Elstner, Frank; Leitzmann, Claus Leben geht durch den Magen

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Vorwort

oder
Gesundheit kann man essen

FRANK ELSTNER

Diese Schlacht endet nie. Die Feinde sind überall. Rund um die Uhr rollen die Angriffswellen an. Immer neue Truppen werden in den Kampf geworfen. Ihr Ziel: wir! Ihre Strategie: über die Atemluft und durch die Nahrung in unser Verdauungssystem oder über die Haut in unser Gewebe und Blut zu gelangen. Billionen von Bakterien fallen ein; die meisten sind harmlos, aber einige so gefährlich, dass sie unbedingt sofort bekämpft werden müssen, sonst werden wir krank oder müssen sterben.

Wer aber stellt sich diesem unaufhörlichen Kampf? Es ist unser Immunsystem. Das kommandiert die körpereigene Abwehr ins Gefecht, Fresszellen (weiße Blutkörperchen), die unablässig durch das Blut patrouillieren, um schädliche fremde Organismen aufzuspüren. Ist der Feind entdeckt, wird er eliminiert, das heißt: kurzerhand aufgefressen.

Und wenn die Fresszellen versagen? Dann tritt der »Geheimdienst« auf den Plan: »Killerzellen«, B- und T-Lymphozyten, ebenfalls weiße Blutkörperchen, die kein Pardon kennen. Sie sind genau programmiert; sie wissen, welche Stoffe zu unserem Körper gehören und welche nicht – und wie die feindlichen Angreifer effektiv und schnell bekämpft werden können.

Nur wenn dieses System optimal funktioniert, bleiben wir gesund. Ist das Immunsystem aber zu schwach, dann sind der Entstehung von Infektionen und sogar Tumoren Tür und Tor geöffnet.

Es stellt sich also die Frage: Wie kann die lebenswichtige Funktion des Immunsystems dauerhaft unterstützt werden? Eine Antwort: durch richtige Ernährung. Das heißt: viel Obst und Gemüse. Aber warum ist das so? Und welches Obst, welches Gemüse hilft in welchem Fall? Und wie wird es optimal zubereitet? Welche Dinge muss ich beim Einkauf beachten und welche Fehler in der Küche vermeiden, um leckeres und gesundes Essen zu bekommen? Mit welchen Tricks werden diese wertvollen Lebensmittel noch gesünder? Um diese Themen geht es in unserem Buch.

Beginnen will ich mit einem Geständnis: Meine Kompetenz, was Lebensmittel und deren Verwendung angeht, ist sehr überschaubar. Das habe ich auch eindrücklich im Dezember 2007 in der ZDF-Sendung Lafer!Lichter!Lecker! bewiesen, als ich einen Nussschmarren mit Preiselbeeren vorbereiten sollte. Alles lief erstaunlich gut, bis auf diese vertrackte Geschichte mit der Vanille. Johann Lafer forderte mich auf, die Schote vorzubereiten – und da man mich in der heimischen Küche in Baden-Baden gelegentlich beauftragt, eine Paprika zu zerschnipseln, ging ich nach dem bewährten Prinzip vor: aufschneiden, Inhalt entsorgen und das wohlschmeckende Äußere zur Weiterverarbeitung bereitlegen. Die Reaktion des Meisterkochs auf meine sorgfältige Arbeit war allerdings ganz anders als erwartet – statt in Lobeshymnen über meine perfekte Tätigkeit brach er in lautes und andauerndes Gelächter aus, in das kurz danach auch noch Horst Lichter einstimmte (eine Szene, die auch auf YouTube Zehntausende von Fans hat …).

Trotz der zahlreichen Kochshows – die Zahl der Menschen, die noch selbst am Herd stehen, nimmt kontinuierlich ab. Nur 40 Prozent kochen täglich noch selbst, lediglich 33 Prozent zwei- bis dreimal die Woche. 11 Prozent kochen überhaupt nie.

 

Man sieht: Ich wusste rein gar nichts über die Vanille, nichts über ihre Verarbeitung, nichts von ihrer noblen Herkunft (immerhin stammt sie von einer Orchidee ab), nichts von den Heilwirkungen dieser Schote. Sie soll nämlich bei Pilzbefall helfen, wirkt angeblich bei Neurodermitis und bekämpft Ekzeme, soll Mutationen verhindern und uns damit sogar vor Krebs bewahren. Außerdem soll sie die Nerven beruhigen. Darüber hinaus ist Vanille noch in der Lage, die Libido zu steigern. Und wenn dieser ganz spezielle Steigerungsprozess erfolgreich war, hilft Vanille auch zuverlässig gegen Schwangerschaftserbrechen!

In den vergangenen Jahren haben Zehntausende Studien bewiesen, dass Kräuter, Gewürze, Gemüse und Obst außerordentlich gesund sind. Zahlreiche Umfragen haben ergeben, dass die Deutschen wie die meisten Europäer immer noch viel zu wenig Obst und Gemüse zu sich nehmen. Nur die Hälfte der Bundesbürger isst einmal am Tag davon, die meisten sind damit also weit weg von den üblichen Ernährungsempfehlungen, wonach fünf Portionen täglich auf dem Speiseplan stehen sollten.

Warum ignorieren so viele Menschen eine wirklich gut dokumentierte Empfehlung, die letztlich sogar jede Menge teure Medikamente ersetzen könnte? Und wenn ein Nutzen zweifelsfrei bewiesen ist – welche Stoffe sind es eigentlich, die direkten Einfluss auf unsere Gesundheit haben? Und wie schaffen die das?

Als ich zu diesem Thema zu recherchieren begann, wusste ich noch nicht, dass ich unter anderem bald das Hohelied der sekundären Pflanzenstoffe singen würde. Der Begriff klingt, mit Verlaub, nicht sonderlich sexy. Und wenn man sich schon mit Pflanzenstoffen beschäftigen muss, dann, bitte schön, doch wohl erst einmal mit den primären.

In diesem Buch werden Sie aber die Wandlung miterleben – und den sekundären Pflanzenstoffen künftig den gebührenden Platz einräumen. Die Bezeichnung »sekundär« haben diese Pflanzenstoffe im Übrigen der Tatsache zu verdanken, dass sie – im Gegensatz zu den primären Verwandten – für die Pflanzen nicht lebensnotwendig sind. Und was bedeutet das für uns Menschen? Lassen Sie sich überraschen.

Man kann getrost davon ausgehen, dass im Pflanzenreich mindestens 100000 verschiedene sekundäre Pflanzenstoffe zu finden sind. Und nicht alle tun uns gut. Aber die Menschheit hat auch ohne spezielle chemische Analysen und medizinische Experimente im Laufe der Evolution gelernt, dass einige dieser Substanzen hochgiftig sind. Unsere Vorfahren gingen allerdings recht pragmatisch mit diesen Erkenntnissen um: Toxische Beeren wurden einfach am Strauch gelassen. Wer gegen dieses ererbte Wissen verstieß, blieb meist als warnendes Beispiel in trauriger Erinnerung. Weitere körperliche Beschwerden wurden dadurch verhindert, dass man lernte, die betreffenden Lebensmittel zu erhitzen, weil das vielen schädlichen Stoffen gar nicht bekam, dem hungrigen Esser dafür umso mehr. Und so kam ein neuer Beruf auf – Koch!

Eine Vielzahl von Wissenschaftlern hat in den vergangenen Jahrzehnten eindrücklich bewiesen, dass es oft gerade diese sekundären Pflanzenstoffe sind, die uns gesund und munter halten. Das ist auch ihre Aufgabe in den Pflanzen, die diese Substanzen nicht für uns, sondern für sich herstellen – also »synthetisieren«. Warum, das erfahren Sie hier. Diese Stoffe schützen gegen Insekten, Bakterien, Pilze sowie gegen zu viel Sonnenlicht. Dabei werden auch zahlreiche überraschende Tricks angewandt. Wie diese uns nützen können, werden Sie bald erfahren.

Neben diesen sekundären Pflanzenstoffen warten die Lebensmittel noch mit weiteren Vorteilen auf: Vitamine, Mineralstoffe und unter anderem Ballaststoffe. Nun klingt das auch noch nicht besonders attraktiv, denn eigentlich bezeichnet man mit Ballast etwas, das wenig taugt, aber ein hohes Gewicht hat. Gerade im Hinblick auf die letzte missglückte Diät ist ja zusätzlicher Ballast etwas, das man eigentlich gar nicht brauchen kann. Bei Lebensmitteln ist das allerdings völlig anders.

Wenn man etwas tiefer in die Materie der Ernährung eintaucht, dann erkennt man schnell, dass für ein halbwegs profundes Wissen zu diesem Thema zumindest ein abgeschlossenes Chemiestudium hilfreich wäre, wimmelt es doch von Fachbegriffen wie Carotinoide, Phytosterine, Polyphenole, Glucosinolate, bioaktive Substanzen etc. pp. – jeder einzelne dieser Begriffe ist perfekt dazu geeignet, die Besucher Ihrer nächsten Party sofort in einen erholsamen Tiefschlaf zu versetzen, wenn Sie beim Fingerfood-Büfett fachmännisch darüber dozieren. Dass es aber gerade diese Zungenbrecher sind, die in der Ernährung eine große Rolle spielen, ist ein weiteres Thema dieses Buchs.

Da Chemie jetzt nicht unbedingt mein Lieblingsschulfach war und ich überdies außer dem bloßen langjährigen Verzehr von unterschiedlichem Getreide, Obst und Gemüse auf fast allen Erdteilen lebensmitteltechnologisch nicht viel zu bieten habe, suchte ich nach einem ausgewiesenen Fachmann oder einer Fachfrau. Jemand, der uns durch den Dschungel unterschiedlicher Erkenntnisse, Theorien, Empfehlungen und Fehlentwicklungen sowie weg von falschen Fährten und großen Irrtümern führen kann. Und dies auch noch so, dass wir alle das verstehen und nachvollziehen können – ohne Mikrobiologie- oder Biochemiestudium und ohne großes Latinum.

Natürlich hatte ich da gewisse Idealvorstellungen. Ein ausgewiesener Experte sollte es sein – einer, der wissenschaftliche Studien durchgeführt hat. Langjährige Erfahrung sollte er (oder sie) haben, aber auch mit den aktuellen Erkenntnissen und Entwicklungen vertraut sein. Natürlich Professor*in, aber nicht nur Theoretiker*in, sondern jemand, der mit dem Bauern in der Nachbarschaft vertraut ist und die Biokühe der Umgebung persönlich kennt, der am besten selbst einen grünen Daumen besitzt und als Ausgleich zu wissenschaftlicher Laborarbeit und Vorlesungsstress im heimatlichen Gemüsegarten selbst Hand anlegt und sät und erntet und verarbeitet und isst. Und vor allem jemand, der unabhängig ist, nicht von der Industrie oder irgendwelchen Interessengruppen bezahlt und unterstützt wird! Gibt es so jemanden? So eine Art »lebende Legende« innerhalb der weltweit forschenden Ernährungswissenschaftler?

Ja, Sie ahnen es, den gibt es: Professor Dr. rer. nat. Claus Leitzmann. Im Gegensatz zu Boris Becker, der schon mit 17 Jahren zu einer lebenden Legende wurde, weil er als jüngster Tennisspieler aller Zeiten Wimbledon gewann, müssen Ernährungswissenschaftslegenden aber mindestens 80 Jahre alt sein, um diesen Ehrentitel zu bekommen – das hohe Alter gilt letztendlich wohl auch als Beweis, dass sie mit ihren Erkenntnissen nicht völlig danebenliegen können.

Im Herbst 2013 wurde er also von der International Union of Nutritional Sciences in die Liste der lebenden Legenden aufgenommen. Diese Organisation ist eine weltweit operierende unabhängige Vereinigung nationaler Gesellschaften für Ernährung wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung.

Professor Claus Leitzmann, auf dessen Biografie wir mehrfach zurückkommen werden, hat unter anderem genau das in den USA studiert, was uns weiterhilft: Chemie, Mikrobiologie und Biochemie. Er lebte und forschte auch fünf Jahre in Thailand, bis er eine Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen übernahm. Er hat mit seinem Lebenswerk zur Gesundheit vieler Menschen beigetragen – und seine Erkenntnisse will ich mir und Ihnen zunutze machen!

In meiner Sendung Menschen der Woche habe ich mit verschiedenen Experten meist über die negativen Schlagzeilen im Gesundheitswesen sprechen müssen. Manchmal hatte es den Anschein, als würde Essen massiv der Gesundheit schaden. Da war von BSE die Rede und von der Vogelgrippe, da hörten wir von Pestiziden in Obst und Gemüse, von Dioxin in Eiern, von ekelhaftem Gammelfleisch, von Arsen in Reis, vermutlich krebserregendem Acrylamid in Pommes frites, von Antibiotika im Schweinefleisch. Horrormeldungen, die in regelmäßigen Abständen wiederkehren.

Auf der anderen Seite – gebetsmühlenartige Beschwörungen: Wer gesund bleiben will, muss einfach weniger Fleisch und Wurst essen, dafür mehr Obst und vor allem Gemüse. Gemüse ist gesund, hilft gegen Übergewicht, Diabetes Typ 2 und – glaubt man der umfangreichsten Krebsanalyse des World Cancer Research Fund – selbstverständlich auch gegen Krebs. Aber: Ist das so? Und wenn ja – welche Stoffe sind es, die uns unsere Gesundheit erhalten? Sind spezielle Gemüse- und Obstarten tatsächlich in der Lage, teure Medikamente zu ersetzen? Diese Fragen wurden in vielen Studien untersucht; es gibt zahlreiche Ergebnisse und eine Unmenge an Erkenntnissen, die nur einen fürchterlichen Nachteil haben – nämlich dass sie sich oft massiv widersprechen. Aber – wie kann das sein? Warum müssen wir mit so vielen Widersprüchen und Unklarheiten leben? Das ist eine Situation, die Journalisten gar nicht gerne haben …

Das also ist die Ausgangslage – ein Buch über die Ernährung mit harten Fakten, die man einwandfrei belegen kann, daneben auch über Einsichten, die wissenschaftlich nicht hundertprozentig gesichert sind, und über Wirkungen, die man einfach nur vermutet, ohne tatsächlich belastbare Beweise zu haben.

1
»Und sehe, dass wir nichts wissen können!«

oder
Das Dilemma der Ernährungsforschung

FRANK ELSTNER

Elstner: Elstner:Lieber Claus, gehen wir zu Beginn auf deinen persönlichen Werdegang ein. Geboren bis du 1933 …

PROF. DR. CLAUS LEITZMANN

Leitzmann: Leitzmann:… in Dahlenburg, Niedersachsen. Später zog unsere Familie nach Vögelsen, einem Dorf mit damals 240 Einwohnern bei Lüneburg, in die Nähe des Bauernhofs meiner Großeltern, auf dem wir Kinder einen großen Teil unserer Kindheit verbrachten.

Elstner: Elstner:An welche Nahrungsmittel erinnerst du dich besonders gerne?

Leitzmann: Leitzmann:Na ja, auf dem sandigen Boden waren nur Kartoffeln, Roggen und Buchweizen ertragreich, neben Honig die Grundnahrungsmittel meiner Kindheit. Mit diesen Lebensmitteln verbinden sich bis heute heimatliche Gefühle.

Elstner: Elstner:Dann kam die Schulzeit – sicher unter schwierigen Bedingungen in jenen Jahren.

Leitzmann: Leitzmann:Stimmt, meine ersten Schuljahre erlebte ich in einem Klassenraum, in dem acht Jahrgänge gleichzeitig unterrichtet wurden. Das war nur möglich mit strenger Disziplin, inklusive Rohrstockschlägen, und einem engagierten Lehrer. Drei Jahre später wechselte ich zur Mittelschule in Lüneburg – ich war immer der Jüngste in der Klasse und erlangte kurz nach meinem 16. Geburtstag die Mittlere Reife.

Elstner: Elstner:Gibt es denn noch lebhafte Erinnerungen an die Vorkriegs- und Kriegsjahre?

Leitzmann: Leitzmann:Da meine Mutter fast blind war und mein Vater im Krieg eingezogen wurde und nach dem Krieg in Gefangenschaft geriet, musste ein Großteil der Garten- und Hausarbeit – inklusive Essenszubereitung – von uns Kindern übernommen werden. Diese Erfahrungen erwiesen sich als hilfreich für meinen späteren Beruf in der Ernährungswissenschaft. Aus meiner Kindheit habe ich lebhafte Erinnerungen an die Kristallnacht in Lüneburg, den Beginn des Zweiten Weltkriegs, die Arbeit mit Kriegsgefangenen aus Polen und der Ukraine auf dem Bauernhof meiner Großeltern, die Bombenangriffe auf Hamburg und die Flüchtlingswelle aus den deutschen Ostgebieten. Diese Jahre der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit mit Entbehrungen, erheblicher Verantwortung als Kind sowie eine strenge Erziehung haben mich, wie meine ganze Generation, deutlich geprägt. Es war der Wunsch meines Vaters, dass ich eine Gärtnerlehre antreten sollte – dem konnte ich mich nicht widersetzen. Anschließend war ich fünf Jahre auf Wanderschaft in verschiedenen Gartenbaubetrieben, Baumschulen und Landschaftsgärtnereien in Bad Tölz, Hamburg, Köln und Zürich. Mein Wissen über Pflanzen hat da seinen Ursprung und war mir oft nützlich.

Elstner: Elstner:Am Wandern/Reisen/Unterwegssein scheinst du bald Geschmack gefunden zu haben. Dich hat es ja auch später häufig in die Welt hinausgezogen.

Leitzmann: Leitzmann:Ja, damals habe ich meine Reiselust entdeckt, die zu ausgedehnten Fahrradtouren mit meinem älteren Bruder nach Skandinavien, Südfrankreich und Norditalien führte. Außerdem nahm ich Kontakt mit einem entfernten Verwandten in den USA auf, um die Chance für eine Reise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten – wie es damals noch hieß – zu sondieren. Die Aussichten waren denkbar schlecht, denn aus Deutschland wollten viele Menschen auswandern, besonders die Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die ihre Heimat für immer verloren hatten. Und aus naheliegenden Gründen waren die Amerikaner auf uns Deutsche nicht besonders gut zu sprechen. Aber ich hatte Glück, die beantragten Visa für meine Verlobte und mich wurden von der amerikanischen Botschaft in Hamburg genehmigt. Kurz darauf heiratete ich meine Ille, und unsere Hochzeitsreise machten wir mit der MS Berlin ab Hamburg Richtung New York. Die Überfahrt war allerdings weniger romantisch, sie fand nämlich mangels Kapital in der billigsten Kategorie im Unterdeck statt, mit ständiger Seekrankheit meiner frisch angetrauten Frau. Nach elf Tagen erreichten wir New York. Der entfernte Onkel wohnte auch wirklich entfernt in Columbus, Ohio, im Mittleren Westen der USA. Dort sind wir dann nach 24 Stunden Zugfahrt angekommen. Vor Ort fanden wir ein günstiges Klima mit vielerlei Arbeitsmöglichkeiten vor, dazu viele freundliche und hilfsbereite Menschen.

Columbus, Ohio

Viele deutsche Auswanderer zog es nach Columbus. Bis heute gehört das German Village zu den beliebtesten Wohnvierteln der rund 860000 Einwohner zählenden Stadt. Eigentlich sollte der Ortsteil in den 1960er-Jahren abgerissen werden, was aber durch private Initiativen verhindert wurde. Zu den Highlights des Viertels gehören der Schiller-Park, das Oktoberfest und Schmidt’s Sausage House – da gibt’s dann Würstchen mit Sauerkraut!

 

Elstner: Elstner:Da hast du dann wieder als Gärtner gearbeitet?

Leitzmann: Leitzmann:Genau. Aber dann erfuhr ich von der Möglichkeit, studieren zu können. Voraussetzung für ein Collegestudium war eine Eignungsprüfung, die ich trotz meiner mäßigen Englischkenntnisse bestand. An der Capital University wollte ich Botanik studieren, aber das Fach gab es dort nicht. Also schrieb ich mich für Biologie ein. Im Laufe der Zeit verlegte sich mein Schwerpunkt in Richtung Chemie, sodass ich mein Studium mit einem Bachelor in Chemie abschloss.

Elstner: Elstner:Und womit hast du das alles finanziert?

Leitzmann: Leitzmann:Gute Frage! Wir waren ja mittellos und ohne nahe Verwandte in einem fremden Land, wir konnten uns nicht einmal eine Krankenversicherung leisten. Außerdem musste ich auch noch Studiengebühren entrichten. Während dieser Jahre am College wurden auch noch drei unserer vier Kinder geboren – du siehst: eine sehr leichtsinnige Familienplanung, denn meine Frau konnte mit drei Kindern natürlich nicht mehr arbeiten. Das Haushaltsgeld war dementsprechend knapp, aber meine Frau hat mit Kinderbetreuung ein wenig dazuverdienen können. Viele Stunden Arbeit neben dem Studium und ein zusätzliches Jahr waren erforderlich, um mein Studium erfolgreich abzuschließen. Wie so oft, wenn Männer gut vorankommen, war es auch bei mir der ungebrochene Beistand meiner Frau, der meine Karriere möglich machte. Dazu kamen glücklicherweise unsere stabile Gesundheit und der Wille zum Erfolg, gepaart mit freundlicher Unterstützung durch liebe Menschen, und eine gute Portion Glück. Nach meinem Bachelor wurde mir von der University of Minnesota ein Stipendium zur Promotion angeboten. Nach zwei Jahren erhielt ich meinen Master in Mikrobiologie, und nach drei weiteren Jahren promovierte ich in Biochemie. Danach war ich zwei Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Molekularbiologie an der University of California in Los Angeles tätig. Mein damaliger Chef, Paul Boyer, hat für seine Arbeit über die Energiesynthese der Zelle später, nämlich 1997, den Nobelpreis für Chemie erhalten.

Elstner: Elstner:Mit Nobelpreisen werden wir es sicher noch öfter zu tun haben in unserem Buch. Vielleicht hättest du ja auch noch einen bekommen, wenn du in den USA geblieben wärst. Warum hast du das Land verlassen?

Leitzmann: Leitzmann:Im Jahre 1969 bekam ich eine Einladung der Rockefeller-Stiftung, als Dozent für Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Mahidol-Universität in Bangkok, Thailand, zu arbeiten. Diese Stiftung hatte erkannt, dass Mediziner, die in westlichen Ländern studieren, selten in ihr Heimatland zurückkehren, um ihrem Land zu dienen. Die Stiftung hat nicht nur das entsprechende Gebäude erbaut und ausgestattet, sondern auch Experten aus verschiedenen Ländern berufen, um Mediziner im Land selbst auszubilden. Damals war Thailand nämlich noch ein Entwicklungsland und der Vietnamkrieg in vollem Gange. Trotzdem stimmte meine Frau zu, mit unseren vier Kindern nach Asien zu ziehen – also beruflich und privat wieder einmal eine große Herausforderung.

Die Rockefeller-Stiftung

Die Stiftung wurde 1913 von John D. Rockefeller (1839–1937) gegründet mit dem Ziel, Armut oder Krankheiten nicht durch Almosen zu lindern, sondern die Ursachen menschlicher Übel zu finden und zu bekämpfen – »to promote the well-being of mankind throughout the world«, also das Wohl der Menschheit in der ganzen Welt zu fördern. Die treibende Kraft war allerdings der Sohn des Stifters, John D. Rockefeller II. (1874–1960). Geschätztes Stiftungsvermögen heute: 3,4 Milliarden US-Dollar.

 

Elstner: Elstner:Und was war deine Aufgabe? Welche Projekte hast du vor Ort betreut?

Leitzmann: Leitzmann:Damals war beispielsweise die Ernährungssituation in den ländlichen Regionen Thailands unzureichend. Ich habe Medizinstudenten in Biochemie ausgebildet und daneben auch Vorlesungen über Krankheiten durch Nährstoffmängel gehalten, die häufig auftraten. Ein Forschungsschwerpunkt meiner Gruppe war auch die Verhütung von Blindheit, die durch Vitamin-A-Mangel entsteht.

Nach zwei Jahren in Bangkok bekam ich dann das Angebot, das Labor des Forschungszentrums für Unterernährung und Anämie in Chiang Mai in Nordthailand zu leiten. Hier wurden Kinder medizinisch versorgt, die in ihrem häuslichen Umfeld, insbesondere bei den armen und abgelegenen Bergvölkern, kaum eine Überlebenschance hatten. Das medizinische Team in diesem Zentrum behandelte schwere Fälle von Unterernährung, und wir untersuchten bestimmte Stoffwechselparameter und den Ernährungsstatus dieser Kinder. Einige der wichtigsten Ergebnisse unserer Forschung betrafen Wachstumshormone, Vitamin A, Immunparameter sowie die gefährlichen Auswirkungen einer Eisenzugabe bei unterernährten Kindern. Ja, und hier begann auch meine Karriere als Ernährungswissenschaftler.

Elstner: Elstner:Und du hattest kein Heimweh nach Deutschland?

Leitzmann: Leitzmann:Na ja, ich hatte meiner Frau vor unserer Hochzeit leichtsinnigerweise versprochen, nur für ein Jahr in die USA zu gehen. Mittlerweise waren wir schon 14 Jahre unterwegs. Trotzdem sind wir weitere drei Jahre in Thailand geblieben, diesem schönen Land mit seinen liebenswerten Menschen. Danach hatte ich Zusagen von den Universitäten in Göttingen (Mikrobiologie), Freiburg (Biochemie) und Gießen (Ernährungswissenschaft). Da ich in Thailand mein großes Interesse am Thema Ernährung entdeckt hatte, fiel die Entscheidung für Gießen, die ich nie bereut habe. Am Institut für Ernährungswissenschaft in Gießen hatte ich bis zu meiner Pensionierung 1998 den Lehrstuhl für Ernährung in Entwicklungsländern inne und konnte Studierende aus dem In- und Ausland mit den globalen Aspekten der Ernährung vertraut machen.

Justus von Liebig

Eigentlich kennt man ihn vor allem als Erfinder der Rindfleischextrakte: Justus von Liebig (1803–1873), nach dem die Universität in Gießen heute benannt ist. Gelehrt wird hier aber schon seit 1607 – und Liebig hatte noch viel mehr zu bieten als die »neue Fleischbrühe für Kranke«, wie das Produkt genannt wurde; unter anderem war er beteiligt an der Entdeckung des Chloroforms. Heute studieren 28000 Lernwillige in Gießen – von den klassischen Naturwissenschaften über Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften bis hin zu Sprach- und Kulturwissenschaften, Human- und Veterinärmedizin, Agrar-, Umwelt- und Ernährungswissenschaften sowie Lebensmittelchemie. Auch Nobelpreisträger forschten hier, beispielsweise Wilhelm Conrad Röntgen (Nobelpreis für Physik 1901) und Wangari Maathai (Friedensnobelpreis 2004).

 

Elstner: Elstner:Vielleicht ganz kurz – welche globalen Aspekte spielen dabei denn eine besondere Rolle?

Leitzmann: Leitzmann:Nicht nur die Armut und die erschreckenden Lebensbedingungen in vielen Regionen der Welt sind bedrückend, sondern vor allem auch die Tatsache, dass diese Probleme teilweise auf eine unfaire Weltwirtschaftsordnung, egoistische Politik und unseren ausufernden Lebensstil zurückzuführen sind. Es ist doch ein Armutszeugnis für die moderne Gesellschaft, dass wir es in vielen Jahrzehnten nicht geschafft haben, die Zahl der Hungernden von unvorstellbaren 800 Millionen deutlich zu reduzieren oder ganz zu beseitigen. »Geschafft« haben wir dagegen, dass die Zahl übergewichtiger Menschen weltweit dramatisch auf mehr als das Doppelte der Hungernden angestiegen ist.

Elstner: Elstner:Nun hast du zusammen mit deinen Studenten das Gießener Konzept der Vollwerternährung und der Ernährungsökologie entwickelt. Darüber werden wir am Ende reden, wenn wir die grundlegenden Fragen der Ernährung erörtert haben. Vielleicht noch ein Satz zu weiteren Positionen, die du innehattest. Welche Organisationen sind da besonders zu erwähnen?

Leitzmann: Leitzmann:Dazu zählen die UNICEF, das Bundeswirtschaftsministerium, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit sowie die Deutsche Welthungerhilfe. Des Weiteren war ich im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, im Beirat der Eden-Stiftung, der Kollath-Stiftung und der Stoll VITA Stiftung. Als Schatzmeister der Europäischen Gruppe für Ernährung und Bewegung, der Europäischen Union für Ernährungswissenschaften und der Internationalen Union der Ernährungswissenschaften habe ich dabei Projekte zum Thema Nachhaltigkeit unterstützt. Bis heute bin ich im wissenschaftlichen Beirat des Verbandes für Unabhängige Gesundheitsberatung. In Zusammenarbeit mit Kollegen haben wir in wissenschaftlichen und nichtprofessionellen Zeitschriften publiziert und über 30 Bücher über verschiedene Aspekte der Ernährung geschrieben.

Elstner: Elstner:Lieber Claus, warum ist heute eine Ernährungsform plötzlich der angesagte gesundheitliche Megatrend in Peking, Hollywood und Berlin, morgen aber bereits überholt und übermorgen plötzlich gefährlich?

Leitzmann: Leitzmann:Bei den regelmäßig auftauchenden verschiedenen Ernährungstrends handelt es sich entweder um persönliche Erfahrungen, die dem »Erfinder« irgendwie geholfen haben, oder sie wurden aus Ergebnissen einiger weniger Studien abgeleitet und verallgemeinert. Da diese Modeerscheinungen offensichtlich nicht das halten, was sie versprechen, verschwinden sie genauso schnell, wie sie gekommen sind. Dann gibt es andererseits zahllose selbst ernannte »Experten«, die besonders in den sozialen Medien, Ratgebern oder in der Boulevardpresse ihre nicht immer geprüften Ratschläge, die häufig aus sehr einseitigen Empfehlungen bestehen, anbieten – oft mit beneidenswertem Erfolg.

Elstner: Elstner:Warum ist es eigentlich so schwer, in Sachen Ernährung eindeutige Erkenntnisse zu gewinnen?

Leitzmann: Leitzmann:Die Schwierigkeit liegt in der Natur der Lebensmittel. Kennst du Ibuprofen?

Elstner: Elstner:Ein Schmerzmittel.

Leitzmann: Leitzmann:Genau. Das ist wahrscheinlich das meistverkaufte Medikament weltweit. Und der Wirkstoff ist 2-(4-Isobutylphenyl)propionsäure.

Elstner: Elstner:Klingt beeindruckend.

Leitzmann: Leitzmann:Um das Medikament und seine Wirkung zu testen, müssen wir uns also nur um die Auswirkungen dieses einen Wirkstoffs kümmern. Bei Obst und Gemüse ist das anders – so ein Gewächs kann locker mal aus Hunderten verschiedener Substanzen bestehen. Wenn man nun feststellt, dass eine bestimmte Pflanze besonders positive gesundheitliche Auswirkungen hat, weiß man daher noch lange nicht, welche der vielen Inhaltsstoffe genau diesen erwünschten Effekt hervorrufen und in welcher Menge, in welchem Verhältnis und in welcher Kombination dieser mit den anderen Stoffen stehen muss. Es ist also diese Komplexität, die genaue Schlussfolgerungen so erschwert. Sie bietet Raum für unterschiedliche und teilweise auch recht gewagte Interpretationen, und so kommt es, dass man oft genauso viele Argumente für wie gegen bestimmte Lebensmittel findet – auch abhängig davon, wie es gerade in den aktuellen oder auch persönlichen Erkenntnisstand passt. Außerdem gibt es eine besondere Schwierigkeit bei der Forschung im Ernährungsbereich, die mit der Art der Untersuchungsmethoden zusammenhängt. Die höchste Aussagekraft haben streng kontrollierte Experimente, das heißt, man verabreicht Medikamente entweder mit Wirkstoff (Nocebo) oder ohne Wirkstoff (Placebo). Bei dieser sogenannten Blindstudie weiß der Patient also nicht, ob er das echte Medikament oder das Scheinmedikament geschluckt hat.

Elstner: Elstner:Wie laufen diese Studien ab? Wie zuverlässig sind die Ergebnisse?

Leitzmann: Leitzmann:Solche kontrollierten Experimente können sichere Beweise liefern. Einfach erklärt: Du hast 100 Patienten mit einem sehr ähnlichen Krankheitsbild; 50 von ihnen bekommen ein neues Medikament, die anderen 50 bekommen ein Scheinmedikament ohne jede Wirkung. Stellt sich nun nach einer festgelegten Zeit heraus, dass es denjenigen, die das Medikament bekommen haben, deutlich besser geht, taugt das Medikament tatsächlich etwas. Geht es den Patienten nicht besser, dann taugt es eben nichts. Das kann man also recht gut herausfinden. Dann gibt es Beobachtungsstudien, die werden dann gemacht, wenn man keine Experimente durchführen kann: Mit Lebensmitteln sind Blindstudien nicht möglich, da die Versuchsteilnehmer natürlich wissen, ob sie beispielsweise eine Karotte verzehrt haben oder nicht.

Elstner: Elstner:Kannst du mir dazu ein Beispiel geben?

Leitzmann: Leitzmann:Du beobachtest eine Gruppe von Menschen, die besonders gerne rotes Fleisch essen, und eine Gruppe, die weniger davon verzehrt. Nach vielen Jahren stellst du fest, dass überdurchschnittlich viele aus der ersten Gruppe an Darmkrebs erkrankt sind, viel mehr als in der zweiten Gruppe. So – was sagt das nun aus? Naheliegend vermutet man erst einmal, dass rotes Fleisch Darmkrebs fördert. Es kann aber auch sein, dass sich die Fleischfans generell nicht besonders gesundheitsbewusst verhalten; vielleicht rauchen auch überdurchschnittlich viele von ihnen oder trinken häufiger mal Hochprozentiges – beides ebenfalls Krebsrisiken. Oder sie braten das Fleisch häufig zu scharf an; dabei bildet sich schnell ein ganzer Cocktail an Stoffen, die nachweislich Krebs erzeugen können. Also kann man nicht pauschal behaupten, rotes Fleisch führt zu Darmkrebs, aber es könnte so sein. Daten aus solchen Beobachtungsstudien ermitteln Zusammenhänge (Korrelationen); es werden keine Ursachen (Kausalitäten) aufgedeckt, bestenfalls ergeben sich Hinweise. Das wissen die Forscher natürlich, daher bearbeiten sie ihre Ergebnisse mit statistischen Methoden, damit möglichst brauchbare Empfehlungen dabei herauskommen. Wenn man nun zahlreiche Studien zu einem bestimmten Thema hat, kann man diese in sogenannte Metaanalysen zusammenfassen, die durchaus starke Hinweise liefern können. Auf deren Grundlage können dann gut überlegte vorbeugende und therapeutische Empfehlungen erarbeitet werden. Allerdings wird Essen und Trinken von zahlreichen, auch nicht immer bekannten und manchmal nur schwer messbaren Faktoren beeinflusst. Aus diesen Gründen muss die Interpretation von Beobachtungsdaten äußerst vorsichtig erfolgen.

Elstner: Elstner:Gibst du uns mal ein Beispiel für Erkenntnisse aus solchen Beobachtungsstudien?

Leitzmann: Leitzmann:Am bekanntesten ist wohl die Entdeckung, dass Menschen, die rauchen, eine größere Wahrscheinlichkeit haben, an Lungenkrebs zu erkranken, als andere – was viele erst einmal nicht glauben wollten, heute aber unumstritten ist. Dazu noch eine »überraschende« Erkenntnis.

Elstner: Elstner:Ich bin gespannt.

Leitzmann: Leitzmann:Jeder Mensch ist anders! Was für mich gilt, muss auf dich nicht unbedingt zutreffen. Was Frauen hilft, muss bei Männern nicht unbedingt dieselbe Wirkung zeigen. In gewissem Sinn ist auch jeder Mensch ein Ernährungsexperte, denn jeder weiß, wann er Hunger hat und wann er satt ist.

Elstner: Elstner:Also, ich weiß nicht immer, wann ich satt bin. Ich bemerke manchmal höchstens am strengen Blick meiner Frau, dass ich besser aufhören sollte.

Leitzmann: Leitzmann:Aber du weißt wenigstens, was dir bekommt und was du lieber nicht essen solltest. Du hörst auf die Stimme deines Körpers. Dieses innere Wissen spielt bei der Entscheidung für Essen und Trinken eine entscheidende Rolle und spiegelt sich in Ernährungsstudien wider.

Elstner: Elstner:Also liefern die Beobachtungsstudien eher Hinweise als Beweise, weil man zwar eventuelle Wirkungen nachweisen kann, aber nicht sicher sagen kann, wie diese Wirkungen letztlich zustande kommen?

Leitzmann: Leitzmann:Deswegen wird immer wieder versucht, einzelne Wirkstoffe separat zu untersuchen – nicht immer mit Erfolg. Die kanadische Regierung hat das leidvoll erfahren; sie hat Millionen investiert und versucht, aus Pflaumen genau den einen Stoff zu isolieren, der nachweisbar die Verdauung fördert. Damit sollte quasi ein »natürliches« Abführmittel gewonnen werden, ohne Chemie und ganz ohne die häufigen Nebenwirkungen wie Darmträgheit oder Bauchkrämpfe. Nach ein paar Jahren wurde der Versuch abgebrochen, denn die frustrierten Kollegen kamen zu der Erkenntnis, dass es die Kombination aus allen oder zumindest sehr vielen Wirkstoffen sein muss, die den gewünschten Effekt erzielt – nicht ein einzelner Stoff.

Elstner: Elstner:Also lässt sich abschließend wenig Verbindliches über die richtige Ernährung sagen, obwohl wir uns seit Urzeiten damit beschäftigen? Welche Herausforderungen stellt das an unser Buch? Was können wir unseren Lesern überhaupt mit gutem Gewissen empfehlen, wenn nichts sicher ist?

Leitzmann: Leitzmann:Ich würde da nicht ganz so schwarzsehen. Wir wissen inzwischen recht viel sehr genau, manches aber – und da beginnen auch die Spekulationen – vermuten wir lediglich oder halten es für wahrscheinlich. Ja, und manches wissen wir definitiv noch nicht. Was einige Leute aber nicht davon abhält, bestimmte Hinweise als Beweise zu verbreiten.

Elstner: Elstner:Hast du dafür ein Beispiel?

Leitzmann: Leitzmann:Vergleichen wir mal Statistiken aus Frankreich und den USA. Die Amerikaner haben eine um rund drei Jahre geringere Lebenserwartung als die Franzosen, obwohl diese angeblich erheblich mehr Fett konsumieren und dreimal mehr Alkohol trinken. Nehmen wir dieses Thema jetzt einmal als Beispiel für die Schwierigkeiten in der Ernährungsforschung. Für das genannte Phänomen wurde der Begriff »französisches Paradox« geprägt. Schauen wir uns mal die Umstände genauer an. Woran liegt es, dass die Franzosen länger und vielleicht auch fröhlicher leben? Eine Erklärung ist dabei die französische Lebensweise und die Vorliebe für oligomere Proanthocyanidine.

Elstner: Elstner:Das ist sicher etwas aus dem kleinen Chemiebaukasten …

Leitzmann: Leitzmann:Das sind sekundäre Pflanzenstoffe, die wir noch näher kennenlernen werden; sie sind ein Bestandteil des Rotweins. In Frankreich wird bekanntlich dauernd Rotwein getrunken, mehr jedenfalls als in den USA. Daraus wurde jetzt geschlossen, dass der Rotweinkonsum trotz des für den menschlichen Organismus giftigen Alkohols offenbar gesund sein müsse. Dies ließe zugleich den Schluss zu, dass mäßige Alkoholmengen von der Leber schadlos abgebaut werden könnten oder dass durch den gefäßerweiternden Effekt des Alkohols die Wahrscheinlichkeit bestimmter Herz-Kreislauf-Erkrankungen sinken würde. Unterstützt wurde diese Erklärung durch klinische Studien mit Polyphenolen – das sind auch sekundäre Pflanzenstoffe – wie Procyanidin und besonders Resveratrol, die in Trauben und daraus hergestelltem Wein vorkommen. Es zeigte sich, dass Resveratrol den Verlauf von gewissen Autoimmunkrankheiten, Herzkrankheiten, Arteriosklerose, der Alzheimerkrankheit sowie Arthritis vorteilhaft beeinflussen kann. Die Herzinfarkthäufigkeit in Frankreich ist dreimal geringer ist als in den USA.

Elstner: Elstner:Klingt doch gut für die Liebhaber eines gepflegten Tropfens …

Leitzmann: Leitzmann:Wenn’s beim Tropfen bleibt. Andere Experten wollen dagegen im Käse den Grund für das französische Paradox entdeckt haben, weil der relativ reich an Vitamin K2 ist. Die Franzosen essen durchschnittlich doppelt so viel Käse wie die US-Amerikaner! Obwohl Bestandteile dieser fettreichen Produkte als problematisch angesehen werden, da bestimmte Fettsäuren das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten erhöhen können. Andererseits werden wiederum gerade diese Fettsäuren von einigen Forschern für das geringere Vorkommen von Herzkrankheiten unter den Franzosen verantwortlich gemacht. Und – was denkst du, wem hat man jetzt dieses Paradox zu verdanken?

Elstner: Elstner:Vielleicht beidem zusammen, dem Wein mit dem Käse?

Leitzmann: Leitzmann:Vielleicht liegt die Ursache aber bei der Schwangerschaftsbetreuung?

Elstner: Elstner:Und wie kommst du darauf?

Leitzmann: Leitzmann:Frankreich ist bekannt für eine sehr gute Versorgung von Schwangeren vor und nach der Geburt. Und das wiederum kann vielen chronischen Erkrankungen vorbeugen, wodurch weniger Kinder sterben, was sich letztendlich auf die Lebenserwartungsstatistik positiv auswirkt – auch ohne Käse und Wein …

Elstner: Elstner:Interessante Theorie. Hast du noch mehr davon auf Lager?

Leitzmann: Leitzmann:Noch eine Erklärung: Nüsse. Franzosen essen deutlich mehr Nüsse als Amerikaner. Oder es liegt am Rauchen. 36 Prozent der Franzosen rauchen, aber »nur« 15 Prozent der Amerikaner – möglicherweise ist rauchen gesund?

Elstner: Elstner:Na ja, eher unwahrscheinlich. Und was ist deine Meinung? Immerhin bist du ja hier der Experte.

Leitzmann: Leitzmann:Es gibt überhaupt kein französisches Paradox. Die französischen Männer haben – Stand 2016 – eine Lebenserwartung von 79,2 Jahren, die deutschen von 78,3, die deutschen Frauen leben durchschnittlich 83,1 Jahre, die Französinnen immerhin 85,5 Jahre. Du siehst, bei den Frauen ist der Unterschied in der Lebenserwartung etwas größer, obwohl die eher weniger Wein trinken. Aber insgesamt liegen die Werte doch recht eng beieinander.

Elstner: Elstner:Was ist denn der Durchschnittswert?

Leitzmann: Leitzmann:In der EU liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer bei 78 Jahren und der Frauen bei 83,4 Jahren, weltweit aber nur bei 70 Jahren bei den Männern und 74,3 Jahren bei den Frauen. Auffällig auch die Zahlen für Russland, dort werden die Männer gerade mal 66,5 Jahre alt, die Frauen leben durchschnittlich aber mehr als zehn Jahre länger. Ein solches Gefälle gibt es sonst kaum. Und wenn du die Ursachen wissen willst: 40 Prozent aller Todesfälle hängen mit dem Alkoholkonsum zusammen.

Lebenserwartung

Land

Männer

Frauen

Hongkong

81,3

87,3

Japan

81

87,1

Norwegen

80,9

84,2

Italien

80,3

84,9

Spanien

80,1

85,7

Frankreich

79,2

85,5

Deutschland

78,3

83,1

USA

76,3

81,2

Russland

66,5

76,9

Zentralafrikanische Republik

50,3

54

Stand: 2016

 

 

Elstner: Elstner:Ich sehe schon – mit ein paar voreiligen knackigen Schlagzeilen kommen wir nicht wirklich weiter, was gesundes und nachhaltiges Essen und Trinken angeht.

Leitzmann: Leitzmann:Nein, weil man eben viele unterschiedliche Aspekte berücksichtigen muss. In den USA sterben viele durch Schusswaffen, durch Drogen und bei Unfällen. Außerdem steigt die Zahl der übergewichtigen Personen. Aber auch die Erfassung der Sterbefälle hat statistisch relevante Auswirkungen. In Frankreich werden nur eindeutige Herzkrankheiten als solche erfasst, in den USA ordnet man auch zweifelhafte Todesursachen eher den Herzkrankheiten zu. Unter anderem deswegen haben wir auch ein weiterführendes Konzept entwickelt, die Ernährungsökologie. Dabei benutzten wir gerne das Bild von Rubiks Zauberwürfel, den kennst du sicher. Wenn man dabei eines dieser bunten Elemente dreht, verändert man auch gleichzeitig 20 andere, die damit zusammenhängen. Wenn nun beispielweise jemand übergewichtig ist, dann folgert man schnell: Isst zu viel, bewegt sich zu wenig. Aber so einfach ist es nicht. Vielleicht essen die Betroffenen gar nicht zu viel, sondern nur das Falsche für sie. Vielleicht haben sie Stress, der sie zu Schokolade greifen lässt. Vielleicht haben sie auch durch ihre persönliche Situation – alleinerziehend, zwei Jobs etc. – gar keine Chance, ausgiebig gesund zu kochen. Vielleicht üben sie einen Beruf aus, der hauptsächlich eine sitzende Tätigkeit erfordert. Vielleicht müssen sie Medikamente nehmen, die Übergewicht begünstigen, oder eine Schwangerschaft ist schuld, die Schilddrüse funktioniert nicht richtig, oder es fehlt tatsächlich die Zeit, sich ausgiebig zu bewegen usw. Selbst frühkindliche Ereignisse können eine Rolle spielen. Wenn wir Glück haben, können wir jetzt durch eine einfache Veränderung der Ernährungsgewohnheiten viele positive Prozesse in Gang setzen, wie durch das Drehen bei dem berühmten Würfel. Du siehst, das Thema ist wirklich äußerst komplex. Sinnvoll ist deshalb eine individuell ausgerichtete Ernährungsstrategie – eine Art Maßanzug für jeden.

KURZ GEFASST

  • Ernährungstrends kommen und gehen.
  • Studien zur Ernährung ergeben meist Hinweise, selten Beweise.
  • Die gesamte Lebensweise bestimmt die Gesundheit.
  • Jeder Mensch ist ein Unikat.
  • Das französische Paradox ist keines.
  • Frauen leben im Durchschnitt länger als Männer.

 

2
Die Grundpfeiler des Essens

oder
Wie sich unsere Bedürfnisse ändern

FRANK ELSTNER

Elstner: Elstner:Eine individuelle Ernährungsstrategie ist ja nicht für alle Altersstufen gleich, sie muss doch sicher im Laufe des Lebens angepasst werden. Deswegen fangen wir mal bei den Kleinen an. Es heißt ja, dass Stillen die beste Methode ist, damit aus kleinen Rackern gesunde Kinder und Jugendliche werden. Wie lange sollte denn gestillt werden?

PROF. DR. CLAUS LEITZMANN

Leitzmann: Leitzmann:Die offiziellen Empfehlungen lauten, mindestens sechs Monate voll zu stillen. Manche Frauen wollen es auch länger, in anderen Kulturen wird das sogar mehrere Jahre praktiziert. Wenn der Säugling nicht gestillt wird oder werden kann, dann gibt’s Muttermilchersatz aus der Flasche.

Elstner: Elstner:Also können Kinder ein paar Jahre lang »Säuglinge« sein. Und ab wann können die Kleinen dann feste Nahrung zu sich nehmen?

Leitzmann: Leitzmann:Ab dem sechsten Lebensmonat fängt die Ernährung mit der Flasche an, begleitet von der ersten festen Nahrung – also erst einmal Brei. Das Verdauungssystem muss sich langsam an diese Umstellung gewöhnen und weiterentwickeln. Völlig einsatzbereit sind die Verdauungsorgane erst nach Jahren.

Elstner: Elstner:Es gibt doch sicher auch Unterschiede in der Zusammensetzung der Nahrung. Was ist kindgerechte Ernährung, und was sollte eher vermieden werden?

Leitzmann: Leitzmann:Kinder haben einen deutlich höheren Energiebedarf als Erwachsene. Dieser höhere Energiebedarf wird leider zu oft durch mehr Fett gedeckt. Dabei empfehle ich, tierische Fette eher zu meiden, denn so kann man schon früh potenziellen späteren Herz-Kreislauf-Problemen vorbeugen. Wenn die Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren zu dick werden, besteht die Gefahr, dass sie ein Leben lang übergewichtig bleiben. Und die Folgen davon kennen wir ja alle zur Genüge!

Elstner: Elstner:Wie steht es um Vitamine und Mineralien? Gibt es da auch einen höheren Bedarf? Wann muss man Defizite befürchten?

Leitzmann: Leitzmann:Bei einer ausgewogenen Ernährung muss man sich da wirklich keine Sorgen machen. Problematisch kann es allerdings für die Stubenhocker werden, die ja meist vor einem Bildschirm hängen – da kann schon mal zusätzliches Vitamin D hilfreich sein. Entschieden förderlicher wäre allerdings ein geschützter Aufenthalt an der Sonne und ordentliches Toben auf dem Spiel- oder Sportplatz!

Elstner: Elstner:Also gelten für Kinder in etwa die gleichen Empfehlungen wie für Erwachsene?

Leitzmann: Leitzmann:Ja, inklusive der unpopulären Hinweise: weniger Süßes, weniger gesüßte Getränke, weniger Salz. Und – du ahnst es sicher – weniger Fast Food.

Elstner: Elstner:Brokkoli statt Burger – das dürfte sicher zu häufigen Grundsatzdiskussionen im Elternhaus führen …

Leitzmann: Leitzmann:Es geht schon, man kann Kindern Gemüse schmackhaft machen. Am besten bietet man es einfach häufig an, viele Kinder finden doch allmählich Gefallen daran und essen etwas mehr davon. Und was Obst angeht: Bei dem großen Angebot findet sicher jeder etwas, was ihm schmeckt. Wichtig ist aber: Kinder sollten viel trinken! Sie brauchen deutlich mehr Flüssigkeit als die Erwachsenen, was auch daran liegt, dass die Nieren noch nicht voll ausgereift sind. Aber natürlich keine gesüßten Limonaden, am besten Wasser oder Kräutertees.

Elstner: Elstner:Nun gibt es ja auch spezielle Lebensmittel für Kinder. Ich könnte mir vorstellen, dass du davon nicht sonderlich begeistert bist.

Leitzmann: Leitzmann:Stimmt. Leider sind die meisten dieser Angebote – wie Kekse, Cornflakes, Brotaufstriche etc. – einfach viel zu süß. Kinder brauchen keine speziellen Lebensmittel! Man sollte damit auch nicht ihren Geschmack falsch programmieren, denn Kinder haben von Geburt an viel mehr Geschmacksknospen als Erwachsene. Deshalb schmecken sie viel intensiver, das geht teilweise bis an die Schmerzgrenze.

Elstner: Elstner:Fazit: Abwechslungsreiches Essen in der Jugend ist ausreichend. Oder gibt es noch weitere Empfehlungen?

Leitzmann: Leitzmann:Abwechslungsreiches Essen ist lebenslang erforderlich. Und da du nach weiteren Empfehlungen fragst: Es sollten alle an die Sonne gehen, damit unsere Haut Vitamin D bilden kann. Wie wichtig das ist, werden wir noch sehen.

Elstner: Elstner:Was muss man bei fortschreitendem Alter beachten?

Leitzmann: Leitzmann:Da kommt eine für viele Frauen sehr unerfreuliche Zeit: die Wechseljahre. Man bezeichnet sie auch als Klimakterium und meint damit die Jahre der hormonellen Umstellung vor und nach der Menopause, wenn die Eierstöcke ihre Produktion einstellen, die Menstruation unregelmäßig wird und schließlich ausbleibt. Die Wechseljahre können bereits mit knapp 40 Jahren oder auch erst mit Mitte 50 beginnen. Auslöser ist die kontinuierlich abnehmende Bildung des Hormons Östrogen, das in den Eierstöcken gebildet wird und den Menstruationszyklus regelt.

Elstner: Elstner:Und unter welchen Beschwerden leiden die Frauen?

Leitzmann: Leitzmann:Die häufigsten Beschwerden während der Wechseljahre sind Hitzewallungen und Schweißausbrüche, die zu Schlafstörungen und sogar zu psychischen Veränderungen führen können. Hinzu kommen zahlreiche andere Beschwerden.

Auswirkungen der Wechseljahre

Aggressivität, Antriebslosigkeit, Depressionen, Durchfall, leichteres Ermüden, Gedächtnisstörungen, Gelenkschmerzen, Gewichtszunahme, Haarausfall, verstärkter Haarwuchs im Gesicht, Harninkontinenz, trockene Haut, Herzbeschwerden, Konzentrationsschwäche, verlängerte Menstruationen, Muskelschmerzen, Nervosität, Reizbarkeit, trockene Schleimhäute, Schwindelgefühle, Verminderung des Selbstwertgefühls, Stimmungsschwankungen, erhöhte Verletzlichkeit, Verstopfung.

 

Elstner: Elstner:Und wie können wir den Betroffenen jetzt helfen? Was können sie tun, um einigermaßen entspannt durch diese Zeit zu kommen? Und dauert das wirklich »Jahre«?

Leitzmann: Leitzmann:Das dauert tatsächlich lange, es kann sogar mehr als zehn Jahre anhalten. Und die noch schlechtere Nachricht: Je früher die Beschwerden auftreten, umso länger dauern sie. Allerdings sind sie nicht immer gleich stark, das kann sehr variieren.

Elstner: Elstner:Man kann ja doch auch mit Hormonen gegensteuern, oder?

Leitzmann: Leitzmann:Das wird sehr kontrovers diskutiert. Ich würde von einer Hormonersatztherapie abraten, es sei denn, dass die Beschwerden wirklich so stark sind, dass frau ärztliche Hilfe braucht.

Elstner: Elstner: