3Was stimmt nicht mit der Demokratie?

Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa

Herausgegeben von Hanna Ketterer und Karina Becker

Suhrkamp

7Einleitung: Was stimmt nicht mit der Demokratie?

Hanna Ketterer und Karina Becker

Dass die Demokratie in der Krise sei, ist in aller Munde. Vom rechten bis zum linken Rand des politischen Spektrums, in den Medien wie im alltäglichen Gespräch auf der Straße, auf lokaler und globaler Ebene scheint ausgemacht, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt mit der Demokratie. Seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 verzeichnen populistische, in erster Linie rechtspopulistische Bewegungen und Parteien in den Zentren der kapitalistischen Produktion und im globalen Süden brisante Erfolge mit Blick auf ihre Mitgliederzahlen sowie Wähler*innenstimmen und auf Kosten historisch gewachsener »Volksparteien«. Diesen Kräften ist es zum Teil auch gelungen, sich zu parlamentarisieren und zum Taktgeber einer nationalen Innen- wie Außenpolitik zu werden, die zunehmend restriktive, autoritäre und exkludierende Züge trägt. Zudem haben wir es vielerorts, beispielsweise in Ungarn, der Türkei oder den USA, mit der Durchsetzung autokratischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse und der graduellen effektiven Ausschaltung der Gewaltenteilung zu tun sowie mit einer durch internationale Akteure wie den IMF oder die EU vorangetriebenen Austeritätspolitik, welche die Souveränität demokratisch legitimierter Macht, zum Beispiel im Fall von Syriza, mehr als in Frage stellt. Diese Entwicklungen vollziehen sich im Kontext eines entgrenzten, politisch induzierten Finanzmarktkapitalismus, der die souveränen Handlungsmöglichkeiten nationaler Politiken mehr und mehr zu beschränken scheint. Die Situation spitzt sich durch eine säkulare Stagnation zu, die sich zumindest in den frühindustrialisierten Zentren der kapitalistischen Produktion klar abzeichnet: Wo sich niedrige Wachstumsraten einstellen, stagnieren Löhne, werden Verteilungsspielräume tendenziell kleiner und wird soziale Ungleichheit größer. Hinzu kommt, dass sich diese Entwicklungen innerhalb nicht-nachhaltiger gesellschaftlicher Naturverhältnisse vollziehen und dabei ihre natürlichen und sozialen Reproduktionsbedingungen untergraben.

Handelt es sich also genuin um eine Krise der Demokratie? Oder 8anders gefragt: Inwiefern haben wir es mit einer umfassenderen Krise moderner kapitalistischer Gesellschaften zu tun? In welchem Verhältnis stehen Demokratie und Kapitalismus zueinander? Worin wurzelt jene Krise, die wir diagnostizieren, und welche Wege hin zu demokratischeren beziehungsweise sozial-ökologisch nachhaltigen Zukünften können wir beschreiten? Mit Fokus auf dem globalen Norden beziehungsweise den Zentren kapitalistischer Produktion widmet sich der vorliegende Band im Rahmen einer gesellschaftstheoretischen wie -kritischen Analyse von Demokratie diesen Fragen. Das bedeutet, den Diskurs von der Krise der Demokratie nicht affirmativ zu reproduzieren, sondern ihn im Gegenteil kritisch zu dekonstruieren und zu fragen, wer oder was in der Demokratie und warum die Demokratie in der Krise sei. Einerseits bieten wir eine tiefergehende Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen an, die den Krisensymptomen des Demokratiediskurses zugrunde liegen. Andererseits werden dadurch aber auch eine Reihe grundsätzlicher Fragen aufgeworfen, etwa die nach der Möglichkeit der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen innerhalb der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse und mittels der Verfahren und Instrumentarien der Demokratie.

Die gesellschaftstheoretische Analyse der aufgeworfenen Demokratiefragen stützt sich auf die Methode der Konstruktiven Kontroverse.[1] Diese zielt auf Innovation, Integration differenziellen Wissens und Konfliktbearbeitung. Hierfür macht sie den Dialog zum methodischen Prinzip: In der dialogischen Konfrontation entgegengesetzter Thesen zu einem Gegenstand sollen die Teilnehmer*innen der Konstruktiven Kontroverse ihre eigenen Thesen und die der anderen hinterfragen, herausfordern und möglicherweise verwerfen (Antithese). Das individuelle Erleben eines kognitiven Konflikts wird dabei als Ausgangspunkt für den individuellen wie kollektiven 9Lernprozess betrachtet, welcher über die Auslösung individueller Wissensbedürfnisse in ein besseres Verständnis der zentralen Fragestellung münden soll (Synthese).

Der vorliegende Band präsentiert eine Konstruktive Kontroverse zur Frage der Krise der Demokratie, die im dialogischen Austausch von ausgewiesenen Expert*innen in den Bereichen der Gesellschaftstheorie, Soziologie, Kapitalismuskritik und Demokratietheorie ausgetragen wurde. Den Kern des dialogischen Austauschs bildete ein eintägiger Workshop im Mai 2018 in Jena, der die im ersten Teil des vorliegenden Bandes versammelten Aufsätze von Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa zum Gegenstand hatte. Die zwei zentralen Fragestellungen der Autor*innen sind dabei: (1) Was stimmt nicht mit der Demokratie? (2) Wie lässt sich eine tragfähige Demokratie (wieder-)herstellen beziehungsweise wie wird sie wieder stimmig? Zudem wurden im Vorlauf zum Workshop zu jedem Beitrag jeweils zwei kritische Kurzkommentare von Expert*innen der Demokratietheorie verfasst, welche in die Organisation und Moderation der Tagung durch die Herausgeberinnen einflossen. Die Kontroverse in Jena, an der sich nicht nur Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, sondern auch einige Kommentator*innen und eine interessierte soziologische Öffentlichkeit beteiligten, wurde aufgezeichnet, transkribiert und findet sich in gekürzter Fassung im zweiten Teil dieses Bandes. Die Kurzkommentare von Michelle Williams und Christos Zografos zu Klaus Dörre, von Banu Bargu und Brian Milstein zu Nancy Fraser, von Viviana Asara und Ingolfur Blühdorn zu Stephan Lessenich und von Robin Celikates und Lisa Herzog zu Hartmut Rosa sind den jeweiligen Beiträgen im ersten Teil dieses Bandes direkt nachgeschaltet. Bevor wir eine selbstreflektierende Vorschau der wesentlichen Ergebnisse der Konstruktiven Kontroverse[2] geben, sollen im Folgenden die Ausgangsthesen zur Krise der Demokratie, wie sie Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa in den entsprechenden Einzelbeiträgen vorlegen, knapp dargestellt werden.

10Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Antwort in vier Thesen

Klaus Dörre stellt seinem Beitrag »Demokratie statt Kapitalismus oder: Enteignet Zuckerberg!« die Zeitdiagnose demokratischer Nichtdemokratien beziehungsweise ent-demokratisierter Demokratien voran. Aus dem Landnahmetheorem im Anschluss an Rosa Luxemburg argumentierend und einer mittleren Linie zwischen systemkonformem Reformismus und leninistischen Revolutionskonzeptionen folgend, konstatiert Dörre, dass »die demokratische Herrschaftsform auf dem Altar eines expansionistischen Kapitalismus geopfert«[3] werde. Das führt ihn zu dem Schluss, dass die Demokratie nur Bestand haben kann, wenn ihre Inhalte, Verfahren und Institutionen auf Felder und Sektoren ausgeweitet werden, die von Mitbestimmungs- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. Dies ziele auf eine Politik der substanziellen Gleichheit, die verfassungsrechtlich und institutionell verankert ist und den Anspruch einer transformativen Demokratie zum Programm macht, die nicht nur sozial restaurativ ist, sondern auch eine sozial-ökologisch transformative Wirkung zeitigt. Die transformative Demokratie rücke die Selbstregierung des demos ins Zentrum, gebe sozial-ökologischer Nachhaltigkeit Verfassungsrang und verfolge eine inklusive demokratische Klassenpolitik – zunächst auf nationalstaatlicher, perspektivisch auf EU- und internationaler Ebene. Transformativ sei sie aber vor allem aus einem Grund: Fragen nach dem Wie, Was, Wozu der Produktion würden zum Gegenstand kollektiver Aushandlungsprozesse. Mit der Infragestellung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse untergrabe die »neo-sozialistische Option« das Fundament des Kapitalismus.

Nancy Frasers Beitrag »Demokratische Krise als Krise des Kapitalismus: Jenseits des Politizismus« setzt einen Kontrapunkt zu hegemonialen demokratietheoretischen Erklärungsversuchen, welche eine Krise der Demokratie diagnostizieren und diese allein auf die Dysfunktionalitäten ihrer Institutionen und Verfahren zurückführen. Aufbauend auf den Theorieperspektiven von Karl Marx und Karl Polanyi und den Erkenntnissen der feministischen Theorie, zeigt Fraser, dass die Krise der Demokratie nur ein Strang einer 11»allgemeinen Krise« der kapitalistischen Gesellschaft ist. Jede Phase des Kapitalismus, vom staatlich organisierten Monopolkapitalismus bis zum gegenwärtigen finanzialisierten Kapitalismus, sei geprägt von einem politischen Widerspruch, der seinen Ursprung darin hat, dass die Kapitalakkumulation auf öffentliche Gewalten angewiesen ist, gleichzeitig diese jedoch ständig untergräbt und destabilisiert. So kommt Fraser zu der zweifachen Schlussfolgerung, dass die Demokratie im Kapitalismus erstens notwendig »schwach und begrenzt« sein muss. Auswege aus der demokratischen Krise erschlössen sich zweitens nicht, wenn nicht die Strukturen und Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft selbst neu gedacht würden.

Stephan Lessenichs Beitrag »Die Dialektik der Demokratie. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen im Wohlfahrtskapitalismus« problematisiert die »inhärente Dialektik der Demokratie«,[4] welche in strukturellen Be- und Entgrenzungen besteht und dem normativen Anspruch von Demokratie als »verallgemeinerte[r] Gegenseitigkeit der Anerkennung als Gleiche und Gleichberechtigte«[5] entgegenläuft. In der Tradition der Spätkapitalismustheorie nach Offe und erweitert um seine Arbeit zur Externalisierungsgesellschaft,[6] zeichnet Lessenich nach, wie die Demokratie, die sich in der Nachkriegszeit des »sozialen Kapitalismus«[7] entwickelt hat, demokratische auf soziale Teilhabe verengt. Teilhabe sei in der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie von soziokulturellen Begrenzungen kompromittiert, die sowohl entlang der vertikalen Achse als auch entlang der horizontalen Achse sozialer Herrschaftsbeziehungen verlaufen. Würden bei Ersterem Teilhaberechte von oben gegen unten verteidigt, würden bei Letzterem Teilhaberechte qua Staatsbürger*innenschaft von innen gegenüber »Nachzügler*innen und Neuankömmling*en aller Art«[8] von außen in Anschlag gebracht. Zudem verweist Lessenich auf eine sozial-ökologische Entgrenzungsdynamik, die quer zur Oben-Unten- und zur Innen-Außen-Dialektik liegt. Diese wirke 12destruktiv auf die Reproduktionsfähigkeit der Natur. Demokratie, im normativen Sinn, sei nur verwirklichbar durch die »Demokratisierung der Demokratie«.[9] Erforderlich seien »neue demokratische Subjektivitäten«,[10] die gesellschaftliche Verantwortung für progressive, inklusive und nachhaltige Geschlechter-, Natur- und Weltverhältnisse übernehmen.

Hartmut Rosa deutet in seinem Beitrag »Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung« die aktuelle Krise der Demokratie als Resonanzkrise, deren Ursache er in der dynamischen Stabilisierung moderner Gesellschaften sieht. Letztere ist die Gesellschaftsdiagnose, die in der Zusammenarbeit Rosas mit Dörre und Lessenich im Kontext des Jenaer DFG-Kollegs Postwachstumsgesellschaften entwickelt und verfolgt wurde, obgleich differierende Ausdeutungen der Diagnose stattgefunden haben. Nach Rosa konstituiert sich das demokratische Gemeinwesen nicht etwa über geteilte Werte, sondern über die Resonanzbeziehungen seiner Bürger*innen. Zu einer gelingenden Demokratie gehörten Gemeinsinn und Gemeinwohl als komplementäre wechselseitige Voraussetzungen. Mit Gemeinsinn ist dabei die Resonanzfähigkeit und -willigkeit der Bürger*innen gemeint, das heißt die individuelle Fähigkeit, die Stimme eines Anderen zu hören, zu antworten und sich dabei selbst zu verändern. Gemeinwohl werde dort verwirklicht, wo sich soziale, materiale und vertikale Resonanzachsen gegen institutionelle und strukturelle Steigerungszwänge durchsetzen. Institutionelle Ermöglichungsbedingungen der Demokratie als Resonanzsphäre sieht Rosa in Ansätzen der aleatorischen Demokratie und der Ausweitung sowie Sicherung einer intakten Sphäre des Öffentlichen mittels »bürgerschaftlicher Begegnungsräume« und starker öffentlich-rechtlicher Medien.

Ergebnisse der Kontroverse

Dass das »Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile«, wurde sehr deutlich im direkten dialogischen Austausch während des Jenaer Workshops. Obschon der Ansatz der Konstruktiven Kontroverse 13eine methodisch strengere Implementierung vorsieht,[11] ermöglichte unser Vorgehen einen Dialograum zur Klärung und Schärfung theoretisch-analytischer Differenzen und Gemeinsamkeiten gleichermaßen.[12] Im Ergebnis wurden nicht nur die einzelnen Positionen und Abgrenzungen deutlicher, sondern auch erste neue Synthesen, individuell wie kollektiv, formuliert. An dieser Stelle sei der Hinweis für die Leser*in erlaubt, dass sich die Kontroverse, die im zweiten Teil dieses Bandes abgedruckt ist, durchaus ohne Kenntnis der Einzelbeiträge von Dörre, Fraser, Lessenich und Rosa im ersten Teil des Bandes erschließt. Zugleich hoffen wir, dass die Lektüre der Kontroverse das Interesse an den Einzelbeiträgen zusätzlich weckt. Als Herausgeberinnen möchten wir betonen, dass die acht Kurzkommentare im Transkript der Kontroverse nicht in dem Maß repräsentiert werden wie die vier umfangreicheren Einzelbeiträge.[13] Sie gehen durchaus über die Debatte der vier Hauptdiskutant*innen hinaus und erhellen zentrale demokratietheoretische Diskurslinien, die ohne sie in diesem Band unterbeleuchtet wären.

Was sind also aus unserer Sicht die zentralen Ergebnisse der Konstruktiven Kontroverse um die Krise der Demokratie? In drei Punkten halten wir fest: Es besteht weitgehend Konsens, dass wir es mit einer Krise zu tun haben, jedoch weniger mit einer Krise der Demokratie als mit einer des Kapitalismus. Kontrovers ist vor allem die Frage danach, was eine gelingende demokratische Praxis auszeichnet. Sie entwickelte sich entlang der Prozesskategorien Interessenpolitik/Konflikt versus Gemeinwohlorientierung/Resonanz. Konsens ist dort zu finden, wo die Ziele einer zukünftigen 14transformativen Demokratie verhandelt wurden: die transformative Demokratie soll zur Wiedereinbettung wirtschaftlichen Handelns in die Gesellschaft führen.

Erstens, zu Diagnose und Diskurs der Krise: Rosas Diagnose der Demokratiekrise als Resonanzkrise wird in der Kontroverse stärker an ihre strukturellen Ursachen rückgebunden. Zugespitzt formuliert Rosa in der Kontroverse, dass ein struktureller Widerspruch zwischen dem Versprechen der Demokratie nach gemeinsamer Gestaltung des Gemeinwesens und dem Zwang der Kapitalakkumulation besteht. Obschon Dörre den Diskurs von der »Krise der Demokratie« aus analytischen wie normativen Gründen ablehnt, deckt seine Analyse gleichwohl eine Krise auf. Diese wurzelt aber vielmehr in der finanzmarktkapitalistischen Landnahme der repräsentativen parlamentarischen Demokratie als in der Eigenlogik demokratischer Institutionen und Verfahren. Ähnlich gelagert sind die Analysen Frasers und Lessenichs: Wo Lessenich von einem Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie spricht, sieht Fraser einen grundsätzlichen Widerspruch an der Schnittstelle von ökonomischer und politischer Sphäre und geht damit von einer grundsätzlichen Krisentendenz des Kapitalismus aus. Hier wirft Banu Bargus Kommentar ein kritisches Licht auf Frasers analytische Annahmen zur Demokratie: Wie Bargu herausstellt, geht Fraser von der Demokratie »als solcher« aus und spricht ihr dabei die Komplexität ab, die sie dem Kapitalismus in seinen historischen Ausprägungen zuschreibt. Bargu mahnt an, die Demokratie sei eine »ungleiche und differenzierte Geografie«, weshalb ein adäquates Verständnis der Krise der Demokratie nur durch die Pluralisierung des Konzepts erreicht werden kann. Des Weiteren intensiviere sich im direkten Austausch die Auseinandersetzung um die Rolle sozialer Akteure in der Krisendiagnose. Wie Brian Milsteins Kommentar in diesem Zusammenhang herausstellt, wird eine Krise erst dann zur Krise, wenn soziale Akteure wahrnehmen, dass ihre demokratischen Rechte der Selbstbestimmung in Gefahr sind und daher akuter Handlungsbedarf besteht. Das Krisenbewusstsein der Akteure sei dabei keineswegs ein Produkt des Kapitalismus, sondern vielmehr der Moderne. Milstein kommt zu dem Schluss, dass der Kapitalismus für seine Reproduktion in erster Linie auf demokratisch legitime und nicht auf effektive Gewalt angewiesen ist.

15Zweitens, zur Praxis gelingender Demokratie: Den Auftakt für einen der zentralen Kristallisationspunkte der Kontroverse macht Lisa Herzog in ihrem Kommentar zu Rosa. Sie wirft die Frage auf, inwiefern – entgegen Rosas Skepsis – eine Revitalisierung der Interessenpolitik nicht doch möglicherweise das Gebot der Stunde sei und »vielleicht sogar […] Voraussetzung für eine darüberhinausgehende Gemeinwohlorientierung?«.[14] Robin Celikates indes argumentiert, dass der von Rosa relational umgedeutete Wertekonsens republikanisch-kommunitaristischer Tradition in einer durch einen tiefen Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft »weder nötig noch zu erwarten«[15] sei. Schließlich gehen entscheidende Impulse für eine Demokratisierung der Demokratie von außerinstitutionellem Protesthandeln, von marginalisierten oder exkludierten Gruppen, auch in Form zivilen Ungehorsams, aus. Als Protagonisten des Antagonismus Interessenpolitik versus Gemeinwohlorientierung traten Dörre und Rosa während des Jenaer Workshops hervor. Durch moderierende Interventionen durch Fraser und Lessenich konnte dieser jedoch teilweise gebrochen werden und führte zu neuen Synthesen: Wo Rosa die Interessenpolitik und den Klassenantagonismus als Folge einer Fehlkonstruktion der parlamentarischen Demokratie betrachtet, welche Resonanzbeziehungen in der demokratischen Sphäre verunmöglichten, da sie auf dem Modus des »Kämpfens« anstelle des »Hörens und Antwortens«[16] beruhten, bekräftigt Dörre seine eigene Auffassung, dass die Demokratie den Konflikt voraussetze und der antagonistische Interessenkampf der Modus für die gesellschaftliche Aushandlung dessen sei, worin das Gemeinwohl substanziell bestehen soll. Wo Dörre die Argumentation Rosas einer generellen Kritik an deliberativen Demokratietheorien unterzieht, wirft Fraser die Frage nach dem spezifisch Demokratischen des »Hören und Antworten« in Rosas Analyse auf und fordert eine Reflexion des formulierten Anspruchs an die Demokratie als kollektiver Wiederaneignung der Welt.[17] Fraser weist auf den Unterschied hin zwischen einer links-hegelianischen Perspektive, welche sich mit der kapitalistischen Gesellschaft auseinandersetzt, wie sie aktuell ist, und einer 16normativen Perspektive, wie sie zukünftig sein sollte. Als Mittelposition zwischen Rosa und Dörre schlägt Fraser vor, vom »allgemeinen Interesse« anstelle von »Gemeinwohl« zu sprechen, was bei Lessenichs Versuch einer Neuinterpretation des Interessenbegriffs in Abgrenzung von herrschenden liberalökonomischen Konzeptionen als »die freie Entfaltung jedes Einzelinteresses […] [als] Bedingung für die freie Entfaltung aller Interessen«[18] auf Resonanz stößt.

Drittens, zum Ziel transformativer Demokratie: Wenngleich umstritten bleibt, welche Praktiken im Kern eine zukünftige, gelingende Demokratie ausmachen würden, finden wir doch ein großes Maß an Übereinstimmung hinsichtlich konkreter institutioneller Reformvorschläge und des Ziels einer transformativen Demokratie. Bei allen Visionen zukünftiger Demokratien – von der »Demokratisierung der Demokratie« (Lessenich) über die »transformative Demokratie« (Dörre) und die »gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens« (Rosa) bis zum »Antikapitalismus« (Fraser) – geht es im Kern um die Wiedereinbettung der kapitalistischen Wirtschaft in Gesellschaft und in demokratische Entscheidungsprozesse. Dabei geht es für Fraser auch darum, grundsätzlich das Verhältnis von politischem Gemeinwesen zu Ökonomie beziehungsweise von Reproduktion zu Produktion zu reflektieren und neu zu definieren. Für alle drei, Fraser, Dörre und Rosa, ist von entscheidender Bedeutung, dass das demokratische Gemeinwesen darüber entscheiden können soll, wie und was produziert und konsumiert und wie das Mehrprodukt verteilt werden soll. Zugleich geht es um Politiken der Existenzsicherung, die basale Existenzrechte in monetäre wie nichtmonetäre individuelle Ansprüche übersetzen, wobei deren relative Gewichtung unter den Beteiligten nicht abschließend geklärt werden konnte. Wie Michelle Williams in ihrem Kommentar zu Dörre kritisch anmerkt, sollte jede Form der demokratischen Neuorientierung der Tatsache Rechnung tragen, dass die relative Stabilität von Demokratien im Zentrum der kapitalistischen Produktion immer schon auf Nichtdemokratien in der Peripherie des Kapitalismus beruhte. Enteignung und Ausbeutung von Menschen und Natur im globalen Süden seien immer schon Voraussetzung des Wohlstands und der demokratischen Stabili17tät von Ländern des globalen Nordens gewesen. Eine Reduktion des materiellen Produktions- wie Konsumptionsniveaus sei die zwingende Folge für den globalen Norden. Mit einer ähnlich gerichteten kritischen Stoßrichtung hebt Christos Zografos in seinem Kommentar auf die Vielzahl offener Fragen ab, mit welchen Dörres Idee der EU als »sozial-ökologischer Union« konfrontiert wären: Wie genau und warum sollte die EU zur Protagonistin globaler sozial-ökologischer Rechte werden, wenn dies doch bedeutete, dass sie sich von ihrem materiellen Wohlstandsniveau verabschieden müsste? Den Herausforderungen des Transformationsprojekts angemessener erscheinen Zografos sowohl andere Akteure als auch eine andere Ebene der Transformation: internationale soziale Bewegungen sowie radikal sozial-ökologische Initiativen auf Gemeindeebene. An kritische Einwände dieser Art schließt unter anderem Lessenichs Forderung einer »neuen moralischen Ökonomie« an, in welcher globale Ungleichheitsverhältnisse kollektiv wie unter Inverantwortungsnahme derer, die Machtpositionen besetzen, bearbeitet werden müssten, sowie Frasers Plädoyer für ein Lernen vom »anderen Umweltbewusstsein« und für die Ausweitung globaler sozialer Rechte.

Die Wiederaneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts im Sinne der Wirtschaftsdemokratie bedeutete – wie Dörre auf den Punkt bringt – einen Bruch mit den gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen. Mehr noch: sie bedeutete ebenfalls einen Bruch mit den liberal-demokratischen Verhältnissen – wie Viviana Asara in ihrem Kommentar zu Lessenich argumentiert. Eine transformative Demokratie, die eine gemeinschaftlich-substanzielle Idee des Guten Lebens verfolgte, würde liberale positive Freiheiten einschränken und sich in kollektiver Selbstbegrenzung üben. Letzteres sei nicht innerhalb bestehender formal-prozeduralistischer demokratischer Verfahren realisierbar. Ebenfalls ein Bruchszenario vor Augen, jedoch ohne Aussicht auf eine tragfähigere Demokratie, stellt Ingolfur Blühdorn in seinem Kommentar zu Lessenich klar: Falls wir es tatsächlich mit einer »Dialektik der Demokratie« (Lessenich) zu tun haben, muss das Ende der Demokratie beziehungsweise ihre Aufhebung in einem neuen Projekt in Rechnung gestellt werden. Bestimmend für die Zukunft der Demokratie sei die Dynamik der Emanzipation, die ein mehrfach entgrenztes Freiheits- und Subjektivitätsverständnis verfolge, welche die Demokratie mit ihren 18inhärenten Begrenzungen »dysfunktional – kontraproduktiv und funktionsuntüchtig« –[19] mache.

Wer der Dialektik der Demokratie auf den Grund gehen möchte, darf sich auf den folgenden Seiten über einen reichen Fundus analytischen wie normativen Werkzeugs freuen. Die Leser*in wird gleichsam auf eine Vielzahl konkreter Perspektiven für die Demokratie sozial-ökologisch nachhaltigerer Gesellschaften stoßen. Diese sind auch das Produkt einer Methode, die auf die Stärken kollektiver Sozialimagination setzt und ohne die jeder gesellschaftlichen Transformation eine wichtige Inspiration fehlte.

Jena, im Februar 2019

Hanna Ketterer & Karina Becker

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