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Mut zur Improvisation

Ungewöhnliche Tools für Beratung und Coaching

von Charlotte Cordes

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www.knollundpatze.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Bibliographic information published by Die Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.ddb.de.

5. Auflage 2018

© K&P Verlag, Charlotte Cordes

Geschäftsstelle: Hofbrunnstr. 78, 81477 München

Alle Rechte vorbehalten

Illustrationen, Konzeption, Layout: Lisa Höfner, München

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf Druckerei: Sowa Sp. z o.o.

ul. Hrubieszowska 6a | WARSZAWA, 01-209, Polen

ISBN 978-3-96443-640-5

Inhalt

Einleitung

Teil I: Die Grundlagen

Das Improvisationstheater

Ein wichtiger Wegbereiter

Mein Impro

Die Philosophie von Impro

Bleiben Sie locker, wenn etwas daneben geht

Spielen Sie mit Ihrem Status

Bleiben Sie im Hier und Jetzt

Seien Sie wohlwollend und inspirieren Sie andere

Einsatz in der Praxis

Teil II: Die Tools

Wichtige allgemeine Anmerkungen

Die Tools

Warm-Ups

Bleiben Sie locker, wenn etwas daneben geht

Spielen Sie mit Ihrem Status

Bleiben Sie im Hier und Jetzt

Seien Sie wohlwollend und inspirieren Sie andere

Fazit

Die Autorin

„To teach drama is really to teach social skills“
(Keith Johnstone)

Einleitung

Schuld daran ist meine Mutter. Sie war es, die 1995 das Buch von Keith Johnstone – einem DER Wegbereiter des Improvisationstheaters – geschenkt bekam. Sie war es auch, die dieses Buch 1997 endlich las, nachdem es zwei Jahre unberührt auf einem Tisch neben ihrem Bett gelegen hatte. Sie war es, die Keith Johnstone daraufhin sofort nach München holte und ein Seminar mit ihm organisierte. Und sie war es, die die ganze Familie – also auch mich – auf dieses Seminar schleppte. Seitdem bin ich süchtig, süchtig nach Impro und der Philosophie, die hinter dieser Theaterform steckt. Süchtig wie nach einer Droge. Eine Droge, die auf humorvolle Art und Weise mutig macht, so mutig, dass ich mich nicht nur seit Jahren auf die Bühne, sondern auch in die unterschiedlichsten Menschenansammlungen (Firmen, Schulen, etc.) traue, um dort die Impro-Philosophie weiterzugeben.

Für diejenigen, die nicht wissen, was Improvisationstheater ist: Im Gegensatz zu einer normalen Theateraufführung sind bei dieser Theaterform keine Inhalte einstudiert. Im Zusammenspiel zwischen Publikum und Schauspielern1 entsteht auf der Bühne ein Potpourri aus improvisierten Geschichten – Geschichten, die es vorher noch nie gab und die es in dieser Form auch nie wieder auf einer Bühne geben wird.

In der ersten Hälfte des Buches geht es um...

und

In der zweiten Hälfte des Buches bekommen Sie...

Wenn Sie – geschätzter Leser – all das nicht brauchen, weil Sie in der glücklichen Lage sind, vor nichts und niemandem Angst zu haben, dann vergessen Sie alles, was sie gerade gelesen haben. Verbrennen Sie dieses Buch, werfen Sie es in den Müll, oder schenken Sie es jemandem, der nicht schon so mutig ist wie Sie selbst. Für alle anderen gilt: Lesen Sie weiter. Lassen Sie sich von der Kunst der Improvisation verführen, und freuen Sie sich auf überraschende Wirkungen!

Teil I: Die Grundlagen

Das Improvisationstheater

Ein wichtiger Wegbereiter

Einen bedeutenden Grundstein für die meisten Formen des Improvisationstheaters, die heute weltweit auf den verschiedensten Bühnen gespielt werden, bilden die Schauspielübungen Keith Johnstones. Als er diese Übungen und Spiele in den 1960er Jahren entwickelte, war er ein bekannter Dramaturg am Royal Court Theater in London. Allerdings litt er nach eigenen Angaben unter dem zunehmenden Erfolgsdruck, der von außen an ihn gestellt wurde. Die Angst davor, nicht mehr erfolgreich zu sein, erzeugte bei ihm irgendwann so viel Stress, dass ihm gar nichts mehr einfiel. Seine Kreativität war auf dem Nullpunkt angelangt. Aus dieser „Not“ heraus begann er, Impro-Methoden zu entwickeln, mit denen er nichts anderes im Sinn hatte als seine verlorengegangene Kreativität wieder auszugraben. Das ist ihm gelungen und noch vieles mehr. Er löste eine Welle aus, die zur Folge hatte, dass immer mehr Improgruppen gegründet wurden, die immer mehr seiner Impro-Spiele auf immer mehr Bühnen mit immer mehr Erfolg spielten und bis heute spielen.

Was ist so faszinierend an Impro? Warum werden immer mehr neue Gruppen gegründet, die regelmäßig vor Publikum improvisieren, auch wenn es sich bei den Gruppenmitgliedern sehr oft nicht um ausgebildete Schauspieler handelt?

Die Antwort lautet: Die Techniken aus dem Improvisationstheater reduzieren Ängste und bewirken euphorische, energiegeladene Zustände. Denn mit Hilfe von Improvisationstheatertechniken lernen die Spieler, ihre Konzentration NICHT darauf zu richten, dass sie gerade auf der Bühne stehen und einem Publikum etwas Improvisiertes vorspielen müssen, was auch noch kreativ sein soll. Stattdessen liegt ihr Fokus auf anderen Dingen, z.B. ihren Mitspielern oder irgendwelchen Requisiten. Die Folge ist, dass gute Geschichten ganz ohne Anstrengung wie von selbst entstehen können.

Mein Impro

Keith Johnstone ist ein Riese. Ein Riese, der immer schwarz trägt. Schwarzer Pulli, schwarze Hose und riesige braune Hausschuhe. Manchmal auch riesige weiße Turnschuhe. In diesem Outfit sah ich ihn zum ersten Mal als er in den Seminarraum schlurfte. Dabei murmelte er die ganze Zeit: „Hmmm... ich weiß nicht so genau, wie ich anfangen soll ...hmmmm.... vielleicht sollte ich...hmmm... oder vielleicht ...hmmm....“ Ich war irritiert. Das sollte DER Keith Johnstone sein? Dieser Berg von einem Mann, der völlig ziellos das Seminar begann? Doch sein Gestammel nahm uns von Anfang an Druck, Druck gut sein zu müssen. Das Verwirrspiel war Taktik, eine Taktik, die sich durch das ganze Seminar zog. 20 Sekunden. So lange sollten Freiwillige Übungen vormachen. Nicht länger. Das klang machbar. Auch für Anfänger wie uns. Wir spielten eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten, vier Minuten. Dann stoppte uns Keith, holte uns von der Bühne. Überraschte Gesichter. Vier Minuten? So lange? Wir wurden mutiger. Immer mutiger. „Kennt Ihr die nächste Übung?“ fragte Keith. „Nein“. „Warum solltet Ihr dann gut darin sein?“ Das klang plausibel. Ein Freund, der sich zuvor niemals freiwillig vor Leuten präsentiert hatte, sprang nach vorne. Und er spielte Szenen. Einfach so. Ohne Angst. Er war gut. Sehr gut sogar. Er war nicht mehr zu bremsen. Wir alle nicht. Wir wollten mehr. Vergaßen das Publikum. Spielten. Wollten eine Improgruppe gründen. Wollten die Philosophie in die Welt hinaus tragen. Wollten sie als einzige Wahrheit verkünden. Wollten missionieren. Wir waren kaum zu ertragen, für Außenstehende.

Und wir gründeten eine Improgruppe. Ecstasy für Arme. Impro, die Droge, die süchtig macht und nichts kostet. Ein Name, der nachts um drei in einer WG-Küche entstanden ist, im Improwahn. Wir meinten es wirklich ernst. Unsere Freunde und unsere Familien belächelten uns. „Das geht vorbei! Die spinnen nur rum!“ Aber es ging nicht vorbei. Ein paar Wochen später traten wir zum ersten Mal vor zahlendem Publikum auf. Das Publikum bestand hauptsächlich aus unseren Freunden, die nur uns zuliebe gekommen waren. Und Sie fanden uns gut. Sie wollten sogar eine Zugabe. Wow! Wenn ich mir heute den ersten Auftritt auf Video anschaue, kann ich kaum verstehen, warum. Im Nachhinein ist das eher peinlich, was wir fabrizierten. Unbeholfene Moderationen und gestelzte Geschichten. Aber wir hatten Spaß und kannten keine Angst. Todesmutig stürzten wir uns in die Szenen. Das gefiel dem Publikum. Die Auftritte wurden regelmäßiger. Wir blieben risikofreudig, indem wir immer wieder neue Elemente in die Shows einbauten. Plötzlich hatten wir Fans, richtige Fans, nicht nur unsere uns ohnehin wohlgesonnenen Freunde. Neue Menschen, die immer wieder kamen, um UNS zu sehen, nur uns. Dann kamen Anfragen, dass andere von uns lernen wollten. Von uns, den Laien, die nur nebenher ein bisschen improvisierten. Wir überwanden unseren Schweinehund und trauten uns auch in die Industrie.

Beim ersten Managementtraining war ich 25 und wahnsinnig nervös. Vor mir saßen 20 Führungskräfte, fast alle männlich und doppelt so alt wie ich. Sie waren vom Chef zu meinem Seminar verdonnert worden. Als ich in den Seminarraum kam, musterten mich 17 Männer und drei Frauen mit verschränkten Armen und skeptischen Blicken. Blicke, die sagten: „Schon wieder so ein komisches Training und dann auch noch mit so einem jungen Huhn. Was will DIE uns bloß beibringen?“ Jetzt bloß nicht verunsichern lassen. Mutig bleiben. Hoffentlich riecht keiner meinen Angstschweiß, der mir in Bächen die Achseln herunterläuft. Ich kam mir vor wie ein Dompteur im Zirkus. Ich begann. Führte mit der Gruppe Übungen zu den vier Impro-Schwerpunkten durch („Bleiben Sie locker, wenn etwas daneben geht“, „Spielen Sie mit Ihrem Status“, „Seien Sie im Hier und Jetzt“, „Seien Sie wohlwollend und inspirieren Sie andere“) und langsam, ganz langsam entfalteten sich die Arme und glätteten sich die Stirnfalten. Puuuh. Geschafft. Ich hatte sie im Boot. Weitermachen. Immer weiter. Mut machte sich breit. Die Freiwilligen waren nicht mehr zu bremsen. Die Impro-Droge schien auch hier zu wirken. Ich war überrascht, total erleichtert und fix und fertig, aber sehr, sehr glücklich. In dieser Nacht schlief ich 15 Stunden am Stück. Die Firma kam wieder. Und andere kamen dazu und kommen immer noch. Und ich: Ich brauche weniger Schlaf; nach meinen Seminaren. Ich strotze vor Energie, so wie meine Teilnehmer. Ein gigantisches Gefühl.

Inzwischen spiele ich seit über 15 Jahren Improvisationstheater, aktuell bei der Gruppe ‚Impro Goes Loose‘ und mache fast genauso lange Trainings und Workshops mit Improelementen. Ich komme einfach nicht mehr davon los.

Die Philosophie von Impro

Impro-Geschichten, d.h. gute Bühnen-Kommunikation, kann nur entstehen, wenn die Beteiligten die folgenden angstreduzierenden Punkte beachten:

Nur, wenn Impro-Spieler diese vier Punkte berücksichtigen, wird die Bühne zu einem sicheren Ort, an dem sich die Akteure angstfrei bewegen und mit Lust Theater spielen. Die Folge ist, dass die Schauspieler risikofreudiger werden, dass ihre Kommunikation untereinander auf der Bühne fließt und dass kreative Geschichten wie von selbst entstehen können.

Techniken aus dem Improvisationstheater eignen sich deshalb hervorragend, um die Kommunikationsfähigkeit von – egal welchen – Menschen zu verbessern. Die Art und Weise, wie Improtechniken greifen, ist dabei unkonventionell, da Menschen zwar auch auf der rationalen Ebene, aber insbesondere emotional erreicht werden: Anhand von Impro-Übungen erfährt jeder einzelne am eigenen Leib, wie es ist, wenn man bei Fehlern entspannt bleibt, wenn man verschiedene Status-Ebenen ausprobiert, wenn man sich im Hier und Jetzt befindet und wenn man anderen wohlwollend und inspirierend gegenübertritt.

Bleiben Sie locker, wenn etwas daneben geht

Eine unserer größten Ängste ist die Angst davor, zu versagen, v.a. in Situationen, in denen wir unter keinen Umständen scheitern wollen (z.B. auf der Bühne, in Vorstellungsgesprächen, beim Halten einer Rede, in Gehaltsverhandlungen, beim Hauskauf oder auch bei der richtigen Partnerwahl). Da der Erfolgsdruck aber gerade in solchen Momenten extrem hoch ist, fahren wir genau dann den Karren mit großer Wahrscheinlichkeit an die Wand. Es sei denn, wir sehen uns in der Lage, humorvoll mit unseren eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten umzugehen. Dann ist die Chance groß, dass wir entspannt sind, weniger Fehler machen und wichtige Ereignisse im Leben mit Bravour meistern, NICHT nur einen Impro-Auftritt.

Als wir 1999 mit unserer Improvisationstheatergruppe „Ecstasy für Arme“ unsere ersten Auftritte hatten, beherrschten wir den Grundsatz: „Bleib locker, wenn etwas daneben geht“ theoretisch perfekt. Praktisch waren wir jedoch blutige Anfänger. Voller Ängste, verkrampft und unter Druck. Prompt gingen immer wieder Szenen komplett schief. Und wir ärgerten uns darüber. Sofort ging die nächste Szene den Bach hinunter.

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Bleiben sie locker, wenn etwas daneben geht

Um diesen Teufelskreis zu unterbrechen, kam uns folgende Idee: Bei der nächsten Szene, die schief zu gehen drohte, sagte einer von uns laut „Stop!“ zu den anderen Spielern. Diese froren sofort in ihrer Bewegung ein. Der Stop-Rufer drehte sich zum Publikum und sagte lachend (WICHTIG!): „Wollt Ihr das wirklich sehen?“ Das Publikum brüllte ebenfalls lachend: „Neiiiin! Was anderes!“ Und wir begannen eine neue Szene. Wir mussten diesen Trick danach nur noch ganz wenige Male einsetzen. Die Szenen wurden automatisch besser, da die Angst, etwas falsch zu machen, rapide abnahm. Das Publikum gibt uns auch heute noch regelmäßig das Feedback, dass sie uns deshalb besonders schätzen, weil wir über unsere eigenen Fehler lachen können (jedenfalls meistens), ohne dabei die Geschichten aus den Augen zu verlieren (auch meistens).

Solche und ähnliche Tricks funktionieren auch im Alltag. Wir müssen uns nur immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass Fehler nicht etwas fürchterlich Angsteinflößendes sind und vermieden werden sollten wie die Pest, sondern sogar notwendig, wenn wir im Leben weiterkommen wollen. Ingrid Steeger sagte in der berühmten Fernsehserie „Klimbim“ nicht umsonst: „Aus Fehlern wird man klug. Deshalb ist einer nie genug.“ Das erfordert Umdenken. Denn bereits als Kind lernen wir, dass Fehler schlecht sind. Wer Fehler macht, ist ein Versager, der es niemals zu irgend etwas bringen wird. Spätestens im Kindergarten versuchen alle gutmeinenden Menschen, die uns umgeben, unsere Talente zu fördern. Wir bekommen einen Klavierlehrer, besuchen Malkurse und müssen, äh...dürfen jede erdenkliche Sportart ausprobieren. Am besten an jedem Nachmittag. Viele Eltern achten streng darauf, dass keine Minute vergeudet wird mit Spielen oder womöglich mit Nichts-Tun. Aus uns soll doch etwas werden. Wir sollen es schließlich einmal besser haben als sie selbst. Wenn wir arme Würmer dabei vor lauter Leistungsdruck noch bis in die Pubertät hinein nachts ins Bett pinkeln, uns vor dem Schlafengehen 20x die Hände waschen und jeden Morgen vor Verlassen des Hauses den Zwang verspüren, alle Sachen in unserem Zimmer gerade zu rücken, um auch sicher zu gehen, dass sie richtig stehen, werden wir von unseren Eltern bestraft. Wir bekommen Hausarrest oder Taschengeldentzug für mindestens einen Monat, damit so etwas nicht wieder passiert. Wenn das alles nichts hilft, werden wir beim Psychotherapeuten zur Reparatur abgegeben, oder geben uns selbst dort ab. Denn Defekte sind nicht erlaubt in einem perfekten karriereorientierten Leben. So wachsen wir heran, immer mit dem Ziel vor Augen, mit 25 ein abgeschlossenes Studium inkl. Doktortitel in der Tasche zu haben, bereits einige Jahre Berufserfahrung vorzuweisen und mehrere Fremdsprachen fließend zu sprechen. Nur dann sind wir gerüstet für die Welt da draußen und erfüllen die Anforderungen, die heute in jeder Stellenanzeige aufgezählt werden. Gleichzeitig ist es natürlich wichtig, dass auch unser Privatleben fehlerfrei verläuft: Wir finden den perfekten Partner und leben eine Beziehung, in der der kommunikative Austausch an oberster Stelle steht, auf gesunde Ernährung Wert gelegt, Sport getrieben und natürlich einer Menge kreativer Hobbies nachgegangen wird. Außerdem haben wir selbstverständlich eine riesige Anzahl an Freunden, mit denen wir vieles unternehmen. Da Fehler etwas so Grauenvolles sind, müssen wir uns bestrafen, wenn sie doch einmal passieren. Auf keinen Fall dürfen wir unsere Vergehen mit Humor nehmen. Wie würde das denn aussehen? Das ist schließlich ein bitterernstes Thema.