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Andreas Salcher

DER TALENTIERTE SCHÜLER UND
SEINE EWIGEN FEINDE

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gewidmet allen noch unentdeckten Talenten.

Leserhinweis

Um die Lesbarkeit des Buches zu verbessern, wurde darauf verzichtet, neben der männlichen auch die weibliche Form anzuführen, die gedanklich selbstverständlich immer mit einzubeziehen ist.

Alle Geschichten in diesem Buch sind wahr. Für die im Buch abgekürzt verwendeten Namen, die auf Wunsch der Betroffenen anonymisiert wurden, liegen dem Autor Gesprächsprotokolle vor.

Inhalt

Vorwort: Die Feinde des talentierten Schülers leben noch – Darum habe ich dieses Buch neu geschrieben

Die Tabus in unserem Schulsystem

Die Talentvernichtungsindustrie oder Warum wir uns die systematische Zerstörung der Talente unserer Kinder in der Schule nicht mehr länger leisten können

Individuelle Begabung als Störfall oder Warum Schule versucht, aus talentierten Sprintern schlechte Marathonläufer zu machen

Eine einfache Wahrheit oder Warum die besten Schulen der Welt nicht mehr kosten als die schlechtesten

Das Diktat der Mittelmäßigkeit oder Warum in der Schule die besten Lehrer gemobbt statt befördert werden

Die unerzogene Generation oder Warum immer mehr Eltern die Schule für ihr eigenes Versagen verantwortlich machen

Die dunkle Seite der Ohnmacht oder Wie viel Ablehnung und Fehlurteile hält ein junger Mensch aus?

Das Schwarze Loch oder Wohin die Talente vieler junger Menschen auf dem Weg zum Erwachsenen verschwinden

Prinzip Selbstverantwortung oder Wie Eltern die Talente ihrer Kinder richtig fördern können

Schule als Überlebenstraining oder Kommen nur die Härtesten durch?

Die Bildungsfernen rücken immer näher – Wenn 80 Prozent einer Klasse dem Unterricht nicht folgen können

Die digitale Revolution erreicht das Klassenzimmer – Warum wir nicht Handys verbieten, sondern die Chancen des neuen Lernens nutzen sollten

Die Macht der Torheit – Absurdes und Kurioses in unserem Schulsystem

Frontberichterstattung: Von Kleinkriegen im Klassenzimmer und ideologischen Schlachten

Tatort Schule – Meine merkwürdigsten Fälle als Schüleranwalt

Warum wir endlich echte Ganztagsschulen einführen müssen, statt uns über die Gesamtschule zu streiten

Die Schule der Zukunft

Die Zukunft hat schon begonnen – So kann Schule gelingen

Die richtige Schule für Ihr Kind – ein Kriterienkatalog

Der Freund des talentierten Schülers

Persönliches und Dank des Autors

Vorwort: Die Feinde des talentierten Schülers leben noch – Darum habe ich dieses Buch neu geschrieben

Die Feinde des talentierten Schülers leben noch und erfreuen sich bester Gesundheit. Sie zerstören die Talente unserer Kinder und werfen viele von ihnen chancenlos ins Leben. Jeder fünfte 15-Jährige kann nach neun Jahren (!) Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen und versagt an einfachsten Mathematikaufgaben. Wenn Schüler nach ihrem Schulabschluss die Fläche eines Rechtecks nicht ausrechnen können, dann stimmt etwas nicht. Universitätsprofessoren beklagen sich über das teilweise katastrophale Niveau von Studienanfängern. An gewissen Pädagogischen Hochschulen scheitert fast die Hälfte der Lehramtskandidaten bei den Aufnahmeprüfungen wegen mangelnder Rechtschreibkenntnisse und kann diese später aber durch einfache Zusatzkurse »nachholen«. Die Ursachen dafür liegen sicher nicht darin, dass Generationen von Schülern zu »blöd« für das Schulsystem sind oder diese Dummheit geerbt haben von ihren Eltern, die in ihrer eigenen Schulzeit unter den gleichen Problemen zu leiden hatten wie heute ihre Kinder.

Wer sind die Feinde des talentierten Schülers? Das bedauernswerte Missverständnis, das mein Buch Der talentierte Schüler und seine Feinde bis heute bei jenen auslöst, die es nicht gelesen haben, ist der Glaube, dass die Lehrer als Feinde des talentierten Schülers gemeint sind. Nein, der größte Feind des talentierten Schülers sind all jene, die sich zufriedengeben mit dem ungemein niedrigen Anspruch an unsere Schulen, den sie in keinem anderen ihnen wichtigen Bereich akzeptieren würden.

Stellen wir uns einen Autohersteller vor, von dem jedes fünfte neu ausgelieferte Auto einfach nicht fährt. Oder gar eine Fluglinie, bei der jedes fünfte Flugzeug abstürzt. Aber jedes fünfte Kind kann nach neun Jahren Schule nicht sinnerfassend lesen? »Kann man halt nichts machen« oder »Selber schuld«, meinen die Feinde des talentierten Schülers.

Die Fakten, die seit dem Erscheinen meines Buches im Jahr 2008 das Versagen unseres Schulsystems dokumentieren, sind bis heute fast unverändert, trotz aller teuren Maßnahmen wie der Senkung der Klassenschülerhöchstzahlen, der Einführung der Neuen Mittelschule (NMS) mit verpflichtend zwei Lehrern in den Hauptgegenständen, der Schulautonomie, den Bildungsstandards, der Zentralmatura usw. Ein öffentliches Schulsystem, das seinen Schülern in neun Jahren Pflichtschule nicht Lesen, Schreiben und die Grundrechnungsarten vermitteln kann, hat sich selbst aufgegeben.

Dabei sind die Herausforderungen gewaltig. Mehr als jeder zweite Volksschüler in Wien spricht nicht mehr Deutsch als Umgangssprache, in den NMS liegt dieser Anteil bei 77 Prozent! Dabei handelt es sich zum Großteil um in Österreich geborene Kinder, die in den Kindergarten und ein Jahr in die Vorschule gegangen sind und trotzdem fast kein Deutsch können. Österreich ist eines der wenigen OECD-Länder, wo die Kinder der dritten Migrationsgeneration die Landessprache schlechter beherrschen als die der zweiten. Andererseits erbringen Schüler aus Osteuropa und Asien teilweise bessere Leistungen als österreichische Kinder. Es geht also nicht um Migranten- versus österreichische Kinder, sondern um das Auseinanderklaffen von gebildeten und bildungsfernen Eltern. Dieser Graben ist auch daran erkennbar, dass gerade bildungsaffine Migranten ihre Kinder zunehmend in private und nicht in öffentliche Schulen geben.

Die Probleme wurden jahrelang verdrängt oder aus falsch verstandener politischer Korrektheit schöngeredet

Statt tabulos die Ursachen dieser Fehlentwicklungen zu analysieren, wurde über das Heil oder Unheil der Gesamtschule der 10- bis 14-Jährigen gestritten. Dabei wird übersehen, dass die Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS) im städtischen Bereich längst die Gesamtschule für die Bildungsschichten ist. Über 50 Prozent der Wiener Schüler gehen in eine AHS-Unterstufe, in Bezirken wie dem 1. oder dem 13. sind es über 80 Prozent. Die sogenannte Neue Mittelschule, jetzt wieder in Mittelschule umgetauft, wird für die Bildungsfernen, darunter viele Migranten, immer mehr zum B-Zug der ehemaligen Hauptschule. Eine Entwicklung, die sich auch auf den ländlichen Raum auszuweiten droht, wo die Eltern der Bildungsschichten alles tun, um ihr Kind in eine oft weit entfernte AHS zu schicken. Das heißt, während linke und konservative Ideologen noch immer den Religionskrieg über die Gesamtschule führen, ist diese längst verwirklicht – in der schlechtmöglichsten Form: nicht leistungsorientiert und sozial diskriminierend.

Zyniker behaupten, dass das lebenslange Lernen in Österreich dank seines Schulsystems garantiert sei. Die Mama lernt, der Papa lernt, der Opa lernt, die Oma lernt, nur der, um den es eigentlich ginge, der Schüler, kommt mittags oft ziemlich »lernbefreit« nach Hause. Wer Müttern zuhört, wie sie über Schule reden (»Wir haben einen Dreier in Englisch bekommen« oder »Wir haben die Nachprüfung in Mathematik bestanden«), fühlt sich bestätigt, dass unsere Schulen den Charakter von Fernlerninstituten mit Anwesenheitspflicht für die Schüler am Vormittag und Nachlernpflicht für die Eltern am Nachmittag haben. Eltern erhalten per E-Mail den gesamten Schularbeitsstoff mit genauen Seitenangaben des Lehrbuches mit der freundlichen Anrede: »Liebe Eltern, liebe Schüler, viel Spaß beim Lernen …« Deshalb schlage ich schon lange vor, dass Eltern, die selbst keine Matura haben, aber zumindest ein Kind zur Matura bringen, für ihre Leistungen ebenfalls mit einem Maturazeugnis belohnt werden sollten – sie haben sich dieses redlich verdient.

Zynisch ist es aber auch, von Lehrern zu verlangen, die individuellen Talente in einer Klasse mit 25 Schülern, von denen ein Großteil nicht die deutsche Sprache beherrscht und bei denen es zu Hause kein einziges Buch gibt, zu erkennen und zu fördern.

Der Zusammenhang zwischen Talent und Glück

Dass es auch anders geht, beweist Kanada, wie Österreich ein Einwanderungsland, wenngleich mit einer wesentlich klügeren Migrationspolitik. In Kanada sprechen viele Kinder von Einwanderern nach Abschluss ihrer Schulzeit besser Englisch als die in Kanada geborenen Sprösslinge. Im französischsprachigen Teil des Landes ist diese Zahl bei Weitem schlechter, was einmal mehr zeigt, wie entscheidend das System ist. Vom legendären Management-Denker Peter Drucker stammt das Zitat: »Wann immer Sie einen hervorragenden Menschen gegen ein schlechtes System antreten lassen, wird stets das schlechte System gewinnen.«

Absolut gleiche Chancen in einer offenen Gesellschaft halte ich für eine Illusion, weil Kinder aus funktionierenden, gebildeten Familien immer einen Startvorteil haben werden. Das erreichbare Ziel, das sich ein Schulsystem setzen kann, lautet Chancengerechtigkeit. Das bedeutet, dass soziale Startnachteile möglichst ausgeglichen und nicht noch verstärkt werden. Dafür würde es reichen, ein Prinzip in unserer Verfassung zu verankern und es damit von jedem Bürger einklagbar zu machen: Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass seine Talente in der Schule maximal gefördert werden. Wie das geht? Maria Montessori und Helen Parkhurst haben das bereits vor über 100 Jahren vorgemacht und heute gibt es viele Schulen, die das praktisch umsetzen: Nicht zentrale Lehrpläne über Kinder stülpen, sondern individuelle Lehrpfade für jedes Kind entwickeln. Einheitsgrößen funktionieren bei Socken, nicht bei Kindern. Wie das mit den heutigen digitalen Medien sogar noch leichter möglich wäre, werde ich im Kapitel »Die digitale Revolution erreicht das Klassenzimmer – Warum wir nicht Handys verbieten, sondern die Chancen des neuen Lernens nutzen sollten« anhand konkreter Beispiele aufzeigen.

Der wichtigste Grund, warum wir uns ehrlich mit unseren eigenen Talenten und jenen unserer Kinder auseinandersetzen sollten, ist das persönliche Glück. Für ein erfülltes Leben brauchen wir das Gefühl, dass unsere Talente wertvoll sind und anerkannt werden. Voraussetzung dafür ist, dass diese Begabungen richtig erkannt und wir nicht zum Opfer von Täuschungen unserer Eltern, Lehrer, Vorgesetzten oder von uns selbst werden.

Die Kluft zwischen dem, wie wir heute die Begabungen unserer Kinder erkennen und fördern könnten, und dem, wie wir in der Schule tatsächlich damit umgehen, ist riesig. Das führt zu Fehlurteilen und Gleichgültigkeit, die falsche Weichenstellungen für junge Menschen zur Folge haben.

Der blinde Fleck und das menschliche Maß

Mir ist durchaus bewusst, dass die ständige Kritik am Schulsystem zur Abstumpfung und zur Resignation vieler Lehrer und Eltern geführt hat. Die Gegenmacht zur notwendigen Kritik ist die Kraft der Inspiration. Inspiration zu erlangen ist wohl ein bisschen so, als wollte man einen Sonnenstrahl einfangen: Nichts ist derart kraftvoll und dabei so flüchtig. Inspiration kann man nicht von oben verordnen, man kann sie lediglich herbeiwünschen, um dann zu sehen, wie sie – ähnlich einem Funken – auf die Menschen überspringt. Wurde unsere eigene Schulzeit nicht von solchen magischen Augenblicken geprägt, an die wir uns noch heute gerne erinnern? Statt sich in endlosen Strukturdiskussionen zu verlieren, sollten die Entscheidungsträger unseres Bildungssystems alle Energie auf eine vernachlässigte Frage konzentrieren: Wie schaffen wir Schulen, die Kinder und Lehrer so inspirieren, damit sie jeden Tag gerne hingehen?

Zwei Hinweise, wo sich Antworten finden ließen: Ein blinder Fleck, der Inspiration verhindert, ist die Verdrängung der Körperlichkeit aus unseren Schulen. Elemente wie Bewegung, Singen, Tanzen, Berührung, Sport oder Naturerlebnisse an der frischen Luft haben an guten Volksschulen noch Raum, gehen später ab der Mittelstufe völlig verloren. Schulen in Österreich und Deutschland sind so gebaut, als ob Menschen ab dem zehnten Lebensjahr keinen Körper mehr hätten. 2014 litten weltweit 850 Millionen an Unterernährung, aber mehr als 2,1 Milliarden Menschen waren übergewichtig. Für 2030 geht man davon aus, dass die Hälfte der Menschheit Übergewicht haben wird. Auch bei uns werden Kinder immer dicker – trotzdem scheitern wir daran, die tägliche Turnstunde zu verwirklichen.

Das fehlende menschliche Maß in vielen unserer Schulen: Das menschliche Maß ist das Verhältnis zwischen dem Individuum und der notwendigen Organisationsstruktur, die dafür sorgt, dass Ziele erreicht werden können. Auch hier haben die Volksschulen den Vorteil, dass der Volksschullehrer seine Schüler über vier Jahre sehr gut kennt und sie daher sowohl in ihren menschlichen als auch fachlichen Qualitäten gut beurteilen und fördern kann. Mit dem Übertritt in die weiterführenden Schulen nimmt die Komplexität der Administration gewaltig zu. In den folgenden fünf bis neun Jahren beurteilen auf einmal bis zu 25 Lehrer ein Kind. Zwangsläufig können sie das nur aus der engen Perspektive ihres Faches und nicht aus der Gesamtpersönlichkeit des Kindes. Das führt zu Entfremdung und Zerstückelung der Lernerfahrung.

Die inspirierende Schule erkennt in ihren Schülern Wesen mit einem Körper und macht das geeignete menschliche Maß zur obersten Richtschnur für alle organisatorischen und pädagogischen Entscheidungen.

Jedes Kind ist einzigartig

Der genetische Unterschied zwischen Menschen beträgt 0,1 bis maximal 0,5 Prozent. Der Nobelpreisträger unterscheidet sich bei den Leistungsvoraussetzungen genetisch vom Sonderschüler daher nur im Promillebereich. Das hört sich zwar ganz wenig an, bedeutet allerdings in seiner Auswirkung sehr viel, weil ungemein viel Information in der DNA gespeichert ist. Die ungleichen genetischen Veranlagungen zeigen sich aber nur dann in Leistungsunterschieden, wenn sie auch genutzt werden, vor allem durch individuelle Anstrengung und durch das soziale Umfeld zum Beispiel fördernder Eltern und motivierender Lehrer. Es wird klar, dass daher das Einzigartige, das Innovative in den Unterschieden zwischen uns Menschen liegt. Wie geht unser Schulsystem mit dem Besonderen um?

Ich habe einen dicken Ordner mit Briefen und E-Mails, in denen mir Eltern von ihrem Kampf für das Talent ihres Kindes gegen ein bürokratisches System berichten. Da versucht man Schülern einen SPF (Sonderpädagogischen Förderbedarf) aufzudrängen, weil die Schule dadurch mehr Ressourcen erhält; man will einer hochintelligenten Schülerin den Weg in die AHS versperren, weil sie an Legasthenie leidet. Nie vergessen werde ich den Anruf einer Mutter aus Kärnten, deren Tochter schon vor Schuleintritt lesen und schreiben konnte. Das ist nicht der Regelfall, kommt aber immer häufiger vor. Sie nahm daher Kontakt mit der Direktorin der Volksschule auf, in die ihre Tochter gehen sollte, und fragte die Leiterin, wie sie gedenke, mit der Situation umzugehen, dass ihre Tochter eben schon Lesen und Schreiben beherrschte. »Machen Sie sich nichts draus, das wächst sich schon aus«, antwortete die Direktorin in ausgeprägtem Kärntner Dialekt.

Vor allem in den höheren Schulen regiert noch oft die Osterhasenpädagogik: Der Lehrer versteckt das Wissen vor seinen Schülern, und die müssen danach suchen, »so als ob« es Ostereier wären. Andere verteilen seit Jahren die gleichen lieblosen Arbeitsblätter, »so als ob« durch deren stupides Ausfüllen Neugierde entfesselt werden könnte. Es darf daher nicht verwundern, dass die Schüler dann »so tun, als ob« sie aufpassen würden und bei Prüfungen simulieren, dass sie etwas verstanden hätten.

Verfolgt man die Schuldebatte der letzten Jahrzehnte, gewinnt man den Eindruck, dass unser Schulsystem nur aus der AHS bestünde. Berufsschulen, Polytechnische Schulen, Sonderpädagogische Schulen, berufsbildende mittlere und höhere Schulen und noch viel entscheidender Kindergärten und Volksschulen kommen in der öffentlichen Diskussion bestenfalls als Randthemen vor, obwohl die Mehrzahl der Kinder diese Schulformen absolviert. Gerade wenn man davon ausgeht, dass das Schulsystem in Österreich auf absehbare Zeit ein differenziertes bleiben wird, müssen wir das Gießkannenprinzip, nach dem derzeit die Ressourcen verteilt werden, durch ein bedarfsorientiertes ersetzen, wenn wir nicht jene Schulen, die mit enormen sozialen Problemen kämpfen, weiterhin im Stich lassen wollen. Insgesamt sind drei Maßnahmen dringend:

1. Die besten Kindergärten und Volksschulen

Wenn wir einen nationalen Konsens darüber erreichen, die besten Kindergärten und Volksschulen zu schaffen, so hätten wir mit ziemlicher Sicherheit in zehn Jahren eines der besten Schulsysteme der Welt. Es gibt keine andere Maßnahme, die mit einem vergleichsweise geringen Aufwand einen derart positiven Effekt auf unser Bildungssystem hätte. Die Bildungs- und Gehirnforscher sind sich einig darüber, dass die Investition in kompetente frühkindliche Pädagogik jene Maßnahme ist, die den maximalen langfristigen Bildungsnutzen bringt. Der Gehirnforscher Gerald Hüther sagt: »In den ersten drei Jahren lernen wir mehr als im Rest unseres Lebens.«1 Das Fördern von Neugier und Lernfreude, das Lernen von sozialen Regeln, Konfliktfähigkeit, Sprachkompetenz und vieles mehr lässt sich in den Kindergärten mit einem geringen Aufwand wesentlich positiv beeinflussen. Österreich ist derzeit neben der Slowakei das einzige Land in der EU, das seinen Kinderpädagoginnen eine universitäre Ausbildung verweigert. Dabei müssten wir unsere Kinderpädagoginnen endlich akademisch ausbilden und die Gruppengrößen halbieren. Kanada zahlt seine Kinderpädagoginnen genauso gut wie seine Oberstufenlehrer. Genau das sollten wir auch tun.

Woher soll das Geld kommen? Österreich hat das zweitteuerste Schulsystem innerhalb der EU. Im Kapitel »Die Macht der Torheit – Absurdes und Kurioses in unserem Schulsystem« wird dokumentiert, wie Hunderte Millionen Euro völlig sinnlos vergeudet werden, nur weil man nicht bereit ist, dringend notwendige Fehlentwicklungen abzustellen, die von Lobbys eisern verteidigt werden. Motto: Zahlt ohnehin der Steuerzahler.

2. Die gleichrangige Förderung von sozialen
und kognitiven Kompetenzen

Im Gegensatz zum Intelligenzquotienten (IQ), der sich nur wenig steigern lässt, können wir unsere sozialen Kompetenzen wesentlich verbessern. Eine Vielzahl von aktuellen Studien beweist, dass der Grad der individuellen Selbstdisziplin kein Schicksal ist, sondern sich im Laufe des Lebens wie ein Muskel trainieren lässt. Eigenschaften wie Frustrationstoleranz, Beharrlichkeit, Sorgfalt und Geduld können unabhängig vom IQ und der sozioökonomischen Herkunft signifikant verbessert werden. Die systematische Förderung von sozialen und kommunikativen Kompetenzen in der Schule wäre eine der sinnvollsten Aufgaben. Wie das geht? Die Einführung des Maturagegenstands »Kommunikation und Sozialkompetenz«, von den Schülern liebevoll »KoSo« genannt, war ein zentrales Element für den Erfolg der Sir-Karl-Popper-Schule. Diese hat übrigens 20 Jahre nach ihrer Gründung trotz intensiver Bemühungen von Bernhard Görg, Walter Strobl, Kurt Scholz und mir noch immer keine Nachahmer in den Bundesländern gefunden. Den Bürgermeistern Michael Häupl und Michael Ludwig sei gedankt dafür, dass sie zumindest in Wien unumstritten ist.

Genauso wichtig wie die Vermittlung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sowie einer umfassenden Allgemeinbildung wäre es auch, die sportlichen, künstlerischen und sozialen Talente in Zukunft regelmäßig systematisch zu erfassen und ständig weiterzuentwickeln. Das erste Land der Welt, das dies schafft, wird das beste Schulsystem der Zukunft kreieren.

3. Ein modernes attraktives Berufsbild des Lehrers

Im Kern kommen die Vergleichsstudien über Bildungssysteme zu einer übereinstimmenden Grundaussage: Es sind die Lehrer, die die Qualität eines Bildungssystems ausmachen. Ein Schulsystem kann nicht besser sein als die Summe seiner Lehrer. »Die Lehrer« gibt es natürlich nicht, genauso wenig wie es »die Ärzte«, »die Politiker« oder »die Priester« gibt. Trotzdem wird in der öffentlichen Diskussion, vor allem bei Missständen, immer über ganze Berufsstände diskutiert, ohne genau zu differenzieren. Daher verstehe ich natürlich, dass sich gerade bei Kritik an »den Lehrern« oft die Falschen angesprochen und unfair beurteilt fühlen. Unbestritten ist allerdings, dass das Ansehen des Lehrerstandes in einzelnen Ländern sehr davon abhängt, wie Lehrer ausgewählt werden.

Gelingt es einem Land, den Lehrerberuf zu einem der drei attraktivsten Berufe für Studenten zu machen, dann aus der Vielzahl der Bewerber die besten auszuwählen, diese praxisnah auszubilden und regelmäßig auf hohem Niveau weiterzubilden und sie dabei zu unterstützen, damit sie den bestmöglichen Unterricht leisten können, so werden die Schulen dieses Landes Weltklasse sein. Diese einfache Erkenntnis umzusetzen schaffen allerdings nur ganz wenige Staaten, beispielsweise Kanada, Singapur oder Finnland, während Österreich und Deutschland weit davon entfernt sind. Wir brauchen ein neues Lehrerbild, das dem 21. Jahrhundert entspricht. Lehrer leisten ihre Arbeit acht Stunden pro Tag an ihrer Schule an einem modernen Arbeitsplatz. Das lässt sich am besten durch ein faires Jahresarbeitszeitmodell umsetzen. Es ist hoch an der Zeit, das seit mehreren Legislaturperioden angekündigte Mittelmanagement an größeren Schulen zu realisieren. Damit würde der Leistungsgedanke gestärkt und besonders engagierte Lehrer hätten erstmals Aufstiegsmöglichkeiten.

Eine für alle Lehrer verpflichtende hervorragende Fortbildung ist das Fundament, auf dem jedes Schulsystem aufbauen müsste. Engagierte Lehrer berichten glaubhaft, dass das Niveau der angebotenen Fortbildungen an den Pädagogischen Hochschulen oft sehr schlecht ist. Niemand leidet mehr unter schlechter Fortbildung als exzellente Lehrer.

Viele dieser hier angeführten Maßnahmen standen zumindest ansatzweise im Programm der im Dezember 2017 angelobten ÖVP-FPÖ-Regierung. Überschäumender Optimismus, dass die neue Regierung das Immunsystem des Schulsystems gegen jede Art von Reform schnell überwinden werde, war nicht angesagt.2 Denn die ewigen Feinde des talentierten Schülers sind unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation aktiver denn je: Die Länder streiten mit dem Bund um mehr Geld und boykottieren jeweils Maßnahmen, die ihnen nicht passen, von echten Ganztagsschulen bis zur Deutschpflicht. Die Lehrergewerkschafter fürchten hinter jeder Maßnahme Mehrarbeit und hyperventilieren beim Wort »Leistungsorientierung«. Ideologische Fundamentalisten verhindern jede faktenorientierte Diskussion und bekämpfen sich lustvoll an Nebenfronten. Medien verbeißen sich in Nebenthemen wie Herbstferien, Noten, Strafen oder Schulschwänzen. Die einzig relevante Perspektive, die des talentierten Schülers, wird weiterhin völlig vernachlässigt. Seien wir ehrlich: Ein Schulsystem, das sich daran orientiert, Schüler dabei zu unterstützen, ohne Angst und Langeweile, mit Freude zu lernen, würde ganz anders aussehen.

Warum ich dieses Buch neu geschrieben habe

Der talentierte Schüler und seine Feinde hat seit dem ersten Erscheinen im März 2008 eine breite öffentliche Diskussion über unser Schulsystem ausgelöst. Das ist gelungen, weil das Buch den Nerv der Zeit mit einer einzigen Frage getroffen hat: Wie gehen wir mit den Talenten unserer Kinder in der Schule um? Aussagen wie »Wir müssen die Stärken unserer Kinder stärken, statt uns in ihre Schwächen zu verbeißen« sind heute Allgemeingut.

Ich habe für das Buch damals einige der klügsten Köpfe der Welt wie den Harvard-Professor Howard Gardner, den Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi, den MIT-Lernforscher (Massachusetts Institute of Technology) Peter Senge, den langjährigen Chefredakteur der Harvard Business Review Alan Webber oder meinen spirituellen Mentor, den Benediktinermönch David Steindl-Rast lange interviewt. Dazu kamen Nobelpreisträger, wie zum Beispiel der leider verstorbene Günter Blobel, der mir die Ehre erwiesen hat, das ursprüngliche Vorwort zu schreiben. Ich wurde für den Talentierten Schüler sowohl zum »Autor des Jahres« als auch zum »Kommunikator des Jahres« gewählt. So weit, so gut.

Eines hat das Buch leider bis heute überhaupt nicht geschafft: Dass jene pädagogischen Prinzipien, die wissenschaftlich eindeutig erforscht und in einigen herausragenden Schulen täglich umgesetzt werden, Eingang in die Unterrichtspraxis unseres Schulsystems finden. Dabei hätten alle Schüler ein Recht auf einen Gegenstand »Kommunikation und Sozialkompetenz«, einen persönlichen Coach, auf selbstbestimmtes Lernen in Lernbüros, auf individuelle Lernziele zusätzlich zum Zeugnis, auf fächerübergreifende Fallstudien im echten Leben und vor allem auf exzellente Lehrer, die in Teams arbeiten. Die lebendige Schule könnte ein Ort sein, wo Kinder mit Freude lernen, ihre Welt jeden Tag ein bisschen besser zu verstehen.

Was ist neu in dieser Neuauflage?

Ein Buch kann kein Schulsystem verändern. Es kann aber sehr wohl Eltern, Schülern, Lehrern und Direktoren Mut in ihrem Kampf gegen ein mittelmäßiges Schulsystem machen. Der talentierte Schüler ist nach sechs Auflagen seit zwei Jahren weder als Hardcover noch als Taschenbuch erhältlich. Seine Mission ist leider noch nicht beendet. Deshalb habe ich mich entschlossen, das Buch komplett zu überarbeiten. Dafür habe ich fünf neue Kapitel geschrieben:

• Die Bildungsfernen rücken immer näher – Wenn 80 Prozent einer Klasse dem Unterricht nicht folgen können

• Die digitale Revolution erreicht das Klassenzimmer – Warum wir nicht Handys verbieten, sondern die Chancen des neuen Lernens nutzen sollten

• Die Macht der Torheit – Absurdes und Kurioses in unserem Schulsystem

• Tatort Schule – Meine merkwürdigsten Fälle als Schüleranwalt

• Warum wir endlich echte Ganztagsschulen einführen müssen, statt uns über die Gesamtschule zu streiten

Anstelle des mittlerweile veralteten Kapitels von vorbildhaften Schulen in Österreich und Deutschland biete ich Eltern einen Kriterienkatalog für die Auswahl der richtigen Schule für ihr Kind an. Selbstverständlich habe ich alle Zahlen, Daten, Fakten aktualisiert, viele neue spannende Geschichten eingefügt und präsentiere den neuesten Stand der Bildungsforschung in leicht lesbarer Form.

Gestrichen habe ich das ursprüngliche Kapitel »Warum die PISA-Debatte den richtigen Stein ins Rollen gebracht hat, dieser aber in die falsche Richtung rollt«. Die traurige Tatsache, dass Deutschlands und Österreichs Schulsysteme abgeschlagen hinter der Spitze liegen, ist kein eigenes Kapitel wert. Den bescheidenen PISA-Ergebnissen widme ich daher im Kapitel »Die Macht der Torheit« nur ein paar Zeilen. Die Inhalte des bisherigen Kapitels »Der Feind in uns selbst« habe ich in komprimierter Form in andere Abschnitte eingearbeitet.

Die Hoffnung stirbt nie – es geht um jedes einzelne Talent

Eltern können viel dazu beitragen, damit ihre Kinder zu den Lernern gehören. Das beginnt mit dem Fördern von Neugier und Lernfreude, dem Vorlesen von Märchen und, ganz wichtig, der Wahl der richtigen Schule. Lehrer beeinflussen die Schicksale ganzer Generationen.

Umfragen unter Schülern über ihre Lieblingslehrer zeigen, dass diese sie ziemlich fordern, ihnen aber mit Respekt begegnen. Eines sei klar gesagt: Ab einem bestimmten Alter ist jeder selbst dafür verantwortlich, ob er ein lernender Mensch ist.

Die Welt wird sich in Zukunft noch deutlicher in die Lerner und Nichtlerner teilen. Letztere werden zu den großen Verlierern gehören. Sollte nicht eine grundlegende Reform gelingen, wird sich der Abstieg unseres öffentlichen Schulsystems fortsetzen. Jeder, der es sich irgendwie leisten kann, wird sein Kind in eine Privatschule geben. Das tun übrigens schon jetzt viele Politiker und Promis, die öffentlich von der Gesamtschule schwärmen. Im öffentlichen Schulsystem werden schließlich die Kinder der bildungsfernen Schichten übrig bleiben. Die Zukunft für ein kleines Land wie Österreich mit seinen 1,2 Millionen Schülern kann nur in einem öffentlichen Schulsystem liegen, das die Talente seiner Kinder fördert und nicht systematisch zerstört, nur weil sie in die »falsche« Familie am »falschen« Ort geboren wurden.

Schüler, Lehrer, Direktoren und Eltern können erkennen, dass nicht sie die Gegner sind, sondern wer ihre wahren Feinde sind. Wenn sie sich an ihrer Schule verbünden, dann werden sie viel erreichen. Solange dagegen die Kanäle zwischen Menschen durch Gleichgültigkeit und Misstrauen verstopft sind, werden sie einander nicht verstehen. Wertschätzung kann sich nur aus Vertrauen entwickeln. Eltern, die das große Glück haben, dass ihr Kind in eine lebendige Schule mit engagierten Lehrern geht, dürfen sich damit nicht zufriedengeben, sondern sollten diese gute Nachricht nach außen tragen. Damit erhöhen sie die Motivation der besonders engagierten Lehrer und das wird auch ihrem Kind förderlich sein. Die guten Lehrer und Direktoren sollen nicht länger im Verborgenen blühen. Es ist die Bringschuld von uns allen, sie aus der Anonymität zu holen. Die lebendigen Schulen vermehren sich durch die Verbreitung von Hoffnung. Über den Mut aufzubrechen gibt es ein wunderschönes Zitat von Stefan Zweig:

»Die größte Leistung von Christoph Kolumbus war nicht, dass er in der neuen Welt angekommen ist und Amerika entdeckt hat – sondern dass er den Mut hatte aufzubrechen.«

Andreas Salcher
September 2019

PS: Ich freue mich sehr, wenn Sie mich wissen lassen, worin Sie dieses Buch bestärkt hat und welche Erfahrungen, Erfolge oder auch Rückschläge Sie auf dem Weg zur Entwicklung von lernenden jungen Menschen erlebt haben. Bitte schreiben Sie mir an meine persönliche E-Mail-Adresse: andreas@salcher.co.at.

1 Vortrag von Gerald Hüther in der Urania in Wien am 20. März 2017.

2 Im Mai 2019 zerbrach die ÖVP-FPÖ-Koalition am »Ibiza-Skandal-Video« und es wurden Neuwahlen für September 2019 beschlossen.

Die Tabus in
unserem Schulsystem

Die Talentvernichtungsindustrie oder Warum wir uns die systematische Zerstörung der Talente unserer Kinder in der Schule nicht mehr länger leisten können

Es gibt zwei Arten von Kindern: kluge Kinder und dumme Kinder. Kluge Kinder sind solche, die in der Schule erfolgreich sind, und dumme jene, die in der Schule scheitern. Diese Grundannahme ist tief in die Festplatten der Eltern, Lehrer und des Gesamtsystems Schule eingraviert. Auch viele Kinder glauben das. Es ist einfach, einleuchtend, seit Generationen weitergegeben – und so falsch wie die Behauptung, dass die Erde eine Scheibe ist.

Wenige Kinder werden als Genies geboren. Aber alle Kinder haben eine Vielzahl von Talenten. Wenn wir ein Neugeborenes betrachten, sehen wir kein dummes oder kluges Baby. Es gibt keine Eltern, die zu ihrem Kind, das beim Versuch, ein Zimmer auf zwei Beinen zu durchqueren, immer wieder hingefallen ist, sagen: »Du bist zu dumm, um ein Zweibeiner zu werden, du kommst in die Klasse der Vierbeiner.« Laufen lernt man durch Hinfallen. Kinder lernen nach dem Trial-and-Error-Prinzip: Ausprobieren – Fehler machen. Das funktioniert großartig, wenn man bedenkt, was Kinder alles von ihrer Geburt bis zu ihrem sechsten Lebensjahr lernen: Krabbeln, Brabbeln, Sprechen, Singen, Tanzen, Sandburgen bauen, Drachen steigen lassen, Fahrrad fahren und vieles mehr. Daher kann es nur die Aufgabe einer entwickelten Gesellschaft sein, jedem Kind die maximale Chance auf die Entfaltung seiner Talente zu geben. Das Denkmodell, auf dem unser gesamtes Schulsystem aufgebaut ist, basiert aber auf der industriellen Massenproduktion. Die Geschwindigkeit des Fließbandes erlaubt nur eine Sortierung nach der Norm oder auszusonderndem Ausschuss.

Gillian Lynne galt in der Schule als ein hoffnungsloser Fall. Ihre Eltern waren der Meinung, dass Gillian eine Lernstörung habe. Sie konnte weder ruhig sitzen noch sich auf etwas konzentrieren. Ihre Mutter brachte sie zu einem der damals verfügbaren Spezialisten für Lernstörungen und erzählte diesem von all den Problemen, die Gillian in der Schule hatte, dass sie keine Hausaufgaben machte und dauernd störte. Gillian saß dabei 30 Minuten auf einem Stuhl auf ihren Händen und sprach kein Wort. Der Doktor hörte der Mutter geduldig zu und sagte dann zu Gillian, dass er mit ihrer Mutter allein reden müsse und daher mit ihr nach draußen gehen werde. Bevor sie den Raum verließen, schaltete der Doktor das Radio ein. Kaum hörte Gillian die Musik, sprang sie auf den Tisch und begann zu tanzen. Nach einer Weile zeigte der Doktor auf Gillian und sagte zu ihrer Mutter: »Frau Lynne, Ihre Tochter ist nicht krank. Sie ist eine Tänzerin.«

Die Mutter hörte auf den Rat des Experten und gab ihre Tochter an eine professionelle Tanzschule. Gillian Lynne sagte später: »Es war wunderbar für mich. Lauter Menschen wie ich, die nicht still sitzen konnten. Menschen, die sich bewegen mussten, um denken zu können.« Gillian Lynne wurde eine umjubelte Ballerina am Royal Ballet und spielte in Filmen mit Errol Flynn. Sie gründete ihre eigene Tanzgruppe und lernte Andrew Lloyd Webber kennen. Für ihn schuf sie unter anderem die Choreografien für Cats und Das Phantom der Oper. Sie wurde ein Weltstar und eine Multimillionärin.

Gillian Lynne wurde im Jahr 1926 in Großbritannien geboren und nicht am Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland oder den USA. Heute hätte man bei ihr wahrscheinlich ein Aufmerksamkeitsdefizit- beziehungsweise Hyperaktivitätsstörungssyndrom (ADHS) diagnostiziert und sie mit Ritalin beziehungsweise Prozac behandelt, um ihre Hyperaktivität zu reduzieren. Die Menschen wussten damals nicht, dass es so etwas gibt. Heute weiß niemand, wie viele Kinder in den USA Ritalin bekommen, um sie angepasster und braver zu machen. Die Schätzungen differieren zwischen ein bis acht Millionen Kindern! Sogar bei Kindern im Vorschulalter nimmt die Einnahme von Ritalin immer mehr zu. In Deutschland heißt das vergleichbare Medikament Prozac, und immer mehr Fachleute warnen Eltern vor dem oft viel zu sorglos diagnostizierten ADHS und der Verschreibung von Prozac. In Österreich liegt dieses Problem noch im Bereich von Dunkelziffern. Neuere Studien zeigen, dass ADHS oft bei besonders kreativen Kindern diagnostiziert wird. Schöne neue Welt – Aldous Huxley lässt grüßen.

»Töten unsere Schulen die Kreativität?«

Die wunderbare Geschichte von Gillian Lynne erzählte der britische Kreativitätsexperte Ken Robinson bei der TED-Konferenz 2006 in Monterey in Kalifornien. TED steht für Technologie, Entertainment und Design und gilt als eine der innovativsten Konferenzen der Welt. Obwohl vor Robinson große Namen wie Al Gore oder die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page auftraten, war seine 17-minütige Präsentation mit dem Titel »Töten unsere Schulen die Kreativität?« der meistdiskutierte Beitrag. Sein Vortrag wurde inzwischen von weit über 100 Millionen Menschen gesehen. Sollten Sie ihn bisher noch nicht gehört haben, lohnt es sich, das jederzeit auf YouTube oder www.ted.com nachzuholen.

Ken Robinson brachte bekannte Fakten sehr bildhaft auf den schmerzhaften Punkt: Jedes Schulsystem auf der Welt hat die gleiche Hierarchie von Gegenständen. An der Spitze stehen immer Mathematik und Sprachen, dann folgen die Naturwissenschaften und ganz am Ende kommen, wenn überhaupt, die künstlerischen Gegenstände. Übrigens sind Musikerziehung und Zeichnen jene Fächer, die nach einem ungeschriebenen Gesetz bei Budgetproblemen immer als erste gestrichen werden. Das Streichen von Mathematikstunden würde einen nationalen Aufstand der Eltern, von denen die meisten diesen Gegenstand selbst in der Schule gefürchtet haben, auslösen. Das Weglassen von ein paar Musikstunden erregt vielleicht ein paar Einzelkämpfer.

Es gibt kein Land auf der Welt, das Kinder Tanzen mit der gleichen Priorität wie Mathematik lehrt. Warum eigentlich? Mathematik ist wichtig. Tanzen ist auch wichtig. Wir haben alle einen Körper. Wenn Kinder aufwachsen, starten wir mit ihrer Bildung von der Hüfte aufwärts und konzentrieren uns später ausschließlich auf ihre Köpfe. Denkt man einmal darüber nach, was das ideale Endresultat unseres öffentlichen Bildungssystems ist, so muss man zu dem Schluss kommen, dass der ideale Output aller Schulen der Typus des Universitätsprofessors ist. Manche Universitätsprofessoren leben ihr Leben lang primär in ihren Köpfen. Sie sind komplett von ihren Körpern getrennt, sie sehen ihre Körper als Mittel, um ihren Kopf von einem Ort zu einem anderen zu befördern, sagt Ken Robinson, der selbst Universitätsprofessor ist und über einen durchaus massiven Körper verfügt, der leider von Kinderlähmung gezeichnet ist.

Viele kreative Kinder, die über ganz andere als die einseitig hoch bewerteten intellektuellen Fähigkeiten verfügen, scheitern in diesem System schon sehr früh und haben nie die Chance, an eine Universität zu kommen. Ihre Talente gehen daher unserer Gesellschaft auch für immer verloren.

Warum sind unsere Schulen eigentlich so, wie sie sind?

Der Einfluss des Industriezeitalters, in dem wir nach wie vor leben, ist uns gar nicht bewusst, ebenso wenig wie dem Fisch das Wasser, in dem er schwimmt. Wir packen die Schultaschen mit 10 bis 20 Kilogramm voll, weil unsere Kinder sonst nicht die vielen Prüfungen schaffen können. Viele Lehrer sehen die Schule ausschließlich aus der Bauchnabel-Perspektive ihres Faches und sprechen sich nicht ab. Sie stellen nur ihre isolierten Leistungsanforderungen, ohne über die Summe nachzudenken, die sie im wahrsten Sinne des Wortes den Kindern aufbürden. Auch die Eltern zu Hause sind oft so in ihrem eigenen Stress verhaftet, dass sie entweder gar nicht auf die Idee kommen, welcher Druck an manchen Tagen auf ihren Kindern lastet, oder – noch schlimmer – sie diesen sogar für eine gute Vorbereitung auf die harte Realität des Lebens halten. Motto: Lernen muss richtig wehtun.

Das ist auch eine Kernaussage von Peter Senge, Professor für lernende Organisationen am weltberühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston in seiner überzeugenden Analyse, warum unsere Schulen heute noch immer so sehr den Fabrikhallen der industriellen Revolution gleichen. Senge entschlüsselt die DNA unseres Schulsystems und legt damit das Grundproblem unserer Schulen offen:1

Schon Friedrich der Große war fasziniert von dem Gedanken, seine Soldaten möglichst zu perfekt funktionierenden Einzelteilen in einer großen Militärmaschine zu machen. Dieser Zweck prägte die Ausbildung in den preußischen Kadettenanstalten, und diese Idee ist bis heute nie ganz aus unserem Bild von Schule verschwunden. Maria Theresia nahm sich jenes Modell ihres großen Rivalen Friedrich II. übrigens als Vorbild bei der Gründung des österreichischen Schulsystems, weil sie, nach einigen verlorenen Schlachten gegen die Preußen, offensichtlich erkannte, dass besser gebildete Soldaten auch effizienter kämpfen können.

Mit dem Trend zur Massenfertigung, der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, wurde die Idee geboren, Fabriken wie eine einzige große Maschine zu gestalten. Der wichtigste Protagonist dieser Ära, Frederick Taylor, sah keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Gestaltung der menschlichen Arbeit und der Gestaltung von Maschinen.2 Die Erfindung des Fließbandes durch Henry Ford, das effizient gleiche Produkte fertigte, war die logische Konsequenz dieser Entwicklung. Davon leitete sich auch der Ansatz ab, Menschen möglichst schnell als produktive Fabrikarbeiter zu qualifizieren. Das war genau die Zeit, in der die öffentlichen Schulsysteme in der uns heute bekannten Form geschaffen wurden. Es darf daher gar nicht verwundern, dass die Massenfertigung den Schöpfern dieses Schulsystems als Vorbild diente. Ja, Schulen sind daher wahrscheinlich überhaupt jene von Menschen geschaffenen Institutionen, die am stärksten den Fließbändern ähneln.

Das ganze System baut auf getrennten Stufen auf, die man Klassen nennt, und in die man Kinder streng nach Alter getrennt einteilt. Es wird erwartet, dass jeder Schüler in der dafür vorgesehenen Zeit Stufe um Stufe aufsteigt. Jede Klasse hat einen zugeteilten Aufseher, der in der Schule Lehrer heißt. Zu bestimmten, genau festgelegten Zeiten bereitet man in den Klassen zwischen 20 und 40 Schüler auf Prüfungen vor. Die ganze Schule ist danach konstruiert, in einem ganz fixen Zeitschema zu arbeiten, das durch Glocken, exakt festgelegte Erholungspausen und strikte Arbeitszeiten zentral vorgegeben ist. Jeder Lehrer weiß genau, was von ihm erwartet wird, damit sich das Fließband in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit bewegen kann. Das Resultat jenes vom Maschinenzeitalter geprägten Modells waren Schulen, die total vom täglichen Leben der Menschen isoliert, von autoritärem Verhalten geprägt und mit einem einzigen Ziel geschaffen wurden: ursprünglich leicht austauschbare Soldaten in »der großen Maschine« Friedrichs des Großen und später möglichst standardisierte, schnell einsetzbare Arbeitskräfte zu produzieren. Natürlich lieferte dieses Modell von Schule sehr effektiv viele Menschen, die die wichtigsten Dinge wie Lesen, Schreiben und Rechnen auf einmal beherrschten, was durchaus einen Fortschritt gegenüber dem dumpfen Analphabetismus des Agrarzeitalters darstellte. Dieses industrielle Modell von Schule trug aber bereits den Keim aller Probleme in sich, mit denen wir heute kämpfen. Es selektierte in dumme und kluge Kinder und verkannte die Individualität jedes Menschen. Jene, die nicht genau in der vorgeschriebenen Zeit lernten, wurden entweder ausgesondert oder gezwungen, in einem für sie unnatürlichen Tempo zu lernen. Heute bezeichnet man diese Kinder als »lerngestört«. Dabei hat man ihnen oft sehr früh ihre natürliche Neugier ausgetrieben und sie damit ihrer Lernfreude beraubt.

Wir hören ständig in politischen Sonntagsreden davon, dass wir mehr Innovation und neue Ideen brauchen, um in der Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. Doch unser gesamtes Schulsystem ist auf die Normierung ausgerichtet. Alles, was außergewöhnlich oder besonders sein könnte, isolieren, bekämpfen und begrenzen wir.

Bescheidenheit ist für unsere Schulen keine Tugend

Warum stellen wir eigentlich so bescheidene Ansprüche, was das Niveau unserer Schulen betrifft? Berücksichtigen wir etwa auch nur die unterschiedlichen Entwicklungssprünge von Mädchen und Burschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung? Das Fehlen jeder ernsthaften Diagnose am Beginn der Schullaufbahn schafft Weichenstellungen mit Folgen für die nächsten 60 Jahre. Und noch viel wichtiger: Interessiert das überhaupt irgendjemanden in einem System, das wie ein Fließband auf Knopfdruck anspringt, um vorgefertigte Teile zu produzieren? Hat man in Ihrer Schulzeit auch noch Linkshänder gezwungen, Rechtshänder zu werden? Oder waren Sie selbst sogar ein Opfer? Obwohl Linkshänder heute nicht mehr als abnorm gelten, werden aus vielen unbewussten Linkshändern bereits in Kindertagen Pseudo-Rechtshänder, was zu schweren gesundheitlichen Schäden führen kann.