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Monika Schuberth

Die Abenteuer
der kleinen Rosalinda

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Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN eBook978-3-8422-8382-4

ISBN Print978-3-8422-4619-5

Alle Rechte vorbehalten

© Monika Schuberth 2019

© für diese Ausgabe Karin Fischer Verlag GmbH 2019

Gesamtgestaltung: yen-ka

Bildquellen: S. 7, 25 u. 60 von © Monika Schuberth

S. 47: Pixabay 2127699 von © Lars_Nissen_Photoart

S. 97: Pixabay 2231796 von © kellepics

Coverillustration: Pixabay 2194553 von © vargazs

Portraitfoto: aus dem Archiv der Autorin © Monika Schuberth

Inhalt

Die kleine Rosalinda und die sprechende Orchidee

Die kleine Rosalinda im Urlaub auf Kreta

Die kleine Rosalinda und das Abenteuer im Wald

Die kleine Rosalinda auf der Schmetterlingsfarm

Die kleine Rosalinda und das Abenteuer im See

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Die kleine Rosalinda und die sprechende Orchidee

»Nein, Mami, nicht die blaue Schleife«, rief Rosalinda ihrer Mutter zu. »Heute ist Dienstag, das heißt Schmetterlingstag, und heute passen die roten Schmetterlinge am besten zu meinem Kleid.«

»Ja, ist gut«, seufzte die Mutter und kramte die roten Gummibänder mit den Schmetterlingen aus der Dose. Rosalinda, die ihre zwei schon abgeteilten Zöpfe mit beiden Händen seitlich am Kopf festhielt, lachte ihrer Mutter zu, als die wieder zurück ins Bad kam.

Nachdem die beiden Schmetterlingshaargummis ordentlich mittig oben an den Zöpfen festgemacht waren, sprang Rosalinda vom Klodeckel auf und hüpfte aus dem Bad. »Guck mal, guck doch mal!«, rief sie ihrer großen Schwester zu und wackelte mit dem Kopf, sodass die beiden Schmetterlinge aussahen, als ob sie gleich davonfliegen würden. Ihre vier Jahre ältere Schwester schaute kurz von ihrem Teller auf und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Der Bruder, der immer Hunger hatte, war gerade dabei, sich ein Brot zu schmieren, und beachtete sie auch nicht weiter.

Rosalinda war das jüngste und lebendigste Kind der Familie. Mit ihren großen braunen Augen, ihrem fröhlichen Lachen und ihrer kleinen Stupsnase war sie der Wirbelwind in der Familie und an allem interessiert, was um sie herum passierte.

An einem schönen Frühlingstag, auf dem Nachhauseweg von der Bibliothek, sah die kleine Rosalinda eine Orchidee mit halb abgebrochenem Stiel am Straßenrand liegen. Sie hob sie auf und betrachtete sie genauer. Es war eine schöne lila Blüte. Stolz, mit starken Blättern und hellgrünen Fühlern, die oben mit orangem Blütenstaub voll waren. Der grüne Stiel war ebenso kräftig und saftig bis zu der Stelle, an der er abgebrochen war.

›Die Blume ist noch viel zu schön, um so hier am Straßenrand zu liegen‹, dachte Rosalinda, ›ich nehme sie mit nach Hause und schneide sie neu an‹; dann lief sie mit der Orchidee in der Hand weiter. Zu Hause angekommen, versorgte sie die Orchidee, stellte sie in einem kleinen Schnapsglas neben ihr Bett auf den Nachttisch und machte ihre Hausaufgaben.

An diesem Nachmittag war sie mit ihrer Freundin Pia verabredet, mit der sie im Park auf dem Spielplatz schaukeln und nach Schmetterlingen Ausschau halten wollte. Bevor sie sich jedoch auf den Weg machte, ging sie noch mal kurz in ihr Zimmer, um nach der Orchidee zu sehen. In dem kleinen Schnapsglas, das Rosalinda von der Mutter bekommen hatte, stand die Orchidee nun – frisch mit Wasser versorgt – in voller Blüte, mit einem kräftigen Stiel, riesigen entfalteten lila Blättern und den Fühlern voll mit gelbem Blütenstaub. Rosalinda nickte der Orchidee zufrieden zu und rannte schnell hinaus die Treppe hinunter, weil sie nicht zu spät zu ihrer Verabredung mit Pia kommen wollte.

Wie immer musste sie um sechs Uhr zu Hause sein, weil um halb sieben gemeinsam Abendbrot gegessen wurde. Auch heute saß die ganze Familie zusammen und der Vater fragte die Kinder, was sie denn so gemacht hätten. Der Bruder und die Schwester erzählten von der Schule, und die Mutter wollte von Rosalinda wissen, wofür sie denn das Schnapsglas am Mittag gebraucht habe. Rosalinda antwortete, dass es für eine Orchidee gewesen sei, die sie am Straßenrand gefunden hatte. Als sie dann der Mutter erzählte, dass die Orchidee nun auf ihrem Nachttisch stehe, erklärte die Mutter ihr, dass sie die Blume beim Schlafen aber auf die Fensterbank stellen müsse, da Blumen viel Sauerstoff nötig hätten, und deshalb lasse man keine Blumen nachts am Bett stehen. Rosalinda war enttäuscht, aber als die Mutter dann noch hinzufügte, das würde man selbst im Krankenhaus so machen, wusste Rosalinda, dass damit die Sache für die Mutter erledigt war.

Gegen acht Uhr schickte ihre Mutter sie dann erst zum Zähneputzen, und nachdem alle der Reihe nach einen Gutenachtkuss bekommen hatten, brachte die Mutter Rosalinda in ihr Zimmer. Sie stellte die Orchidee auf die Fensterbank, deckte das Mädchen zu, und als Rosalinda noch einmal fragte, ob sie die Orchidee nicht doch neben sich auf dem Nachttisch behalten könnte, drückte die Mutter sie, gab ihr einen dicken Kuss auf den Mund und sagte: »Schlaf jetzt schön, mein Schatz, deine Blume steht da morgen auch noch.«

Als die Mutter weg war, schaute Rosalinda zur Fensterbank hinüber und sah die Orchidee da auf dem kalten Fenstersims stehen. Sie meinte zu merken, dass die Blüte es kalt hatte da drüben, und sie dachte: ›Die arme Orchidee wird da heute Nacht bestimmt erfrieren.‹ Sie war so besorgt, dass sie gar nicht einschlafen konnte. Also lauschte sie und blieb wach, so lange, bis alle schliefen und nichts mehr zu hören war. Dann sprang sie schnell aus ihrem Bett, holte das Schnapsglas mit der Orchidee vom kalten Fenstersims und stellte es auf ihren Nachttisch.

Als sie wieder eingekuschelt unter ihrer Bettdecke lag, bewunderte sie noch einmal die zarten und doch kräftigen lila Blätter, den leuchtend grünen Stiel und sah, dass ein bisschen gelber Blütenstaub auf das Deckchen vom Nachttisch gefallen war. Mit ihren kleinen Fingern tippte sie die Blume kurz an, wischte dann noch schnell den Blütenstaub weg, und bevor sie die Taschenlampe ausknipste, sagte sie: »Pst, nichts verraten, das ist jetzt unser Geheimnis, und morgen früh, bevor die Mutti ruft, stelle ich dich schnell wieder auf die Fensterbank.« Dann drehte sie sich um, schloss zufrieden ihre Augen und war im nächsten Moment auch schon eingeschlafen.

Als alles dunkel und ruhig war und man nur die Atemzüge der Schlafenden hörte, begann die Orchidee plötzlich, sich zu bewegen. Erst ging ein leichtes Schaudern durch ihren Stiel, und dann fingen die Blätter an, sich zu bewegen, langsam auf und ab, ganz leicht nur, und wie durch Zauberhand begannen die lila Blätter dadurch zu leuchten, erst schwach und dann immer stärker, sodass ein Lichtstrahl voller bunter Kristalle direkt auf das Gesicht der kleinen Rosalinda fiel. Die schlief tief und fest und merkte von alledem nichts. Bis plötzlich die Orchidee leise rief: »Rosalinda, Rosalinda, aufwachen, ich will mich bei dir bedanken.«

Aber Rosalinda schlief weiter, also rief die Orchidee wieder: »Rosalinda, Rosalinda, aufwachen, ich will mich bei dir bedanken.«

Langsam regte Rosalinda sich, und als die Orchidee zum dritten Mal rief: »Rosalinda, Rosalinda, aufwachen, ich will mich doch bei dir bedanken«, da dachte sie erst, sie träume, drehte aber ihren Kopf automatisch in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war.

»Hallo, kleine Rosalinda, guck doch mal«, rief die Orchidee in ihre Richtung, und da öffnete Rosalinda ihre Augen.

Zuerst konnte sie nicht glauben, was sie da sah. Die Orchidee leuchtete in allen Regenbogenfarben, und es ging etwas ganz Friedliches von ihr aus. Die Fühler mit dem gelben Blütenstaub waren zu einem freundlichen und liebevoll aussehenden Gesicht geworden, das Rosalinda zulächelte. Rosalinda aber dachte, das müsse ein Traum sein, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. Doch als sie die Augen wieder aufmachte und die Orchidee sie noch immer freundlich und wohlwollend ansah, ihr jetzt sogar mit den Blättern zuwinkte, da war sie sich sicher, sie träumte nicht.

Die lila Orchidee beugte sich etwas nach vorn und sagte: »Hallo, kleine Rosalinda, du musst keine Angst vor mir haben, du hast mich doch gerettet.«

Und Rosalinda antwortete: »Ich hab auch keine Angst vor dir, nur hat noch nie eine Blume zu mir gesprochen, und deshalb wundere ich mich.«

Die Orchidee erklärte ihr, dass alle Blumen und überhaupt alle Lebewesen auf der Erde miteinander Kontakt aufnehmen könnten und dass besonders Kinder mit ihren noch offenen Herzen das fühlen und als ganz natürlich wahrnehmen würden. Rosalinda fragte die Orchidee dann, wie sie denn überhaupt da an den Straßenrand gekommen sei und warum man sie so achtlos weggeworfen habe. Da seufzte die Orchidee einmal tief und begann Rosalinda ihre Geschichte zu erzählen.

»Früher«, so sagte die Orchidee, »habe ich zu den ganz besonderen, einzigartigen Blumen in der Pflanzenwelt gehört. Wegen meiner stolzen Haltung, meines kräftigen Stiels und natürlich wegen meiner so wunderschönen Blüte war ich überall hoch angesehen. Die Bienen und Hummeln liebten es, meinen süßen Blütenstaub einzusammeln und weiterzutragen zu anderen Orchideen, um sie zu bestäuben, sodass wieder neue, wunderschöne Orchideen erblühen konnten. Meine ganze Familie hat immer auf einer großen Wiese zusammengelebt, und alle Eltern und Großeltern sind schon auf dieser Wiese gewachsen, haben dort geblüht und sind auch dort gestorben. Wir Orchideen können nämlich nur auf einem ganz bestimmten Boden gut gedeihen, und auch das macht uns zu besonderen Blumen. Der Boden muss weich und voll mit guten Nährstoffen sein, damit wir das Wasser zusammen mit den Nährstoffen mit unseren Wurzeln aufnehmen können.«

Die Orchidee beschrieb Rosalinda das ruhige und natürliche Leben auf der Wiese am Rande eines großen Waldes mit ganz vielen verschiedenen Bäumen wie der Birke, der Buche, der Kiefer, der Linde, der Eiche und noch einigen mehr. Alle lebten im Einklang mit Mutter Natur und den anderen Nachbarn, wie Gänseblümchen, Löwenzahn, Holunderbüschen und all den kleinen Tieren, die da auch ihr Zuhause hatten. Besonders liebten es die Orchideen, wenn an warmen Tagen die Schmetterlinge sich auf ihren großen Blüten niederließen, ihren Nektar aufsaugten und ihnen dabei mit ihren Flügeln Luft zufächelten.

Rosalinda hatte sich auf die Seite gedreht, ihren Kopf auf einen Ellbogen gestützt und hörte mit großen Augen zu, was ihr die Orchidee von ihrem Schnapsglas aus alles erzählte. Je mehr die Blume jedoch von ihrem früheren Leben berichtete, desto mehr bekam Rosalinda den Eindruck, dass die Orchidee immer trauriger wurde und ihre Stimme immer leiser. Und so fragte Rosalinda, warum sie sich denn so traurig anhöre, worauf die Orchidee erst zögerte, dann aber doch sagte: »Es sind die Menschen, die alles kaputt machen.« Doch als sie sah, wie Rosalinda erschrak, fügte sie schnell hinzu: »Aber du nicht, du hast mich ja gerettet. Und deshalb habe ich dich auch geweckt, um dir meine Geschichte zu erzählen.«

Da war die kleine Rosalinda froh und freute sich, dass die Orchidee sie ausgewählt hatte, um ihr von ihrem Leben zu erzählen. Und deshalb fragte sie auch, was die Blume damit meine, dass die Menschen alles kaputt machen, und die Orchidee erzählte weiter.

»Eines Tages, vor noch nicht allzu langer Zeit, wurde die Wiese mit uns schönen Orchideen von Menschen entdeckt, und alles wurde anders, ganz anders.

Als die großen Menschen zum ersten Mal kamen, waren wir Orchideen fröhlich und aufgeregt, weil wir Besuch hatten, und zeigten uns von unserer besten Seite. Wir reckten unsere Stiele, um so besser gesehen zu werden, und stellten unsere in voller Blüte stehenden Köpfe zur Schau. Der große Mensch kam, und als er all die Pracht sah, meinte er, man könne hier doch mehr draus machen – mithilfe von großen Maschinen, die immer Wasser zuführen, und wenn man die schöne grüne Wiese wegmachen würde, dann hätte man doch viel mehr Platz, um noch mehr Orchideen anzupflanzen und später zu verkaufen!

Die Menschen pflückten einige der schönsten Exemplare von uns, standen inmitten des grünen Grases und deuteten mit den Händen in verschiedene Richtungen. Mich ließen sie stehen, weil ich noch jung und meine Blüte noch nicht ganz geöffnet war. Von unserem starken und leicht süßen Duft waren die Menschen ganz begeistert, ja wie verzaubert, außerdem entzückte sie unsere Schönheit.

Doch gerade die Begeisterung der Menschen sollte für uns Orchideen gar nicht gut sein. Im Gegenteil, kurz darauf belagerten viele Menschen unsere Wiese, die alles zertrampelten und nur unsere Blüten einsammelten, alles andere beachteten sie nicht weiter. Die Angst auf der Wiese war groß: Wo sollten alle die anderen Pflanzen und Tiere hin – Bienen, Hummeln, Grashüpfer, Frösche, Schmetterlinge, Hasen, Maulwürfe, Regenwürmer, Käfer und alle anderen Pflanzen waren in hellem Aufruhr.

›Was, wenn die großen Menschen ihr Vorhaben wahr machen, wohin können wir dann?‹, riefen sie sich entsetzt und ratlos zu. Aber die großen Menschen stellten sich diese Frage nicht, und nachdem sie alles, was für die Bepflanzung einer Orchideenfarm nötig war, von der Wiese mitgenommen hatten, verschwanden sie wieder. Dann kamen sie mit großen Maschinen zurück, pflückten mich und die anderen inzwischen groß gewordenen Orchideen und gruben die gesamte Wiese um.

An einem Tag brachten sie nicht nur die noch auf der Wiese stehenden Orchideen um, nein, auch alle anderen Lebewesen dieser Wiese wurden, sofern sie sich nicht vorher in Sicherheit bringen konnten, von den großen Maschinen gnadenlos niedergewalzt. Es gab kaum Überlebende, und wenn, dann saßen die jetzt am Rande des Feldes, das bis vor Kurzem noch ihr Zuhause gewesen war, verlassen, hoffnungslos und zutiefst erschrocken über das, was sie gerade miterleben mussten. Wir anderen sahen von unserem Container aus zu, wie alles zerstört wurde, und waren so geschockt vom Anblick dieser Tat, dass wir nicht mal mehr weinen konnten. Der Schmerz saß tief in uns und da, wo wir am Stiel abgetrennt worden waren, fühlte es sich taub an, wie wenn man dem Menschen einen Arm oder ein Bein amputiert.