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ANDREAS R. BATLOGG

DURCHKREUZT

Mein Leben mit der
Diagnose Krebs

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Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

2019

Gewidmet:

Prof. Dr. med. Dr. phil. Fuat S. Oduncu,
meinem Lebensretter

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Prof. Dr. med. Monika Fröschl
15. 3. 1959 – 8. 3. 2018

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Dr. med. Willy Höchter

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PD Dr. med. Roland Ladurner,
Dr. med. Norah Al Arabi,
Prof. Dr. med. Klaus Hallfeldt,
meinen Chirurgen.

Es gibt sie: menschliche, mitfühlende Ärzte!

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1.(K)Ein Tag wie jeder andere

2.»Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab!«

3.»Ich bin für dich da!«

4.Rom – das letzte Mal?

5.CT und MRT

6.Kämpfen oder aufgeben?

7.Die Behandlung beginnt

8.»Was ich Ihnen jetzt sage, fällt mir schwer«

9.Spirituelle Resilienz

10.Glaube auf dem Prüfstand

11.Mein erster Klinikaufenthalt

12.Auf Weihnachten zu

13.Trost (suchen)

14.Ein neues Jahr – mein letztes?

15.Die Operation

16.Die Tage danach: Komplikationen

17.Wieder zuhause

18.In den Alltag zurückfinden

19.Seine Krankheit annehmen (lernen)

20.»Unsere Tage zu zählen, lehre uns!«

21.Leben und Tod

22.Perspektivenwechsel

23.Freundschaft

24.Noch einmal ein Klinikaufenthalt

25.»Silberhochzeit«

26.Wie ein Schüler: Schlucken lernen

27.Noch einmal auf die Klinikambulanz

28.»Zeige deine Wunde!«

29.»Das Leben wieder leise lernen«

30.»Das Zeitliche segnen«

31.Bevor ich sterbe …

32.Körperlichkeit – und Zeit

33.Endlich leben!

Nachwort: Am Ende – am Anfang

Wir danken folgenden Verlagen für die freundliche Abdruckgenehmigung:

S. 52–54: „Die schwersten Wege“, aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987.

S. 74: „Leben vor dem Tode“ und S. 190: „Letztes Wort“, aus: Mascha Kaleko, In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlaß. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Gisela Zoch © dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

S. 107–108: „Rezept“, aus: Mascha Kaleko, Sei klug und halte dich an Wunder. Gedanken über das Leben. Hg. von Gisela Zoch-Westphal und Eva-Maria Prokop. © dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

S. 115: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten

S. 162: „Chor der Geretteten“, aus: Nelly Sachs, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Aris Fioretos, Band 1: Gedichte 1940–1950. Herausgegeben von Matthias Weichelt. © Suhrkamp Verlag Berlin 2010.

Vorwort

Am Anfang standen zwei kleine Texte, veröffentlicht in der Zeitschrift »Christ in der Gegenwart« (Freiburg), kurz vor Weihnachten 2017 (»Ich bin für dich da!«) und unmittelbar vor Ostern 2018 (»Wie neugeboren«). Sie stießen auf Resonanz. Von Freunden und Bekannten, aber auch von mir unbekannten Leserinnen und Lesern erhielt ich viele Zuschriften und E-Mails. Als ich den zweiten Text auch auf Facebook postete, löste das eine richtige Welle aus. Hatte ich den Ton getroffen?

Eine »Witterung« (Hugo Rahner SJ) nahmen auch Brunhilde Steger, Lektorin, und Gottfried Kompatscher, Leiter des Tyrolia-Verlags (Innsbruck-Wien), auf und ermutigten mich, meine Erfahrungen in Buchform darzulegen. Ich wendete damals ein: Aber ich stehe doch bestenfalls in der Mitte meiner Krankheit! Von Verlagsseite hieß es: »Sie müssen das Buch während der Behandlung schreiben, nicht aus dem Rückblick.« Ein Arzt sah das auch so. Schreiben sei wie eine Therapie.

Krankheitsgeschichten sind austauschbar. Wenn meine Art und Weise, über meine Erkrankung nachzudenken, Fragen aufzuwerfen, nach Hoffnungsworten zu suchen, anderen helfen kann, mit sich und ihrer Erkrankung besser zurechtzukommen, dann hat dieses Buch einen Sinn. Die Diagnose hat vieles durchkreuzt. Aber auch Neues ermöglicht.

München, 4. Oktober 2018

Andreas R. Batlogg SJ

1.
(K)Ein Tag wie jeder andere

München im September, ein wunderbarer Herbsttag. Das Datum prägte, ja brannte sich mir ein. Denn es veränderte alles, schlagartig, »out of the blue«, wie die Amerikaner sagen: 25. September 2017, Darmspiegelung bei einem Gastroenterologen. Drei oder vier Jahre vorher war ich nach einer Reise schon einmal bei einem Internisten gewesen. Ich kannte die Prozedur. Ohne große Vorahnung oder ernsthafte Befürchtungen ging ich in die Arztpraxis, die mir ein Freund empfohlen hatte: »Der Doktor ist Jesuitenschüler, du kannst ihm vertrauen!«

Schon wegen der Lokalanästhesie sind die meisten Patienten ein wenig aufgeregt. Aber man bekommt nicht viel mit, wacht wieder auf – und fährt nach Hause: per Taxi oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln, vorsichtshalber. Als ich wieder bei Bewusstsein war, fühlte ich mich nicht unwohl – und wartete auf das Arztgespräch. In der Hoffnung, für die in den letzten Monaten aufgetretenen Beschwerden eine plausible Auskunft zu erhalten.

Ich sehe den Doktor noch vor mir, es ist wie gestern: »Die Ursache für Ihre Probleme sind gefunden. Leider ist es ein bösartiger Tumor, ziemlich groß.« Mehr als ein »So!« brachte ich zunächst nicht heraus. Nach einer ersten Schrecksekunde dann: »Und was bedeutet das?« »Ich organisiere für Sie einen Termin im Klinikum Neuperlach, gleich morgen.« Ein kurzer Telefonanruf genügte. »Ihnen steht eine größere Operation bevor, vielleicht auch Chemotherapie.« So etwas sitzt! »Wie stehen meine Chancen?« »Darmkrebs ist sehr gut erforscht. Die Aussichten, dass Sie das alles überleben, stehen sehr gut. Es gibt hervorragende Ärzte auf diesem Gebiet.«

Krebs! Einmal ausgesprochen – auf mich zugesprochen, verändert das alles. Krebs: Wuchtig ist dieses kleine Wort, bedrohlich, dunkel. Das ist also die Zäsur in meiner Lebensgeschichte? Die erste Gefühlslage reichte von: »Das war’s!« bis »Kämpfen!« Ich dankte dem Arzt für seine Offenheit. Ein halbes Jahr später – wir sind inzwischen befreundet – fragte ich ihn bei einem Abendessen, wie er Patienten mit solchen Diagnosen konfrontiert. Er meinte: »Ich mache schon Unterschiede. Wenn ich den Eindruck habe, jemand verkraftet so etwas nicht, sage ich: Da gibt es noch einiges abzuklären. Bei dir hatte ich den Eindruck, ich kann gleich mit der Wahrheit herausrücken.«

Benommen verließ ich die Praxis. Mit wirren Gefühlen. Bevor ich ein Taxi bestieg, betrachtete ich die Bäume an der belebten vierspurigen Straße, die bunten Blätter, die Herbstsonne. Als wäre es das erste Mal! Wie lange noch?, durchzuckte es mich.

Dann versuchte ich, mich zu sortieren: Wen soll ich jetzt anrufen? Meine Eltern? Mein Vater hatte einige Monate vorher einen Gehirnschlag erlitten. Das wäre jetzt keine gute Idee, die regen sich daheim nur auf. Und Näheres wusste ich ja noch nicht. Der mir am nächsten stehende Mitbruder in St. Michael, meiner Kommunität, war nicht erreichbar. So war es ein Jesuit in Frankfurt, der mich seit einigen Monaten beim Verfassen eines Buches über Papst Franziskus beriet. »Andreas, ich bete für dich!« Was mir Michael sonst noch sagte, weiß ich gar nicht mehr. Aber die Versicherung, für mich zu beten, war in diesem Moment ein Trost. Gleichzeitig hatten seine Worte etwas Schweres und Ernstes an sich. Ausweichen lässt sich einer solchen Diagnose nicht. Verdrängen, ignorieren geht auch nicht. Auf einen selber wirkt sie so brutal wie auf andere, die davon erfuhren oder denen ich davon erzählte, besonders auf Nahestehende.

Zurück in meiner Kommunität, setzte ich mich zuerst im Garten von St. Michael nieder: der erste Innenhof mit Renaissance-Fassade in Deutschland, 1583 bis 1597 mit der Michaelskirche gebaut. Späte Nachmittagssonne. Es war mittlerweile 17 Uhr. Es rumorte in mir. Bald würden mich die Mitbrüder fragen: Alles in Ordnung? Nichts mehr war in Ordnung. Würde denn jemals wieder alles so sein können wie zuvor?

Abends bat ich meine Oberen – den Pater Superior, den Pater Minister – und den mir am nächsten stehenden Mitbruder zu einem Gespräch: »Ich habe Krebs.« Und schon konnte ich nicht mehr weitersprechen. Die Stimme brach mir. Wir vereinbarten, dass ich erst die nachfolgenden Untersuchungen abwarten solle, bevor wir die anderen Kommunitätsmitglieder informieren und dann die Ordenszentrale verständigen würden. Wir tranken noch einen Schnaps. Alles war plötzlich irgendwie anders. Ins Bett ging ich mit bangen Fragen.

2.
»Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab!«

Tags darauf fuhr ich nach Neuperlach, wo es ein modernes städtisches Klinikum gibt. Der Navigator zeigte die Entfernung an: dreizehn Kilometer. Je näher ich dem Spital kam, desto mulmiger wurde mir. Vielleicht war alles ein Irrtum? Würde sich die Diagnose als falsch herausstellen? Eine verwegene Hoffnung, ein blöder Gedanke! Aber es meldet sich viel, um die Wirklichkeit nicht in ihrer ganzen Breite wahrnehmen zu müssen. Man möchte die Uhr zurückdrehen und die letzten vierundzwanzig Stunden ungeschehen machen!

Nach der Anmeldung musste ich warten. Dann saß ich dem Chefarzt gegenüber. Nach einem kurzen Gespräch – ich spürte, dass er Bescheid wusste – untersuchte er mich und bestätigte schon bald die Diagnose seines Kollegen in Neuhausen.

»Was machen Sie beruflich?« »Ich bin Chefredakteur einer Monatszeitschrift, werde aber mit Jahresende nach siebzehn Jahren aufhören und eine Sabbatzeit antreten.« Dann der nächste Hammersatz, wuchtiger noch als die Diagnose vom Vortag: »Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab! Sie werden sich darauf einstellen müssen, dass die Behandlung mehrere Monate dauert. Und danach kommt eine Reha.« Meine naive Vorstellung, dass da etwas aus mir herausoperiert würde und dann alles wie gewohnt weitergeht, wurde daraufhin schlagartig zerstört: »Nach der Operation werden Sie einen künstlichen Darmausgang gelegt bekommen. Da der Tumor günstig liegt, bestehen gute Aussichten, dass er nach einigen Monaten rückverlegt werden kann und Sie den Anus praeter nicht für den Rest Ihres Lebens benötigen. Tausende Menschen müssen lebenslang damit leben.«

Mein Flug nach Tel Aviv war bereits gebucht. Vom 19. Dezember an sollte ich bis Ende Februar in Jerusalem im Päpstlichen Bibelinstitut unweit des King David Hotels den ersten Teil meines Sabbaticals verbringen. (Tags darauf stornierte ich den Flug.) Was der nächste Schritt sei, fragte ich. Nach der Koloskopie sollte eine Computertomografie Aufschluss geben über Details, die abzuklären waren. »Ich fliege in drei Tagen für eine Woche nach Rom. Kann ich das noch machen oder soll ich die Reise absagen?« »Fliegen Sie, aber vereinbaren Sie vorher den Termin für die Untersuchungen. Wir müssen abchecken, ob der Tumor schon gestreut hat.« Das Wort Metastasen fiel nicht. Aber es war unsichtbar da und schwebte wie ein Damoklesschwert über mir.

Als ich das Klinikum verließ und aufs Auto zusteuerte, durchzuckte es mich: Und hier werde ich monatelang zubringen müssen! Plötzlich wirkte der riesige Komplex auf mich wie eine Krake, bereit, mich zu verschlingen. Für wie lange? Ich war benommen, wie am Nachmittag zuvor, jetzt aber mit der Gewissheit versehen: Du hast Krebs, vergiss alles andere! Würde mir das gelingen?

Sofort meldeten sich Fragen: Wie ist das mit der für Ende Oktober geplanten Übergabe an meinen Nachfolger? Wie sollte ich nach der Woche in Rom einen neuen Redakteur einarbeiten? Fragen über Fragen. Sie kamen, überfallsartig – wie bei einem, der auf einem sinkenden Schiff versucht zu retten, was zu retten ist, und dabei ganz unsinnige Aktionen startet.

Dass ich nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt würde arbeiten können, das realisierte ich in diesen ersten Tagen nach der Diagnose nicht. Es ist viel, was schlagartig auf einen einpurzelt. Im Rückblick kann ich mich an manches nur mehr dunkel erinnern, was mir in diesen ersten Tagen durch den Kopf schoss. Die innere Erschütterung, dass ich jetzt selber in einer Lage bin, die ich bisher nur als Priester oder als Angehöriger erlebte, macht sprachlos und lässt manchmal verstummen. Szenarien wandern im Kopf auf und ab, Bilder kommen hoch – und je mehr Menschen davon erfuhren, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass »der Helfer« jetzt selber Hilfe braucht, weil er von Tag zu Tag hilfloser werden wird. Es ist, als säße man in einem Zug, der auf einen Abgrund zufährt. Man weiß, dass nicht gebremst wird – und bleibt trotzdem wie gelähmt sitzen.

3.
»Ich bin für dich da!«

Auf dem Rückweg nach St. Michael stoppte ich nach einiger Zeit am Straßenrand. Ich rief einen Freund an, der im Beirat der »Stimmen der Zeit« saß, den ich vor einigen Jahren installiert hatte. Fuat ist Onkologe und Hämatologe, er lehrt als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Nach dem medizinischen Doktor hat er an unserer Jesuitenhochschule auch in Philosophie promoviert. Ich erreichte ihn gleich. »Kann ich mit dir sprechen oder bist du bei Patienten?« »Was ist los, Abuna?« Die respektvolle Anrede Abuna (arabisch / aramäisch für »Vater« oder »Pater«) verwendet er gern. »Fuat, ich habe Krebs, ich komme gerade aus Neuperlach, ich soll sehr bald operiert werden. Ich bin kommende Woche noch in Rom, dann geht es los mit den Untersuchungen.« Erneut brach mir die Stimme.

Dann hörte ich die wunderbaren Worte: »Abuna, seit der Taufe meines Sohnes bist du mein Bruder. Jetzt bin ich für dich da! Ich rufe dich heute Abend an.« Da sind mir zum ersten Mal die Tränen runtergelaufen, wie einem Kind. Ein richtiger Sturzbach! Ich spürte: Es steht ernst um mich. Aber da ist jemand, der mich nicht allein lässt.

Der Rückruf kam kurz nach 21 Uhr, ich saß mit einem Mitbruder zusammen. Fuat bot an, sofort zu kommen. Er wohnt in Pasing, ich in der Innenstadt. Ich wehrte ab: »Jetzt kannst du doch nichts machen.« Und dann noch einmal: »Ich bin für dich da! Du kannst dich auf mich verlassen! Mach in Neuperlach die Untersuchungen, dann ziehen wir deinen Fall an die Uni-Klinik: Ich übernehme die Behandlung und arrangiere alles, zuerst Strahlen- und Chemotherapie, dann erst eine OP. Du wirst sehen: Es wird alles gut!«

Tröstete das? Ich ging jedenfalls beruhigter schlafen als am Vortag. Aber wieder mit Tausenden Gedanken im Kopf. Die Diagnose, die ersten Gespräche, die Frage, wie der Abschied bei der Zeitschrift sein würde, die Frage, wen ich jetzt (und wie) verständigen sollte – all das klopfte an. Lawinenartig. Meinen Eltern wollte ich erst nach der Romreise und nach der Computertomografie etwas sagen. Ich ging eine Reihe von Freunden und Verwandten in meinem Kopf durch und überlegte, was ich wem wann sagen sollte. Noch wusste ich ja noch nicht, wie meine Überlebenschancen stehen. Unnötig beunruhigen wollte ich niemanden. Aber eine offensive Informationspolitik schien mir geboten. Keine Geheimniskrämerei. Denn ich würde ja auf Monate hinaus – publizistisch gesehen – nicht in Erscheinung treten können.

Noch im Oktober fasste ich die damaligen ersten Eindrücke zusammen. Daraus wurde der Text »Weihnachten: ›Ich bin für dich da!‹«, den ich Johannes Röser, dem Chefredakteur der Zeitschrift »Christ in der Gegenwart«, anbot und der dann, redaktionell leicht bearbeitet und etwas gekürzt, unter dem Titel »Ich bin für dich da!« kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurde1.

Ich bin für dich da!

Weihnachten hat für mich in diesem Jahr im Herbst begonnen. Der 25. September schreibt sich ein in meine Lebensgeschichte. Nach einer Darmspiegelung eröffnete mir der Arzt an diesem sonnigen Münchener Herbsttag: »Die Ursache für die Probleme ist gefunden. Leider ist es ein bösartiger Tumor.« Ein Satz, der das Leben verändert. Auf dem Weg zum Taxistand am Rotkreuzplatz fragte ich mich: Wen soll ich anrufen? Meine Eltern? Einen Mitbruder? Es war dann ein Jesuit in Frankfurt/Main.

Am nächsten Tag im Klinikum Neuperlach der nächste Schock: »Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab.« Aus meinem Sabbatjahr nach dem Ausstieg bei den »Stimmen der Zeit« wird also nichts! Zwei Monate in Jerusalem – nicht mehr möglich, USA – abgesagt.

Auf dem Rückweg in meine Kommunität telefonierte ich mit einem Freund. Er ist Onkologe und Hämatologe in der Uniklinik. Und hörte den wunderbaren Satz: »Jetzt bin ich für dich da!« Einige Monate vorher hatte ich seinen heiß ersehnten Sohn getauft – jetzt, so der Arzt, sei er dran. Ich sei jetzt sein Bruder. Da sind mir zum ersten Mal die Tränen runtergelaufen.

»Ich bin für dich da.« Das ist nicht nur ein Satz, der über die ersten dunklen Gedanken hinweghilft, in schwierigen Zeiten. Es ist auch ein weihnachtlicher Satz. Inkarnation, Menschwerdung Gottes bedeutet eigentlich nichts anderes: Gott ließ und lässt sich ein. Er kommt nicht, um wieder zu gehen, wie die antiken Götter. Er bleibt. Er hat sich dieser Welt zugesagt – mit ihrer Schönheit, mit ihren Abgründen und Widersprüchlichkeiten. Und er wird auch mit mir sein in den nächsten Wochen und Monaten. Darauf vertraue ich.

Gott kümmert sich. Seitdem unter der Empore der Jesuitenkirche Sankt Michael in München wieder das Jesuskind mit der Weltkugel angeleuchtet wird, darunter das IHS-Monogramm, richte ich mich am Altar bewusst darauf aus: IHS – Iesum Habemus Socium, »Wir haben Jesus zum Gefährten«! Das ist nicht nur eine abstrakte Aussage über die Spiritualität eines Jesuiten. Das ist auch die Weihnachtsbotschaft, im Telegrammstil sozusagen. Ein Leitwort, das tröstet, das hält, das aufbaut.

Gott ist für uns da. Das Kind in der Krippe, so machtlos, klein, schutzlos, so religiös verkitscht es daliegt, garantiert dafür. Jahr für Jahr können wir uns das vor Augen halten, feiern. Das ist doch das Größte: Wir sind nicht allein (gelassen). Gott ist mit uns. Immanuel!

Der Text fasste die Empfindungen der ersten Tage und Wochen nach der Diagnose zusammen. Wenn ich ihn heute lese, wundere ich mich selbst, dass ich so direkt sein konnte. Aber offenbar wollte ich die ersten Eindrücke, Sorgen und Ängste irgendwie verarbeiten.

Und diese wunderbaren Worte »Ich bin für dich da!«, dem Theologen und Priester zugesprochen von einem »Laien«, wurden für mich durch all die Monate hindurch, die da kommen sollten, zu einem Trost-, ja zu einem Signalwort. Es stand immer wie ein stummer Imperativ da, in jeder Phase meiner Behandlung: »Ich bin für dich da!« Fuat, mein Arzt und Lebensretter, hatte mir diese Worte gesagt, und er meinte es immer ernst: Du kannst jederzeit mit mir rechnen!

Damit hatte er sich auch als Seelsorger erwiesen, weil er mich an die Botschaft von Weihnachten erinnerte, er, der syrisch-orthodoxe Christ: Gott ist für uns da in dem Kind, das wir an Weihnachten in der Krippe anbeten. Gott kümmert sich. Er kommt, um zu bleiben. Dass ich in diesem Freund sozusagen die leibhaftige, die greifbare Umsetzung dieses Wortes erlebte, das hat mir in diesen Monaten immer geholfen – und im Übrigen mein Vertrauen auf Gott gestärkt. Immanuel – Gott mit uns: Das tröstet, das stärkt, das hilft.

1Andreas R. Batlogg, Ich bin für dich da!, in: Christ in der Gegenwart 69 (2017), 568.

4.
Rom – das letzte Mal?

Den Flug nach Rom trat ich an. Auf das Treffen mit Kardinal Walter Kasper, den ich einige Wochen vorher in seinem Elternhaus im Allgäu getroffen hatte, wollte ich wegen des Papstbuches nicht verzichten. Auch mit Annette Schavan, der Botschafterin Deutschlands beim Heiligen Stuhl, hatte ich mich verabredet und war am 3. Oktober zum Empfang aus Anlass des Tags der deutschen Einheit eingeladen. Abgesehen von österreichischen und deutschen Mitbrüdern in Rom und den Kollegen von der »Civiltà Cattolica«, bei denen ich seit über zehn Jahren ein bis zwei Mal pro Jahr nächtigte – ein idealer Standort nahe der Spanischen Treppe, zehn Minuten Fußweg zur Gregoriana, der Päpstlichen Jesuitenuniversität.

Antonio Spadaro SJ, Direttore der renommierten Jesuitenzeitschrift, wird von Journalisten als enger Papst-Vertrauter angesehen. Er musste einen Tag nach meiner Ankunft zu einer Konferenz nach Washington fliegen. Aber wir haben uns noch kurz getroffen und ausgetauscht. Über meine Erkrankung hatte ich ihn vorab informiert. Seit unserem Gemeinschaftsprojekt, dem im August 2013 von Antonio mit den Fragen von dreizehn Kolleginnen und Kollegen geführten ersten ausführlichen Interview mit Papst Franziskus, das wir am 19. September zeitgleich in dreizehn Sprachen auf den Websites der europäischen Kulturzeitschriften des Ordens veröffentlicht hatten, standen wir in engem Kontakt2. Antonio ist ein absoluter Franziskus-Fan, Journalisten zählen ihn zu den »spin-doctors« des Papstes, wenn nicht zu seinen Ghostwritern. Aber darüber redet er nicht. Ich verstehe das. Erst seit kurzem gehört er bei Papstreisen zur offiziellen Entourage, mehrere Jahre war er fast auf jeder dabei, ohne offiziell als Journalist akkreditiert zu sein oder zum päpstlichen Gefolge zu gehören. In Italien ist er mittlerweile das Gesicht der Jesuiten – und sogar über den italienischen Stiefel hinaus.

Freundlich wurde ich empfangen, wie immer. Die ersten drei Tage verließ ich die Kommunität nur kurz, um mir die Füße zu vertreten. Im 16. Jahrhundert als kleines Landhaus der Familie Orsini auf dem Gebiet der antiken Horti Lucullani erbaut, immer wieder erweitert, 1827 vom bayerischen König Ludwig I. erworben, fünfzig Jahre später im Stil des romantischen Historismus umgebaut, haben die Jesuiten die Villa Malta nach dem Zweiten Weltkrieg gekauft und zum Redaktionssitz gemacht.

Ich hatte im August die Einladung Antonios angenommen, einen Artikel über die Bundestagswahlen und die Regierungsbildung zu schreiben. In München war ich damit nicht fertig geworden. Ich schrieb eifrig an dem Beitrag über die damals zu erwartende Koalitionsregierung aus CDU/CSU, Grünen und FDP, die nach einigen Wochen Sondierungen leider überraschend platzte3.

Kurze Streifzüge über die Piazza di Spagna mussten vorerst genügen. Ich genoss die Herbstsonne. Aber immer begleitet von der Hintergrundfrage: Wie lange noch? Bin ich zum letzten Mal in Rom? Solche Fragen kommen hoch, automatisch. Man wird sie nicht los.

Seit Donnerstag war ich hier. Am Samstag kam Astrid aus Venedig angereist, um sich von mir fünf Tage durch die Stadt führen zu lassen. Die Studienleiterin an der Katholischen Akademie in Bayern war Mitarbeiterin der »Stimmen der Zeit« auf Honorarbasis. Als ich auf die Stazione Termini zusteuerte, überlegte ich, wann und wie ich ihr von meiner Untersuchung und dem Ergebnis berichten sollte: Warten bis zum Ende? Oder gleich damit herausrücken? Ich wusste, dass sie voller Erwartung auf die Ewige Stadt war und die verschiedenen Begegnungen, die wir anvisiert hatten. Weil ich noch etwas grübelte, bemerkte ich nicht, dass ihr Zug bereits eingetroffen war. Plötzlich stand sie vor mir. Ich bot an, zuerst an der Piazza della Repubblica einen Espresso zu trinken.

Nachdem ich mir ihre Eindrücke von der Biennale hatte schildern lassen, für die bei uns seit vielen Jahren regelmäßig Friedhelm Mennekes SJ berichtete4, sagte ich ihr, ich müsse ihr etwas Unerfreuliches mitteilen. »Leider hat die Darmspiegelung ergeben, dass ich einen bösartigen Tumor habe, ich muss, sobald ich aus Rom zurück bin, eine CT machen, um abzuklären, ob er bereits gestreut hat und ich Metastasen habe. Eine Operation steht mir bevor, vielleicht Chemotherapie. Nächste Woche muss ich aus der Redaktion vorzeitig ausscheiden.« Das saß! »Ich will dir nicht die Laune verderben, aber fünf Tage herummogeln, das kann ich nicht. Sorry.« Stille. Schon kleinste Pausen wirken in solchen Momenten wie eine Ewigkeit. Es kommt vor, dass auch Astrid zunächst sprachlos ist. Dann schob ich vorsichtig nach: »Machen wir das Beste draus und genießen jetzt Rom.«

Und das taten wir dann auch: schöne Spaziergänge und ein Streifzug durch den Park der Villa Borghese, Besuche bei Jesuiten. Die Dachterrassen der verschiedenen Jesuitenhäuser faszinierten sie sehr. Von der Gregoriana wie auch von der Villa Malta aus hat man den Komplex des Quirinalpalastes zum Greifen nahe. Auch das monströse Nationaldenkmal für Vittorio Emmanuele II., im Volksmund auch abschätzig macchina da scrivere (Schreibmaschine) oder wegen seines weißen Marmors torta nuziale (Hochzeitstorte) genannt, liegt einem zu Füßen.

Beim Empfang in der Botschaft, wo auch Andrea Riccardi, der Gründer der Laiengemeinschaft Sant’Egidio kurz vorbeischaute5