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JON LARSEN

STERNENJÄGER

Meine Suche nach dem Stoff,
aus dem das Universum gemacht ist

Aus dem Norwegischen von
Ulrich Sonnenberg

Mit farbigen Fotografien

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Die norwegische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
Stjernejeger. En spektakulær fortelling om en jazzmusiker, de eldste partiklene i vårt solsystem og en usannsynlig oppdagelse bei Cappelen Damm AS, Oslo

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

ISBN: 978-3-7109-0085-3
eISBN: 978-3-7109-5094-0

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

SO FINDEST DU STERNENSTAUB

LITERATURVERZEICHNIS

FOTONACHWEIS (BILDTEIL)

»Irgendwelche Fragen?«

Die Worte werden von den kargen Wänden des Auditoriums brutal zurückgeworfen. Ich trete vom Mikrofon zurück und blicke über die Versammlung. 500 der intelligentesten Köpfe der Erde sind hier in der deutschen Hauptstadt im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin versammelt. Anlass ist die jährliche Konferenz der Mitglieder der Meteoritical Society. Das Thema des Tages ist Sternenstaub.

Und ich, ein autodidaktischer Laie, habe gerade behauptet, dass sie sich geirrt haben.

Alle miteinander.

Es ist nicht so gekommen, wie ich es mir gedacht hatte.

Als alter Jazzmusiker habe ich mir den Herbst des Lebens als eine Reihe interessanter Konzerte in den Metropolen der Welt vorgestellt. Mit einem beruhigenden kalten Bier in Reichweite. Jetzt, da ich Barcelona endlich wie meine Westentasche kenne, wäre es doch an der Zeit, dorthin zu reisen und die Ernte einzufahren? Endlich könnte ich interessante Biersorten probieren, ohne mir um den morgigen Tag Sorgen machen zu müssen. Vielleicht würde ich eine neue Generation von Gypsy-Musikern in Paris kennenlernen?

Doch das Dasein nahm unerwartet eine andere Richtung, und die letzten zehn Jahre habe ich mich mit etwas ganz anderem als der Musik beschäftigt. In diesem Zusammenhang kann man sich fragen: Wann kommt man eigentlich in das Alter des Staubs?

Wenn sich der Staub auf das Leben legt und man sich auf der Veranda im Schaukelstuhl zurücklehnen darf? Oder einen Langzeiturlaub an der Costa del Sol antritt? Oder wenn der Staub sich aufs Hirn legt und man sich von einem verrückten Bohemien in einen verantwortungsbewussten Bürger verwandelt?

Mein altes Papierlexikon erklärt mir, dass man früher mit siebzig das Alter des Staubs erreichte, aber die Zeiten ändern sich. Ein Bekannter, der kürzlich siebzig Jahre alt wurde, kommentierte seinen Geburtstag lakonisch auf Facebook mit der Bemerkung: »Jugendzeit over«. Aber heißt das, dass er jetzt im Alter des Staubs ist? Vermutlich nicht.

Ich persönlich musste nach einem langen Leben als herumreisender Musiker einsehen, dass ich in gewisser Weise das Alter des Staubs erreicht habe. Nicht erwartet hatte ich allerdings, dass dies in mir dieselbe kribbelnde Lust auslöste, denselben unbändigen Drang und dieselbe energische Neugierde wie das Erforschen der Gitarre vor beinahe vierzig Jahren. Nach einem Leben als professioneller Gitarrist in dem Jazzquartett Hot Club de Norvège ging die Lust nun allerdings in eine andere Richtung. Aufs Neue reichten plötzlich die Stunden des Tages nicht aus, um den ungeheuren Appetit auf etwas zu befriedigen, von dem ich nicht wusste, was es war. Oder wo es war. Ich wusste nur, dass ich mich auf unbekanntem Terrain befand. Dieses Frühlingsgefühl darüber, dass bei mir das Alter des Staubs einsetzte, als ich Mitte fünfzig war, empfand ich als ein unerwartetes Geschenk. Ich ließ mich bereitwillig von einer Welle der Lust und Erwartung mitreißen. Staub wurde mein neues Ding.

Warum das Interesse für Staub geweckt wurde und wie es dazu kam, dass ich im Kreuzfeuer einer wissenschaftlichen Konferenz in Berlin landete, erklärt sich nicht von allein. Vom Jazzpublikum hätte ich mich vermutlich nicht weiter entfernen können. Vorausgegangen war eine Kette unvorhergesehener Ereignisse, die mich unerbittlich immer tiefer auf eine versteckte Nebenspur des Daseins führte, in eine Welt, von deren Existenz ich bis dahin nichts geahnt hatte – Staubforschung. Ein schwacher Begriff. Der sich aber schon bald als ein Schauplatz für rot glühende Leidenschaften und schwindelerregende Perspektiven erweisen sollte.

Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung gibt es nach wie vor weiße Flecken auf der Landkarte, die von den Messinstrumenten der Wissenschaftler noch nicht sondiert wurden. Wir Menschen glauben gern, dass alles bereits entdeckt und erfunden ist, aber das stimmt natürlich nicht. Eine neue Entdeckung könnte sich sogar direkt vor unseren Augen befinden. Nur getarnt durch unser eigenes Gewohnheitsdenken.

Es war der pure Zufall, der mich das erste Mal Staub mit anderen Augen sehen ließ. Danach führte eins zum anderen. Ursache und Wirkung folgten mit vorhersehbarer Gesetzmäßigkeit aufeinander – bis zum Chaos. Sieben Jahre Suche in den Straßen der größten Metropolen der Welt und in kleinen norwegischen Dörfern führte zu einer Entdeckung, die mit den alten Wahrheiten brach. Der Fund war ein unmittelbarer Widerspruch zu den Erkenntnissen der NASA und warf in der äußersten Konsequenz keine geringeren Fragen auf als zwei der grundlegendsten überhaupt: wie das Leben auf der Erde entstand und woher das Wasser kam. Man hatte mich nach Berlin eingeladen, um skeptischen Wissenschaftlern aus der ganzen Welt den Fund aus dem Straßenstaub zu präsentieren.

Aber um zurück zum eigentlichen Anfang dieser Geschichte zu gelangen, müssen wir uns in eine andere Zeit begeben.

In eine sehr weit zurückliegende Zeit.

1

Die Erde gibt es nicht.

Draußen im Weltall stirbt gerade ein alter Stern. Nach Milliarden von Jahren hat dieser rote Riese keinen Brennstoff mehr. Der Wasserstoff ist verbraucht, fusioniert zu Helium. Doch nun gibt es davon auch nichts mehr. Langsam hat die Sonne sich ausgedehnt und ihre Planetenkinder verschluckt. Sie ist müde, die Kräfte nehmen ab. In seiner kosmischen Nachbarschaft war der Stern ein brutaler Alleinherrscher. Alles, was sich ihm näherte, wurde gnadenlos in diese brennende Hölle hineingezogen und vernichtet. Doch nun ist diese Zeit vorbei. Der Riese bebt. Er kann sein eigenes Gewicht nicht länger tragen. Unter knisterndem Sternengewimmel fällt er in einem Gravitationskollaps in sich zusammen.

Im nächsten Augenblick zerbirst er in einer Explosion aus Sternenstaub. Das Testament des Sterbenden an die Zukunft. Die Sternenasche wird mit so großer Kraft herausgeschleudert, dass sie sich in immer schwerere Grundstoffe umwandelt. Erst in Kohlenstoff und Sauerstoff, danach in Nickel und Eisen, und zum Schluss in Iridium und Platin. Nun wird der Stern zur Supernova und strahlt mehr Licht aus als der gesamte Rest der Galaxie. Eine letzte Kraftanstrengung, die ihn zum am stärksten leuchtenden Objekt am Himmel werden lässt, bevor er langsam verbrennt und verschwindet. Und der Geist des toten Riesen segelt als Fliegender Holländer auf dem unsichtbaren Meer der Zeit durch den Kosmos. Ein schwarzes Loch.

In Millionen von Jahren reist die Wolke aus Sternenstaub weiter durch das Universum. Ein einziges dieser kleinen Staubkörnchen, ein winziger Stein, der weniger als einen Millimeter groß ist, wollen wir weiterverfolgen. Dieses Staubkorn spielt in diesem Buch die Hauptrolle. Das trotz seiner unbedeutenden Größe nach und nach große Dinge vollbringen wird. Noch immer hat das Körnchen Milliarden Jahre vor sich, bevor es zu einer Sensation wird und auf der Titelseite der New York Times und anderen großen Zeitungen weltweit erscheint. Allerdings existiert der Erdball noch nicht. Währenddessen schwebt das Körnchen lautlos immer weiter durch den Weltraum. Ein bescheidener Punkt im unendlichen Universum.

Die Wolke aus Sternenstaub trifft nach und nach auf andere kosmische Wolken, und ein neuer Stern entzündet sich im Staub. Eine Sonne. Mit der Zeit organisiert die Schwerkraft die kleinen Partikel um den leuchtenden Mittelpunkt – ein recht gewöhnlicher Stern der zweiten Generation. Unsere Sonne.

4,56 Milliarden Jahre später hat die rotierende Staubwolke rund um den neuen Stern sich zu acht Planeten und mehr als 150 Monden verdichtet. Unser kosmisches Staubkorn segelt unterdessen weiter einsam umher. Auf dem dritten Planeten von innen gibt es Wasser in flüssiger Form. Hier hat das Leben sich zu einem fantastischen Panorama aus kohlenstoffbasierten Organismen entwickelt, die auch die kleinste Nische in einer Landschaftsvariation füllen, die einzigartig ist unter allen Planeten dieses Sonnensystems. Gleichzeitig hat die Evolution auf dem Blauen Planeten hoch spezialisierte Arten in allen Formen und Farben hervorgebracht, von denen eine Art relativ spät eine besondere Fähigkeit ohne einleuchtenden Nutzwert entwickelt hat – Bewusstsein. Aber noch immer rieselt Restmaterial der kosmischen Staubwolke auf die Erde nieder. Boten des toten Sterns der vorhergehenden Generation. Der Homo sapiens, der seine ersten Schritte auf einem Planeten im Weltraum macht, beachtet es nicht, sofern der Sternenstaub nicht einen leuchtenden Streifen am klaren nächtlichen Himmel hinterlässt. Eine Sternschnuppe, bei der, so sagt man, ein Wunsch in Erfüllung geht.

An einem Julitag des Jahres 2009 gibt es keinen Weg zurück mehr. Nach Tausenden von Jahren auf einem Beinahekollisionskurs mit der Erde wird das uralte Staubkörnchen schließlich von der Anziehungskraft unseres Planeten eingefangen. Die lange Reise ist zu Ende, der Stein fällt auf die Erde. Der Reibungswiderstand bei der Begegnung mit den Luftmolekülen ganz oben in der Atmosphäre lässt das kleine Partikel heiß werden, zum ersten Mal seit der Sternenexplosion vor Milliarden von Jahren. In dem Augenblick, in dem die Konturen von Land und Meer ungefähr fünfzehn Kilometer tiefer zu erkennen sind, schmilzt der Sternenstaub zu einem Tropfen aus flüssigem Stein, der auf den Boden zurast. Ein winziger Ikarus, fünfzehn Mal schneller als eine Gewehrkugel. Am Boden bereiten Urlauber ihr Frühstück vor. Sie wissen nichts von dem Drama, das sich in der Luft abspielt.

Wenn die Steinkugel schmilzt, vollzieht sich eine Veränderung, eine Differenzierung. Schwerere Stoffe wie Eisen oder Nickel vermischen sich und bilden einen metallischen Kern, während leichtere Stoffe wie Wasser und Kohlenstoff verdampfen. Je näher der Mikrometeorit sich dem Boden nähert, desto dichter wird die Atmosphäre. Der erhöhte Luftwiderstand bremst das Stäubchen, das abkühlt und wieder kristallisiert. Im Moment des Erstarrens reagiert ein Teil des Eisens in der Kugel mit dem Sauerstoff in der Atmosphäre und bildet hübsche Eisblumen aus Eisenoxid auf der Oberfläche. Am Ende fällt das lang gereiste Partikel auf den Boden wie ein stromlinienförmiger kleiner Kristallball. Nur angezogen von der Schwerkraft.

Wäre es windig gewesen, hätte der Wind das Staubkörnchen davongeweht. So schwebt der kleine Punkt unbemerkt auf eine Veranda in Brevik am Bunnefjord, unweit von Olso.

2

2009

Es ist windstill. Die Sonne steht bereits hoch am blauen Himmel. Ich bereite den Höhepunkt des Sommers vor, Frühstück auf der Veranda mit einem Korb voll frisch gepflückter Erdbeeren. Ich wische die Wachsdecke ab, lege den Lappen beiseite und setze mich an den Tisch, um das Leben und die roten Beeren zu genießen. Rieche den Duft von Kiefern und Jasmin. Höre den Vögeln zu.

Etwas kratzt. Vor mir auf dem Tisch liegt ein winziges Staubkorn und glitzert in dem scharfen Licht. Einen Augenblick zuvor war es noch nicht da. Ich berühre es mit dem Finger. Es ist uneben und hart, kleiner als ein Punkt. Ein winziger Stein? Die Sonnenstrahlen werden reflektiert, als gäbe es Facetten auf der Oberfläche. Stein oder ein Stückchen Metall?

Könnte es von einem Flugzeug stammen? Oder einem Vogel? Es ist wolkenfrei, und der Punkt auf dem Tisch muss von oben gekommen sein. Mit wachsender Neugierde suche ich im Netz und stoße schnell auf einen aktuellen Artikel, The Classification of Micrometeorites. Könnte es sich bei dem kleinen Stein um etwas Außerirdisches handeln? Ist möglicherweise ein Meteorit aus dem Weltall auf meinem Frühstückstisch gelandet? Ich spüre eine heiße Welle von Adrenalin in meinem Körper. Der kleine Punkt wird in eine Streichholzschachtel gelegt, bevor ich mich wieder an den Computer setze, um nach weiteren Informationen über Mikrometeoriten zu suchen. Viel ist nicht zu finden, aber ich verschlinge jedes Wort. Kann kaum an etwas anderes denken. Noch vor Ende des Tages ist mein Schicksal besiegelt. Das Leben nimmt eine neue Richtung, und ich verwandle mich in einen Jäger. Auf der Jagd nach Sternenstaub.

Ohne dass ich es weiß, ist dies der Moment, in dem sich alle Fäden und sämtliche Erfahrungen in einem Punkt sammeln. Ein Nadelöhr in der Zeit. Von genau diesem Augenblick an wird alles anders werden. Wie ein Wechsel zwischen zwei geologischen Perioden im Kleinformat. Nun wird die Summe aus fünfzig Jahren Neugierde zu einem Teilchen in einem Puzzlespiel, das mir vorläufig noch völlig unbekannt ist. Nach und nach wird alles, was ich mit mir herumgetragen habe, ausgepackt und genutzt. Wie der Held im Märchen, der verschiedenste Prüfungen bestehen muss, um die Prinzessin zu gewinnen. Nach einem langen Leben als Steinsammler, Musiker und Maler sind es genau diese Erfahrungen, die mir durch das Labyrinth an Schwierigkeiten helfen werden, das ich in diesem Moment betreten habe.

Um die Aufgaben zu lösen, die in den nächsten sieben Jahren auf mich zukommen, braucht es einen Flickenteppich aus unterschiedlichsten Kenntnissen, für die es keine Ausbildung gibt. Es wird notwendig, bürgerliche Konventionen beiseitezulegen und in den größten Städten der Welt wie ein Hund auf allen vieren zu kriechen. Sich in die Rinnsteine zu graben. Per aspera ad astra, durch Schwierigkeiten zu den Sternen.

Die losen Fäden wurden durch das Nadelöhr des Augenblicks gefädelt, um in Aufgaben verwoben zu werden, von denen ich nicht wusste, dass sie auf mich warten. Zieh einen Faden heraus, und die ganze Geschichte löst sich auf. Ich hätte den kleinen Punkt auf der Decke ignorieren können. Oder mir sagen, es ist nur ein Krümel. Ein Fliegenschiss? In der sich anschließenden Zeit sollte ich auf die Probe gestellt werden und auf Widerstand stoßen. Ich sollte unter der langjährigen Suche und Wanderung leiden und kurz davorstehen aufzugeben. Um schließlich, ganz unerwartet, erhoben zu werden. Von einem bohemeartigen Jazzmusiker zu einem Wissenschaftler der Universität von Oslo. Alles wegen dieses Punktes auf der Tischdecke.

Einige Monate später wollte ich ihn mir näher ansehen. Das Mikroskop stand bereit. Aber wo hatte ich das kleine Partikel hingelegt? In eine Streichholzschachtel, aber in welche? In dem Wochenendhaus liegen überall Streichholzschachteln. Ich fand das Staubkörnchen nicht wieder. Doch da war es bereits zu spät. Die Jagd nach dem Sternenstaub hatte begonnen.

Mittellose Musiker und andere Menschen mit einem zeitweilig angestrengten Verhältnis zu ihren Gläubigern finden Trost in der Geologie. Ich wuchs mit einer Steinsammlung auf. Es braucht lediglich grundlegende Kenntnisse der Prozesse, die unseren Planeten, seine Berge und Täler, Kristalle und Fossilien formen, und schon stellt sich eine lindernde Zeitperspektive ein, und die scharfen Ecken und Kanten des Daseins verschwinden hinter einem Schleier der Versöhnung. Wenn beispielsweise Rückzahlungstermine ständig näher rücken, kann man mit etwas Glück ein wenig von der Angst vertreiben, indem man sich mit den geologischen Perioden und den dazugehörenden, dramatischen Massenausrottungen vertraut macht. Immer wieder musste sich das Leben auf der Erde mit knapper Not durch schwierige Phasen schleppen, am Rande der Vernichtung alles Lebenden. Und mehr als einmal kam die Bedrohung aus dem Weltraum. Selbst der grausame König der Echsen, Tyrannosaurus Rex, musste vor 66 Millionen Jahren nach einem Meteoriteneinschlag in Yucatán ins Gras beißen. Und den Globus irgendwelchem armseligen Gewürm überlassen, das in der nächsten Runde zu uns Menschen wurde.

An den stolzesten Bergzinnen nagt unerbittlich der Zahn der Zeit, jedes Mal ist es ein Staubkorn, und zurück bleibt kaum etwas anderes als ein bisschen Dreck. Bevor der Meeresboden gnadenlos vom Inneren der Erde verschluckt wird. Ein Inferno aus schmelzendem Gestein und Metall. Der alte Meeresboden wird zum Rohstoff für neue Vulkane und Kontinente, die sich verschieben, aneinanderstoßen und sich zu neuen Bergketten auffalten, höher als der Himalaya. So gesehen ist eine unerwartete Rechnung ein bisschen weniger bedrohlich.

Oder nehmen wir als Ausgangspunkt den großen Knall, Big Bang, und verweilen ein wenig bei den Milliarden von Sternen, die kontinuierlich geboren werden, sterben und neu entstehen. Gigantische, ausgebrannte Sonnen, die explodieren, wobei sie Fontänen an Sternenstaub versprühen. Ist es nicht geradezu schwindelerregend, sich vorzustellen, dass derartiger Sternenstaub anfängt zu rotieren und einen neuen Stern bildet, mit Planeten, Monden und Leben? Wir sind aus Sternenstaub geschaffen und leben auf einem winzigen blauen Punkt. Hier entfaltet sich das Leben mit all seinen Problemen und Freuden auf einer nahezu unsichtbaren Schicht, die dünner ist als die Schale eines Apfels. Unter uns ist glühende Lava. Über uns ist nichts. Das Gleichgewicht des Lebens ist ausgesprochen filigran. Eigentlich gibt es für nichts anderes Raum als für Freundlichkeit.

Aber konnte dieses kleine Partikel auf dem Tischtuch wirklich aus dem Weltall stammen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Niemand konnte darauf antworten. Hätte ich die richtigen Kontakte gehabt, zum Beispiel einen Bekannten bei der NASA, hätte ich eine Antwort bekommen. Dies ist deren Fachgebiet, und im Nachhinein weiß ich, dass die Auskunft kurz und klar gewesen wäre. Ich hätte nämlich dieselbe Antwort bekommen wie Tausende andere, die sich diese Frage gestellt haben. Es ist nicht außerirdisch. Aber ich kannte niemanden bei der NASA.

Glücklich unwissend setzte ich meine Untersuchungen fort. Die Neugierde ließ mir keine Ruhe. Ich musste versuchen, es herauszufinden. Aber wie findet man eigentlich etwas heraus? Natürlich indem man versucht, an weitere Informationen und Kenntnisse zu gelangen, und in unserer Zeit liegt es geradezu auf der Hand, dass man im Internet sucht. Doch im Netz fand ich nur wenig Handfestes über Mikrometeoriten. Nur dass sie am Südpol und im Weltall nachgewiesen werden konnten und es ansonsten unmöglich sei, sie zu finden. Yeti, Meerjungfrauen und Einhörner ließen sich vielleicht finden, aber kein Sternenstaub.

Ich gehöre inzwischen zu den letzten Vertretern einer Generation, die ohne Internet aufgewachsen ist, und dachte mir, wenn die Informationen über Mikrometeoriten aus irgendeinem Grund noch nicht in dem großen weiten Netz angekommen sind, muss ich eben auf andere Weise nachforschen. Ich fragte erfahrene Geologen. Durchkämmte Bibliotheken, Buchhandlungen und Antiquariate – ohne Resultat. Nicht alles ist in einer Bibliothek, im Netz oder irgendwo sonst zu finden. In diesem Fall sind Kunst und Wissenschaft zwei Seiten derselben Medaille. Sobald man sich abseits der ausgetretenen Pfade bewegt, muss man versuchen, den Weg auf eigene Faust zu finden. Man muss seine Sinnesorgane einsetzen und auf die Empirie vertrauen.

Recherchen oder empirische Grundlagenforschung waren mir durchaus vertraut. Als ich etwa vierzig Jahre zuvor anfing, mich für den französischen Gitarristen Django Reinhardt (1910–1953) zu interessieren, und mehr über seine exzentrische Musik erfahren wollte, waren ebenfalls nirgendwo Informationen zu bekommen. Die Nachschlagewerke hatten den genialen Sinti noch nicht entdeckt. Ältere Musiker hatten Gerüchte aus alten Zeiten gehört und vielleicht ein paar frühe Vinylscheiben gehört. In meinen ersten Jahren als Straßenmusikant in Oslo traf ich hin und wieder ältere Menschen, die Django dreißig Jahre zuvor bei einem Auftritt erlebt hatten. Aber verwertbare Informationen für jemanden, der mehr wissen wollte, gab es nicht. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als die Quelle aufzusuchen, ad fontes.

Zum ersten Mal kam ich 1978 nach Paris. Django wäre 68 Jahre alt gewesen, und man könnte sich durchaus vorstellen, dass er als Gitarrist noch aktiv gewesen wäre. Musiker, die kein finanzielles Polster haben, setzen sich auch nicht zur Ruhe. Aber Django mit dem dünnen Bärtchen hatte diese Welt bereits 25 Jahre zuvor verlassen, im Alter von 43 Jahren. Und nachdem es kaum Quellen über die alten Musiker, ihr Leben und ihre Spieltechniken gab, blieb mir nichts anderes übrig, als die französische Hauptstadt zu besuchen, um diesem Gitarrenphänomen auf den Grund zu gehen. Ich kratzte also mein Geld für ein Interrailticket zusammen und reiste so oft, wie es mein Budget zuließ, dorthin.

Ich wurde zu einem Pilger der Musik Djangos. Die Zugreise dauerte beinahe drei Tage, und nach fünf Landesgrenzen und intensiven Passkontrollen fuhr der Zug im Morgengrauen in den Bahnhof Gare du Nord ein. In der Stadt des Lichts war es möglich, einige von Djangos alten Musikerkollegen und Verwandten aufzuspüren – ganz einfach, indem man in der nächsten Telefonzelle das Telefonbuch aufschlug. Die meisten Musiker waren noch immer aktiv, man konnte sie in den Jazzclubs spielen hören.

Ich traf den Gitarristen Matelo Ferret, Djangos Freund und Bandmitglied. Er war begeistert, dass ein junger Mann aus dem kalten Norden Interesse daran hatte, mehr über diese Pariser Gitarrenmusik zu erfahren, denn in Frankreich war sie in Vergessenheit geraten. Ausgesprochen gern erzählte Matelo über die Jahre mit Django. Der alte Ferret, der abends noch immer in den russischen Kabaretts in Paris spielte, war skeptisch, wenn es um das Essen in den Restaurants der französischen Hauptstadt ging. Daher lud er mich zu sich nach Hause ein. Mit der Zeit lernte ich seine ganze Familie kennen. Anfangs konnte ich so gut wie kein Französisch, sondern sprach nur etwas Spanisch, daher musste ich die neue Sprache in Rekordzeit lernen, mit dem Wörterbuch in der Hand. Um zu verstehen, was Matelo Ferret mir erzählte. Um etwas über den geheimnisvollen Django Reinhardt herauszufinden. Um die Gitarre zu erforschen. Manchmal muss man einen Umweg machen, um den schnellsten Weg zu finden. Es sollte sich dreißig Jahre später als nützliche Erfahrung erweisen. Bei meiner Jagd nach Sternenstaub.

Der alte Gypsy erzählte mir die Geschichte, wie er Django bereits als Elfjähriger kennenlernte, das war im Jahr 1929. Matelo und seine Familie waren in die Rue Damrémont 83 gezogen, oben in Montmatre. Zufällig in das gleiche Haus wie der acht Jahre ältere Reinhardt. Am Nachmittag waren er und seine beiden Brüder immer bei Django zu Besuch, der im Bett auf dem Rücken lag und Gitarre spielte. Das mag sich ziemlich entspannt anhören, aber in der Praxis ist es beinahe unmöglich, Gitarre zu spielen, wenn man auf dem Rücken liegt.

Die Erklärung war dramatisch. Ein Jahr zuvor, im November 1928, hatte Django bei einem Brand in seinem Wohnwagen ernste Verbrennungen erlitten. Er hatte beinahe ein Jahr lang im Krankenhaus gelegen, die meiste Zeit auf dem Rücken, ohne sich umdrehen zu können. An der gesamten linken Seite seines Körpers hatte er Brandverletzungen, die Ärzte wollten ein Bein amputieren. Die linke Hand, die eigentliche Griffhand eines Gitarristen, war erheblich verkrüppelt. Dennoch wollte Django unbedingt weiter Gitarre spielen, er hatte schließlich nichts anderes gelernt. Nach einem Jahr war es ihm möglich, wieder zwei Finger und den Daumen zu bewegen. Mit der verkrüppelten Hand musste Django Reinhardt neue Wege auf dem Gitarrenhals finden, neue Spielweisen, und das Ergebnis ist beinahe naturwidrig. Kein anderer Gitarrist war jemals auch nur in der Nähe von Djangos kraftvollem, aber einfühlsamem Ton. Da er immer nur zwei Finger benutzte, wurden diese beiden Finger mit der Zeit extrem stark und konnten Töne auf dem Instrument formen, die keiner vor ihm je hervorgebracht hatte. Noch immer schafft es niemand, Djangos Vibrato zu kopieren. In der Zeit der Rekonvaleszenz lag er auf dem Rücken und behielt es auch in der folgenden Zeit gern bei, erzählte Matelo Ferret. Er und seine Brüder wurden später Begleitgitarristen in Djangos Quintette du Hot Club de France.

Das Ergebnis meiner zahlreichen Pariser Pilgerreisen in all den Jahren war, dass ich Berichte aus erster Hand erhielt, von den Quellen, noch bevor diese alten Musiker starben. Diese Erfahrungen legten die Grundlage für ein ganzes Leben voller Entdeckungsreisen in die Welt der Musik. Empirische Grundlagenforschung ist das gemeinsame Fundament, auf dem jedwede Kunst und Wissenschaft aufbaut.

Als ich anfing, nach Informationen über Mikrometeoriten zu suchen, dreißig Jahre nach den ersten Reisen nach Paris, gab es zwar das Internet – aber dennoch nicht sonderlich viele Fakten. Und das wenige, was ich fand, war verwirrend und widersprüchlich. Ich musste also meine gesammelte Erfahrung in Empirie und Quellenkritik einsetzen, um anfangen zu können.

Die meisten Quellen waren sich darin einig, dass der Durchmesser von Mikrometeoriten weniger als zwei Millimeter beträgt und sie hauptsächlich aus den Mineralen Wüstit (Eisenoxid) und Magnetit (Magneteisen) bestehen. Dass sie kugelförmig sind und per Definition ausschließlich in der Antarktis zu finden sind. Hier hörten die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Der Artikel auf Wikipedia war illustriert mit einem Schwarz-Weiß-Foto eines porösen Steins mit einer Struktur, die ungefähr aussieht wie das Innere eines Landbrots. Zwei Millimeter im Durchmesser. Gleichzeitig wird auf sogenannte Sphärulen verwiesen – mikroskopische Schmelzkugeln, die von einem schimmernden Metall überzogen sind, und Perlen aus Glas. Wonach suchte ich eigentlich? War es Landbrot, geschmolzenes Metall oder Glas? Das Ganze führte zu drei elementaren Fragen, die erst einmal beantwortet werden wollten, bevor es möglich war, Mikrometeoriten zu finden:

Wie sehen sie aus? Woraus bestehen sie? Und wie groß sind sie? Ich hatte keine Ahnung.

Um sich Grundkenntnisse über die kosmischen Staubpartikel anzueignen, ist der Artikel The Classification of Micrometeorites (2008) vom Hauptautor Matthew Genge eine erfrischende Oase in einer Wüste aus Details und Irrtümern. Und er kann im Netz umsonst abgerufen werden. Ergänzt wird er durch den Artikel Micrometeorites (2015) des Hauptautors Luigi Folco. Beide gehen davon aus, dass die Menge an Mikrometeoriten, die auf die Erde fallen, bei circa hundert Tonnen pro Tag liegt. Eine ungeheure Menge, die zwei großen Lastwagen voller Sand entspricht.

Wohl wissend, dass dies nicht dem sachlichen Niveau von wissenschaftlichen Publikationen entspricht, sehe ich eine langsam fahrende Kolonne schwerer Fahrzeuge in den Sternen der Milchstraße vor mir. Sobald sie das Gravitationsfeld der Erde erreichen, wird die Ladung Sternenstaub wie ein sanfter kosmischer Regen vorsichtig verstreut. Während die Erde sich dreht. Einen Tag später kommt der nächste Lastwagen mit hundert neuen Tonnen, ein kontinuierlicher Strom. Vom Anbeginn der Zeit bis in alle Ewigkeit.

Fein verteilt über die gesamte Oberfläche der Erde entspricht dies einem winzigen Pünktchen per Quadratmeter pro Jahr. Das bedeutet, dass allein auf Norwegen geschätzte 22 Tonnen Mikrometeoriten pro Jahr niedergehen, circa 62 Kilo pro Tag. Also ungefähr 2,5 Kilo pro Stunde. Ließe sich auch nur ein winziges Promille davon finden, würde sich ein Fenster zu den Anfängen des Sonnensystems öffnen, die Wissenschaft bekäme Zugang zu einzigartigem Forschungsmaterial. Jede einzelne kosmische Staubflocke, die man auf der Erde findet, kann neue Erkenntnisse über das Universum und die Entstehung des Sonnensystems liefern.

Die Fachliteratur erklärt, dass Mikrometeoriten aus den beiden Mineralen Magnetit und Wüstit bestehen. Beides sind Eisenoxide, und beide sind magnetisch. Dies ist eine wichtige Spur, da die berühmte Nadel im Heuhaufen sich somit effektiv herausziehen lässt, wenn man einen Magneten hat.

Das Mineral Magnetit ist weitverbreitet, das wusste ich. Es ist das magnetischste von allen natürlichen Mineralen und ist überall auf der Welt zu finden. Und selbstverständlich ist es reichlich im Bergland Norwegen vorhanden. Die meisten Sorten von Sand enthalten normalerweise einen ordentlichen Anteil Magnetit. Reist man also in die Sahara, um fernab von bewohnten Gebieten magnetische Staubproben zu sammeln, ist es nicht überraschend, wenn die Ausbeute groß ist. Ich habe es probiert. Zwei Mal. Nur wie soll man den irdischen Staub von außerirdischem unterscheiden, wenn Mikrometeoriten auch aus Magnetit bestehen? Es dauerte sieben Jahre, um auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Von dem anderen Eisenoxid, Wüstit, hatte ich dagegen noch nie gehört. Wie sich herausstellte, handelt es sich um eine Art glänzenden Rost, der bei besonders hohen Temperaturen entstehen kann, zum Beispiel in Hochöfen oder beim Schweißen. Das Mineral Wüstit hat zudem eine sonderbare Eigenschaft. Da es bei ganz besonderen Temperaturen entsteht, verliert es seine magnetischen Eigenschaften. Bekannt ist es auch als metallischer Belag bei einzelnen großen Eisenmeteoriten. Allerdings ist ein natürliches Vorkommen in Norwegen bisher nicht nachgewiesen.

Ich stellte mir daher vor, dass es vermutlich möglich sein müsste, Sternenstaub zu finden, wenn ich mit einem Magneten auf dem Himmel zugewandten, harten, flachen Flächen suche, auf denen sich viele Jahre lang Niederschlag angesammelt hat. Jedenfalls den magnetischen Sternenstaub. Im Internet fand ich eine Scheibe aus dem stark magnetischen Grundstoff Neodym mit einem Durchmesser von vier Zentimetern. In die Mitte war ein Haken geschraubt, der als Handgriff diente. Der Magnet sollte 25 Kilo halten und war definitiv nicht dazu geeignet, zusammen mit dem Mobiltelefon oder der Kreditkarte transportiert zu werden.

Es war noch immer Sommer, und ich war noch in dem Ferienhaus in Brevik am Bunnefjord, wo der kleine Punkt einige Wochen zuvor auf der Wachsdecke aufgetaucht war. Auf den kleinen Straßen der Umgebung versuchte ich mir vorzustellen, wo die Partikel sich im Laufe der Zeit angesammelt haben könnten. Regenwasser und Wind sortieren die Schotterpartikel effektiv nach ihrer Größe und ihrem Gewicht, und ich dachte, da die Mikrometeoriten null bis zwei Millimeter groß sind, müssten sie doch zu finden sein. Ich vermutete, dass es sich um eine Art »silberfarbene Metallkugel von ungefähr einem Millimeter Durchmesser« handele. Waren so »große« Steine wirklich bisher nicht entdeckt worden?

Brevik in der Gemeinde Nordre Frogn ist ein stiller, friedlicher Ort. Ich musste nicht lange warten, bis keine anderen Menschen in der Nähe waren, ich ging am Straßenrand in die Hocke und drückte den Magneten, der in einer Plastiktüte steckte, vorsichtig in den Straßenstaub. Ich hob eine Menge magnetischer Partikel auf, die in einem schmutzigen Ring aus dunklem Staub auf der Außenseite der Tüte klebten, dort, wo das Magnetfeld am stärksten ist. Aber wie viel war davon außerirdisch?

Mit gemischten Gefühlen kroch ich mit dem Magneten den Straßenrand entlang. Eine Sache war meine eigene Neugierde. Etwas anderes waren die erschrockenen Blicke der Kinder, die an mir vorbeigingen. Mein Verhalten war nicht normal. Was tat ich hier eigentlich? Nach einer Weile war die Ausbeute so groß, dass ich den Staub in eine kleine Schachtel füllen konnte.

Die Probensuche setzte ich in den folgenden Tagen fort, aber im Ferienhaus hatte ich kein Mikroskop zur Hand, sodass ich mir meine Ausbeute nicht näher ansehen konnte. Einige Wochen später war der Sommer jedoch vorbei, und ich reiste mit einer besonders reißfesten Tüte voller Straßenstaub zurück nach Oslo. Die Familie war ein wenig verzweifelt über diesen Wahnsinn, zumal ich überall, wo ich mich aufhielt, eine feine Schicht Sand verstreute, egal wie bemüht ich es auch zu vermeiden suchte. Sobald das alltägliche Leben wieder begonnen hatte und alle anderen außer Haus waren, stellte ich das Mikroskop auf und fing an, nach millimetergroßen Silberkugeln aus dem Weltraum zu suchen.

3

Nach dem ersten Sammeln von magnetischen Staubproben war es nun an der Zeit, die Ausbeute zu untersuchen. Es begann eine Entdeckungsreise ins Unbekannte. Rein physisch befand ich mich in meinem kleinen Arbeitszimmer mitten in Oslo. Eigentlich war ich aber dabei, die äußere Welt zu verlassen, ich verschwand immer tiefer im Mikrokosmos. Oder war es das Weltall? Es war beides. Lebt wohl, Rattenrennen und Gläubiger. Mit meinem Körper als eine Art Stütze für die Augen beugte ich mich Tage und Abende über das Mikroskop, wo sich ein für mich vollkommen neues Universum offenbarte. Die einzige Regung bestand aus einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des rechten Daumens und Zeigefingers, die ein angespitztes Holzstöckchen hielten. Es bewegte sich einen winzigen Millimeter von einer Seite zur anderen, um die Partikel zu drehen und zu wenden, um sie von allen Seiten zu untersuchen. Unter dem Mikroskop erscheinen Sandkörner in Millimetergröße Steinhaufen zu sein, vermischt mit allem möglichen merkwürdigen Gerümpel. Ich war auf Entdeckungsreise in diese neue Landschaft, während ich ständig neue bootlegs von Zappa hörte.

Mir wurde schnell klar, dass es sich bei dem größten Teil dessen, was der Magnet im Straßenstaub aufgenommen hatte, um natürlich vorkommende Sandkörner und von Menschen verursachten Rost handelte, beides unter dem Mikroskop relativ leicht zu identifizieren. Allerdings nimmt die Tiefenschärfe ab, je größer die Vergrößerung wird. Im Mikroskop ist lediglich ein schmaler Ausschnitt im Fokus, während alles andere, darüber oder darunter, in einer Art Nebel verschwimmt. Die Zahnradmechanik hoch- und runterzuschrauben ist zu zeitaufwendig, wenn nacheinander 100 000 einzelne Partikel untersucht werden müssen. Ich fand eine Methode, die Schale mit den Staubproben an einem bestimmten Punkt zu fixieren, und während das Holzstöckchen in der rechten Hand jedes einzelne Staubkorn untersuchte, schüttelte die linke Hand die Schale vorsichtig, sodass das ganze Partikel einen Augenblick lang in den Brennpunkt geriet. Nun galt es, eine ruhige Hand zu behalten. Die abgerundeten Sandkörner enthielten in der Regel Minerale mit charakteristischem Glanz, mit Farben, Adern und Bruchflächen, leicht erkennbar für jemanden, der Erfahrung mit dem Sammeln von Steinen hat.

Von Menschen produzierte Rostpartikel und metallische Späne von Bremsen, metallischem Abrieb oder vom Bohren zeigen Spuren von Werkzeugen oder von den Prozessen, die sie geformt haben. Kleinste Fragmente von Karosserierost mit Resten von Autolack, kleine ziehharmonikaähnliche Metallwellen von Bremsklötzen oder winzige Korkenzieherspäne von Metallbohrungen tauchen häufig auf. Unter all den unbekannten Partikeln im Straßenstaub würden jedenfalls diese zwei Partikelarten bei der weiteren Jagd kein Problem sein. Es war verhältnismäßig einfach, sie zu erkennen und zu überspringen. Danach konnte ich mich auf die verbliebenen Raritäten im Straßenstaub konzentrieren. Die Jagd war eröffnet.

Im Laufe des Winters werden unglaubliche Mengen von Sand auf die norwegischen Straßen gestreut, und der größte Teil bleibt nach und nach am Straßenrand liegen – bis im Frühjahr die Kehrmaschinen kommen. Vielleicht wäre es effektiver, Zugriff auf den Straßenstaub zu bekommen, der von den professionellen Kehrmaschinen der Gemeinde aufgefegt wird, als mit einem kleinen Magnet die Straße entlangzugehen? Im Oktober 2010 schickte ich daher eine formelle Anfrage an das Straßenverkehrsamt von Oslo. Ich wollte wissen, was mit dem Straßenstaub geschieht und ob ich einige Proben nehmen dürfe? Eine Woche später kam die Antwort vom Bereichsleiter Tom Kristoffersen und dem Oberingenieur Joakim Hjertum, dass der Straßenkehricht auf verschiedene Deponien rund um Oslo verbracht, der größte Teil aber an die Abfallveredelungsfirma ROAF im Osloer Vorort Bøler geliefert würde. Mit ROAFs Deponie könne ich direkt in Kontakt treten, allerdings unterstehe sie nicht dem Straßenverkehrsamt, das somit auch keinen Einfluss auf deren Entscheidung hätte. Im Netz fand ich ein Interview mit dem Bereichsleiter Kristoffersen, der erklärte, der Straßenkehricht würde aufgrund der Gefahr von Schwermetallen nicht recycelt und die Menge, die jedes Jahr in Oslo aufgekehrt wird, genüge, um das Ullevaal-Stadion mit einer mehrere Meter hohen Schicht Straßenstaub zu füllen. Etwas davon muss außerirdisch sein, dachte ich und beschloss, es zu finden.

Zweifel stellten sich ein. Wollte ich es wirklich? Tausende Kubikmeter Staub unter dem Mikroskop untersuchen? Die Aufgabe war doch viel zu groß für eine Person. Hunderte Wissenschaftler würden Hunderte von Jahren benötigen – mit einem ungewissen Resultat. Es war Wahnsinn, noch mehr Zeit mit diesem Problem zu vergeuden. Aber es ließ mir einfach keine Ruhe.

Zusätzlich zum Sand wird auf norwegischen Straßen im Winter auch Salz gestreut, um den Gefrierpunkt des Wassers zu senken und Vereisungen zu vermeiden. Aber Salz bewirkt, dass alles, was rosten kann, auch tatsächlich rostet. In einem eher fragwürdigen Artikel im Netz stand, dass ein ausgezeichneter Ort für das Auffinden von Mikrometeoriten eine alte Tonne wäre, die unter dem Ablauf einer Dachrinne stünde. »Dort sind runde Mikrometeoriten zu finden, zusammen mit braunem Rost von alten Mikrometeoriten, die verrottet sind.«

Konnte das stimmen? Mit den Sandkörnern fand ich im Straßenstaub viel Rost und nicht identifizierbare Rostobjekte. Tatsächlich lässt sich aus dem Straßenstaub ablesen, wie verrostet der Autobestand eines Landes ist. Es gibt viel Rost entlang der gesalzenen, norwegischen Straßen, doch könnte etwas von diesem Rostmaterial außerirdischen Ursprungs sein?

Eisenmeteoriten rosten schnell, aber rosten Mikrometeoriten? Und wie sähe das gegebenenfalls aus? Ich wusste weder, wonach ich suchte oder was ich im Straßenstaub vernachlässigen konnte, sondern dachte, wenn ich systematisch vorgehe und es mir gelang, empirisch klar zu trennen, was ich wusste und was ich nicht wusste, so würde es vermutlich möglich sein, tiefer in das Mysterium vorzudringen. Den Mineralogen gelingt es doch auch, Minerale zu bestimmen, die sie nie zuvor gesehen haben, indem sie Eigenschaften wie Farbe, Härte, Glanz und Kristallklassen vergleichen. Vielleicht wäre dasselbe bei der Jagd nach Sternenstaub möglich – wie eine Gleichung mit vielen Unbekannten?

In der Forschung braucht es Fantasie und Kreativität, um neue Lösungen für ein altes Problem zu finden. Man löst keine Probleme mit demselben Gedankengang, der sie geschaffen hat. Es heißt, der junge Leonardo da Vinci war in der Malerlehre bei Meister Andrea del Verrocchio in Florenz so ausgezeichnet, dass ihm die Aufgabe anvertraut wurde, den Erzengel Gabriel auf einem bestellten Gemälde zu malen, das die »Verkündigung« zeigte. Das Motiv war in der Toskana populär, aber entgegen jeder Tradition, die auf Schablonen und den Standardlösungen der Motive basierte, ging der junge Leonardo auf die Straße, fand eine tote Taube und sah sie sich genau an. Danach malte er den ersten Engel der Kunstgeschichte mit naturalistischen Federn und funktionalen Flügeln. Reine Empirie.

Nicht viele haben Engel mit eigenen Augen gesehen und können sagen, ob Leonardos Flügel ihnen ähneln. Aber es haben auch nicht viele richtige Mikrometeoriten gesehen. Bis heute wurden Sandproben, die außerirdische Partikel enthalten können, nur von einer Handvoll Wissenschaftler auf Expeditionen in der Antarktis gefunden. Für die zeitaufwendige Nacharbeit, die kosmischen Partikel von den irdischen zu trennen, haben sie technische Assistenten oder Studenten eingesetzt. Danach wurde die Ausbeute in ein Speziallabor geschickt, wo die kleinen Steine für die Analyse der Labortechniker präpariert wurden. Dann wurden die Steine mithilfe eines Eletronenmikroskops dokumentiert. Und diese Schwarz-Weiß-Fotos und Analyseergebnisse haben Mikrometeoritenforscher studiert. Selten die Steine selbst.

Anschließend wurden die Analysen interpretiert und in wissenschaftlichen Publikationen präsentiert. Die meisten von uns kommen den kleinen Raumsteinchen durch die Lektüre solcher Abhandlungen am nächsten. Und da der Umgang und die empirische Forschung an diesen Partikeln vom Südpol einigen wenigen vorbehalten ist, wird das Internet von weniger verlässlichen Quellen dominiert. Stephen Hawking hat einmal gesagt, der größte Feind des Wissens sei nicht die Unwissenheit, sondern »the illusion of knowledge«.

Grob gesagt lassen sich die Informationen über Mikrometeoriten im Netz in drei Kategorien einteilen: Die erste Gruppe sind die Optimisten. Ganz viele Blogs, Artikel, Videoclips, Homepages und Beiträge in Diskussionsforen erzählen, wie leicht es sei, Mikrometeoriten zu finden. Man müsse lediglich eine Schüssel unter den Dachrinnenablauf stellen, das Dach mit einem Schlauch abspritzen und den Bodensatz überprüfen. Allerdings wurde noch nie ein einziges außerirdisches Partikel auf diese Weise verifiziert. Irgendwo hakt es unterwegs.

Der zweite Typus sind die Metaphysiker, die über Sternenstaub gern in einem Atemzug mit Elfen und Einhörnern sprechen. Das ist natürlich alles sehr nett, und sicherlich sollte man jede Gelegenheit nutzen, um die Aufmerksamkeit auf die kleinen und großen magischen Funken in unserem Leben zu richten und Sternenstaub auf die Landstraße unseres Lebens zu streuen. Aber im Netz verkaufen Scharlatane »Sternenstaub« und »Mikrometeoriten«, die in Wahrheit Sägespäne von der Teilung größerer Meteoriten sind, also Humbug. Ebenso gern werden Kristalle mit allen möglichen heilbringenden Eigenschaften angeboten. Jeder, der Steine sammelt, weiß, dass Kristalle fantastisch sind und es schön ist, sie um sich zu haben. Nur kann ein grüner Stein beim besten Willen weder Nieren- und Blasenprobleme kurieren, noch »innere Spannungen lösen«, wie gern versprochen wird. Der Gebrauch von magischen Kristallen in der Alternativbranche ist die naive Großtante der Geologie. Ebenso abseitig wie der demente Großonkel der Astronomie, die Astrologie.

Die dritte Gruppe sind die Skeptiker, die oft genug fachlichen Ballast mit sich herumschleppen. Nicht selten mit Doktortitel. Der Skeptiker führt detailliert aus, wie unmöglich es ist, Mikrometeoriten zu finden, und belegt das gern mit seinen eigenen, gründlichen Erfahrungen. Nun ist es durchaus richtig, dass eine skeptische Haltung der Königsweg der Wissenschaft ist, aber es gilt, wachsam zu sein. Unreflektierte Skepsis führt nirgendwo hin. Dieser Abschnitt hätte leicht zu einem langen und traurigen Kapitel werden können, wenn ich all die Skepsis aufzählen würde, die meinem Projekt entgegengebracht wurde. Es ist besser, ich lasse es, zumal der Staub sich gelegt hat. Mit guter Laune und schlechtem Gedächtnis führt man ein besseres Leben. Zur Unterhaltung hier dennoch ein paar Beispiele: Ein amerikanischer Geologe beharrte darauf, dass es unmöglich sei, Mikrometeoriten zu finden, schließlich habe er es mehrere Stunden versucht. Und überraschend viele Wissenschaftler erklärten, bei meinen Funden könne es sich nicht um Mikrometeoriten handeln, da sie es bei Wikipedia überprüft hätten, und »Mikrometeoriten sehen nicht so aus«.

Innerhalb des akademischen Staubetablissements waren sich sämtliche Forscher, die NASA eingeschlossen, einig, dass es nicht möglich sei, Mikrometeoriten in den bewohnten Gegenden der Erde zu finden. Die Erklärung lautete: Überall, wo Menschen leben, gibt es von Menschen verursachte Partikel, die Mikrometeoriten zur Verwechslung ähneln. Und wie soll man das eine vom anderen unterscheiden? Es gibt auch keinen seriösen Wissenschaftler, der es gewagt hätte, die Tür auch nur einen Spalt weit zu öffnen und zumindest die theoretische Möglichkeit einzuräumen, dass Sternenstaub zu finden sei. Es wäre vermutlich akademisches Harakiri gewesen. Obwohl normalerweise innerhalb der Forschung sehr viel Raum für Spekulation bleibt und Fantasie und Vorstellungsvermögen für das Heranreifen neuer Erkenntnisse unentbehrlich sind. Allerdings gibt es einzelne Themen, bei denen es zum guten Ton gehört, nicht darüber zu sprechen. Die Jagd nach Sternenstaub gehört zu diesen Themen.

An anderen Stellen finden wir innerhalb der Wissenschaft Beispiele für ein breites Spektrum an Spekulation. Am Rande der Astrophysik hat sich ein amüsanter interdisziplinärer Zweig entwickelt, der Exobiologie genannt wird. Hier macht man sich ausführliche Gedanken über außerirdisches Leben irgendwo im Universum. Die Exobiologie erzählt uns etwas über imaginäre Geschöpfe und deren Lebensbedingungen, häufig sehr hübsch illustriert, auf Augenhöhe mit den besten Werken aus dem Science-Fiction-Genre. Staubsaugertiere, intelligentes Gas, atmosphärische Quallen von der Größe eines Flugzeugträgers, intelligente Insekten. Ich vermute, dass die Exobiologie mit daran schuld ist, dass sich im Science-Fiction-Genre momentan so wenig tut. Wissenschaft ist der neue Rock’n’Roll. Obwohl die Aufklärung einzelne mittelfristige Rückschläge zu erleiden hat.

Googelt man das Wort »Meteorit« in Norwegen, erscheint häufig der Name von Morten Bilet, Norwegens bekanntestem Meteoritenexperten. Ich suchte weiter und fand heraus, dass er einen Laden für Gesteine in Ås betreibt. Ich schickte ihm eine E-Mail, dass ich das Projekt gestartet hätte, Mikrometeoriten zu finden. Vielleicht könnte er mir ein paar Tipps geben? Einige Stunden später kam eine Antwort, dass am selben Abend ein Vortrag des Astrophysikers Knut-Jørgen Røed Ødegaard stattfand. Wenn ich dorthin käme, könnten wir uns im Anschluss über Mikrometeoriten unterhalten. Ich setzte mich also ins Auto, fuhr nach Ås und kam gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Vortrags. Røed Ødegaard präsentierte das Universum in fantastischen Illustrationen, mit kollidierenden Galaxien, Supernovas und schwarzen Löchern, die Fontänen an kosmischem Staub ausstoßen. Kilometergroße, schmutzige Schneebälle von den äußersten Grenzen des Sonnensystems, die auf die Sonne zusteuern und breite Gürtel von unerforschtem Kometenmaterial hinterlassen, das sie wie einen Schweif hinter sich herziehen. Wenn die Erde diese Staubgürtel kreuzt, kommt es zu den alljährlichen Meteorschwärmen. Dem himmlischen Feuerwerk aus Sternschnuppen. Das Universum ist ein staubiger Ort.

Nach dem Vortrag verschwand Røed Ødegaard in den sternenklaren Augustabend, während der enthusiastische Meteoritenexperte Bilet mehr über meine Jagd nach Sternenstaub hören wollte, »weil das niemand sonst macht«. Morten Bilet war ein Mann in meinem Alter mit einer besonders pflegeleichten Frisur, Brille, Dreitagebart und einem breiten Lächeln. Er redete schnell und eindrucksvoll, wie ein Schachspieler. Ich erzählte, dass ich noch in der Anfangsphase meines Projektes sei und mir als Ziel gesetzt hätte, Mikrometeoriten zu finden. Ich wüsste aber nicht, ob ich schon etwas gefunden hätte. Andererseits hatte ich einige seltsame Dinge im Staub aufgetan, von denen ich nicht wusste, worum es sich handelte. Vielleicht war etwas davon außerirdisch? Wir versprachen, in Kontakt zu bleiben, und Bilet wollte gern sehen, was ich gefunden hatte. Irgendwie musste ich Fotos von meinen Funden machen.

Im Herbst 2009 ging ich mit meiner Jazzband, dem Hot Club de Norvège, auf eine lange Tournee durch Nordnorwegen. Wir begannen in der Ost-Finnmark und spielten uns nach Westen durch, dann einen Monat in Richtung Süden entlang der Küste. Finnmark, Troms und Nordland, und überall, wo wir spielten, nahm ich mit dem Magneten Proben vom Straßenstaub. Ich dachte, je größer die geografische Spreizung meiner Proben, desto besser. Nur durch den Vergleich der Eigenschaften von Funden von ganz unterschiedlichen Stellen wäre es möglich, mit der Identifizierung weiterzukommen.