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Rupert Thomson

Never anyone but you
Roman

Aus dem Englischen
von Daniel Schreiber

Rupert Thomson

Never anyone but you

Roman

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Never anyone but you bei Other Press LLC, New York.

© der Originalausgabe: Rupert Thomson This translation published by arrangement with Other Press LLC

Erste Auflage

© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Daniel Schreiber

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Rotkel Textwerkstatt

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung: Ferdinand Ulrich, Berlin

Printed in Germany

ISBN 978-3-906910-53-6

eISBN 978-3-906910-54-2

Für Robert Lucien Wokler
1942–2006

Deine Abwesenheit, eine Tatsache,

doch bist du in gewisser Weise hier

KAREN SOLIE

liebst du mich nicht so werd ich nicht geliebt

lieb ich nicht dich so werde ich nicht lieben

SAMUEL BECKETT

Inhalt

Eines Abends im Wasser 1940

Vernunftehe 1909–1920

Ein Kuss der völligen Gleichgültigkeit 1920–1936

Selbstporträt in Naziuniform 1937–1944

Das böse Weiß 1944–1945

Die falschen Schuhe für ein Feuer 1945–1954

Nachleben 1954–1970

Chiromantie 1972

DANKSAGUNG

Eines Abends im Wasser 1940

ICH WAR IM MEER, ALS DIE ERSTE BOMBE FIEL. Etwas weiter draußen, ich lag auf dem Rücken und ließ mich treiben. Ich schaute in den wolkenlosen Himmel. Ein Freitagabend, Ende Juni. Als eines der Flugzeuge sich über Mont Fiquet quer in die Luft legte, um seine Richtung zu ändern und weiter nach Süden zu fliegen, konnte ich die starren schwarzen Zeichen auf den Tragflächen sehen. Hakenkreuze. Angst durchfuhr mich, eine dunkle, vibrierende Angst. Als hätte sich ein Bienenschwarm meines Körpers bemächtigt. Plötzlich stand ich aufrecht im Wasser. Kurze Tretbewegungen. Mein Atem rasend schnell. Voller Panik. Wie alle auf der Insel hatte ich mich vor genau diesem Moment gefürchtet. Nun war er da. Ich konnte mehrere Flugzeuge ausmachen, und alle flogen sie so hoch, als wollten sie Flugabwehrkanonen ausweichen. Wussten die Piloten denn nicht, dass unsere gesamten Truppen von der Insel evakuiert worden waren und nur noch Zivilisten hier lebten? Eine Welle erfasste mich und drückte mich unter Wasser. Das Meer schien zu beben. Als ich wieder auftauchte, ragte eine rübensirupschwarze Rauchsäule über der Landzunge im Osten der Insel empor.

Ich begann, zurück an den Strand zu schwimmen. Meine Arme und Beine fühlten sich schwach an, es fiel mir schwer, sie zu koordinieren, und obwohl die Flut das Wasser Richtung Land strömen ließ, kam ich nur langsam voran, jeder Meter eine gefühlte Ewigkeit. Einige Menschen drängten sich am Strand zusammen. Andere liefen zur Straße. Einer von ihnen stolperte und stürzte, aber niemand wartete auf ihn oder schien auch nur zu bemerken, dass er hingefallen war. Claude war schon etwas früher schwimmen gewesen. Sie war sicherlich schon oben im Haus und cremte ihre Arme und Beine ein. Edna, unsere Haushälterin, bereitete wahrscheinlich gerade das Abendessen vor, mit einem Glas unverdünntem Whiskey auf der Fensterbank über dem Waschbecken. Unser Kater dürfte sich auf der Terrasse ausgestreckt haben, die Steinplatten immer noch warm von der Sonne – oder vielleicht hatten auch ihn die Explosionen in Alarmbereitschaft versetzt, und er war zurück ins Haus geflüchtet. Die Wellen schenkten dem Geschehen an Land keine Aufmerksamkeit und schwappten einfach Richtung Küste weiter, ohne große Eile, fast schon gemächlich, faul. Wie falsch mir das vorkam.

Ich watete durch das seichte Wasser, als ich aus der Ferne erneut einen dumpfen Einschlag vernahm. Das Geräusch klang halbherzig, aber in meinem Bauch breitete sich ein Flattern aus. Normalerweise trocknete ich mich am Strand ab, genoss die Kühle auf meiner Haut, das Abendlicht, den Frieden. Stattdessen griff ich eilig nach meinem Handtuch und nach meinen Schuhen und hastete unbeholfen und mit einem Gefühl des Übels im Bauch zurück nach Hause.

Als ich die Helling erreichte, flogen zwei weitere Flugzeuge über unsere Bucht hinweg, sehr viel tiefer, von ihren Motoren ging ein raues Pulsieren aus. Ich kauerte mich neben ein umgedrehtes Ruderboot. Das Rattern der Maschinengewehre. Wasserspritzer erfüllten die Luft, Reihen weißblütigen Unkrauts. Ich schämte mich, eine siebenundvierzigjährige Frau, die sich wie ein Kind benimmt, und stand schnell wieder auf. Ich kam durch das Seitentürchen in unseren Garten. Claude stand auf der grasbewachsenen Böschung, die den Strand überblickte. Der Gartenschlauch lag hinter ihr im Gras, aus seiner Öffnung sprudelte das Wasser. Sie trug einen weißen Badeanzug und hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt. In der anderen hielt sie eine brennende Zigarette. Sie sah aus wie ein General, der das Schlachtfeld begutachtet. Es hätten ihre Flugzeuge und ihre Bomben sein können.

»Warst du im Meer?«, fragte sie.

Ich nickte. »Ja.«

»Ich dachte, du wärst oben.«

»Nein.«

»Du hast sie also gesehen?«

Abermals nickte ich.

»Ich habe alles genau gesehen«, sagte sie. »Ich konnte sogar die Gesichter der Piloten erkennen.«

Ihre Stimme klang ruhig, und es ging ein gewisses Leuchten von ihr aus. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, wusste aber nicht, wo oder wann ich ihn schon einmal gesehen hatte. Ich stand auf der Wiese und schaute zu ihr hoch. Das Wasser tropfte von meinen Haaren herunter. Das kurz geschnittene Gras kribbelte zwischen meinen Zehen.

»Ich habe so ein seltsames Gefühl, fast so etwas wie Euphorie.« Sie schaute nach Osten, in Richtung Noirmont. Rauch verschmutzte den wolkenlosen, blauen Himmel. »Vielleicht, weil wir einer Prüfung unterzogen werden.«

»Glaubst du nicht, dass wir schon genug Prüfungen unterzogen wurden?«

»Nicht so einer.«

Zu Beginn des Monats hatten wir Gerüchte gehört, dass Churchill darauf eingestellt war, die britischen Kanalinseln aufzugeben – sie lagen zu nahe am französischen Festland und waren zu schwer zu verteidigen –, aber in den Nachrichten der BBC wurde die Entscheidung nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Die Tagesberichte waren voller Kampfgetöse. Die Nazis hatten die Seine erreicht, hörten wir, aber »unsere Jungs« warteten auf der anderen Seite des Flusses auf sie und »können genauso gut austeilen, wie sie einstecken können«. Kurz darauf erfuhren wir, dass an der Küste der Normandie, in der Nähe von Granville, deutsche Soldaten auf Motorrädern gesichtet wurden und dass sich »unsere Jungs« nach Dunkirk zurückgezogen hatten. Mitte Juni, nachdem die auf Jersey und Guernsey stationierten Truppen evakuiert worden waren, wurde auch den Zivilisten die Evakuierung angeboten. Vor dem Rathaus bildeten sich lange Schlangen, und die Telefonleitungen waren ständig überlastet, weil die Inselbewohner einander um Rat fragten. Es war eine Zeit drastischer Maßnahmen. Im Garten hinter einem Haus in St. Helier wurden zwei Hunde und ein Ara-Papagei erschossen aufgefunden. Ein Mann kam zum Flughafen und hatte ein Picasso-Gemälde unterm Arm. Seine Frau trug trotz hochsommerlicher Temperaturen einen Zobelmantel. Anderes Gepäck hatten sie nicht dabei. Die Hälfte der Bevölkerung meldete sich zur Evakuierung an – über zwanzigtausend Menschen –, aber der Bailiff Alexander Coutanche erklärte, dass er bleiben werde, was immer auch passieren würde, und letztlich verließen nur sechs- bis siebentausend Menschen die Inseln. In der darauffolgenden Woche kehrte scheinbar wieder Normalität ein. Die neue Ruhe war unheimlich – man konnte fast das Gras auf den Rasenflächen all der verlassenen Häuser wachsen hören –, aber wir wussten, dass sie nicht lange anhalten würde, und nun hatten die Nazis unsere Insel bombardiert. Es war klar, dass es nur noch Tage oder auch nur Stunden bis zur endgültigen Besetzung dauern würde.

»Vielleicht hattest du recht«, sagte ich. »Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, die Insel zu verlassen …«

Claude schüttelte den Kopf. »Wir hatten das doch schon abgehakt – außerdem ist es dafür jetzt zu spät. Es gibt keine Boote mehr.«

»Ich weiß, aber …«

Sie verließ ihren Aussichtsplatz und trat an mich heran. »Komm her«, sagte sie und nahm mir das Handtuch aus der Hand und begann, mich damit abzutrocknen. »Du zitterst.«

»Es ist wahrscheinlich nur der Schock«, sagte ich. »Ich war im Wasser, als die Flugzeuge kamen.«

Sie wickelte das Handtuch um meine Schultern und führte mich über den Rasen ins Haus zurück. Als wir drinnen waren, schenkte sie mir einen Cognac ein. Ich stürzte ihn in einem Schluck hinunter. Danach gingen wir auf die Straße und schauten Richtung St. Helier, aber es war nichts weiter zu sehen als der schwarze Rauch, der vom Sommerwind nach Süden getragen wurde. Die Flugzeuge waren verschwunden. Am Himmel war es ruhig.

Als wir später zu Abend aßen, hörte man das Auf und Ab der Wellen durch das offene Fenster, und man hätte fast glauben können, dass gar nichts passiert war. Dennoch schickten wir Edna früher als sonst nach Hause und sagten ihr, sie müsse sich nicht ums Geschirr kümmern.

Vernunftehe 1909–1920

ZU UNSEREM ERSTEN WIRKLICH BEDEUTSAMEN TREFFEN kam es im Frühjahr 1909 in Nantes. Damals hieß sie noch Lucie. Sie war vierzehneinhalb. Ihr Vater, Maurice Schwob, war Jude und der Besitzer und Chefredakteur von Le Phare de la Loire, Westfrankreichs größter Zeitung. Ihre Mutter war Katholikin. Madame Schwob war oft krank und verbrachte den Großteil ihres Lebens in verschiedenen Sanatorien. An jenem Morgen, als mich meine Mutter mit in die Wohnung der Familie auf dem Place du Commerce mitnahm, präsentierte man uns eine Begründung für Madame Schwobs Abwesenheit, aber diese Begründung klang nicht besonders überzeugend, selbstfür mich nicht, und lenkte die Aufmerksamkeit nur noch mehr auf die Scham, die sie eigentlich verdecken sollte.

Ein Dienstmädchen führte uns in den Salon, der mit den verschnörkelten, viel zu großen Möbeln vollgestellt war, die von der bourgeoisen Gesellschaft jener Zeit so geschätzt wurden. Es hatte die ganze Nacht geregnet und regnete immer noch – die Ecken des Zimmers lagen im völligen Dunkel, und das Fleckchen, auf dem wir standen, fühlte sich an wie eine Kristallkugel, für die man keine Verwendung mehr hatte, verschwommen und rund. Lucie habe eine Schule in England besucht, erklärte mir meine Mutter, aber sie sei wieder zurück und vielleicht könnte ich mich ihrer annehmen. Die Bäume draußen. Der düstere Himmel. Ein schwarzes Leuchten.

Die Tür öffnete sich, und Lucie trat ins Zimmer, gefolgt von ihrem Vater, einem kompakten Herrn mit einem freundlichen, faltigen Gesicht. Lucie war kleiner als ich und zierlicher, sie wirkte irgendwie ätherisch und entrückt, so, als lebte sie in einer anderen Dimension als wir, und trotzdem durchfuhr es mich, als sich unsere Blicke trafen, ein Beben gegenseitigen Erkennens, subtil und mächtig zugleich. Ein Flüstern in meinem Kopf. Ach ja. Ja, natürlich. Lucie und ich hatten als kleine Mädchen miteinander gespielt, aber ich konnte mich daran nur ganz vage erinnern. Manche Augenblicke im Leben sind so überwältigend, dass sie alles davor Dagewesene auslöschen. Diese neue Lucie hatte eine blasse, fast leuchtende Haut, lockiges dunkelbraunes Haar, und auf ihrer Wange, genau in der Mitte zwischen ihrem provokanten, entschlossenen Mund und der zarten Windung des linken Ohrs, war eine breite rote Schliere, die nach Marmelade aussah. Ich stellte mir vor, wie die Marmelade schmeckte und ihre Wange darunter. Wie Himbeeren, während des Sommers gepflückt, lange mit Zucker eingekocht, ihre Haut sahnig und kühl. Ich konnte mich nicht daran erinnern, solche Gedanken schon einmal gehabt zu haben, noch nicht einmal, was Jungs betraf, und ich merkte, wie ich errötete. Doch das Licht im Salon war schwach, und ich glaubte nicht, dass das jemandem hätte auffallen können.

Lucie kam zu mir herüber und sprach mich auf Englisch an: »How do you do, Suzanne?«

Wir gaben uns die Hand.

Ihr Vater seufzte und wandte sich an meine Mutter: »Ich fürchte, Lucie ist ein wenig anglophil geworden.«

»Bitte, Vater«, sagte Lucie. »Das war ich schon immer.«

Sie ließ meine Hand los, ihre Augen jedoch, mandelförmig, die äußeren Ecken leicht nach unten geneigt, waren fest auf mich gerichtet. Was sah sie damals in mir? Ich bin mir nicht sicher. Ich sagte nichts. Ich war schüchtern. Mein Haar reichte mir über die Schultern, ich trug einen Mittelscheitel. Meine Hände waren mit Tintenflecken übersät. Etwas später an jenem Morgen sagte sie mir, ich sähe aus wie eine Statue. Nein, keine Statue. Eine Karyatide. Ich sei monumental, sagte sie, sie konnte dem Wortspiel nicht widerstehen. Vielleicht weil sie dachte, ich könnte den Vergleich als Kränkung empfinden, fügte sie eilig hinzu, dass das als Kompliment gemeint sei. Sie war mehr als zwei Jahre jünger als ich – ich war fast siebzehn –, aber der Altersunterschied war für mich nicht wahrnehmbar. Wenn überhaupt, fühlte ich mich jünger. Von ihr ging eine gewisse Autorität aus, sogar damals schon – die ausgestreckte Hand, der stete Blick. Ich hatte noch nie jemanden wie sie getroffen. Henri Michaux, später einer unserer Freunde, drückte es am besten aus. In seinem Roman Un certain Plume stellt ein Oberkellner einen Teller mit einem Lammkotelett vor den Protagonisten und beugt sich zu ihm hinunter. Seine Stimme ist geheimnisvoll, tief. Das, was Sie auf Ihrem Teller sehen, sagt er, ist nicht auf unserer Karte zu finden.

Im Salon wurde es noch dunkler.

Drüben am Fenster war meine Mutter in ein Gespräch mit Monsieur Schwob vertieft, in dessen Raunen ich das Wort »heilsam« zu vernehmen glaubte. Hinter ihnen, auf dem Platz, konnte man hören, wie der Regen laut auf den Schotter prasselte. Ich schaute Lucie immer noch an. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Mein Mund war trocken, mein Herz machte Sprünge. Lucie sollte später sagen, sie habe das Gleiche gefühlt. Sie bezeichnete diesen Vormittag als den ersten wirklich großen Moment in unserem Leben.

LUCIE BESUCHTE WIE ICH DAS GYMNASIUM, ging aber selten hin. Den Großteil ihrer Zeit verbrachte sie zu Hause und lernte dort unter der Aufsicht eines Lehrers, der von ihrem Vater angestellt worden war. Trotzdem wartete sie oft vor dem Eingang auf mich, wenn die Schule vorbei war. Damals wurde Nantes das Venedig des Westens genannt. Wir spazierten stundenlang durch die Straßen und verloren uns in jenem Labyrinth aus Kanälen und Wasserwegen, für das die Stadt bekannt war. Wir hielten oft an einer kleinen buvette, einer Schankstube, am Quai Duguay-Trouin, mit einer hübschen Aussicht auf das Ineinanderfließen von Erdre und Loire. Die Wände der Schankstube waren bis auf Schulterhöhe dunkelbraun gestrichen, darüber gelb. Die eisenbeschlagenen Fässer hinter der Bar sonderten einen moschusartigen Geruch nach Eiche und zerdrückten Trauben ab. Die Besitzerin hatte ein großes Gesicht, dessen Gelassenheit nicht ganz zu ihrer scharfen Zunge und ihrem mürrischen Auftreten passen wollte. Da sind sie ja wieder, die Unruhestifter, sagte sie immer, wenn wir eintraten, obwohl wir immer nur in der Ecke saßen und café noir tranken. Vielleicht ahnte sie schon, was uns bevorstand.

An einem der ersten Nachmittage, die wir alleine miteinander verbrachten, fragte Lucie mich, wie ich mir meine Zukunft vorstelle. Ich erzählte ihr, dass ich leidenschaftlich gerne zeichne und an der École des Beaux-Arts studieren wolle. Lucie wollte schreiben.

»Mein Onkel Marcel war Schriftsteller«, erzählte sie mir. »Ich stand ihm sehr nahe. Er ist vor fünf Jahren gestorben.«

»Das tut mir leid.«

Ihr Blick wanderte langsam weg von mir, zum Fenster.

Die Biegung ihres Halses, die Neigung ihrer Nase. Etwas in mir flackerte auf wie eine Flamme.

»Er war pervers.« Sie schaute mich von der Seite an. »Manchmal zog er sich Frauenkleider an.«

Ich wusste schon, dass Lucie andere gerne schockierte. Um sie zu beeindrucken, dachte ich, müsse man sich unbeeindruckt zeigen.

»Einer meiner Vorfahren war ein Dichter«, sagte ich.

»Wirklich?«

»Ja, er hieß François de Malherbe.«

Sie lehnte sich zurück. »Noch nie gehört.«

»Von deinem Onkel hatte ich bis eben auch noch nie gehört«, erwiderte ich.

»Das ist schwer vorstellbar.«

»Warum?«

»Er war mit Oscar Wilde befreundet und mit Colette«, sagte sie. »Er hat sogar ein Stück für Sarah Bernhardt geschrieben.«

»Die drei kenne ich.«

Lucie schaute mich mit funkelnden Augen an. »Du hast einen guten Humor.«

Noch nie hatte mir jemand gesagt, dass ich Humor habe. Es ist kaum zu beschreiben, wie berauschend ich das fand.

ES WAR SCHON HERBST, als ich endlich den Mut aufbrachte, Lucie meine Zeichnungen zu zeigen. Sie stand neben mir in meinem Zimmer, als ich meine Mappe öffnete und ihr ein Blatt nach dem anderen präsentierte. Bleistiftzeichnungen von halb nackten Tänzerinnen, Tuschezeichnungen von Blattrippen und Fischgräten, aber auch von mythischen Figuren wie Wassermännern, Sirenen und ägyptischen Göttern.

Sie berührte meinen Arm: »Langsamer. Du blätterst zu schnell.«

Ich trat zurück und ließ sie selbst schauen.

»Sie sind selbstbewusst und elegant«, sagte sie schließlich, »man merkt dein Gespür für Gestaltung. Sie haben so eine nüchterne Einfachheit.« Sie drehte sich um und blickte mich an. »Weißt du, an wen sie mich erinnern? An Aubrey Beardsley.«

Mein Herz machte einen Sprung. »Seine Arbeiten haben mich schon immer begeistert.«

»Du bist gut, Suzanne. Wirklich gut.«

»Du klingst überrascht.«

»Ich bin erleichtert«, sagte sie. »Du bist besser, viel besser, als ich gedacht hatte.«

Sie habe einen Vorschlag, fuhr sie fort. Wie ich wahrscheinlich wisse, habe Beardsley mit Oscar Wilde zusammengearbeitet und einige seiner Bücher illustriert. Wie wäre es, wenn wir eine Partnerschaft eingingen? Ihre Worte und meine Bilder. In Kürze wolle sie mit der Arbeit an etwas beginnen, das sie »vues et visions« nannte, und sie begreife erst jetzt, dass dieses Werk ohne meine Bilder nicht vollständig wäre. Ich würde sehr gerne mit ihr zusammenarbeiten, sagte ich ihr, aber ich hätte jedem Vorschlag zugestimmt, der dafür sorgte, dass wir uns näherkämen.

Genau in diesem Moment wurden wir von lauten Stimmen im Korridor abgelenkt. Mein Bruder Jean trat in die Tür, zusammen mit seinem Freund Patrice, der wie er Medizin studierte. Jean war zwei Jahre älter als ich, hatte dunkle Augen und ein blasses Gesicht, das immer eine gewisse Gelassenheit ausstrahlte. Er kam nach meiner Mutter, sein Äußeres hatte eher einen spanischen als einen französischen Einschlag. Patrice war groß und schmächtig und schien nur aus Fingerknöcheln und Ellbogen zu bestehen, sein rotblondes Haar stand ihm vom Kopf ab.

»Ah, meine Schwester, die Künstlerin«, sagte Jean, »und Lucie, ihre außergewöhnliche Freundin …« Wie immer, wenn er mit mir sprach, klang er liebevoll, aber auch etwas herablassend.

Patrice wollte wissen, ob ich am Wochenende mit zum Ball käme, und ich antwortete, dass ich mir noch nicht sicher sei.

Jean sagte zu Lucie: »Patrice hat sich ein wenig in Suzanne verguckt. Ich glaube, er möchte sie heiraten.«

»Halt den Mund, Jean, um Himmels willen.« Patrice wurde rot.

»Vielleicht hat Suzanne schon andere Pläne«, sagte Lucie.

Jean lächelte: »Und was für Pläne sind das?«

Aber Lucie hatte sich schon weggedreht und machte den Eindruck, als habe sie sich in meine Zeichnungen vertieft.

Etwas später zogen Lucie und ich uns unsere Mäntel über, wickelten uns Schals um und gingen aus dem Haus. Die Straßen waren kalt und still, das sanfte Grau des Himmels schien Schnee zu versprechen. In der Regel war es vor allem Lucie, die redete. Doch an jenem Nachmittag starrte sie zu Boden, zwei Stirnfalten zwischen den zusammengezogenen Augenbrauen, und sah so aus, als wäre ihr ein unlösbares Rätsel aufgegeben worden. Wir überquerten die Eisenbahnschienen in der Nähe des Gare de la Bourse, setzten uns auf eine Bank unter die kahlen Lindenbäume und schauten auf den langsam dahinfließenden Fluss.

»Was hältst du eigentlich von Patrice?«, fragte sie schließlich.

»Er ist ganz in Ordnung. Aber ich kenne ihn nicht besonders gut.« Ich hielt inne. »Warum fragst du?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur so.«

»Also, was für Pläne habe ich denn,« fragte ich ein paar Augenblicke später, »angeblich, meine ich?«

Lucie beugte sich nach unten und band einen ihrer Schnürsenkel zu.

»Alles zu seiner Zeit«, sagte sie.

UND WIEDER WAR ES FRÜHLING. Wir saßen auf unseren Fahrrädern und fuhren Richtung Süden, über die Brücken aus der Stadt hinaus. Von der Küste aus hatte sich Nebel übers Land gelegt, eine verstohlene Stille umgab uns. Das Quietschen von Lucies Hinterrad, das Knirschen unserer Reifen im Kies und im Schotter. Mein Atem. Manchmal ragte ein Haus aus dem Nebel – der spitze Winkel eines Daches, das tiefe, traurige Bellen eines Hundes. Wir fuhren an einer Reihe von Pappeln vorbei, deren elegante Formen sich kaum sichtbar im Grau abzeichneten. Die ganze Landschaft wirkte so zart und so schwer zu fassen wie ein japanisches Aquarell.

Nachdem wir zwei Stunden lang gefahren waren, legten wir unsere Fahrräder im Straßengraben ab, Lucie schlug einen Weg ein, der sich zwischen zwei Hecken hindurchschlängelte, und ich folgte ihr. Manchmal warf sie mir einen Blick über ihre Schulter zu. In ihrem Gesicht lag Anspannung, aber auch eine Art Staunen. Vor uns türmte sich ein dunkler Wald auf. Sie fand einen Weg, der uns direkt hineinführte. Eine neue Stille, noch verstohlener. Der Waldboden war übersät mit hellblauen Blüten, die uns bis zu den Knöcheln reichten, ihr bitterer, milchiger Duft war so stark, dass ich stehen bleiben musste.

»Hasenglöckchen«, sagte Lucie. »Ich habe sie zum ersten Mal in England gesehen, wo sie nicht so selten sind wie in Frankreich. Nach Ostern blühen sie dort überall.«

»Ich habe noch nie welche gesehen.« Ich kniete mich nieder und berührte eine der Pflanzen, fuhr ihren dicken grünen Stängel entlang bis zur Traube mit den Blütenglöckchen. »Es sind so viele. Als wäre der Boden mit Rauch bedeckt.«

Lucie lächelte.

Wir setzten uns unter einen Baum und lehnten uns an den Stamm. Ich fragte sie, wie es in England sei.

»Die Engländer sind wunderbar«, sagte sie. »Sie sind so tolerant. Ich konnte dort wirklich ich selbst sein.« Sie schaute auf ins Blätterdach. »Ich glaube, sie haben mehr Fantasie als die Franzosen.«

»Findest du es schade, dass du zurückkommen musstest?«

Sie schaute mich aus den Augenwinkeln an, unsere Blicke trafen sich. »Nicht mehr.«

Es war schwer zu sagen, wie ich das interpretieren sollte. Ich spürte ihre Anwesenheit fast körperlich, von ihr schien eine Art Wärme auszugehen.

Etwas später, als wir weiter in den Wald hineingingen, erzählte sie mir, dass sie sich dazu entschieden habe, sich einen anderen Namen zu geben. Von nun an heiße sie Claude. Ihrem Vater habe sie noch nichts davon erzählt. Er würde sich nur Sorgen machen. Es gebe nicht viel, sagte sie, was ihm keine Sorgen mache.

»Claude«, sagte ich und schaute sie an.

»Du magst den Namen nicht.«

»Doch. Aber …«

»Er klingt wie ein Männername.«

»Ja – tatsächlich.«

»Das ist der Sinn der Sache. Man muss an der Voreingenommenheit der Leute rütteln, das ist wichtig.«

Der Nebel hatte sich zwar gelichtet, aber es wurde schon dunkel. Der ohnehin schon starke Duft der Hasenglöckchen schien noch intensiver geworden zu sein.

Wer man sei, dürfe einem nicht aufgezwungen werden, sagte Lucie, als wir zurückgingen. Man müsse sich selbst erfinden. Ihre Wangen waren rot geworden, und ihre Hände wirkten in der dämmrigen Luft wie Sterne. Man müsse sich selbst erschaffen, sagte sie. Das könne man niemand anderem überlassen, am allerwenigsten der eigenen Familie.

»Aber deine Eltern haben dich erschaffen«, sagte ich.

»Das« – sie hatte etwas Triumphierendes an sich, als wäre ich gerade in eine Falle gelaufen, die sie mir gestellt hatte – »ist die brutale Ironie unseres Lebens. Das große Paradox.«

Sie habe sich auch einen neuen Familiennamen gegeben, sagte sie – Courlis, wie der Brachvogel –, aber sie sei noch nicht zufrieden damit. Sie müsse sich einen neuen ausdenken, und das werde sie auch bald tun. Sie blieb stehen und schaute mich an. Vielleicht wäre es gut, wenn auch ich mir einen neuen Namen ausdächte, sagte sie. Etwas, das von innen komme. Etwas, womit ich mich wohlfühle. Etwas Echtes.

Wir stiegen wieder auf unsere Fahrräder und machten uns auf den Rückweg. Abendstille hatte sich über die Landschaft gelegt, als wäre der Tag zur Ruhe gekommen. Lucies Haare wehten im Fahrtwind, braun vor dem tiefen Grün der Bäume.

Als wir den Stadtrand von Nantes erreichten, rannte eine Frau in einem schwarzen Kleid aus der Dämmerung auf uns zu. Ich trat schneller in die Pedale, aber sie lief hinter mir her und gab mir einen solchen Schubs, dass ich das Gleichgewicht verlor und stürzte. Mein Fahrrad landete auf mir. Ich rief nach Lucie, aber sie fuhr weiter. Erstaunt sah ich ihr nach, wie sie in der Dunkelheit verschwand. Die Frau stand über mir und lachte. Es war ein seltsames Lachen, es hörte sich an, als atmete sie immer wieder tief ein. Unter ihrem Kleid ragten ihre nackten Füße hervor.

Ein Mann kam auf uns zu und packte die Frau am Arm. Sie leistete keinen Widerstand. Er sagte, dass es ihm leidtue, und fragte, ob ich verletzt sei. Sorgenfalten lagen um seine Augen, und ich wusste, dass die Frau nicht zum ersten Mal auf die Straße gelaufen war.

Ich stand auf und stellte das Fahrrad vor mich, wie eine Barriere. Eines meiner Knie war aufgeschürft, ein Strumpf war zerrissen und mein Kleid schmutzig.

Er entschuldigte sich noch einmal, redete ruhig auf die Frau ein und führte sie fort.

Obwohl mir der Schreck noch in den Knochen saß, stieg ich auf mein Rad und fuhr weiter. Einige Minuten später hatte ich Lucie eingeholt. Sie saß am Straßenrand im Gras, die Arme um die Knie geschlungen.

»Warum hast du nicht gewartet?«, fragte ich.

Sie schaute an mir vorbei, die Straße hinunter. »Es tut mir leid, ich hatte Angst.«

»Ich auch.«

»Du verstehst nicht«, sagte sie. »Ich dachte, die Frau wäre meine Mutter.«

AN EINEM WARMEN SOMMERNACHMITTAG nahm Claude mich mit zum Place du Bouffay, und wir standen an genau der Stelle, an der einmal die Guillotine gestanden hatte. Während der Revolution waren auf diesem Platz über fünftausend Menschen hingerichtet worden. Obwohl die Hitze der Sonne auf unseren Köpfen und unseren Schultern lastete, fröstelte es uns beim Gedanken daran. Was nur wenige über die Guillotine wissen, sagte Claude, sei, dass die Obrigkeiten sie hätten rot streichen lassen. So habe man versucht, das Blutbad für diejenigen, die den Hinrichtungen zuschauen wollten, weniger verstörend zu machen. Mit ausgestreckten Armen drehte sie sich langsam im Kreis. Dreihundert Jahre zuvor, fuhr sie fort, sei Gilles de Rais auf ebendiesem Platz erhängt und verbrannt worden. Gilles de Rais, auch als Blaubart bekannt, hatte über einhundertfünfzig Kinder verstümmelt, vergewaltigt und ermordet. An ihrem Handgelenk trat ein kleiner Knochen hervor, und ihr linkes Auge zuckte. Ihr Hals wirkte wie der Stängel einer Blume. Ich fragte sie, ob sie abgenommen habe, und sie sagte, ja, das habe sie.

»Ich hungere gerade«, erzählte sie.

»Was?«

»Ich habe schon länger nichts mehr gegessen.« Sie streckte ihr Kinn ein wenig in die Luft. »Ich mag, wie es sich anfühlt. Außerdem hilft es mir beim Schreiben.«

Mir war, als hätte jemand seine Hand um mein Herz gelegt und fest zugedrückt. Ich kannte Claude erst seit einem Jahr, aber für mich sah sie krank aus.

Später, in einer dunklen Ecke unserer liebsten Kneipe, fragte ich sie, ob ihr Vater davon wisse.

»Es ist ihm nicht aufgefallen«, sagte sie. »Er hat zu viel zu tun bei der Zeitung. Aber ich glaube, neulich hat er den Äther an mir gerochen. Ich inhaliere Äther.« Die Pupillen ihrer Augen weiteten sich so plötzlich, dass mich das Gefühl überkam, das Gleichgewicht zu verlieren und sogartig von ihr angezogen zu werden. »Hast du das auch schon mal gemacht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, ich könnte der Ätheromanie anheimgefallen sein. Ist das nicht ein wunderbares Wort?« Sie lachte kurz und trocken auf, wie es ihre Art war. »Das Problem ist nur, dass das einem nicht besonders guttut, außerdem riecht danach dein Atem nach Äther, manchmal tagelang.« Sie verzog das Gesicht. »Schon Paracelsus hat anscheinend Äther benutzt, als ein Narkosemittel für Hühner.«

Ich schaute aus dem Fenster. Ein schwarzer mit Sand beladener Schleppkahn glitt auf dem Fluss vorbei. Der Kahn trug einen Namen, aber ich konnte den Schriftzug nicht erkennen. Ein aufgeregter Schwarm Möwen folgte ihm.

»Willst du wissen, wie es sich anfühlt, Suzanne? Du fühlst dich, als würdest du schweben, rücklings, aus deinem Körper heraus – nicht sanft, eher ruckartig, als wärst du zu einer Maschine geworden. Ich habe meinen Körper von außen gesehen. Er sah aus wie eine Puppe, mit der man nicht spielt, wie eine Puppe, die jemand zu Boden geworfen hat. Ich schwebte und hatte alles Leben mit mir nach oben genommen. Reine Energie – das war alles, was ich war. Dann trieb ich auf einem dunklen Meer. Das Wasser war so dick wie Öl, die Wellen üppig, hypnotisch. Eigentlich waren es gar keine Wellen, sondern Wogen, die Oberfläche eines Lakens, das man über ein Bett wirft, oder die eines Vorhangs, der sich im Wind bauscht, und auch in mir gab es diese Wogen, ein Behagen, das aus mir hervorquoll, all meine Probleme waren verschwunden …«

Ich löste meinen Blick vom Fenster und schaute wieder in ihre Richtung.

»Manchmal wird man auch ohnmächtig.« Claude griff nach meiner Hand. »Willst du es nicht mal ausprobieren?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht.«

Als sie ihre Hand wieder fortnahm, konnte ich ihren Abdruck auf meiner Haut spüren, eine warme Form, die sich langsam abkühlte.

»Mein Vater schaut mich immer so an«, sagte sie. »Er starrt geradezu …«

Die Worte sprudelten aus ihr heraus, ein Satz purzelte über den nächsten. Ich machte mir Sorgen, dass sie sich in Rage reden und zusammenbrechen könnte. Ich sollte mir aber keine Sorgen machen. Das war nicht, was sie von mir wollte. Sie wollte etwas ganz anderes von mir, etwas, was ihre Familie ihr nicht geben konnte.

Sie redete immer noch.

»… ich fürchte, ich musste ein wenig übertreiben … Du weißt, so vernünftig bist du nun auch wieder nicht. Ich musste … also ich musste dafür sorgen, dass er den Eindruck hat, du wärst ein wenig langweilig.«

»Vielen Dank.«

Sie grinste. »Ich bin da natürlich ganz anderer Meinung, ich habe es ihm nur gesagt, damit er sich beruhigt. Ich habe ihm erzählt, dass du mich erdest, dass du einen guten Einfluss auf mich hast. Ich habe ihm erzählt, du seist meine Rettung.« Sie warf mir einen ängstlichen Blick zu. »Ich hoffe, ich bin nicht zu weit gegangen.«

»Rettung«, sagte ich. »Das ist ein großes Wort.«

»Was dich angeht, ist kein Wort wirklich groß genug.« Ihr Gesicht nahm plötzlich einen seltsam hehren Ausdruck an, so, als stünde sie kurz davor, sich für mich zu opfern. »Diese Welt hier gibt es nur, wenn du bei mir bist.«

Ich sagte nichts, aber in mir kam ein Gedanke hoch, der so schwer zu ignorieren war wie ein Vollmond im klaren Nachthimmel. Ich habe die gleichen Gefühle. Für dich. Ich saß beim Fenster und schien Claudes Äthertraum selbst zu erleben. Ich trieb irgendwo auf dunkler See, voller Macht und ohne Angst. Ich schwebte, völlig frei. Und auf einmal wusste ich, welchen Namen ich mir geben wollte, welcher Name in einem Atemzug mit dem ihren genannt werden sollte, und dieser Name flatterte direkt von meinem Kopf in meinen Mund und von dort in die Luft.

»Marcel Moore.«

»Was?« Anscheinend hatte sich auch Claude in einer Art Trance befunden.

Ich wiederholte, was ich gesagt hatte. Marcel, nach ihrem Onkel. Ich hatte ihn nie getroffen, aber ich verehrte ihn, sowohl als Schriftsteller als auch als freien Geist. Und noch etwas anderes sprach für Marcel. Obwohl es ein Männername war, klang er feminin. Ich mochte es, wie sein Klang zwischen den Geschlechtern schwebte, als ob er sich nicht richtig entscheiden könnte.

Claude nickte. »Und Moore?«

»Es ist ein englischer Name.«

»Und du möchtest dich irgendwie abheben …«

»Ja.« Obwohl die Wahrheit natürlich war, dass ich den Namen gewählt hatte, um an ihre Anglophilie zu appellieren. Außerdem behauptete sie, sie sei mit George Moore, dem irischen Romancier, verwandt.

»Warum musstest du an diesen Namen denken?«

»Ich weiß es nicht. Er ist mir einfach so eingefallen.«

Claude stellte die Ellbogen auf den Tisch, sodass man ihre schlanken Unterarme sah, und stützte ihr Gesicht in ihre Hände. »Marcel Moore«, sagte sie. »Das klingt nach jemandem, den ich lieben könnte.«

CLAUDES FAMILIE BESASS MEHRERE ANWESEN, eines davon an der Atlantikküste, in Le Croisic. Ein traditionelles bretonisches Haus mit festen Steinmauern und hellblauen Fensterläden. Es stand am Kai, mit Blick auf den Hafen. Vom schmiedeeisernen Balkon im ersten Stock aus konnte man beobachten, wie die Sardinenfischer ihren Fang aus den Booten luden oder ihre Netze reparierten. 1910 fuhren Claude und ich dorthin, um Ferien zu machen. Mein Bruder Jean war in dieselbe Klasse wie Claudes Bruder Georges gegangen – die Freundschaft der beiden war der Grund, weshalb sich unsere Familien so nahestanden –, aber sie entschieden sich dagegen, uns zu begleiten. Jean, der sich fest vorgenommen hatte, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und Arzt zu werden, musste lernen. Und Georges, der sich oft um Claude gekümmert hatte, als sie noch klein gewesen war – sie hatte mir erzählt, er sei wie eine Mutter für sie gewesen, als die Krankheit ihrer wirklichen Mutter zum ersten Mal ausbrach –, sollte bald heiraten und hatte nicht mehr so viel Zeit für sie. Dass die beiden uns nicht begleiteten, war ein Geschenk. Claude und ich konnten so allein sein. Wenn es bewölkt war, zeichnete oder malte ich am Küchentisch, während Claude es sich in einem Sessel mit Büchern über Buddhismus gemütlich machte oder auf einer Schilfmatte im Hof Yoga machte. Ich versuchte, etwas zu kochen, das sie essen würde. Blasse Omeletts, für die ich drei Eiweiß und ein halbes Eigelb miteinander mischte. Gedünsteten Spargel. Ich machte uns heiße Schokolade und süßte sie mit Rohrzucker. Wenn das Wetter schön war, verbrachten wir den ganzen Tag sonnenbadend an abgelegenen Stränden. Unsere Haut nahm einen tiefen, dunklen Goldton an. Wenn ich mich im Sand ausstreckte, schrumpfte die Außenwelt auf einen Bruchteil ihrer Größe zusammen. Alles, was ich spürte, war Claude, wie sie neben mir lag, die rechte Hand auf der Vertiefung ihres Bauchs. Der zierliche Leberfleck neben ihrer Achselhöhle. Die Wellen ihres nassen, braunen Haars … Eines Nachmittags, als ich so neben ihr lag, drehte ich meinen Kopf zu ihr, bis meine Lippen fast ihre Schultern berührten. Schlief sie oder tat sie nur so und wartete ab, was ich tun würde? Ich sehnte mich danach weiterzugehen, aber ich traute mich nicht. Stattdessen saugte ich den Duft ihrer Haut in mich auf. Ich atmete sie ein. Mein Herz schaukelte wie ein kleines Boot im Kielwasser eines großen Schiffs.

IN JENEM WINTER TRAT, nach Tagen starken Regens, die Loire über die Ufer. Nantes war schon immer von der Gnade des Flusses abhängig gewesen – 1904, als ich elf war, hatte es eine große Flut gegeben –, aber dieses Mal waren die Überschwemmungen meinem Vater zufolge noch vernichtender als sonst. Eine Brücke war fortgerissen worden, und da viele Straßen in der Stadt unter Wasser standen, musste der Straßenbahnverkehr eingestellt werden. Eine ertrunkene Ziege wurde an die Türschwelle eines Nachbarn gespült. Das sei der endgültige Beweis, merkte meine Großmutter Olympe an, wenn so ein Beweis überhaupt noch nötig sei, dass hier der Teufel seine Hände im Spiel habe. Mein Vater, ein Mann der Wissenschaft, schaute zu mir herüber und verdrehte die Augen.

Eines Sonntags im Dezember holte mich Claude von zu Hause ab, auf einen Spaziergang in den Süden der Stadt, zum Quai de la Fosse. Auf der Île Feydeau mussten wir einen der wackeligen Holzlaufstege benutzen, die vorübergehend die Bürgersteige ersetzten. Sie hatte gerade wieder eine ihrer manisch anmutenden Phasen. Die Sätze sprudelten nur so aus ihr hervor, lebhaft und wild. Sie habe die ganze Nacht geschrieben, sagte sie, habe kaum geschlafen. Als wir auf der Pont Maudit ankamen, hielten wir an und lehnten uns über die Brüstung. Der braune angeschwollene Fluss umspülte die steinernen Brückenpfeiler und schien vor abgebrochenen Ästen und anderem Abfall nur so zu bersten. Ein Tisch trieb an uns vorbei, mit den Beinen nach oben.

»Neulich wäre ich fast gestorben«, sagte Claude. »Unsere Haushälterin hat mich auf dem Badezimmerboden gefunden.«

Mein Atem setzte kurz aus. »Was ist passiert?«

»Ich habe etwas Äther in ein Glas Château d’Yquem getropft«, sagte sie und schaute dabei weiter auf das bewegte Wasser des Flusses. »Ich habe zu viel davon genommen.« Sie warf mir einen trotzigen und anklagenden Blick zu. »Es war Absicht.«

»Du hast versucht, dir das Leben zu nehmen?« Es fiel mir schwer, diese Worte auszusprechen.

Sie nickte. »Ja.«

»Aber warum?«

»Es gibt kaum etwas, was mich in dieser Welt hält.«

Sie drehte sich um und ging weiter über die Brücke, der Île Gloriette entgegen. Wie versteinert blieb ich ein paar Augenblicke lang stehen, dann rannte ich ihr hinterher.

»Es gibt so viel, worauf du dich freuen kannst«, sagte ich. »All deine Träume …«

»Wenn es nur so einfach wäre.«

Île Gloriette war ein gewerbliches Viertel, dessen enge Straßen von großen Lagerhäusern und Fabriken aus vom Kohlerauch geschwärzten Ziegeln gesäumt waren. Auch hier waren die Straßen überflutet, aber es gab weniger Stege. Manchmal endeten sie einfach, und wir mussten umdrehen und den Weg zurückgehen, den wir gekommen waren. In der Rue Pélisson stießen wir auf ein Ruderboot, das mit einem zerfransten Seil an einen Eisenring in der Mauer gebunden worden war. Claude schaute sich nach beiden Seiten um, um zu sehen, ob jemand in der Nähe war, und stieg dann ins Boot. Es neigte sich stark zur Seite, und beinahe verlor sie das Gleichgewicht. Die Bewegung des Bootes verursachte kleine Wellen, die bald die Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Straßenseite erreichten.

Sie winkte mich zu sich heran. »Worauf wartest du?«

Ich zögerte.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Wir werden es zurückbringen.«

Ich löste das Seil und stieg ein.

Claude saß im Heck, und wir ruderten Richtung Osten. Wenn wir miteinander sprachen, schienen unsere Stimmen die leeren Straßen auszufüllen, verstärkt vom Wasser, das uns umgab. Manchmal konnte ich ein Gesicht hinter einer Fensterscheibe erkennen, so bleich wie eine Lilie unter einer Glasglocke. Die Insel fühlte sich verlassen an, unheimlich.

Wir ruderten an einem Straßenschild vorbei, das die Rue Monteil auswies. Vor uns lag die Lefèvre-Fabrik, wo die berühmten Petit-Beurre-Kekse hergestellt wurden, und in der Luft lag der schwere Duft von Weizenmehl und Kondensmilch. Ich wollte mehr über das erfahren, was Claude mir erzählt hatte. Ich wollte glauben, dass sie nur übertrieben hatte und dass die ganze Sache nichts weiter als ein bedauernswerter Unfall gewesen war. Allerdings wusste ich nicht, wie ich das Gespräch wieder auf dieses Thema lenken konnte. Stattdessen griff ich auf eine Frage zurück, die nur indirekt damit zu tun hatte.

»Was hat deine Mutter eigentlich genau?«

Claude kniff die Augen zusammen und richtete den Blick auf die Ziegelschornsteine der Fabrik. »Man sagt, sie sei schizophren.«

Obwohl mein Vater Arzt war, hatte ich das Wort noch nie gehört. Claude sagte, dass es sich dabei um einen relativ neuen Begriff handle, der von einem Schweizer Psychiater namens Eugen Bleuler kürzlich zum ersten Mal in einem Vortrag benutzt worden sei. Das Wort »Schizophrenie«, erklärte sie, sei von den altgriechischen Begriffen für »spalten« und »Geist« abgeleitet worden. Wenn sie die Erkrankung richtig verstehe, litten Schizophrene unter einer Art fragmentierten Denkens und neigten zu schweren Wahnvorstellungen und Halluzinationen.

»Ist die Krankheit heilbar?«, fragte ich.

»Ich bin mir nicht sicher.« Sie warf mir einen kurzen, ängstlichen Blick zu. »Du glaubst nicht, dass ich auch so bin, oder?«

Ich zog die beiden Ruder zu mir heran. Das Wasser war schwarz, und das Licht der untergehenden Sonne brach sich in seiner bewegten Oberfläche, wie Scherben eines roten Tellers.

»Nein«, sagte ich. »Natürlich nicht.«

»Das ist gut.«

Plötzlich flog eine Taube so dicht über unseren Köpfen hinweg, dass wir das Schwirren und das Klappern ihrer Flügel hören konnten. Wir duckten uns, die Hände auf die Ohren gelegt. Dann schauten wir einander an und lachten.

EINIGE MONATE SPÄTER, der Sommer hatte gerade begonnen, fuhren Claude und ich mit dem Zug an die Côte d’Azur. Claudes Großmutter, Madame Courbebaisse, lebte in einem Dorf, das wenige Kilometer entfernt von Toulon lag, und Claude hatte ihr mit dem Vorschlag geschrieben, dass wir sie zu zweit besuchen könnten. Sie würde alles tun, um aus Nantes wegzukommen, erzählte sie mir; ihr Vater sei in ständiger Sorge um sie, und zudem sei Georges mit seiner schwangeren Frau zu ihnen in die Wohnung gezogen. Mir werde Le Pradet gefallen, sagte sie. Das Haus befinde sich inmitten einer fünf Hektar großen, stufenförmig angelegten Parklandschaft voller Eichen und Kiefern, und der Strand sei nur ein paar Gehminuten entfernt.

»Und du wirst Toinette kennenlernen«, fügte sie beiläufig hinzu.

»Toinette?«

»Meine Mutter.«

Etwas in mir schien aus dem Gleichgewicht zu geraten. Ein Taumeln. Ein Torkeln. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich darauf freute, Madame Schwob kennenzulernen, oder ob ich mich davor fürchtete.

»Ich dachte, sie befände sich in einem Sanatorium«, sagte ich.

Claude zuckte mit den Schultern. »Manchmal hat sie Ausgang, sie wohnt in einem Erholungsheim ganz in der Nähe.«

Wir kamen spätabends an, die Bäume unbewegt und schwarz, der Himmel dicht mit Sternen bedeckt, die Luft laut von den raspelnden Geräuschen der Zikaden. Am nächsten Morgen wurde ich früh wach. Ich wartete im Salon darauf, dass Claude herunterkäme, als ich auf dem Gehweg draußen behäbige Tritte hörte. Ich saß am Fenster, den Rücken zum Garten, und hielt still. Ich versuchte, mir zu sagen, dass das nur Claudes Großmutter sei, aber ich wusste schon, dass Madame Courbebaisse eine leichtfüßige Frau war, so unruhig wie eine Fledermaus.

Schließlich trat eine Frau in den Salon, die dick genug war, um die ganze Tür auszufüllen, und ein Kleid aus dunkelblauem Taft trug. Unter ihrem ausladenden Hut konnte man ihr breites, entschlossenes Kinn erkennen.

»Lucie?«

Ich hätte aufstehen und mich vorstellen müssen, aber ich war nicht in der Lage dazu, irgendetwas zu sagen oder mich auch nur zu bewegen. Falls ich so wirkte, als hätte ich schlechte Manieren, schien Madame Schwob sich nicht daran zu stören. Langsam trat sie in das Zimmer, kam aber nicht direkt auf mich zu, sondern bewegte ihren Körper sachte, Schritt für Schritt, quer durch den Raum, als befände sie sich auf einem schmalen Felsvorsprung. Ich hatte keine Ahnung, was in ihrem Kopf vor sich ging; es war möglich, dass sie mich als etwas Unangenehmes wahrnahm, vielleicht sogar eine Gefahr in mir erkannte, dass ich etwa wie eine Spinne auf sie wirkte oder eine Schlange.

Als sie so nah gekommen war, dass wir einander hätten berühren können, beugte sie sich nach vorn und blickte mich prüfend an. Ich bewegte mich immer noch nicht.

»Sie sind nicht Lucie«, sagte sie.

»Ich bin Suzanne«, sagte ich, »Lucies Freundin.«

Ihr Blick war aufmerksam, doch irgendwie verschleiert, und obwohl ich wusste, dass sie mich genau beobachtete, hatte ich das seltsame Gefühl, nicht von ihr gesehen zu werden.

Sie trat zurück und schaute auf ihre Hände. Mit zusammengezogenen Augenbrauen begann sie, ihre Handschuhe auszuziehen.

»Können Sie singen?«, fragte sie.

Ich nickte. »Ja.«

»Singen Sie mir etwas vor.«

Sie machte es sich, die Handschuhe auf dem Schoß, auf einem grünen Diwan bequem und sah mich erwartungsvoll an.

Ich war schon aufgestanden und kurz davor, ein Lied anzustimmen, als Madame Courbebaisse hereinkam. Sie sprach mit leiser Stimme auf ihre Tochter ein und nahm sie beim Arm. Aber Madame Schwob schüttelte sie ab und begann, sie zu beschimpfen. Ich verließ schnell das Zimmer.

Obwohl Madame Schwob das Haus für gewöhnlich nur am Abend besuchte, kam es regelmäßig zu Streitigkeiten und heftigen Auseinandersetzungen – für Madame Courbebaisse schien die Anwesenheit ihrer Tochter eine Qual zu sein, sie bezeichnete sie nur als »die Wahnsinnige« –, und um die Stimmung aufzulockern, dachten Claude und ich uns kleine Unterhaltungsprogramme aus. Einen Abend führten wir ein Stück auf, das Claude geschrieben hatte. Wir beide übernahmen die männlichen Hauptrollen und ließen Mädchen aus dem Dorf die weiblichen Figuren spielen. An einem anderen Abend sang ich jene Lieder, die von Paul Delmet in den 1890er-Jahren berühmt gemacht wurden – »Petit Chagrin« etwa oder »Les Deux Tulipes«. Als das Konzert vorbei war, klatschte Madame Schwob mit gespreizten Fingern, wie ein Kind. In ihren Augen glänzten Tränen. War es Glück, was sie empfand, oder Bedauern? Oder trauerte sie jenem Teil ihres Lebens nach, zu dem sie nicht mehr zurückkehren konnte, dem Leben, bevor der Wahnsinn von ihr Besitz ergriffen hatte?

1912, EIN FÜR DIE JAHRESZEIT ungewöhnlich warmer Frühlingsnachmittag in Nantes. Claude und ich saßen im Café de l’Europe, nur drei Häuser von der Schwob’schen Residenz entfernt. Wir hatten den zweiten Eiskaffee bestellt – oder war es der dritte? Wie immer versuchten wir unseren Abschied hinauszuzögern. Der Platz vor dem Café lag bleich im gleißenden Sonnenlicht, drinnen aber war es dunkel und kühl. Die Zeitungen vermeldeten, die Verhandlungen zwischen Großbritannien und Deutschland zur Senkung der Marineausgaben seien wieder einmal gescheitert. Das Wettrüsten war in vollem Gange.

»Die Briten werden niemals einlenken.« Claude wischte sich eine ihrer Locken aus der Stirn. »Mein Vater glaubt, dass es Krieg geben wird.«

Das Licht, das von draußen durch das Fenster fiel, schien sich in Claudes Gesicht zu bündeln. Ihre Haut war wie immer makellos, makellos und blass, und ich konnte sehen, wie die goldenen Strahlen in den Iriden ihrer Augen tanzten. Sie schaute mich an und atmete tief ein. Dann biss sie sich auf die Unterlippe.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Ich habe gerade etwas Wichtiges verstanden, aber ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll.«

Ich lächelte. »Nie im Leben ist das die Wahrheit. Du weißt immer, was du sagen sollst.«

»Aber es wird komisch klingen.«

»Sag’s doch einfach.«

»Ich habe das Gefühl, dass ich aufhöre zu existieren, wenn du den Blick von mir abwendest.« Sie wirkte erstaunt, fast so, als wäre das, was sie gesagt hatte, für sie selbst eine Offenbarung, als wäre es eine dieser Wahrheiten, deren man sich erst völlig bewusst wird, wenn man die Worte dafür findet. »Wenn du mich nicht anschaust, ist es, als würde ich verschwinden.«

Ich fragte mich, ob ich imstande wäre, zu sagen, was mir auf der Zunge lag. Dann beschloss ich, dass ich sehr wohl dazu imstande war. »Wenn das so ist, werde ich meinen Blick niemals von dir abwenden.«

Ihr Gesicht blieb so gut wie regungslos. Die kleinste Bewegung hätte den Moment zerstört. »Ist das ein Versprechen?«

»Ja.«

Sie senkte den Blick und lächelte. Dann stand sie auf. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

Wir verließen das Café und gingen zum Bürogebäude, in dem die Zeitung ihres Vaters, Le Phare de la Loire, ihren Sitz hatte. Unten in der Eingangshalle begegneten wir einem jungen Mann, der Claude sagte, dass er ihre jüngste Theaterrezension über alle Maßen geschätzt habe. Sie dankte ihm, blieb aber nicht stehen, um mit ihm zu sprechen. Als wir die Treppen hochstiegen, fragte ich sie, wer das gewesen sei. Jacques Viot, sagte sie. Er sei noch nicht einmal vierzehn, aber zeige schon großes Talent. Sie glaube, es werde nicht mehr lange dauern, bis er für die Zeitung schreiben werde.

Auf der ersten Etage angekommen, gingen wir durch eine große Flügeltür.

»Die Bibliothek«, sagte sie.

In der Luft lag ein süßer, stechender Geruch. Wahrscheinlich war der Leim, der zum Binden der Bücher benutzt wurde, von der Hitze aufgeweicht worden. In einiger Entfernung konnte man das dumpfe Klappern einer Schreibmaschine hören.

»Ich komme hierher, um zu lesen«, erzählte mir Claude. »Spät am Abend, wenn die Redakteure schon nach Hause gegangen sind.«

Ich folgte ihr zwischen Regalen und Bücherstapeln entlang nach hinten in die Bibliothek. Von dort aus konnte man in die leere Wohnung gegenüber schauen. Alle Zimmer waren gleich tapeziert – ein Gewirr aus orangenen Rosen mit schwarzen Stängeln. Die Straße zwischen den Gebäuden war so schmal, dass ich mit einem einzigen Schritt fast auf die andere Seite hätte gelangen können. Gebrochenes Licht, von einem Himmel, den man nicht sehen konnte.