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Sara York

Pinselstriche

 

Aus dem Englischen von Florentina Hellmas

 

Impressum:

© dead soft verlag, Mettingen 2019

http://www.deadsoft.de

 

© Originalausgabe: Sara York 2017

Originaltitel: Brushstrokes

 

Übersetzung: Florentina Hellmas

 

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Andrey Kiselev – adobe.stock.com

© Alones – shutterstock.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-281-6

ISBN 978-3-96089-282-3 (epub)

Inhalt:

Julian Chambers hat die Nase voll, sein Geld in einer trashigen Go-go Bar zu verdienen. Nach der Trennung von seinem letzten Freund ist klar: Er will als Künstler selbstständig sein, endlich auf eigenen Beinen stehen.

Enrique Fitzgerald hat ein Problem mit Menschen, denn die suchen seine Nähe in erster Linie wegen seines Geldes. Genauso schwierig ist es mit seinen Dates – vor allem, da ihm jetzt klar ist, dass sein Interesse an Männern nicht nur „eine Phase“ ist.

Diese beiden unterschiedlichen Männer treffen aufeinander. Ein Feuerwerk, vom ersten Handschlag an, aber keiner der beiden weiß, wie er den ersten Schritt machen soll. Beide versuchen ihre Geheimnisse zu wahren, doch die Wahrheit drängt ans Licht. Wird ihre Anziehung stark genug sein, um sie beide zusammenzuhalten?

Dank

 

Ich möchte meinem Mann für alles danken, von Beginn an bis zu diesem Punkt.

Ich danke Thomas Fortenberry für den Titel dieser Geschichte. Ich wusste nicht, wie ich sie nennen sollte, und dein Vorschlag war perfekt.

Kapitel 1

 

 

Julians erster Pinselstrich glitt über die Leinwand wie Seide. Er atmete ein, sog die Luft tief in seine Lungen und ließ den Stress aus seinem Körper fließen. Der See glitzerte im Sonnenlicht, der Wind tanzte durch die Bäume und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. Er war zu Hause. Aber seit dem Sommer in Paris war alles anders. Die Reise hatte ihn verändert. Er hätte nie gedacht, dass das Leben so viele Möglichkeiten bereithielt.

Hinter ihm schrie jemand auf und er rollte mit den Augen. Er würde sich diesen Moment nicht ruinieren lassen. Wenn ihn die Straßen von Paris schon nicht ablenken konnten, dann auch nicht irgendein ausflippender Idiot im Park.

Aus Paris zurückzukommen, war deprimierend gewesen, aber er würde sich erholen, wenn er weiter kreativ blieb. Seine Technik hatte sich während seiner Reise verbessert. Wessen Technik würde sich nicht verbessern, wenn er in Frankreich lebt? Der Aufenthalt war perfekt gewesen, nicht nur für seine Kunst, auch für seinen inneren Frieden. Die Vergangenheit lag hinter ihm. Er war entschlossen, sich nie wieder mit jemandem herumzuschlagen, der ihn zu manipulieren versuchte.

Für die Reise hatte er all sein Geld zusammengekratzt und dort sehr billig gelebt. Seine Schwester hatte ihn auch unterstützt, aber er wollte nichts von ihrem Reichtum. Das war noch nie seine Art gewesen. Er würde eher von Ramen-Nudeln und Erdnussbuttersandwiches leben, als sie um Geld zu bitten. Seinen Stolz zu behalten, war dieses Opfer wert.

Sich auf die Zeit in Frankreich einzulassen, hatte sein Leben verändert. Er hatte vorher als Go-go-Tänzer und Kellner im Thrust arbeiten müssen, dem Lokal, in dem er auch jetzt wieder Barkeeper war. Das Go-go-Tanzen war nicht sein Ding, aber er hatte sich die Reise damit finanziert. Seit er zurück war, hatte er das Gefühl, dass das Thrust inzwischen noch schmuddeliger geworden war. Er würde bald kündigen, aber nicht bevor er es zu einem besseren Ort gemacht hatte.

Er schob die Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Pinselstriche, die auf der Leinwand eine Szenerie entstehen ließen. Alles andere waren Hintergrundgeräusche, nur das Bild war wichtig.

Gedämpfte Schritte kamen näher und eine warnende Stimme in seinem Kopf riet ihm, sich umzudrehen. Er ignorierte sie und richtete all seine Konzentration auf das Bild.

»Achtung!«, rief jemand hinter ihm.

Als Julian sich umdrehte, sah er gerade noch, wie ein großer schwarzer Hund ihn ansprang. Er schrie auf, konnte sich aber nicht bewegen. Er hatte keine Angst vor Hunden, aber dieser hatte ihn überrascht. Der Hund rannte zuerst in seine Palette, dann in seine Beine, aber er verlor nicht das Gleichgewicht. Erschrocken erstarrte Julian gerade so lange, dass der riesige Hund die Leine um seine Beine wickeln konnte.

»Woofer, nein!« Der Hundebesitzer erreichte sie und stürzte sich auf die Leine. Er bekam sie nicht zu fassen und riss Julian um.

Ihm blieb die Luft weg, als er hart auf dem Boden aufschlug. Er schloss die Augen und sein ganzer Körper schmerzte, als er versuchte Luft zu holen.

»Ist alles in Ordnung?«

Julian blickte auf und sah in kühle, graue Augen, die ihn ernst musterten. Er stöhnte und wand sich, um den Kerl wegzuschieben, aber seine Finger ertasteten feste Muskeln, und plötzlich wollte er sich gar nicht mehr so dringend bewegen. Julian durchfuhr ein Schauder, als sich der Typ auf ihm in eine andere Position brachte. Seine Bewegung machte es nur schlimmer, denn Julian hätte schwören können, dass sich sein Schwanz an dem des anderen Mannes gerieben hatte.

Die Zeit schien stillzustehen, als er dessen Gesicht betrachtete. Er hatte markante Wangenknochen wie die schönsten europäischen Skulpturen. Die Proportionen seines Gesichts waren nahezu perfekt. Julian beobachtete benommen, wie der Mann sich über seine vollen roten Lippen leckte. Verlangen schoss geradewegs in seinen Schwanz.

Scheiße, das kann ich jetzt nicht brauchen.

Julian holte tief Luft und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Der süße Duft von Zimt gemischt mit dem unverkennbaren Geruch von Mann ließ ihn noch härter werden. Er rutschte hin und her, hielt aber inne, als sich noch mehr Muskeln und noch mehr Erektion gegen ihn pressten. Der Typ war besser gebaut, als Julian zunächst gedacht hatte. Sein muskulöser Körper fühlte sich gut an und weckte den Wunsch nach mehr. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als wüsste er, was Julian dachte. Mit all seiner Willenskraft kämpfte Julian gegen seine wachsende Erektion an. Die Alarmglocken in seinem Kopf schrillten. Er konnte sich jetzt keine Affäre leisten. Nicht bei allem, was er vorhatte. Julian atmete tief durch und war wütend, dass sein Schwanz ihm diesen Streich spielte. Jetzt war nicht die richtige Zeit für Dates, und bedeutungsloser Sex war nicht sein Ding. Aber wenn der Typ noch länger auf ihm lag, könnte es seins werden.

Keine Männer mehr.

Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun der Kunst. Männer nutzten ihn nur aus und waren es nicht wert. Er legte seine Hände etwas nachdrücklicher auf die Brust des Typen und … wollte mehr. Gott, er war so ein Idiot. Er musste sich sammeln und den blöden Kerl mit seinem tollen Körper aus dem Kopf bekommen.

Der Hund lief herum und leckte abwechselnd Julian und seinen schönen Besitzer ab. Ein Speicheltropfen fiel auf Julians Wange und der Typ lachte. Dann beschloss der Hund, einem Eichhörnchen nachzulaufen.

Als Julian sich damit abmühte, sich zu befreien, bemerkte er Farbe, die durch sein Hemd sickerte. »Verdammt, sie wird mich umbringen.«

»Woofer, komm zurück!«, rief der Mann dem Hund nach und stand auf.

Julians Blick wanderte an seinen langen Beinen nach oben über seinen flachen Bauch und die breite Brust. Der Typ war sogar noch heißer, wenn er stand.

Er hob die Augenbrauen und streckte die Hand aus. »Darf ich Ihnen aufhelfen?«

Julian überlegte, ob er ihm erlauben sollte, ihn hoch und in eine weitere Umarmung zu ziehen. Er würde nicht schon wieder einem eloquenten, schönen Mann auf den Leim gehen. Der Schmerz der Vergangenheit erschwerte ihm das Atmen. Er schüttelte den Kopf und schob die angebotene Hand weg. »Ihr blöder Hund hat meine Kleidung ruiniert.« Julian stand auf, zog seinen Malerkittel aus und gab den Blick auf Hemd und Hose frei, die voller Farbflecken waren. Er war ja so am Arsch.

»Es tut mir leid. Ich kann nicht fassen, dass er Sie umgerannt hat. Lassen Sie mich Ihnen ein …«

»Das würde nichts bringen. Außerdem hat er mich nicht umgerannt, Sie haben mich zu Fall gebracht.« Frust machte sich in ihm breit. Zum Malen hierherzukommen, war eine lausige Idee gewesen. Er sah sich um und begutachtete den Schaden. Er zwang sich, den Blick von seinen versauten Klamotten zu nehmen und nach der Leinwand zu sehen, die am Boden lag.

»Wie bitte? Ich wollte nicht … Ach, vergessen Sie’s. Hören Sie, kommen Sie einfach in mein Büro und sagen Sie der …«

»Nein. Es ist zu spät. Nehmen Sie einfach Ihren Hund und gehen Sie. Oder noch besser: Ich packe mein Zeug zusammen und verschwinde.« Julian sah den schönen Mann an und holte Luft. Er wurde rot, als in seiner Fantasie Bilder davon auftauchten, wie sie in der Dusche die Farbe voneinander abwuschen. Er stellte sich vor, wie seine Hände über diese Brustmuskeln glitten, dann weiter über den Bauch und zu den farbbefleckten Shorts. Er würde sie hinunterschieben und …

Verdammt, hör endlich auf!

Julian biss sich in die Wange, um die erotischen Gedanken zu vertreiben.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Fremde und berührte seine Schulter.

»Ja«, antwortete er knapp und wich der Hand aus. Wenn dieser Mann ihn noch ein Mal berührte, würde er schmelzen, so viel Hitze strömte durch seinen Körper.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen.« Der Mann hob seine Staffelei und seine Farbpalette auf und versuchte alles zu ordnen. »Oh, und es tut mir leid wegen des …« Der Mann deutete auf den Keilrahmen.

Julian atmete langsam aus und besah sich, was einmal ein hübsches Bild gewesen war. Zumindest hatte er gedacht, dass es ein solches werden würde. Die Farbe abzukratzen und neu zu beginnen würde eine Stunde dauern. Aber so einfach wollte er es dem Kerl nicht machen. »Es wird Tage dauern, diese Leinwand sauber zu bekommen. Danke, dass Sie meinen Tag ruiniert haben.«

»Wie bitte?«, fauchte der Typ so rasch, dass seine Worte kaum zu verstehen waren.

»Ihr Hund hat mich über den Haufen gerannt. Warum haben Sie ihn nicht an der Leine?« Julian stemmte die Hände in die Hüften und sah den Fremden herausfordernd an. Dabei unterdrückte er seinen Wunsch, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Monatelang ohne Sex zu leben, war eindeutig nicht gut für ihn. Er würde jeden Moment explodieren und seine Hand konnte er auch nicht mehr viel länger kontrollieren. Er schob seine Wünsche beiseite und schüttelte den Kopf. Sich auf jemanden einzulassen, war gefährlich. Sexy Typen wie dieser Mann nahmen sich einfach, was sie wollten und wann sie wollten. Julian hatte in seiner letzten Beziehung genug Mist erlebt.

»Ich hatte ihn an der Leine, aber er ist einem Eichhörnchen nachgejagt. Es tut mir leid …«

»Das sollte es. Das war ein teures Hemd.«

»Dann sollten Sie vielleicht beim Malen keine teure Kleidung tragen. Ich komme natürlich für den Schaden auf. Mein Name ist Enrique. Fragen Sie nach mir, wenn Sie zu meinem …«

»Klar. Als ob Sie sich das leisten könnten.« Julian schüttelte den Kopf, als er Enriques abgetragenen Schuhe und seine billigen Shorts musterte.

»Ich werde bezahlen.«

Er musste sich anstrengen, um den ausgeprägten Akzent des Mannes zu verstehen.

Der Typ zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche, das von einer Spange zusammengehalten wurde, und öffnete es.

Julian trat einen Schritt zurück und fragte sich, ob er ihm die Kohle an Ort und Stelle geben würde. Er wollte sein Geld nicht. Nicht wirklich. Er war nur verärgert und versuchte gleichzeitig, seine rebellierende Lust unter Kontrolle zu bringen. Aber es kam kein Geld. Stattdessen gab ihm der Idiot eine Visitenkarte. Er hätte ihm am liebsten gesagt, dass er viele Karten bekam, die wertlos waren, aber er schwieg.

»Kommen Sie einfach in mein Büro und ich kümmere mich darum.«

Enriques Worte klangen hart und Julian trat einen weiteren Schritt zurück. Eine Erinnerung an Edward tauchte auf, sein Gesicht rot vor Zorn, seine Hand erhoben. Die Schläge hatten Schrammen und Wunden hinterlassen, deren Heilung Wochen gedauert hatte. Julian wollte so rasch wie möglich von dem Kerl weg. Der Mann war größer und seinen Muskeln nach zu urteilen auch stärker als er. Julian schnappte sich seine Sachen und warf sie in seine Tasche, während der Fremde seinen Hund suchte. Als er seine Pinsel weggepackt hatte, wischte er über die Farbe auf seinem Hemd. Es war hoffnungslos, also ging er zum Parkplatz. Er würde nach Hause fahren und sich umziehen müssen, ehe er sich mit seiner Schwester zum Mittagessen traf. Es war dumm gewesen, in diesem Hemd zu malen. Aber ihm war noch nie zu vor so etwas passiert.

Er schloss gerade das Verdeck seines alten Ford Kombis, als Enrique auf den Parkplatz gelaufen kam. Julian betrachtete die Farbtupfer auf dessen Körper und schüttelte den Kopf. Seine Brust und seine Taille bildeten das perfekte V, das Kunststudenten so gern zeichneten und malten. Ihn überkam unvermittelt das Verlangen, einen Kohlestift zu zücken und zu zeichnen. Keine Frage, Enrique war ein großartiger Anblick. Julian stellte sich vor, wie der Mann unter dem Wasserstrahl einer Dusche stand und seinen Körper wusch, während Julian ihn beobachtete. »Lieber Gott, steh mir bei.« Dabei wollte er bei dem sexy Typen sein. Aber er konnte nicht. Er hatte schon einmal genug unter einem Psychopathen gelitten, er hatte nicht die Energie, ein Risiko einzugehen.

Keine Männer. Nicht jetzt.

Enrique winkte ihm und rief ihm etwas zu, ehe er in seinen Wagen stieg. »Entschuldigen Sie, ich kenne Ihren Namen nicht.«

Julian lief zur Fahrertür und versuchte zu entkommen. Mit Enrique zu reden, war das Letzte, was er wollte. Der sexy Typ bewirkte, dass es bei Julian an Stellen kribbelte, an die er noch nicht mal denken wollte. Zu spät. Sein Schwanz regte sich schon wieder. Vielleicht konnte er so tun, als hätte er nichts gehört.

»Entschuldigung.«

Die Stimme war sanft und dunkel. Sie weckte in Julian den Wunsch, sie in seinem Schlafzimmer zu hören, wo sie ihm sagen würde, was er tun sollte. Er musste jemanden finden, bei dem er sich abreagieren konnte, denn seine Fantasie begann Amok zu laufen.

Julian drehte sich um und hatte nichts als seinen Ärger, mit dem er sich verteidigen konnte. »Brauchen sie noch etwas?« Er ballte seine Hand zur Faust, um sie nicht auszustrecken und das stoppelige Kinn des Typen zu berühren. Seine Gedanken rasten zurück zu dem Moment, als Enrique auf ihm gelegen hatte, und er musste sich zusammenreißen, um nicht zu zittern. Woofer drehte den Kopf und leckte unerwartet über Julians Hand. Julian zuckte überrascht zusammen und sah den Hund an.

»Er beißt nicht«, sagte Enrique.

»Ich habe mich nur erschrocken.«

»Es tut mir leid, aber ich habe Ihren Namen vorhin nicht mitbekommen.« Enrique zog die Augenbrauen zusammen und seine Lippen verzogen sich.

Julian sollte ihm nicht trauen. Zu viele Männer hatten ihn in der Vergangenheit schon mit ihrem erotischen Lächeln zum Narren gehalten. »Ich hatte meinen Namen nicht genannt.« Er drehte sich weg. Enrique griff nach seiner Hand. Hitze breitete sich von dem Punkt, den er berührte, aus und schoss durch Julians Arm.

Er drehte sich zurück und trat einen Schritt näher. Die Macht, die der Mann über ihn hatte, war geradezu lächerlich. Er hätte seine Hand wegziehen müssen, aber Enriques Daumen massierte seine Handfläche und jagte Schauder des Verlangens durch seinen Körper. Nichts so Simples dürfte sich so gut anfühlen, schon gar nicht bei einem Fremden.

»Schauen Sie, es tut mir wirklich leid. Ich möchte Ihre Kleidung ersetzen. Ich brauche Ihren Namen, damit ich …«

»Chris«, log er, fiel dem Mann damit ins Wort und entzog ihm seine Hand.

Enrique schnaubte. »Na, das war doch nicht so schwer, oder?«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ich muss nach Hause fahren und mich umziehen. Gehen Sie zur Seite, damit ich Sie nicht überfahre.« Julian setzte sich auf den Fahrersitz seines alten Kombis und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Der Motor heulte auf und Rauch quoll aus dem Auspuff. Enrique trat zur Seite, ehe Julian in einer Wolke aus Staub und Abgasen davonraste, während er ihn im Rückspiegel beobachtete. Er war dämlich. Das war die einzige Erklärung für sein Interesse an einem Mann, der mit Sicherheit schlecht für ihn wäre.

Kapitel 2

 

 

Enrique sah zu, wie der Kombi auf dem Kiesweg davonfuhr. »Verdammt. Woofer, Chris ist viel zu niedlich. Du musst damit aufhören, in süße Typen reinzulaufen.« Sein Hund keuchte, und für einen Moment hatte Enrique das Gefühl, Woofer würde ihn auslachen. »Ich werde mich nicht mit ihm verabreden. Und es ist mir egal, was du denkst.«

Daran, dass er die Sache mit den Verabredungen aufgegeben hatte, war seine Ex schuld. Natürlich war er mit anderen Frauen ausgegangen, als alles den Bach runtergegangen war. Jungs waren auch jetzt noch auf seinem Radar, aber keiner seiner Freunde wusste das. Manche würden seinen Wunsch nach einem Verhältnis mit einem Mann als verkorksten Rückfall nach seiner letzten Beziehung deuten. Nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Zugegeben, der Schmerz hüllte sein Herz immer noch ein, aber er kontrollierte ihn nicht und er war mit Sicherheit nicht dafür verantwortlich, dass er auf Männer stand. In Wahrheit hatte er schon immer Jungs gemocht, war aber überzeugt gewesen, dass er mit keinem zusammen sein konnte. Sein streng katholischer Vater hätte das nicht gebilligt. Sein Hauptproblem bei Dates war allerdings das Vertrauen. Jedes Mal, wenn er einem attraktiven Mann begegnete, verdarb er es, weil er ihm nicht vertrauen konnte. Eigentlich hätte er in der Lage sein müssen, sein Leben zu genießen. Aber es fiel ihm schwer, sich auf neue Begegnungen einzulassen, nachdem sein Herz und seine Seele auseinandergerissen worden waren. Alleine mit Jungs zu reden, besonders mit so hübschen wie Chris, war schon schwierig. Da er überzeugt war, ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können, fiel es ihm schwer, ihrem Interesse angemessen zu begegnen. Dieser verunglückte Zwischenfall war nur ein weiteres Beispiel dafür, wie er sich in Gegenwart attraktiver Männer verhielt. Wenn er dieses Muster nur ein Mal durchbrechen könnte, wäre das Glück vielleicht wieder auf seiner Seite. Aber selbst wenn er Glück hätte, würde er dann wieder vertrauen können?

Enrique dachte an Chris, als er versuchte, die Farbe von seinen Beinen zu entfernen. Der Mann wirkte gebildet. Seine Kleidung sagte eindeutig, dass er stinkreich sein musste. Wenn er sich nicht täuschte, was bei Herrenmode selten der Fall war, hatte Chris ein original Ermenegildo-Zegna-Hemd getragen. Das musste locker an die fünfhundert Dollar gekostet haben. Enrique schüttelte seufzend den Kopf. Ein außergewöhnlicher Mann und verdammt sexy. Chris konnte sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein. Niemals würde er zugeben, dass Woofer ihm nicht wirklich entwischt war. Es war eher der Ablenkung geschuldet, dass ihm die Leine aus der Hand gerutscht war. Alleine zum Malen da draußen auf dieser Wiese zu sein, war schon ungewöhnlich. Es war ein schöner Ausblick, aber er hatte nur Augen für Chris, seinen trainierten Körper und sein sexy Lächeln gehabt. Er seufzte noch einmal und schüttelte wieder den Kopf. Vielleicht würde Chris anrufen. Aber was sollte er dann tun? Sollte er ihn um ein Date bitten? Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn er nicht mal versuchte mit ihm auszugehen.

Enrique betrachtete seine Kleidung und schauderte, schließlich hatte er nur noch eine Stunde bis zu dem Treffen mit den deutschen Investoren. Er gab den Versuch auf, die Farbe von seinen Beinen zu wischen, und schlüpfte mit dem Wissen in seinen Porsche, dass die Farbe auf dem Sitz Flecken hinterlassen würde. Er würde den Wagen zur Innenreinigung schicken müssen. »Woofer, heute sind die Deutschen dran. Ich kann nur beten, dass sie ihr Kapital in unseren europäischen Geschäftszweig investieren. Wir brauchen eine Finanzspritze.« Woofer drehte sich und legte den Kopf auf Enriques Schoß. »Hey, pass auf, Junge, sonst hast du die Farbe an deinem Fell.« Enrique schob seinen Hund auf den Beifahrersitz und legte den Gang ein. Woofer ignorierte die Warnung und drückte den Kopf zurück auf Enriques Schoß.

Wenn sie doch nur ein paar Investoren mehr hätten, die sich mit der Richtung anfreunden konnten, in die er seine Firma lenken wollte. Als er ihre Leitung von seinem Vater übernommen hatte, hatten alle Mitglieder des Aufsichtsrats zugestimmt, dass es eine kluge Entscheidung war. Aber Enrique wusste, dass in der Geschäftswelt nicht jeder Veränderung für etwas Positives hielt. Ihre Aktien waren nach der Ankündigung gefallen, aber sie würden sich wieder erholen.

Außerhalb der Familie wussten nur wenige, dass sein Vater nicht in der Lage gewesen war, Tri-Ranger Incorporated weiter zu führen. Erst ein Krankenhausaufenthalt hatte seinen Vater dazu gebracht, zuzugeben, dass er im Alltagsbetrieb Hilfe brauchte. Enrique hätte schon ein Jahr früher zurückkommen sollen, aber er hatte Angst gehabt. Seit er wieder zu Hause war, war er Elizabeth nicht ein einziges Mal begegnet. Sie hatte ihm so viel genommen und er war immer noch verärgert, dass er es zugelassen hatte. Jake und er waren immer noch Freunde. Jake war sogar sein bester Freund. Aber das lag mehr daran, dass von Enriques Freunden nicht mehr viele übrig waren, nachdem er Jahre in Brasilien verbracht hatte. Obwohl sie immer noch befreundet waren, standen Jake und er sich nicht mehr so nahe wie früher. Das war einfach eine weitere Sache, die er durch seine Beziehung mit Elizabeth verloren hatte.

Dass er nach Hause gekommen war, um Tri-Ranger Incorporated zu leiten, bescherte ihm die unangenehme Aufgabe, Probleme lösen zu müssen, die andere verursacht hatten. Da blieb wenig Zeit für Dates. Aber vielleicht war das ja ein Segen. Er würde sich jemanden suchen müssen, der ihm half, den Druck seines Verlangens abzubauen. Aber in letzter Zeit hatte Enrique kein Glück gehabt, im Gegenteil.

Chris unter sich zu haben, hatte sich unglaublich angefühlt. Ihre Körper hatten wirklich gut zusammengepasst. Enriques Puls beschleunigte sich, als er in die Garage neben seinem Büro fuhr. Es war lange her, seit er zuletzt jemanden im Arm gehalten hatte. Der Gedanke an Chris, der nackt in seinem Bett lag, bewirkte, dass Enrique in kalten Schweiß ausbrach. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn Chris nicht anrief. Mit jemandem etwas anzufangen, wäre nur eine Ablenkung, für die er keine Zeit hatte.

Enrique sah zu Woofer. »Ich werde ihn nie wiedersehen. Merk dir meine Worte: Er wird nicht anrufen.« Woofer wedelte mit dem Schwanz und bellte. »Ist auch besser so. Ich habe für freizeitliche Aktivitäten im Moment ohnehin keine Zeit. Ich weiß, das ist eine faule Ausrede, aber es ist doch wahr. Zeit für die Arbeit, Junge. Lass uns gehen.«

Enrique ging hinein und mied den offiziellen Eingang. Er nahm den Lastenaufzug und hoffte, dass niemand ihn mit all der Farbe am Körper gesehen hatte. Er hatte genug zu tun und wollte nicht erklären müssen, was passiert war. Woofer musste gesäubert werden, also schickte er seiner Assistentin eine Nachricht und bat sie, ein Bad für ihn zu arrangieren. Für den Moment war Woofer Begleitung genug. Er brauchte weder einen Mann noch eine Frau, um sein Bett zu wärmen. Er würde sich mit seiner Hand, ein paar Pornos und vielleicht einem guten Buch begnügen müssen.

Kapitel 3

 

 

Julian hasste es, zu einem Treffen mit seiner Schwester zu spät zu kommen. Der kleine Zwischenfall hatte bewirkt, dass er nun etwa zehn Minuten hinter seinem Zeitplan herhinkte. Nach einer schnellen Dusche zog er sich an und war auch schon wieder aus der Tür. Warum hatte seine Schwester zum Mittagessen nicht einen Sandwichladen auswählen können? Warum musste es das Mansion am Turtle Creek sein? Seine Schwester wusste sehr gut, dass er Restaurants bevorzugte, in denen Jeans und T-Shirt den Dresscode erfüllten, und nicht noble Lokale, in denen die Kellner bessere Kleidung trugen als er überhaupt besaß.

Er hielt vor dem Restaurant und sah die Angestellten, die sich um die Autos der Gäste kümmerten. Sein alter Kombi würde unter all den Audis und Mercedes fehl am Platz aussehen. Er kam nicht umhin, den erleichterten Ausdruck des Portiers zu sehen, als er weiterfuhr und abseits parkte. Er liebte seinen Kombi, trotz der großen Rostflecke. Aber nicht jeder wusste einen alten Ford zu schätzen, dessen Motor nicht schnurrte, sondern hustete.

Er ging hinein und sagte der Frau am Empfang, dass er mit seiner Schwester verabredet war. Sie besah sich sein Hemd, und er hätte schwören können, dass sie die Nase rümpfte. Er würde sich nicht entschuldigen, da er ordentliche Kleidung trug.

»Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, sagte Julian, als er sich hinunterbeugte und Nancy auf die Wange küsste.

»Ich habe auch nicht erwartet, dass du pünktlich erscheinst, deshalb habe ich dich fünfzehn Minuten vor der Reservierung herbestellt.«, sagte Nancy mit einem süffisanten Grinsen.

»Ist nicht dein Ernst.« Die Unterstellung seiner Schwester ärgerte ihn.

»Doch. Wie geht es Bill?«

Er rollte mit den Augen. »Ich hatte nicht mal eine Verabredung mit ihm. Er ist weg.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er ist ein netter Typ. Du hättest ihm eine Chance geben können.«

»Nein danke. Ich verabrede mich nicht mit Typen, mit denen du mich verkuppeln willst. Aber egal, ich will ohnehin niemanden kennenlernen.«

»Du hast mir nie alles erzählt, immer nur Bruchstücke.«

»Lass es gut sein.«

Nancys Lippen wurden schmal und sie nahm einen Schluck Wasser. »Was macht der Job?«

Er zuckte mit den Schultern, wohlwissend, dass er dazu nicht viel sagen konnte. Nancy hasste seinen Arbeitsplatz. »Es ist übel, aber mir geht es gut.«

Ihre Lippen wurden noch schmaler. Das war ein Streitpunkt zwischen ihnen. Sie wollte, dass er sich eine andere Arbeit suchte, und das würde er auch, nur nicht sofort.

»Sag mir, dass es wenigstens mit der Malerei gut läuft.«

Er schüttelte den Kopf und dachte an das Erlebnis, das er am Morgen gehabt hatte. »Das willst du nicht wissen.« In weniger als einer Minute hatte Nancy alle drei Lebensbereiche angesprochen, die Julian als besonders unerfüllt empfand. Er liebte seine Schwester, aber aus irgendeinem Grund meinte seine Familie, sie hätte das Recht, jeden Aspekt seines Lebens zu sezieren und jede seiner Handlungen so übertrieben zu analysieren, dass er sich wie ein Versager fühlte.

»Eigentlich will ich es schon wissen. Alle anderen setzen dir immer zu, dass du dir einen guten Job suchen und dir eine nette junge Frau suchen sollst.«

Er rollte schnaubend mit den Augen. Jeder in seiner Familie wusste, dass er schwul war, und an seiner Sexualität würde sich auch nichts ändern. Dennoch bestanden sie darauf, dass er sich eine Freundin suchte. »Oh bitte, sag mir nicht, dass du …«

Nancy hob die Hand. »Ich bin nicht ihrer Meinung. Du solltest dich auf deine Kunst konzentrieren. Mom meinte erst letzte Woche, dass ich dich dazu drängen soll, deine ›kleinen Kunstprojekte‹, wie sie sie nennt, aufzugeben und dich zu etablieren. Sie ist entsetzt, dass du ein Diplom in Kunst hast. Sie nimmt dir immer noch übel, dass du nicht Anwalt oder Arzt geworden bist. Aber das wäre ein schrecklicher Fehler gewesen.«

Er hob die Augenbrauen. »Arzt zu werden?«

»Nein, die Kunst aufzugeben. Male, solange du noch jung bist und keine Kinder hast, die durchs Haus rennen und die Farbe auf dem Boden verteilen.«

Julian rollte wieder mit den Augen, denn obwohl Nancy wusste, dass er schwul war, tat sie immer noch so, als wollte er zwei Kinder und das ganze Zeug. Nie hörte einer zu, was er wollte. Zum Teufel, nicht mal er wusste, was er im Leben wollte. Aber er wusste zumindest, dass er seine eigenen Entscheidungen treffen wollte. »Damit das passiert, brauche ich keine Kinder«, murmelte Julian, als Nancy die Speisekarte studierte. Er war immer noch verärgert über den Jogger, dessen Hund seine Kleidung und sein Bild ruiniert hatte.

»Was meinst du?« Nancy legte ihre Karte beiseite und starrte ihn durchdringend an.

Julian war mit diesem Blick aufgewachsen, den seine Mutter ebenfalls gern aufgesetzt hatte. Nancy hatte diese Angewohnheit übernommen. Vielleicht war es auch eine ererbte Fähigkeit, die zum Vorschein gekommen war, nachdem sie ihre Kinder bekommen hatte.

»Möchten Sie Wein zum Essen?« Die Frage unterbrach den Blickkontakt und verschaffte ihm ein paar Sekunden Pause.

»Chardonnay, Julian?«

»Ja, das wäre nett.« Er vertiefte sich in die Speisekarte und versuchte von der Farbe abzulenken, damit er nicht zugeben musste, das Hemd ruiniert zu haben, das Nancy ihm geschickt hatte.

Der Kellner ging und Nancy fixierte ihn wieder. »Julian, was hast du gemeint, als du sagtest, dass du keine Kinder brauchst, damit so etwas passiert?«

»Du würdest mir nicht glauben, wenn ich es dir erzähle.« Julian lehnte sich zurück, nahm einen ausgiebigen Schluck Wasser und betrachtete seine Schwester über den Rand des Glases hinweg. Ihr Gesicht wirkte, als wäre es aus feinstem Porzellan. Sie sah umwerfend aus. Nancy war fünfzehn Jahre älter als er, darum hatten sie sich in seiner Kindheit nicht so nahegestanden. Er hatte sie öfter heimlich gemalt und versucht, sie in einem perfekten Licht einzufangen. Unter ihre heitere Gelassenheit mischte sich zuweilen ein harter Zug. Er bezweifelte, dass es ihr angenehm war, wenn er diese Seite darstellte, also hatte er ihr nie eines seiner Bilder gezeigt.

»Wetten, doch? Ich vermute mal, es hat etwas damit zu tun, dass du dieses furchtbare Kaufhaushemd trägst und nicht das, was ich dir geschickt habe.« Nancy deutete mit einem ihrer tadellos manikürten Finger auf sein Hemd.

Er nickte. »Ja, hat es. Ich habe heute Morgen am White Rock Lake gemalt und …«

»Oh nein, sag es nicht«, stöhnte Nancy. Ein Hauch von Ärger überschattete ihr Gesicht und ließ es noch ein wenig härter aussehen. Sie hob das Weinglas, das der Kellner gerade vor sie gestellt hatte, und nahm einen großen Schluck, um zu überspielen, wie aufgebracht sie war. Das war ein weiterer Trick, den auch ihre Mutter angewendet hatte, wenn sie verärgert war. Allerdings hatte ihre Mutter statt exklusivem Wein billigen Whiskey benutzt. Auch betrank Nancy sich nie bis zur Besinnungslosigkeit, im Gegensatz zu ihrer Mutter, die öfter nicht ansprechbar gewesen war, als Julian zählen konnte.

»Nun, da war dieser Jogger und der hatte einen Hund.« Julian zog den Kopf ein, während er sprach. Er wollte Nancy nicht in die Augen sehen, denn er rechnete damit, dass sie ihn anfahren würde. Das konnte sie nämlich gut.

»Gibt es in Dallas nicht ein Gesetz, dass Leinen verpflichtend sind?« Nancys hatte die Stimme leicht erhoben.

»Ja, aber er behauptete, der Hund habe sich losgerissen. Er hat mich umgerannt. Er war übrigens wirklich hübsch«, fügte er an und hoffte, seine Schwester damit ablenken zu können.

»Der Hund?« Nancy sah verwirrt aus.

»Nein, Dummerchen, der Jogger. Wie auch immer, die Leine hatte sich um meine Beine gewickelt und als der Jogger den Hund festhalten wollte, verfehlte er sie und landete auf mir.«

»Oh nein, sag nicht, du hast das Shirt getragen.« Nancy stellte das Weinglas ab und verschränkte die Hände in ihrem Schoß.

»Ja, habe ich.« Julian zuckte zusammen, als er Nancys Ausdruck sah. Es war ein wirklich schönes Hemd gewesen und der Unfall tat ihm sehr leid, aber es hatte einen Grund, warum er keine teure Kleidung kaufte.

Nancy schüttelte den Kopf. »Ich glaub es nicht.«

»Bitte sag mir, dass du es vergünstigt oder aus zweiter Hand bekommen hast«, fügte Julian rasch hinzu und hoffte, dass sie nicht allzu zornig war.

Sie seufzte. »Ja, es war von einem meiner Freunde. Er hatte es im Fernsehen getragen und wollte nicht, dass die Presse ihn noch einmal darin sah. Es war zu auffällig.«

»Es hat an mir ein bisschen groß gewirkt.«

»An dir wirkt alles ein bisschen groß«, spöttelte sie und nahm noch einen Schluck Wein.

Julian nahm die spitze Bemerkung hin. Er war klein. Wäre er eine Frau gewesen, hätte man ihn als zierlich bezeichnet. So galt er als mickrig. Der Typ, der auf seiner Geburtsurkunde stand, war ein Bär von einem Mann gewesen. Jeder in der Familie fand es seltsam, dass er so klein geraten war. Wäre sein Vater noch am Leben, hätte er Fragen gestellt, aber er war vor langer Zeit gestorben. Vielleicht hatte seine Mutter den falschen Vater angegeben. Es war nicht mehr wichtig. Der Vater ihres Bruders war der Einzige, mit dem sie je zu tun gehabt hatten. Als sie Kinder waren, hatte das zu Spannungen geführt. Nun waren sie alle erwachsen und es spielte keine große Rolle mehr. Seine Mutter hielt es nie lange mit einem Mann aus, vor allem deshalb, weil sie sich immer Typen suchte, die tranken und gewalttätig waren. Er war klein genug gewesen, um schneller zu rennen als die meisten der Kerle, aber er hatte trotzdem gelegentlich etwas abbekommen.

Nancy leerte ihr erstes Glas Wein und redete wie ein Wasserfall. »Es gibt tatsächlich Leute, die uns schreiben und sich beschweren, wenn wir Dinge öfter als einmal tragen. Ihm geht es auch so. Fremde Leute raten mir ernsthaft, ich solle mehr einkaufen. Ich und mehr einkaufen! Kannst du dir das vorstellen?« Ihr Lachen klang ein wenig wie Moms, wenn sie betrunken gewesen war. Nancy hörte für gewöhnlich auf, bevor sie dicht war. Vielleicht machte ihr die Sache mit dem Hemd doch mehr aus, als sie sich anmerken ließ.

»Nein, das ist wohl kaum möglich.«

»Wie meinst du das?« Sie hatte wieder diesen Blick.

»Nichts. Aber du wurdest wirklich zum Shoppen geboren.« Julian griff über den Tisch und drückte ihre Hand, um die Worte zu mildern.

»Nun denn, was ist mit dem Mann mit Hund? Hast du seine Nummer? Vom Mann, nicht vom Hund.« Sie lachte wieder. Nancy war in ihrem Element. Sie managte Hunderte junge Models und brachte ihnen bei, wie sie Karriere machen konnten und mit wem sie arbeiten sollten. Zusammen mit den beruflichen Ratschlägen verbreitete sie auch gerne ihre Weisheiten über Beziehungen. Sie spezialisierte sich darauf, wie man den richtigen Mann angelte. Ihr selbst war das in ihrer Jugend nämlich gelungen.

»Ich habe seine Nummer und ich werde ihn nicht anrufen.« Julian war entschlossen, an seinem Vorsatz festzuhalten.

»Warum nicht?«

»Weil das Letzte, was ich gerade in meinem Leben brauche, ein weiterer Taugenichts ist.«

»Was lässt dich annehmen, dass er ein Taugenichts ist?« So, wie Nancy die Augenbrauen hob und ihre Schultern straffte, war klar, dass sie nicht aufgeben würde. Wahrscheinlich war sie gar nicht betrunken.

»Der Typ sah nach einem Taugenichts aus. Wenn er einen Job hat, wieso war er dann vormittags um zehn am See joggen?«

Nancy wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. »Wie ist sein Name?«

»Keine Ahnung.«

Sobald Nancy einen Namen hatte, wäre es leicht für sie, Nachforschungen anzustellen.

»Hast du seine Karte?«

Julian griff nach seiner Umhängetasche und öffnete sie. Seine Schwester würde nicht so leicht lockerlassen. Er wühlte darin, ehe ihm einfiel, dass die Karte auf seinem Nachttisch gelandet war, als er sich umgezogen hatte. »Nein, sie ist in meiner Wohnung. Aber egal, ich werde nicht anrufen«, sagte er nachdrücklich. Seine Schwester hatte ihn in der Vergangenheit wegen vieler Dinge bedrängt; das würde er diesmal nicht zulassen.

»Ich könnte ihn anrufen«, schlug Nancy unschuldig vor.

»Hm, lass mich einen Moment überlegen … Nein. kommt nicht infrage. Ich möchte keinen weiteren Kontakt zu ihm.«

»Okay, lass uns für den Moment das Thema wechseln. Zeigst du in der kommenden Woche irgendwem irgendwas von deiner Arbeit?«, fragte sie und wischte ein nicht vorhandenes Staubkörnchen von ihrer Schulter.

»Ja. Ich fasse es nicht, dass ich beinahe vergessen hätte, es dir zu erzählen.« Julian hätte beinahe vor Aufregung in die Hände geklatscht, aber er wollte nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregen.

»Was?« Nancys Augen wurden groß und ihr Lächeln wurde breit. Sie wollte wirklich, dass er Erfolg hatte. Das war einer der Gründe, warum er ihre Einmischungen tolerierte.

»Verzeihung, möchten Sie bestellen?«, fragte der Kellner neben dem Tisch.

Nancy warf ihm einen vernichtenden Blick zu, weil er ihre Unterhaltung in diesem spannenden Moment unterbrochen hatte. Er lächelte gezwungen, ging aber nicht. »Hähnchensalat?«, fragte sie in Richtung Julian.

»Was? Ja, das klingt gut.«

»Zwei Chicken Caesar Salads mit Gebäck«, bestellte Nancy.

»Eine ausgezeichnete Wahl. Kommt sofort.« Der Kellner ging und sie wandte sich wieder Julian zu.

»Also, mit wem triffst du dich?« Ihre Augen leuchteten.

»Fitzgerald von dem alten Geldadel. Er möchte sich morgen Abend mit mir treffen.«

»Machst du Witze? Das ist großartig! Du weißt, dass die hervorragende Verbindungen haben.« Nancy wusste von jedem, mit wem er Verbindungen hatte. Das gehörte zu ihrem Job. Sie waren vielleicht in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, aber Nancy hatte sich gegen das Schicksal durchgesetzt und war sehr jung Model geworden. Da Julian zu der Zeit ein Baby gewesen war, hatte seine Mutter sich kaum einmischen können. Das hatte Nancy gerettet. Sie sprachen nie darüber, aber sie wussten beide, dass die Modellagenturen sie sofort fallen gelassen hätten, wenn ihre Mutter Forderungen gestellt hätte.

»Das ist genau die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe.« Das war eine Untertreibung. Julian hatte nicht nur gewartet, er hatte gebetet, dass er so eine Chance bekommen würde. Solange er die Klimaanlage in seiner Wohnung nicht allzu oft einschaltete, konnte er mit dem Job im Thrust seine Rechnungen bezahlen. Aber sie waren nun mal in Dallas und da war eine Klimaanlage an manchen Tagen lebensnotwendig.

»Bist du sicher, dass er nur an deiner Kunst interessiert ist?«, fragte Nancy, immer in der Hoffnung, Julian mit einem wohlhabenden Mann oder einer reichen Frau verkuppeln zu können.

»Sehr witzig. Der Mann ist Ende siebzig. Der ist aus einer anderen Generation und aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich bin in seinem neuen Haus zum Abendessen eingeladen. Es ist in McKinney oder Allen. Und er ist verheiratet, oder war es zumindest. Mit einer Frau. Der steht nicht auf junge Männer.«

Der Salat kam und Julian stocherte darin herum, weil in seinem Bauch Schmetterlinge flatterten, als er über das Angebot nachdachte, das der Mann ihm gemacht hatte. Er nahm einen Bissen und kaute langsam.

»Bist du nervös?«, fragte Nancy und spießte ein Salatblatt auf.

»Ja. Ich habe mich noch nicht oft  allein präsentiert. Was, wenn ich es vermassle?«

»Allein? Was ist mit Gil?«

»Mr. Fitzgerald hat mich gebeten, allein zu kommen, mit nur drei meiner besten Bilder. Und ein Mann wie Mr. Fitzgerald bekommt gewöhnlich, was er will.«

»Nur drei Bilder? Bist du sicher, dass da nicht noch etwas anderes läuft?«, fragte Nancy.