Klüver, Henning Leonardo da Vinci für Eilige

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Vorwort

Vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci, ein Superstar in der Geschichte der Kunst und der Wissenschaften. Bis heute gibt er Rätsel auf. Warum hat er in 67 Lebensjahren nicht mehr als rund zwei Dutzend Kunstwerke geschaffen? Immer wieder tauchen Arbeiten auf, die ihm zugeschrieben werden – zuletzt die Christusdarstellung »Salvator Mundi«, die von einem saudischen Prinzen für sagenhafte 450 Millionen US-Dollar ersteigert wurde. Echt oder nicht? Viele Möchtegern-Leonardos werden gegenwärtig auf dem Kunstmarkt gehandelt. Daran ist der Meister aus dem toskanischen Ort Vinci, wo er 1452 auf die Welt kam, nicht ganz unschuldig. Er war ein Chaot, der vieles anfing, ohne es zu vollenden. Hinterlassen hat er einen total ungeordneten Berg von Notizen und Zeichnungen. Er hielt sich in Florenz auf, lange in Mailand, diente kurz auch dem Papst in Rom und zuletzt dem französischen König. In Cloux bei Amboise ereilte ihn 1519 der Tod. Leonardo arbeitete für seine Herren als Architekt und Ingenieur, als Mechaniker und Musiker, als Maler und Impressario. Als Autodidakt entwickelte er sich zum Privatforscher. Die innere Einheit der Natur wollte er ergründen. Besonders Zeichnungen waren ihm ein Mittel, das Nachdenken sichtbar zu machen. Das Staunen und Rätseln über diesen Mann wird noch lange anhalten.

Mailand, im Januar 2018

Henning Klüver

Das ist nicht Leonardo

Leonardo

Angebliches Leonardo-Portrait, Zeichnung, Turin, Biblioteca Reale[1]

 

Das alte Gesicht kann man erst einmal vergessen. Leonardo da Vinci war ein schöner Mann. Zeitgenossen beschreiben seine Anmut und seine Würde. Der Historiker Paolo Giovio hatte ihn um 1514 noch am Hof von Papst Leo X. kennengelernt: »Der Zauber von Leonardos Wesen, das Blendende seiner Anlagen, die freigebige Güte seiner Natur waren nicht geringer als seine körperliche Schönheit.« Er war ungefähr 1,68 Meter groß, hatte grüne Augen und trug einen kokett gepflegten Bart, der bis zur Brust reichte. In der frühesten zeitgenössischen Quelle, dem Anonimo Gaddiano, wird geschildert, dass er extravagante rosafarbene Umhänge trug, die nur bis zum Knie reichten, obgleich damals bodenlange Kleidung Mode war. Und Giorgio Vasari (1511–1574) berichtet, dass Leonardo »über seine nie genug gepriesene äußerliche Schönheit hinaus in all seinem Tun die Anmut schlechthin verkörperte«. Einen »wahren Engel« nannte ihn deshalb Benvenuto Cellini (1500–1571). Leonardo beeindruckte bei öffentlichen Auftritten, hielt geistreiche Reden und war ein beliebter Gesellschafter.

Und doch können wir uns heute Leonardo meist nur als alten Mann mit wirren Haaren, buschigen Augenbrauen und einem etwas melancholischen Blick vorstellen. Das Bild des außergewöhnlichen Künstlers und genialen Forschers, der tagsüber unermüdlich durch alle Wissensgebiete streifte und nachts bei Kerzenschein Leichen zu anatomischen Untersuchungen sezierte, spiegelt sich ja so kongenial in diesem angeblichen Selbstporträt wider. Das liegt auch am Mangel an Alternativen, denn von einer Profilzeichnung eines Schülers (siehe S. 125) abgesehen, ist keine Abbildung des Meisters aus Vinci verbürgt überliefert. Wenn wir uns ein wirkliches Bild dieser herausragenden Persönlichkeit machen wollen, sollten wir die in der Biblioteca Reale in Turin aufbewahrte Rötelzeichnung beiseite legen. Sie wurde erst 1810 gefunden und wird von der neueren Forschung (Kemp, Marani, Nova) ziemlich kritisch betrachtet. Das ist vermutlich nicht Leonardo.

Um zu Leonardo zu kommen, blättern wir um – in die Zeit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert.

Hier geht es drunter und drüber − Die Zeit Leonardos

Leonardo da Vinci wird 1452 in die Renaissance hineingeboren. Eine Zeit, die als kulturelles und gesellschaftliches Labor ein neues Denken entwickelt, das sich bewusst an der Antike orientiert: Renaissance bedeutet »Wiedergeburt«. In kaufmännisch geprägten italienischen Städten wie Florenz, wo Leonardo eine Lehre beginnt, oder in bürgerlichen Kreisen der Niederlande begreift man jetzt den Menschen als kreatives Einzelwesen. Die Porträtmalerei entsteht. Damit bricht die Renaissance mit der mittelalterlichen Vergangenheit, in der der Mensch sich seines Ichs weniger bewusst war. Architekten wie Filippo Brunelleschi (1377–1446), Bildhauer wie Donatello (1386–1466) und Maler wie Masaccio (1401–1428) stoßen die Tür zur Epoche auf. Die wieder erfundene Linearperspektive gibt den Kunstwerken Raumhaltigkeit und Tiefe, das Studium der Anatomie kommt der Individualität der Personen in Malerei und Skulptur zugute. Literarische Gattungen wie die Lyrik, der wissenschaftliche Traktat oder die Geschichtsschreibung werden von den Humanisten im Rückgriff auf die Antike weiter entwickelt. Herrschende Clans (wie die Medici oder die Pazzi in Florenz) wetteifern miteinander um die Macht und unterstreichen ihre gesellschaftliche Stellung mit dem Bau neuer Paläste, öffentlicher Gebäude und Kirchenbauten. Der Architekt, Maler und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti (1404–1472) verkörpert in dieser Welt wie kein Zweiter das Bild vom »Uomo Universale«, vom universell gebildeten Künstler und Wissenschaftler, das auch Leonardo in seiner Karriere vom Autodidakten zum Ingenieur, Forscher und Maler anstreben sollte.

Als Leonardo 1519 stirbt, befindet sich die Welt in der nächsten Umbruchphase. Gutenberg revolutioniert den Buchdruck. Luther löst 1517 mit der Veröffentlichung der Thesen von Wittenberg ein Erdbeben im kirchlichen Raum aus, das zur Reformation und zum Bruch der alten Ordnung führte. Der Einmarsch des französischen Königs und der Habsburger in Italien zerstört das bereits prekäre Gleichgewicht zwischen den italienischen Kleinstaaten. In Spanien werden Mauren und Juden vertrieben. Kolumbus sucht den Seeweg nach Indien – angeregt durch einen Brief des florentinischen Mathematikers und Geografen Paolo Toscanelli, der auch Leonardo unterrichtete – und findet 1492 den amerikanischen Kontinent. Und Kopernikus bestimmt die Sonne als Zentrum des Planetensystems. Die »heile« Welt der Renaissance, in der die Künstler gemeinsame, gleichsam allgemeingültige Regeln suchten und ihnen folgten, ist aufgehoben. Ab jetzt geht jeder seinen eigenen Weg, sucht sich seine eigene »Manier«. Es beginnt die Zeit des Manierismus.

Vinci 1452

Vinci ist ein kleiner Ort bei Empoli an den Ausläufern der Hügelkette des Monte Albano in der nordwestlichen Toskana rund 50 Kilometer von Florenz entfernt.

»Am 15. April, Samstag, nachts um drei Uhr [nach heutiger Zeitrechnung etwa um halb elf abends] wurde mein Enkel, Sohn des Ser Piero, meines Sohns, geboren. Er erhielt den Namen Lionardo, es taufte ihn der Pfarrer Piero di Bartolomeo aus Vinci.« Leonardos Großvater Antonio da Vinci notiert das in einem Buch, in das bereits der Urgroßvater notarielle Eintragungen gemacht hatte. Die Vorfahren aus Vinci waren wie sein Vater Ser Piero meist als Juristen tätig gewesen. »Ser« ist ein Ehrentitel, unserem Gebrauch des Wortes »Herr« zu vergleichen. Ser Piero ist zwar erst 25 Jahre alt, macht jedoch als Notar zwischen Empoli, Pistoia und Florenz früh Karriere. Die Familie gehört – nach heutigen Begriffen – der Mittelschicht an.

Der Tradition nach wählt man für Neugeborene den Namen eines Familienmitgliedes der vorangegangenen Generation. Doch der Namen Leonardo taucht unter seinen Vorfahren nicht auf. Leonardo ist ein uneheliches Kind. Ser Piero hat es mit der Bauerntochter Caterina gezeugt. In Vinci kann man heute etwas außerhalb im Ortsteil Anchiano ein Bauernhaus besichtigen, das das Geburtshaus gewesen sein soll, wofür es aber weder Beweise noch Gegenbeweise gibt. Sicher ist, dass Ser Piero noch im Jahr der Geburt Leonardos die sechzehnjährige Albiera Amadori, eine florentinische Bürgertochter, heiratet. Leonardo wächst nach der Stillzeit im Haus der Großeltern auf. Die frühe Trennung von der Mutter hat Freud und andere später zu großen psychologischen Theoriegebäuden angeregt.

Die etwa zweiundzwanzigjährige Caterina wird ein Jahr nach Leonardos Geburt mit einem jungen Mann aus einer wohlhabenden Familie von Kalkbrennern verheiratet, mit dem sie fünf Kinder bekommt. Die erste wie auch die zweite Ehe von Ser Piero bleiben dagegen kinderlos. Als ihm von seiner dritten Frau der erste eheliche Sohn geboren wird und den Namen Antonio erhält, ist Leonardo bereits 24 Jahre alt. Aus dieser und einer vierten Ehe stammen insgesamt zwölf Halbgeschwister Leonardos.

In einem seiner Arbeitshefte notiert Leonardo später, dass ein Mann, der den »Koitus mit großer Liebe durchführt«, ein »sehr intelligentes, geistreiches, lebhaftes und anmutiges Kind« zeugen werde. So wie Leonardo eben. Vielleicht zielt ja diese – ziemlich unwissenschaftliche – Bemerkung darauf, dass er selbst nicht aus einer Vernunftehe, sondern aus einer leidenschaftlichen Beziehung stammt.

Jedenfalls schämte man sich seiner Geburt nicht, wie die lange Gästeliste zur Tauffeier belegt, die sein Großvater ebenfalls im Registerbuch einträgt.

Jugend in Vinci

Wir wissen nicht viel über die Jugendzeit in Vinci. Leonardo lebt im Haus der Großeltern, in dem vermutlich auch der Vater zusammen mit seiner Frau Albiera, der Stiefmutter, wohnt. Der heranwachsende Junge bekommt keine besondere Ausbildung. Warum auch, als unehelichem Kind ist ihm ja eine Juristenkarriere wie die des Vaters versperrt. Er lernt vermutlich beim Dorfpfarrer die Grundbegriffe der Mathematik und der Grammatik. Durchaus mit Lücken, wie wir später in seinen Aufzeichnungen bemerken werden. Er spricht »Volgare«, also das Italienisch, in dem Dante seine »Göttliche Komödie« abgefasst hat. Dessen Verse sind auch in einem Haus des bürgerlichen Mittelstands zumindest durch mündliche Überlieferung bekannt.

Latein lernt der Junge nicht. Erst im Alter von über 40 Jahren beginnt er mit einem Selbststudium. Griechisch, die Sprache der Intellektuellen, bleibt ihm ganz fremd. Bücher in unserem heutigen Sinne gibt es noch kaum, Lyrik und Literatur wird er nur im Umfeld der Kirche erfahren haben. Oder auf Hochzeiten und Familienfesten mit ihren volkstümlichen Balladen und Liedern. Deshalb nennt Leonardo sich später auch einen »omo sanza lettere«, einen Mann ohne literarische Bildung. Das Leben auf einem toskanischen Bauernhof, das Beobachten der Eidechsen und Glühwürmchen haben die Vorstellungskraft des Jungen tief geprägt. Vasari erzählt, wie Leonardo auf Wunsch des Vaters einen Schild mit einem Drachen bemalt: »Zu diesem Zweck brachte Leonardo in einen der Räume, zu denen er nur selbst Zutritt hatte, zwei Arten von Eidechsen, außerdem Grillen, Schlangen, Falter, Heuschrecken, Fledermäuse und noch andere seltsame Tiere vergleichbarer Art. Aus dieser Menge nahm er verschiedene Elemente und vereinigte sie zu einem schrecklichen, grauenerregenden Ungeheuer, das mit seinen Atem Gift und Feuer spie.«

Den Dokumenten nach hat er etwa zwölf, 13 Jahre auf dem Land gelebt. Vielleicht ist er sogar erst im Alter von 16, 17 Jahren nach Florenz gezogen. Bis dahin ist ihm die Natur eine Lehrmeisterin. Sich selbst überlassen, streift er umher. Ohne Anleitung wechselt sein Interesse von einem Gegenstand zum nächsten. Vasari kommentiert: »Dadurch kam es, dass er viele Dinge zu lernen begann und sie dann wieder aufgab.« Offenbar betreibt man in der Familie Hausmusik, und der Heranwachsende, der eine außergewöhnlich schöne Stimme gehabt haben muss, übt sich im Spielen der Lyra, einem bereits in der Antike bekannten Streichinstrument – halb Harfe, halb Geige –, das auf den Knien liegend gespielt wurde.

Furcht und Verlangen − das Höhlenerlebnis

Es ist die Landschaft um Vinci herum, es sind die Felsen, die Wasserläufe, die Geröllablagerungen, welche Leonardo bildlich in sich aufnimmt. Wie unterdrückte Erinnerungen drängen sich Bruchstücke von ihr in die mondartigen Landschaften, die später den Hintergrund einiger seiner berühmtesten Bilder wie der »Felsgrottenmadonna« oder der »Mona Lisa« prägen werden. Die Natur wird ihm zum Motor der Neugier, alles in Frage zu stellen, allem auf den Grund gehen zu wollen. Wobei er sich bewusst wird, gefährliches Neuland zu betreten.

In einem Text ist ein Spaziergang durch die Umgebung von Vinci beschrieben: »Und von meinem sehnsüchtigen Verlangen gedrängt und mit dem Wunsch, die zahllose Menge der mannigfaltigen und seltsamen Formen zu sehen, welche die kunstreiche Natur hervorbringt, gelangte ich, nachdem ich schon eine Weile zwischen den dunklen Felsen umhergeirrt war, zum Eingang einer großen Höhle; ich blieb eine Zeitlang davor stehen, gebührlich staunend und ohne Kunde über sie, dann wölbte ich mein Kreuz und legte die linke Hand aufs Knie, und mit der rechten beschattete ich meine gesenkten und gerunzelten Brauen; und häufig beugte ich mich bald dahin, bald dorthin, um zu sehen, ob ich im Inneren etwas erkennen könnte; aber das blieb mir versagt wegen der großen Dunkelheit, die dort drinnen herrschte. Und nachdem ich eine Weile so verblieben war, stieg plötzlich zweierlei in mir auf: Furcht und Verlangen; Furcht vor der bedrohlichen dunklen Höhle und das Verlangen zu sehen, ob nicht etwas Wunderbares darin verborgen wäre.«

Am 5. August 1473, »am Tag der Heiligen Maria vom Schnee«, wie er auf der Vorderseite bemerkt, zeichnet der einundzwanzigjährige Leonardo das Arnotal mit Blick von den Hügeln des Monte Albano bei Vinci. Es ist die erste Arbeit von Leonardo, die überliefert ist. Sie gilt zugleich als eine der frühesten reinen Landschaftsdarstellungen überhaupt. Text und Bild sind als Naturbeschreibungen gleichsam ein Programm fürs Leben.

Arnolandschaft

Arnolandschaft, Zeichnung, 1473, Florenz, Uffizien[2]

 

Woher wir was über Leonardo wissen