht, er hat keine Chance. Rechts unten fliegt der Ball ins Tor. TOR! 1: 0! JAAA! Auf den Knien rutsche ich über den Rasen im Camp Nou und rein in die Herrlichkeit. Die Jungs stürzen sich auf mich. Nach sechs Minuten führen wir mit 1: 0 gegen Manchester United. Wir werden dieses Spiel gewinnen.

Alles läuft nach Plan an diesem Tag. Die frühe Führung hat Manchester verunsichert und uns nur noch stärker gemacht, wir zwingen United unser Spiel auf und sind ganz klar die bessere Mannschaft. Von David Beckham, Manchesters Wunderjunge, kommt in den ersten 45 Minuten so gut wie gar nichts, der ist eigentlich nur damit beschäftigt, Effes Wege zu stören. Mit dem 1: 0 geht es in die Kabine.

Wenige Minuten nach dem Wiederanpfiff passierte Folgendes: Basler schlägt eine Ecke auf den kurzen Pfosten, wo Andy Cole den Ball direkt zu Blomqvist köpft, dem sich nun die bislang beste Möglichkeit zu einem Konter bietet. Ein Großteil der Bayern befindet sich noch in der gegnerischen Hälfte, als der Schwede den Ball über die Mittellinie treibt und Blickkontakt zu Ryan Giggs aufnimmt, der auf der linken Seite durchgestartet ist. Doch aus dem rechten unteren Bildrand sieht man einen Münchener in hohem Tempo zurücksprinten. Kaum zu glauben, es ist tatsächlich Mario Basler, der als Fußballer viele Stärken besitzt, aber die Rückwärtsbewegung gehört ganz sicher nicht dazu. Doch das hier heute ist nicht Bayern gegen Duisburg oder Werder gegen Freiburg, sondern das Finale der Champions League und deshalb zieht Basler noch einmal an und grätscht den Steilpass von Blomqvist zehn Meter hinter der Mittelinie ins Seitenaus. 30.000 mitgereiste Bayern-Fans jubeln. Dass man das noch erleben darf.

Von Manchester kommt immer noch nichts. Im Zentrum räumen Jeremies und Effe alles weg, dahinter wartet unsere Dreierkette mit Kuffour, Tarnat und Linke und irgendwo dazwischen macht Lothar noch einmal ein großes Spiel. Nach einer Stunde spielt mir Jerry den Ball an der Mittellinie zu. Kurzer Blick nach oben. Wo ist Jancker, wo ist Zickler? Beide eng gedeckt. Wo ist Schmeichel? Natürlich noch immer viel zu weit vor dem Tor. Klar, dass ich es noch mal versuche. Schmeichel stolpert beim Zurücklaufen und fast wäre ihm die Kirsche schön hinten reingefallen.

An der Seitenlinie macht sich Ole Gunnar Solskjær warm, der Sohn eines früheren norwegischen Wrestling-Champions und im Frühjahr 1999 einer von Fergusons Edeljokern, dem in dieser Saison wettbewerbsübergreifend bereits 17 Tore gelungen sind.

Nach einem Kopfballgeplänkel im Mittelkreis tritt David Beckham Lothar Matthäus rüde über den Haufen, der Weltmeister von 1990 bleibt mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen, kann aber weiterspielen. Erstmal.

Lothar ist 38 Jahre alt und seit 19 Jahren Nationalspieler. Eine lebende Legende, tausendmal verletzt, tausendmal wiedergekommen. Eine Maschine. Aber der Oberschenkel zwickt, es reicht nicht mehr für 90 Minuten. Vielleicht war das Tackling von Beckham heftiger, als ich dachte, aber scheinbar hat ihm das den Rest gegeben. Er gibt Handzeichen nach außen, will ausgewechselt werden. Lothar, denke ich, bleib drauf und lass uns das Ding nach Hause schaukeln! Doch es geht nicht mehr.

Bevor Lothar vom Platz geht, gelingt uns beinahe das 2:0. Effe spielt mir in der eigenen Hälfte den Ball zu, ich schmeiße den Turbo an, mache Beckham an der Mittellinie frisch, dribble an den Rand von Uniteds Strafraum, übergebe den Ball an Scholli und der überwindet Schmeichel fast mit einem herrlichen Lupfer. Verdammter Pfosten, verdammter Schmeichel. Noch immer 1: 0. Nur 1: 0.

Eine Minute später wechselt auch Alex Ferguson das zweite Mal. Seit der 67. Minute ist bereits Teddy Sheringham im Spiel. Jetzt bringt der Trainerfuchs Solskjær für Andy Cole. Kurz darauf schlägt Basler den Ball in die Mitte, von dort gelangt er zu Scholl, der ihn zwei Meter weiter nach vorne köpft, wo Carsten Jancker mit dem Rücken zum Tor steht. Sein Fallrückzieher kracht gegen die Latte.

Auf Bayerns Ersatzbank herrscht rege Betriebsamkeit. Betreuer schleppen Kisten aus den Katakomben. Darin: frische Trikots für die Siegerehrung und Baseballkappen mit der Aufschrift:

„Champions-League-Sieger 1999 – FC Bayern München“.

United wird jetzt stärker, unserer Defensive fehlt die Ordnung. Thorsten Fink ist noch nicht warm, Lothars Fehlen macht sich bemerkbar. Aber nicht mehr lange, dann sind wir durch. 89. Minute. Hitzfeld zeigt es an: Ich soll runter, Brazzo steht bereit. Langsam trabe ich vom Rasen, drehe an der Uhr und genieße den Applaus von den Rängen. Ich weiß es, die 90.245 wissen es, Hitzfeld weiß es: Der beste Mann geht vom Platz. In wenigen Minuten sind wir Champions-League-Sieger.

Die Nachspielzeit wird angezeigt. Drei Minuten. Auf der Bank greife ich mir eine von den Mützen. Mustere sie, setze sie kurz mal auf. Sitzt, wackelt und hat Luft.

Um exakt 22.30 Uhr Ortszeit bringt Gary Neville den Ball per Einwurf in den Bayern-Strafraum. Sammy Kuffour köpft das Leder in die Mitte, wo Beckham es kontrollieren kann, Scholl abschüttelt und auf links zu Neville durchsteckt. Mit seinem schwächeren linken Fuß bringt der Engländer eine Flanke in die Mitte, wo Stefan Effenberg mit einer Grätsche zur Ecke klärt. Die United-Fans schreien auf, Michael Henke bekommt eine Gänsehaut.

„Can Manchester United score?“, fragt der englische TV-Kommentator Clive Tyldesley, „they always score.“ Sie treffen doch sonst immer. Peter Schmeichel kommt mit nach vorne. Beckham bringt die Ecke rein, Schmeichel wirft sich mit seinen 95 Kilo ins Getümmel. Der Ball kommt zu Dwight Yorke, dem nur noch ein lascher Kopfball gelingt, direkt vor die Füße von Thorsten Fink. Fink muss den Ball jetzt nur noch volley aus der Gefahrenzone dreschen, so einen Ball spielt ein Verteidiger tausendmal in seinem Leben. Und 999-mal hat Fink den verdammten Ball auch voll erwischt und notfalls über das Stadiondach geschossen, aber jetzt, hier, in diesem Moment, in der Nachspielzeit im Finale der Champions League beim Stand von 1: 0 für seine Mannschaft, rutscht ihm der Ball vom Spann und landet 18 Meter vor dem Tor von Oliver Kahn bei Ryan Giggs, der ihn mit seinem schwächeren rechten Fuß blind nach vorne schlägt, wo sich leicht rechts von Oliver Kahn Mehmet Scholl einfach wegdreht und sich Teddy Sheringham wie jeder vernünftige Torjäger diese Chance nicht entgehen lässt. Es steht tatsächlich 1:1.

Du heilige Scheiße. Nie im Leben darf dieses Tor fallen. Meine Wolke sieben in Luft aufgelöst, ich stürze vom Himmel in die Hölle. Jetzt wird mir bewusst, dass wir dieses Spiel noch verlieren werden. Uns fehlt die Energie für die Verlängerung. Vielleicht kann uns Kahn retten, wenn wir es ins Elfmeterschießen schaffen, aber eigentlich bin ich mir jetzt ganz sicher, dass wir es vergeigt haben. In diesem Moment taucht Charly Ehmann, unser treuer Zeugwart, mit einem Kübel Schampus auf. „Charly“, rufe ich, „stell das Zeug nochmal kalt, das dauert noch ein bisschen.“ Die ganze Bank ist geschockt. Lothar sitzt da, zur Salzsäule erstarrt, Hitzfeld wirkt hilflos. Was passiert hier eigentlich?

Mit letzter Kraft klärt Kuffour den nächsten Angriff von United zur Ecke, Solskjær hat ihn rausgeholt. Beckham nimmt sich den Ball und schnibbelt ihn auf den Kopf von Sheringham, der ihn zu Solskjær verlängert. Der streckt geistesgegenwärtig das rechte Bein aus und erwischt den Ball. Es steht 2:1 für Manchester United. Peter Schmeichel schlägt vor Freude ein Rad.

Während um mich herum alles explodiert, stehe ich auf und gehe in die Kabine, ohne mich noch einmal umzuschauen. Niemand ist da, ich bin ganz allein. Ich nehme mir eine Kippe, setzte mich damit in die Dusche und zünde sie an. Mein Kopf ist leer, mein Körper in diesem Moment eine leblose Hülle. Der Schock sitzt tief. Was ist da gerade passiert? Ich weiß es nicht. Wir haben verloren, haben das Finale der Champions League in 102 Sekunden abgeschenkt. Die Tür geht auf. Rummenigge und Beckenbauer. Sie schauen mich an, ich schaue sie an. Keiner sagt ein Wort. Beckenbauer schüttelt den Kopf wie ein Wackeldackel. Nach ein paar Minuten verlässt er die Kabine und geht zur Siegerehrung. Mich kriegen keine zehn Pferde dahin, zweiter Platz ist wie letzter Platz, die scheiß Medaille will ich nicht. Ich will jetzt einfach hierbleiben, in der Dusche unserer leeren Kabine.

Kalle bleibt mit mir in der Kabine. Immer noch sagt keiner ein Wort. „We are the champions“ singen die Engländer, aber einen Scheiß sind sie. Niemals hätten wir dieses Spiel verlieren dürfen. Nach und nach kommen die anderen in die Umkleide. Alle schweigen, die Stille ist unheimlich. Das ist die schlimmste Niederlage meines Sportlerlebens.

Erst langsam lässt mein Kopf andere Gedanken zu. Diese letzten Minuten waren grausam. Aber niemand ist gestorben. Wir haben keinen Krieg verloren, sondern ein Fußballspiel. Alle sind gesund. Ich reagiere intuitiv: Egal, ich will jetzt feiern. Ich kann solche Dinge schnell abhaken, so bin ich gepolt.

Beim Bankett kommt die Partykarawane langsam in Schwung. Nicht lange und wir tanzen auf den Tischen. Um kurz vor vier spielt der DJ den Hit der Nacht: Mambo No. 5 von Lou Bega. Lothar und ich springen wie blöde herum. Plötzlich ruft Kalle Rummenigge: „Mario, du kriegst ´n Vertrag auf Lebenszeit bei uns!“ Ich antworte: „Da gehören aber immer zwei dazu, Kalle. Einer, der den Vertrag anbietet, einer, der ihn unterschreibt.“ Kalle guckt irritiert.

Keine Ahnung, wann und wie ich ins Bett komme, aber am nächsten Morgen geht es mit dem Flieger schon wieder zurück nach München. Am Flughafen verabschiede ich mich von der Mannschaft, mein Kumpel Fabrizio feiert heute seinen 30. Geburtstag, ich habe ihm versprochen, dass ich komme.

Dieses verdammte Finale ist schon wieder ganz weit weg.

KAPITEL 1

NEUSTADT

Als ich in die C-Jugend kam, machte mir mein Papa einen Vorschlag, den er schon bald bereuen sollte.

„Mario“, sagte er zu mir, „für jedes Tor, dass du in dieser Saison schießt, bekommst du von mir fünf Mark.“

Pro Treffer einen Heiermann, Anfang der 80er-Jahre war das für einen 13-Jährigen eine recht stattliche Prämie. Nach 40 Toren und insgesamt 200 DM nahm er mich zur Seite: „Mario, das wird mir zu teuer.“ Was nur beweist, was für ein schlauer Mann mein alter Herr war, denn am Ende der Saison hatte ich 76 Tore geschossen. Als Libero.

Ich stamme aus Neustadt an der Weinstraße am Rand des Pfälzerwaldes. Jedes Jahr wird hier die Deutsche Weinkönigin gekürt und weil nirgendwo auf der Welt besserer Wein hergestellt wird, machte ich hier auch meine ersten Erfahrungen mit den edlen Früchten. Wenn ich mal keinen Bock aufs Training hatte, verzog ich mich in die Weinberge und schlug mir den Bauch mit Trauben voll. Jahre später stieg ich auf gepresste Trauben um.

In meiner Familie drehte sich alles um Fußball. Meine arme Mutter: Ihr Mann und ihre drei Söhne waren komplett fußballverrückt, jedes Wochenende verbrachte sie auf irgendwelchen Sportplätzen, um Mike, Matthias und mich kicken zu sehen. Zum Glück bekam sie dann ganz zum Schluss doch noch eine Tochter: Monja, unser Nesthäkchen. Papa arbeitete als Maschinenschlosser bei Bilfinger, Mama bei der Post. Nicht selten kam es vor, dass unser Vater wochenlang ins Ausland musste. Ich habe ihn dann ganz besonders vermisst. Er war nicht nur mein Papa, er war mein Held, mein Vorbild. Ihn kannte jeder in Neustadt. Er hatte immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, aber wenn ihm einer blöde kam, dann fackelte er nicht lange. Später, als ich älter war, nahm er mich mit in seine Stammkneipen, aber er zeigte mir auch eine Welt jenseits vom Tresen. Unvergessen sind die wunderbaren Tage, wenn wir alle zusammen einmal im Jahr mit dem Wohnwagen ans Meer oder ins Allgäu fuhren.

Ich hatte schon als kleiner Junge einen recht ordentlichen Schuss, aber eigentlich wollte ich Torwart werden. Als mich meine Eltern schließlich mit fünf in der F-Jugend vom VfL Neustadt anmeldeten, polsterte mir meine Mama die Hose aus, damit ich mir bei meinen Glanzparaden auch nicht die talentierten Beine ruinierte. Aber gleich in einem der ersten Einsätze kassierte ich 13 Stück und fing an zu heulen. Die Lust am Torwart-Dasein war mir gründlich vergangen. Erst als mir mein Vater versprach, dass ich nie wieder Torhüter sein musste, ging ich wieder zum Training.

Mein erster Trainer war Jürgen Weber, ein junger Kerl, der bei uns in der Straße wohnte. Es dauerte nicht lange, bis ich sein bester Spieler wurde.

„Mario hatte unübersehbare Fähigkeiten, allen voran diesen rechten Fuß, mit dem er schon damals Tore produzierte, über die noch Wochen später gesprochen wurde. Schon in der E-Jugend spielten wir auf dem Großfeld. In einem Spiel gegen Wachenheim zirkelte Mario einen Eckball direkt ins Tor, sowas hatte ich von einem Jungen in seinem Alter zuvor noch nie gesehen.“

(Jürgen Weber)

In der Saison 1975/76 nahm mich mein Vater das erste Mal mit auf den Betzenberg. Auf mich hatte das Stadion eine geradezu magische Anziehungskraft. Der Rasen, die Banden, die Tribünen, das Flutlicht, alles. Ich sah die Männer da unten auf dem Platz und dachte: Genau das will ich auch. In der ersten Reihe der Ostkurve, direkt am Spielfeldrand, sog ich alles um mich rum auf wie ein Schwamm. Ich beobachtete alles haargenau. Wie machte sich Klaus Toppmöller warm? Wie reagierte Hans-Peter Briegel auf die Anweisungen des Trainers? Wann setzte Walter Frosch zur Grätsche an? Mir war schon als kleiner Junge völlig klar, dass auch ich Profi werden würde. Und zwar nicht nur irgendein Bundesligaspieler, sondern einer der besten.

Aber eigentlich gehörte mein Herz Borussia Mönchengladbach. Ich verehrte Allan Simonsen, den kleinen Dänen. Wenn ich nach Mönchengladbach fuhr, trug ich sein Trikot. Auf dem Schulhof konnte ich meine Leidenschaft für die Borussia nicht so offen zeigen, aber zu Hause schlief ich in Gladbach-Bettwäsche.

In meinem Verein war ich bald der beste Spieler und auch außerhalb der Stadtgrenzen hatte man von mir Notiz genommen. Ich wurde erst für die Kreisauswahl und dann für die Südwestauswahl nominiert. Trotzdem spielte ich mit 15 immer noch beim VfL Neustadt. Aber das sollte sich ändern und der Mann, der daran den größten Anteil hatte, hieß Hans-Günther Neues. Er erkannte als Erster mein Potenzial, es sogar zu den Profis schaffen zu können – und er verfügte über die richtigen Verbindungen. Neues organisierte ein Freundschaftsspiel zwischen dem VfL Neustadt und dem FCK und stellte mich vor den Augen der anwesenden Verantwortlichen aus Kaiserslautern auf meiner angestammten Position als Libero auf. Ich machte ein gutes Spiel, verschuldete allerdings auch einen Elfmeter. Nach dem Spiel zogen sich die Herren vom FCK zurück. Banges Warten vor der Umkleidekabine. Schließlich war die Beratung vorüber und man teilte mir mit, dass man mich für die A-Jugend haben wollte. Der nächste Schritt auf der Karriereleiter!

KAPITEL 2

KAISERSLAUTERN

Da war ich nun, 15 Jahre alt, dünn wie ein Rebstock, die Haare vorne kurz und hinten lang. Die Schonzeit bei meinem VfL Neustadt war vorbei. Kaiserslautern würde eine ganz andere Hausnummer sein. Beim FCK war ich ein Niemand unter den besten Jugendspielern der Region. „Junge“, sagte mein Vater, „kicken kannst du. Es liegt nur an dir.“

Ganz allein würde ich bei meinem neuen Verein nicht sein, auch mein Bruder Mike sollte seine Chance beim großen Klub bekommen. Zusätzlicher Vorteil für mich: Mike verfügte bereits über ein Moped und konnte mich deshalb häufig mit zum Training nehmen. Wie oft war ich diese Strecke schon gefahren, um meine Feldstudien im Stadion fortzusetzen, jetzt stand ich selbst unter Beobachtung. Mein Nackenspoiler wehte im Wind, in meinem Mundwinkel klemmte eine Zigarette, vor uns lag der Betzenberg. Sommer 1984, die Welt lag mir zu Füßen.

Mein neuer Trainer hieß Ernst Diehl – vorstellen musste mir den niemand. Ernst hatte von 1967 bis 1978 bei den „Roten Teufeln“ einen eisenharten Vorstopper gegeben und mit ihnen 1972 und 1976 sogar das Pokalfinale erreicht. „Du bist hier beim FCK und nicht mehr in Neustadt“, nordete mich Diehl ein. Aber seine Worte verfehlten ihre Wirkung. Ganz im Vertrauen auf meinen rechten Fuß nahm ich mir einiges raus, was mir gar nicht gut bekam. Nach ein paar Monaten hatte Diehl genug. Er degradierte mich von der A1 in die A2: „Ich gebe dir ein halbes Jahr. Wenn du dann nicht die Kurve gekriegt hast, kannst du den Verein wieder verlassen.“ Das war mal eine Ansage, die sogar ich verstand.

Zu meinem Glück fiel Diehls Ultimatum in die beginnende Wintersaison, denn in der Halle, das wusste ich, würde ich ihm beweisen können, wie viel Talent ich tatsächlich in mir hatte. Gleich bei unserem ersten Hallenturnier wurde ich Torschützenkönig und als bester Spieler ausgezeichnet. Nach der Hallensaison nahm er mich wieder in die erste Mannschaft auf. Mit inzwischen 16 Jahren gehörte ich nun endgültig zur A-Jugend des berühmten Bundesligisten.

Sommer 1986. In Bremen knallte Michael Kutzop einen Elfmeter gegen den Pfosten und machte den FC Bayern damit letztlich zum Meister. Der FCK schloss die Saison auf einem enttäuschenden elften Platz ab. Bei der Weltmeisterschaft in Mexiko eroberte ein kleines, untersetztes Genie aus Argentinien die Fußballwelt. Und zwischen Neustadt und Kaiserslautern zuckelte ich weiterhin viermal die Woche nach Feierabend auf dem Rücksitz des brüderlichen Mofas zu den Trainingseinheiten in der Lauterer A-Jugend. Zur neuen Spielzeit bekamen wir Zuwachs in der Mannschaft. Vom FSV Mainz 05 wechselte ein gewisser Fabrizio Hayer zu uns. In kürzester Zeit entwickelte sich zwischen uns eine enge Freundschaft, die bis heute Bestand hat. Fabrizio und ich waren wie Pech und Schwefel. Zeitweise wohnten wir sogar zusammen.

Auf und neben dem Platz konnte Heißspornen wie uns auch schon mal die Sicherung durchbrennen. Einmal gerieten wir in einem Trainingsspiel so heftig aneinander, dass uns Ernst Diehl wütend auf den Nebenplatz scheuchte, wo wir beide eine halbe Stunde lang im Eins-gegen-eins antreten mussten. Im Neuschnee. Erst als wir kotzend über der Bande hingen, beendete Diehl seine Lektion. Wir hatten es mal wieder auf die harte Tour lernen müssen.

Die Freiheiten, die wir uns aufgrund unserer Spielweise auf dem Sportplatz nehmen konnten, genossen wir auch nach Feierabend. Einmal lieh ich mir den hübschen Sportwagen seines Vaters aus und drehte eine Runde durch die Stadt – natürlich ohne Führerschein. Fabrizio hätte fast einen Herzinfarkt bekommen.

Nach der ersten Saison bat uns Ernst Diehl zum Gespräch: „Männer, ihr habt beide enorme Fortschritte gemacht und ich bin davon überzeugt, dass ihr es beide ganz nach oben schaffen könnt. Deshalb habe ich euch oben als Vertragsamateure empfohlen.“ Fabrizio und ich blieben erst mal ganz cool, aber natürlich haben wir die die gute Nachricht später am Abend ausgiebig gefeiert. Man gab uns die Chance, ab sofort bei den Profis mit zu trainieren, die Türen zu den großen Bühnen der Bundesliga standen auf einmal ganz weit offen.

Doch auch diese Prüfung wurde mir nicht gerade leicht gemacht. Die Mannschaft war großartig und meiner Meinung nach voller Legenden. Wie Jürgen Groh, ein Abwehrspieler, der 1983 mit dem HSV den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte. Er hielt seine schützende Hand über uns und erklärte uns, wie der Hase so läuft.

Der bekannteste Spieler im Kader war ein echtes Urviech der Bundesliga: Wolfram Wuttke. Wutti war ein unglaublicher Fußballer, der mit seinem Außenrist besser passen konnte als andere Profis mit der Innenseite. Er war der Inbegriff des schlampigen Genies. An manchen Tagen entschied er ein Spiel ganz allein und dann hatte er mal wieder keinen Bock zu trainieren. Selbstverständlich war ich fasziniert von ihm. Und selbstverständlich nahm ich seine Einladung an, nach Feierabend mal ein Bierchen zusammen zu trinken.

Schön und gut, aber vor allem brannte ich darauf, mein Debüt als Profifußballer zu geben. Meine Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt: Erst ganz am Ende der Saison 1988/89 – inzwischen hatte Wutti dafür gesorgt, dass Trainer Hannes Bongartz durch Sepp Stabel ersetzt wurde, außerdem hatte Fabrizio den FCK enttäuscht verlassen – kam ich zu meinem Einsatz. Gegen Bayer Leverkusen ging es für uns nach einer schwachen Saison um nichts mehr und weil Wolfram Wuttke offenbar keinen Bock hatte, durfte ich für ihn ran. Trotz der unerträglichen 35 Grad rannte ich auf der rechten Seite wie ein Bekloppter, ich wollte allen zeigen, was für ein großer Fehler es gewesen war, mich in der Saison nicht eingesetzt zu haben. Von Krämpfen geschüttelt hielt ich bis zum Schlusspfiff durch und fiel völlig erschöpft auf den Rasen. Meine Mitspieler mussten mich auf dem Weg in die Umkleide stützen, so fertig war ich. Immerhin: Mein Debüt hatten wir mit 1: 0 gewonnen.

Vor allem hatte mir das Spiel gegen Leverkusen noch einmal bestätigt, was ich schon wusste: dass ich gut genug war, um Profi zu werden. Einige Tage später machte man mir ein Angebot, das für mich keines war. Man wollte mich noch ein Jahr dabehalten – aber als Vertragsamateur. Ich suchte das Gespräch mit FCK-Präsident Norbert Thines. „Herr Thines“, sagte ich, „ich will Profi werden!“ Ich hatte keinen Bock mehr, in der Oberliga zu versauern. Thines sagte: „Tut mir leid. Der Trainer möchte, dass Sie noch ein Jahr als Vertragsamateur bei uns bleiben.“ Ich sprang auf und rief: „Dann könnt ihr mich mal am Arsch lecken!“ Und mit diesen Abschiedsworten verschwand ich vom Vereinsgelände. Es sollte ein Jahrzehnt dauern, bis ich wieder das Trikot des FCK tragen würde.

KAPITEL 3

ESSEN

Juni 1989. Auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking richten Soldaten ein Massaker unter demonstrierenden Studenten an. Im Iran stirbt der Ayatollah Khomeini. In Paris verliert Steffi Graf das Finale der French Open gegen Arantxa Sánchez Vicario. Und in Kaiserslautern sucht ein 20-jähriger zukünftiger Nationalspieler und Bundesliga-Torschützenkönig nach einem neuen Verein. Die Verantwortlichen vom FCK wollen Mario Basler zwar keinen Profivertrag geben, aber einfach so ziehen lassen wollen sie ihn auch nicht. Schließlich einigen sich beide Seiten auf eine Ausleihe. Fehlt nur noch der passende Verein.

Zweitligist Rot-Weiss Essen, trainiert von Baslers früherem Mentor Hans-Günther Neues, braucht dringend Spieler, die das treue Publikum an der Hafenstraße mal wieder begeistern können. Also schickt Neues Manager Hans Wüst in die Pfalz. Wüst schaut sich diesen Basler im Training an und als ihm auch die anwesenden Rentner versichern, dass „der Mario ein Guter ist“, nimmt er Kontakt zum Verein auf. Und erfährt, dass der Mario für 25.000 DM Leihgebühr zu haben ist. Zeitgleich ruft Neues bei Basler an: „Hast du Interesse, in Essen zu kicken?“

Hatte ich. Einige Tage später unterschrieb ich meinen neuen Vertrag in Essen und gehörte nun zu RWE. Ich fand eine Wohnung im Norden der Stadt, nicht weit entfernt von den Trainingsplätzen. Zu meinem Glück fehlte mir jetzt eigentlich nur noch einer: Fabrizio. Der war bei seinem neuen Arbeitgeber Karlsruhe SC ziemlich unzufrieden, also ging ich zu Neues und erzählte ihm davon. Er gab mir das Okay und ich klingelte bei meinem Kumpel durch: „Hast du nicht auch Bock, nach Essen zu kommen?“

Doch kaum hatte Fabrizios unterschrieben, wurde Hans-Günther Neues entlassen. Eine Woche vor dem Beginn des Trainingslagers. Für uns war das eine Katastrophe. Neuer Trainer wurde Hans-Werner Moors, der mit mir nicht besonders viel anfangen konnte. RWE definierte sich seit jeher als Malocherverein, hier waren Grasfresser wie unser Kollege Willi Landgraf die Helden, mit einer Blutgrätsche konnte man mehr Sympathien gewinnen als mit einem Außenristpass über 40 Meter. Die Symbolfigur des Klubs war Jürgen Röber. Für ihn waren wir zwei Rotzlöffel, die sich erstmal ganz hinten anzustellen hatten. Nach wenigen Tagen im Trainingslager wagte es Fabrizio Röber zu tunneln und kassiert dafür prompt eine Ohrfeige. Mein heißblütiger Kumpel trat dem Routinier dafür volle Lotte in die Beine – und sollte deshalb vorzeitig die Koffer packen! Das war einfach nicht fair. Ich marschierte zu Moors: „Wenn er gehen muss, gehe ich auch.“ Zum Glück war bald Gras über die Sache gewachsen.

Gleich am ersten Spieltag sollten wir an der heimischen Hafenstraße gegen den großen Rivalen Schalke 04 antreten. „Jetzt wirst du erleben, was es heißt, für Essen Fußball zu spielen“, raunte mir Manager Wüst zu.

Der erste Spieltag stand an und trotz des Vorfalls im Trainingslager standen Fabrizio und ich in der Startelf. Gemeinsam mit den 22.000 im Georg-Melches-Stadion fieberten wir dem Anstoß entgegen. Beim Aufwärmen flogen bereits die ersten Leuchtspurraketen durch die Luft. Spätestens mit dem Anpfiff gelang es auch mir, die besondere Atmosphäre zu genießen. Fußball pur, willkommen im Ruhrpott! Nach 72 Minuten wurde ich ausgewechselt, am Ende trennten wir uns 0:0. Ein anständiges Debüt, wie ich fand.

Doch zum Stammspieler sollte ich es zunächst nicht schaffen. In dieser schwierigen Zeit war es wichtig, einen so engen Freund wie Fabrizio an meiner Seite zu wissen. Obwohl ich damals bereits mit meiner ersten Frau Anke zusammenwohnte, lebte meistens auch Fabrizio mit unter unserem Dach. Gemeinsam gingen wir durch dick und dünn. Ob nun eingehakt am frühen Morgen von der Disco nach Hause oder wie bei jenem Trainingsspiel, als er zunächst den Krankenwagen rief, mich auf die Trage beförderte und mich schließlich noch mit Stollenschuhen und Trainingsleibchen ins Krankenhaus begleitete. Auch ihm war der Durchbruch noch nicht gelungen, aber die gemeinsame Leidenszeit schweißte uns als Freunde noch enger zusammen.

Vom letzten Saisondrittel an gehörte ich dann endlich zur Stammelf und weil sich meine Leistungen stabilisiert hatten, bekundete RWE sein Interesse, meine Ausleihe in eine feste Anstellung umzumodeln. Offiziell gehörte ich ja immer noch zum FCK. Die Saison beendeten wir auf einem passablen sechsten Platz, doch noch immer war meine Zukunft nicht geklärt. Denn der FCK verlangte plötzlich 250.000 D-Mark Ablöse für mich! Essen konnte die Kohle nicht aufbringen, also rief ich selbst bei Lauterns Reiner Geye an. Doch er blieb stur und meine noch junge Karriere als Fußballer geriet wieder einmal ins Stottern. Ich hasste Geye für diese Geschichte und für meine ohnehin angeschlagene Beziehung zum FCK war das nicht gerade förderlich. Erst als ich mir schon ernsthaft Gedanken darüber machte, ob ich zur neuen Saison ohne Verein dastehen würde, einigten sich beide Parteien. Mir fiel ein großer Stein vom Herzen.

Während ich in Essen blieb, hieß es für Fabrizio nach nur einem Jahr schon wieder Abschied nehmen. In insgesamt 19 Spielen für RWE war er nicht richtig glücklich geworden und so trennten sich unsere Wege erneut. Gemeinsam mit einem gewissen Jürgen Klopp ging Fabrizio zu Mainz 05.

In Essen galt es derweil die nächste Krise durchzustehen, denn bis kurz vor Saisonstart war gar nicht klar, ob wir überhaupt in der Zweiten Bundesliga würden starten können. Der Klub war knapp bei Kasse und musste lange um die Lizenz für die neue Spielzeit zittern. Im Trainingslager in Ascheberg erreichte uns schließlich die ersehnte Nachricht von Manager Wüst: Die Lizenz war in letzter Sekunde doch noch erteilt worden.

Wir starteten ziemlich wackelig in die Saison, nach drei Niederlagen und zwei Siegen in den ersten fünf Spielen bekamen wir am sechsten Spieltag Besuch von den Mainzern, leider stand Fabrizio nicht in der Startelf. Und endlich, ausgerechnet gegen den neuen Verein meines Freundes, gelang mir mein erstes Pflichtspieltor für meinen Klub. Auch durch meinen Treffer in der 34. Minute gewannen wir das Spiel mit 2:0. Für alle Anhänger von RWE war es trotzdem eine recht unbefriedigende Saison. Bis zum Schluss kämpften wir gegen den Abstieg und landeten schließlich auf dem 15. Platz, ein Sieg gegen Mannheim hatte die Entscheidung gebracht. Für mich persönlich war es ganz gut gelaufen. In 34 Punktspielen hatte ich sechs Tore geschossen – für einen Mittelfeldspieler eine gute Quote. Und auch im DFB-Pokal hatte ich erstmals Spuren hinterlassen – auch dank meines Treffers gegen Bayer Uerdingen wären wir fast ins Viertelfinale eingezogen, mussten uns dann aber doch in der Verlängerung geschlagen geben.

Auch privat hatte ich deutliche Fortschritte gemacht: Mit meiner Freundin Anke war ich inzwischen verheiratet und war stolzer Vater eines gesunden Jungen geworden. Wir nannten ihn Marcel. Sein Timing war damals noch nicht ganz so gut wie heute, er entschied sich just in der Nacht, in der ich ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte, auf die Welt zu kommen. Die letzten Stunden vor seiner Entbindung verbrachte ich schlafend im Auto und als er dann tatsächlich in meinen Armen lag, begrüßte ich ihn vermutlich mit einer leichten Fahne. Das war für mich einer der größten Momente meines Lebens. Stolz wie Bolle kurvte ich anschließend durch Essen, um die halbe Stadt über die Niederkunft meiner Frau zu informieren, und lud die Mannschaft nach dem Training zum Frühschoppen ein.

Sportlich waren wir zwar weiterhin zweitklassig – aber nun ging es mit dem Verein endgültig bergab. Vor dem letzten Spieltag bei den Stuttgarter Kickers wurde bekannt, dass der DFB uns nicht die Lizenz für die neue Spielzeit erteilen und der Traditionsverein in der kommenden Saison vom Status her nur noch ein Amateurklub sein würde. Bei der Rückkehr aus Stuttgart empfingen uns wütende Fans. Irgendwann flogen die ersten Fäuste, später sogar Steine. Bis kurz vor Mitternacht verschanzten wir uns im VIP-Raum. Ich konnte die Fans verstehen. Es war eine Schande, dass so ein großer Verein mit so einer großartigen Anhängerschaft so heruntergewirtschaftet worden war.

Meine Zeit in Essen war damit vorbei. Während sich mein Arbeitgeber auf dem Weg nach unten befand, wartete ich nur darauf, dass mein Stern endlich aufging. Die beiden Jahre in der Zweiten Liga hatten mich gestählt, neben meinem fußballerischen Talent war ich jetzt auch physisch in der Lage, mit den besten Fußballern mitzuhalten. Es musste sich nur endlich jemand finden, der mir die Chance dazu gab, mich ganz oben beweisen zu können.

Bei manchen Menschen braucht es eine gewisse Zeit, bis ich mit ihnen warm werde. Nicht so bei Mario. Wir waren beide aus dem gleichen Holz geschnitzt, zwei ähnlich verrückte, ähnlich kreative, ähnlich in den Fußball verknallte Halbstarke, die die Welt erobern und gleichzeitig das Leben genießen wollten.

Mario hatte eine Menge drauf, aber seine Schusstechnik war schlichtweg einmalig. Diese Mischung aus Härte und Präzision habe ich in all den Jahren bei keinem anderen Spieler gesehen.

Was Mario auch damals schon so stark machte, war seine unglaubliche mentale Power. Wenn ihm eine Aktion mal misslang, versuchte er sie eben bei nächster Gelegenheit erneut, es war ihm scheißegal, wenn ein Freistoß aus 30 Metern über das Tor ging, den nächsten knallte er trotzdem aus der Distanz drauf. Diese besondere Leck-mich-am-Arsch-Haltung hat ihn meiner Meinung nach zum Nationalspieler werden lassen.

Obwohl Mario schon mit seiner damaligen Frau zusammenlebte, verbrachten wir fast jede freie Minute miteinander. Wir passten gegenseitig auf uns auf. Wir waren damals mehr als nur Freunde. Wir waren wie Brüder.

So cool er sich immer gibt: Richtig aufblühen kann dieser Kerl erst dann, wenn er unter Seinesgleichen ist, wenn er mit seinen Jungs unterwegs ist, die ihn schon lange kennen, die wissen, wie er wirklich tickt, und die ihn 100 Prozent akzeptieren. Wenn er in diesem Umfeld seine Currywurst essen kann, dann ist er ganz der Mario, wie ich ihn schon seit vielen Jahren kenne und schätze.

Wir beide, Mario und ich, hätten es vielleicht sogar noch weitergebracht, wenn wir in der Lage wären, uns auch mal auf die Zunge zu beißen, statt die Schnauze aufzureißen. Aber so sind wir nun mal, alles andere als Arschkriecher, und deshalb können wir am Ende des Tages – anders als viele unserer Weggefährten – in den Spiegel schauen, ohne dabei ein komisches Gefühl zu bekommen.

(Fabrizio Hayer)

KAPITEL 4

HERTHA

Mit Berlin hatte ich bislang nicht viel zu schaffen gehabt. Natürlich hatte ich wie jeder andere Deutsche auch verfolgt, wie sich im Herbst 1989 wie durch ein Wunder auf einmal diese doch eigentlich unüberwindbare Mauer öffnete, ich sah die Bilder von feiernden Wessis und Ossis, die Trabi-Kolonnen, die glücklichen DDR-Bürger mit ihrem Begrüßungs-Hunderter in der Hand. Aber ernsthaft mit der Stadt beschäftigt hatte ich mich nicht. Auch nicht mit der Hertha, die 1991 nach nur einem Jahr in der Bundesliga als Tabellenletzter abgestiegen war.

Während Rot-Weiss Essen im Chaos versank, suchte ich nach einem neuen Arbeitgeber, doch obwohl ich eine gute Zweitliga-Saison gespielt und mich meiner Meinung nach für höhere Aufgaben empfohlen hatte, meldete sich niemand bei mir. Zum dritten Mal in meiner Laufbahn stand ich nun am Scheideweg und wusste nicht, in welche Richtung es gehen sollte.

Was Basler zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Hertha-Manager Reinhard Roder hat den neuen Trainer Bernd Stange zu einem der letzten Saisonspiele von RWE geschickt, um Günther Schipper zu beobachten. „Aber vor Ort fiel mir nur einer auf“, erinnert sich Stange, „Mario Basler. In der Essener Fankurve habe ich die Jungs gefragt, was das für einer ist. Die haben mir geantwortet: ,Ein Riesenfußballer mit genauso großen Macken.‘“

Irgendwann bekam ich einen Anruf von Hertha-Boss Wolfgang Holst. Er lud mich nach Berlin ein, also setzte ich mich in meinen BMW 320i und knallte quer durchs Land in die wiedervereinigte Stadt. Unweit vom Bahnhof Zoo hatte Holst eine Fußballkneipe mit passendem Namen: Holst am Zoo. Ein Ort ganz nach meinem Geschmack, die Kombination aus Fußball und Tresen fand ich seit jeher sehr reizvoll. Bei ein paar frisch Gezapften besprachen wir die Details und schließlich sagte ich zu. Auf der Geschäftsstelle der Berliner unterschrieb ich einen Zweijahresvertrag und wurde ein Herthaner. Für einen echten Schnäppchen-Preis: Die Berliner überwiesen 150.000 D-Mark nach Essen.

Gut möglich, dass ich in der großen Stadt schnell vereinsamt wäre, aber zu meinem Glück war ich die erste Zeit in einem Hotel untergebracht, wo auch zwei andere Neuzugänge wohnten. Uli Bayerschmidt und Christian Hausmann wurden bald zu guten Kumpels. Gemeinsam gingen wir zum Training oder nach Feierabend was essen in den unzähligen Restaurants der Riesenstadt. Ausgiebige Kneipenbesuche gehörten zunächst nicht zu unserem Aufwärmprogramm, für uns Neulinge zählte in diesen ersten Wochen und Monaten nur der Fußball. Erst später, als wir uns die Stammplätze erarbeitet hatten, kostete ich auch von der reichhaltigen Auswahl des Berliner Nachtlebens. Bald schon hatten wir ein beliebtes Ritual: Nach den siegreichen Heimspielen marschierten wir ins Kasino und statteten danach einem angesagten Bordell einen Besuch ab. Natürlich nur, um vom dortigen Spirituosenangebot zu kosten. Um den Ostteil der Stadt machten wir allerdings einen großen Bogen. Erstens waren die Ostberliner eh alle im Westen der Stadt und zweitens reizte mich der runtergerockte DDR-Charme nicht wirklich.

Für unsere tägliche Dosis DDR sorgte dagegen unser Trainer. Bernd Stange hatte früher die ostdeutsche Nationalmannschaft trainiert und schien gar nicht daran zu denken, seine Trainingsmethoden zu hinterfragen nur weil die Mauer gefallen war. Ich merkte sehr bald, dass Stange und ich in komplett unterschiedlichen Systemen groß geworden waren. Ich glaube, in den ersten drei Wochen der Saisonvorbereitung hatte ich nicht einmal den Ball am Fuß; Stange ließ uns laufen, sprinten und wieder laufen. Fußball spielen war offenbar erstmal zweitrangig. Ich fühlte mich wie ein Leichtathlet kurz vor den Olympischen Spielen. Wobei sich das knüppelharte Training nicht gerade negativ auf meine Athletik auswirkte, bald war ich der schnellste Spieler im Kader. Ein Maßstab, den Stange später an neue Fußballer im Probetraining anlegte: Die bedauernswerten Burschen mussten durch eine Lichtschranke sprinten und sich an meiner Bestzeit messen. Unnötig zu erwähnen, dass niemand meine Fabelzeit knacken konnte.

Neben meinen Kumpels Uli Bayerschmidt und Christian Hausmann hatten wir noch zwei blutjunge Spieler im Kader, die in Berlin die Grundlagen für ihre großen Karrieren legen sollten: Niko Kovac und Carsten Ramelow. Niko war schon damals ein richtiger Kämpfer, eine Maschine, der die Meter machte, die ich mir dann sparen konnte. Carsten war noch nicht volljährig, als wir uns das erste Mal begegneten, als A-Jugendspieler durfte er bei uns mittrainieren und lernen, ähnlich wie ich es Jahre zuvor beim FCK hatten machen dürfen. Obwohl ich selbst erst 22 Jahre alt war, versuchte ich meinen noch recht geringen Erfahrungsschatz mit Carsten und Niko zu teilen, sie merkten jedenfalls schnell, dass ich immer ein offenes Ohr für sie hatte.

Als die Saison begann, fand ich mich auf einer eher ungeliebten Position wieder. Bernd Stange war der Meinung, dass ich gemeinsam mit Uli Bayerschmidt und André Winkhold in einer defensiven Dreierkette am besten aufgehoben wäre und stellte mich in den ersten Spielen als Rechtsverteidiger auf. Toll fand ich das nicht, aber ich hielt meinen Mund und beschloss, Stange davon zu überzeugen, dass meine Stärken eher in der Offensive lagen. Gleich im ersten Pflichtspiel der Saison sollte ich Gelegenheit dazu bekommen. Gegen Stahl Brandenburg taten wir uns lange schwer, ehe ich uns in der 58. Minute mit meinem ersten Tor im Hertha-Trikot in Führung brachte. Und was für ein Tor das war! Eine Freistoßflanke von Armin Görtz hatte der Stahl-Keeper nur in die Mitte abwehren können, wo ich Gewehr bei Fuß stand und den Ball volley in den gegnerischen Kasten drosch. Meine erfolgreiche Direktabnahme sollte der einzige Treffer des Spiels bleiben.

Doch nur drei Tage später machten wir uns zu den Deppen der Nation, als wir in der ersten Runde des DFB-Pokals gegen den Oberligisten SC Jülich ausschieden. Vor ganzen 2000 Zuschauern war dem Underdog in der Verlängerung der entscheidende Treffer gelungen und als wir aus dem tiefen Westen zurück nach Berlin kamen, schien es uns, als würde ganz Berlin über uns lachen.

Es dauerte lange, bis ich wieder einen Sieg bejubeln durfte, mehr schlecht als recht wurschtelten wir uns durch die Anfangsphase der Saison und gewannen erst am achten Spieltag gegen den VfB Oldenburg. Immerhin: Ich hatte mich von Saisonbeginn an als Stammkraft etabliert und war von Bernd Stange auch bald wieder ins Mittelfeld zurückbeordert worden. Gegen St. Pauli und im Rückspiel gegen Stahl Brandenburg gelangen mir meine Treffer zwei und drei und endlich fanden wir auch mit der Mannschaft in die Spur. Das erklärte Ziel – das Erreichen der Aufstiegsrunde – war nun zum Greifen nah. Ein wichtiger 2:0-Sieg am letzten Spieltag gegen den SV Meppen machte die Qualifikation dann perfekt.

Leider wurde dieses Spiel von einem tragischen Zwischenfall überschattet. Gegen die zu diesem Zeitpunkt auf Tabellenplatz zwei stehenden Meppener gingen wir kurz vor der Halbzeit durch ein Kopfballtor meines Kumpels Christian Hausmann in Führung. Dabei prallte er so unglücklich mit dem Meppener Torwart Manfred Kubik zusammen, dass er mit großen Schmerzen im Hüftbereich ausgewechselt werden musste. Was niemand von uns ahnen konnte: Christian hatte sich bei dem Zusammenstoß schwer verletzt, seine Milz war gerissen. Vielleicht wäre er verblutet, wenn nicht zufällig sein Onkel im Stadion gewesen wäre. Der war Arzt und hatte gleich erkannt, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein musste, schlug sich bis zu den Kabinen durch und sorgte dafür, dass sein Neffe sofort ins Krankenhaus gebracht wurde. In einer Notoperation retteten die Mediziner Christians Leben. Als sie ihn aufschnitten, waren bereits zwei Liter Blut in seine Bauchhöhle gelangt…

Natürlich war das Ergebnis nach diesem Tag zweitrangig und es dürfte Christian nur unwesentlich aufgemuntert haben, dass wir auch dank seines Treffers gewonnen hatten. Die Ärzte mussten ihm eine Niere und die Milz entfernen, eine Woche lang lag er auf der Intensivstation. Schlimme Tage. Christian machte nie wieder ein Spiel und musste seine Karriere mit nur 28 Jahren beenden.