Über Hansjörg Schertenleib

Foto: Milena Schlösser

 

HANSJÖRG SCHERTENLEIBgeboren 1957 in Zürich, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seit 1981 veröffentlicht er Prosa, Lyrik und dramatische Texte. Seine Romane wie der Bestseller Das Regenorchester wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Zwanzig Jahre lang lebte Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Irland. Heute pendelt er zwischen der Schweiz und Spruce Head Island in Maine, USA. Zuletzt erschien im Kampa Verlag in der Reihe Der kleine Gatsby seine Novelle Die Fliegengöttin.

 

»Ich verbringe die Hälfte des Jahres an der wilden Küste Maines auf einer kleinen Insel im Atlantik. Es wäre dumm, die großartige, dramatische Landschaftsbühne unter diesen weiten Himmeln nicht literarisch zu bespielen.«

Hansjörg Schertenleib

Love, life, wife.

And still runnin’ against the wind

Against the wind.

 

Bob Seger

Welle und Berg

Corinna Holder fuhr aus dem Schlaf, weil ihr im Traum ihr toter Mann Michael erschienen war und sie sich vor Schreck verschluckte. Sie blieb mit offenen Augen liegen, sah Michael aber trotzdem weiterhin vor sich: Er trieb in einem See dicht am Ufer auf dem Rücken und starrte sie an. Sie stand auf, schlüpfte in das bestickte Jeansgilet, das er ihr letzten Sommer auf dem Bluesfestival in Rockland gekauft hatte, und trat auf das Deck ihres Schlafzimmers im oberen Stock. Das Meer im Hafen von Seal Harbor war spiegelglatt, der Himmel ohne Wolke. Die Sonne hatte den Morgennebel verbrannt, der in letzter Zeit manchmal bis mittags über dem Wasser stand und in die Buchten und Nadelwälder von Spruce Head Island kroch. Die Hummerboote waren längst ausgelaufen, für die Kanus und Kajaks der Sommergäste und Touristen war es noch zu früh. Nur der Lärm der Kühlaggregate der Lastwagen und Lagerhallen von Norwood Lobster und der Gestank des Köders für die Hummerkörbe störte die morgendliche Idylle. Seit sich der Bestand erholt hatte und die Fischer mehr Hummer denn je aus der Penobscot Bay holten, wurden die Lastwagen rund um die Uhr beladen. Im letzten Jahr hatten die Arbeiter die Köder nur donnerstags aufgetaut, aber diesen Sommer stand der Gestank Tag und Nacht über der Insel.

Auf dem Deck des Nachbarcottage auf der anderen Straßenseite, das in den letzten vier Jahren drei Mal den

Corinna trat ins Schlafzimmer, zog das Gilet aus und legte es sorgfältig auf den Quilt, den sie im vorletzten Herbst in einem Kurs im Hotel Pemaquid genäht und im Schlaf ans Fußende des Bettes gestrampelt hatte. Michaels T-Shirt, das sie am Tag seiner Beerdigung vor neun Monaten aus dem Wäschekorb geangelt, seither als Pyjama getragen und nie gewaschen hatte, faltete sie zusammen und schob es unter ihr Kissen. Er hatte das blaue Shirt, auf das eine Palme und die Zeile »The Mountain and the Wave« gedruckt waren, vor Jahren auf einer Irlandreise gekauft.

Das Fenster des Badezimmers ging Richtung Fichtenwald hinaus, darum hatte das Licht in dem Raum einen grünen Ton, was ihr das beruhigende Gefühl gab, sich im

 

Auf der Treppe hatte Corinna plötzlich den Geruch von verbranntem Menschenfleisch in der Nase. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie musste sich hinsetzen. Der Polizeipsychiater hatte ihr beigebracht, dass sie den Geruch und die Bilder verdrängen konnte, indem sie sich auf ihren Atem konzentrierte, sich leer machte und zu einer Hülle wurde, in der es keine Erinnerung gab, keine Bilder aus der Vergangenheit und keinen Blick in die Zukunft, einzig und allein die Gegenwart: Corinna stand nicht als Kriminalpolizistin in einem ausgebrannten

Sie blieb sitzen, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte. Dann ging sie in die Küche, füllte das Spülbecken randvoll mit eiskaltem Wasser und tauchte ihr Gesicht bis zum Haaransatz hinein, ohne die Augen zu schließen. Auch dazu hatte ihr der Polizeipsychiater geraten. »Das kalte Wasser bringt Sie auf einen Schlag in die Gegenwart zurück!« Jetzt klang das Summen in ihren Ohren wie das Rauschen eines Flusses. Sie blieb so lange sie konnte unter Wasser, richtete sich auf und trat auf das untere Deck hinaus. Die Luft war frisch, der Wind kam vom Meer. Um den Lärm von Norwood Lobster auszublenden, machte sie die Augen zu und lauschte dem streitsüchtigen Kreischen der Möwen, die um die Fischabfälle auf dem betonierten Pier kämpften, hörte aber trotzdem das Warntuten der Gabelstapler, mit denen die Arbeiter die Plastikboxen mit dem fangfrischen Hummer in die Kühllastwagen luden, die mit laufenden Dieselmotoren warteten. Als sie die Augen öffnete, war der Atlantik eine grellblitzende, in tausend Stücke zerborstene Fläche, die im Takt ihres Pulses schaukelte.

Sie wusste, dass sie etwas frühstücken sollte, hatte aber keinen Appetit, nicht einmal auf einen Kaffee.

Sie war vor sechs Wochen, am 12. Juni, auf Spruce Head angekommen. Da der Swiss-Flug LX 52 aus Zürich erst nach 20 Uhr in Logan landete und die Fahrt nach Spruce Head Island vier Stunden dauerte, hatten Michael und sie immer in Boston übernachtet, bevor sie anderntags mit einem Mietwagen weitergereist waren. Letzten Sommer hatten sie bei Shepards Car in Rockland einen gebrauchten Dodge Caliber gekauft, der in der Garage ihres Cottage stand, und Corinna hatte sich entschieden, kein Mietauto zu nehmen, sondern das erste Mal mit dem Bus nach Maine zu reisen.

Sie hatte in Boston in einem schicken Hotel im Financial District übernachtet, fünf Gehminuten von der South Station entfernt, wo sie am nächsten Mittag in einen Bus der Concord Lines gestiegen war. »Wollen Sie wissen, was das Beste an New Hampshire ist?« Der Mann, der sie das gefragt hatte, hatte zwei Reihen schräg hinter ihr gesessen. »Dass es hier an der Küste nur zehn Meilen breit ist!«

Kurz hinter Portsmouth waren sie über die gewaltige Piscataqua Bridge gefahren, Michaels Lieblingsbrücke. Die ersten zwei Stunden bis Portland waren wie im Flug vergangen, dafür hatte der Rest der Reise kein Ende nehmen wollen. Als Corinna nach beinahe fünf Stunden endlich am Fähr- und Busterminal in Rockland aus dem Bus gestiegen war, war sie erschöpfter als nach dem Transatlantikflug. Der Taxifahrer, der sie nach Spruce Head Island gebracht hatte, hatte Michael und sie schon einmal

Dass Corinna es nicht schaffte, allein im Cottage zu bleiben, noch nicht, hatte sie gewusst, sobald sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Sie hatte den Schlüssel für den Dodge aus der obersten Schublade der Kommode im Flur genommen und war auf der Stelle nach Rockland zurückgefahren. Sie war drei Nächte im Rockland Harbor Hotel geblieben, in einem Zimmer in der dritten Etage, von dessen Balkon sie über den Fährterminal mit dem Glockentürmchen und die tanzenden Masten der Segelschiffe hinweg auf den fast eine Meile langen breakwater sah. Die Befestigungsmauer aus Steinquadern schützte Rocklands Hafen. Sie hatte viele Stunden auf diesem Balkon verbracht, den Fähren nach North Haven und Vinalhaven nachgeschaut und versucht, damit klarzukommen, dass sie nie wieder mit ihrem Mann hier in Maine sein würde. Michael war tot.

Sie hatten das Cottage vor vier Jahren als Ferienhaus gekauft, es aber bereits im zweiten Jahr um einen kleinen Anbau mit Gästezimmer samt Bad erweitern lassen und sich versprochen, sich früher pensionieren zu lassen, um das ganze Jahr auf Spruce Head Island leben zu können. Und dann war Michael ums Leben gekommen.

Die ersten Nächte nach der Rückkehr aus dem Hotel hatte Corinna auf dem Sofa im Wohnzimmer und im Gästezimmer geschlafen, dann hatte sie es endlich geschafft, in ihr gemeinsames Schlafzimmer im oberen Stock zu ziehen. In den ersten Tagen war sie wie ein Geist von Zimmer zu Zimmer gewandelt, hatte sich immer wieder um die eigene Achse gedreht und tief eingeatmet, als sei sie einem Duft auf der Spur, für den sie bislang nicht die Nase gehabt hatte. Michaels Zimmer

Würde es ihr helfen, wenn sie an Gott glauben und mit gutem Gewissen beten könnte? Ein Mensch, der trauerte, machte anderen Menschen Angst, das wusste sie. Trauer löste oft kein Mitgefühl aus, sondern Furcht oder gar Abscheu. Sie hatte sich vor der Trauer ihrer Mutter, die die lebenslustige, offene Frau nach dem Krebstod ihres Mannes in eine deprimierte, in sich gekehrte Greisin verwandelt hatte, ebenfalls gefürchtet wie vor einer ansteckenden Krankheit. Sie hatte jeden in den Abgrund gerissen, der den Fehler beging, sich in die Nähe ihrer Mutter zu wagen.

Corinna war immer noch leicht schwindlig, das Summen in ihrem Kopf dagegen war verstummt. Auf einmal hatte sie das unangenehme Gefühl, sie würde

Eine Fahne aus Blut

Corinna war längst am Teich vor David Byrds Haus vorbeigegangen, als sich die Frösche doch noch meldeten: Ihr kehliges, metallenes Quaken riss sie manchmal mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Wie nur konnten derart kleine Tiere einen solchen Lärm veranstalten? Die Luft über dem Asphalt flirrte, als wäre Benzin verschüttet worden, Wölkchen trieben Richtung Festland. Die Rockledge Road führte in eine Senke, aus der man nicht aufs Meer sehen konnte, in der die Luft jedoch deutlich wärmer war. Seit Corinna allein war, ging sie schneller; Michael hatte ihr immer vorgeworfen, sie gehe provozierend langsam und zwinge ihm ihr Flaniertempo auf. Seit er tot war, ging sie so schnell wie möglich, als wäre es lebenswichtig, keine Sekunde zu vertrödeln. Dabei hatte sie keine Ahnung, was sie mit der gewonnenen Zeit anfangen sollte.

Der Hund, der ihr auf der Straße entgegentrottete, gehörte der älteren Frau, die jedes Mal verschämt grüßte, wenn sie sich begegneten, aber nie stehen blieb, um sich mit ihr zu unterhalten. Sie zog das rechte Bein nach, ihr rechter Arm wirkte leblos; offenbar hatte sie einen Schlaganfall erlitten. Corinna strich dem braunen Labrador über den Kopf, als sie an ihm vorbeiging; die Frau, die einen Sonnenhut trug, nickte und senkte den Blick.

Corinna blieb auf der Rockledge Road, die in den Fichtenwald führte. Die Sonne, die durch die Baumkronen fiel, stellte Lichtsäulen zwischen die Stämme, die dem Wald

Nach etwa dreihundert Metern kam Corinna an dem Autowrack vorbei, das die Zufahrt zu einem Haus markierte, das auf einer Lichtung stand und offensichtlich niemals fertig wurde. Dieses Jahr war ein Teil des Daches abgedeckt und mit Plastikbahnen geschützt, der neue Anbau war nicht verschalt, und die Isolationsmatten lagen frei. Das Chaos auf dem Grundstück schien beständig größer zu werden. Abfall türmte sich an immer neuen Stellen auf, ausrangierte Maschinen- oder Motorenteile wuchsen wie Geschwüre zwischen den Bäumen. Corinna wusste nicht, wer in dem abgelegenen Haus lebte, sah in ihrer Vorstellung aber einen mageren Mann vor sich, der mit seinen Hunden redete und eine Brille mit verschmierten Gläsern trug. Im Erdgeschoss des Hauses stand ein Fenster offen, jemand übte auf einer Gitarre wieder und wieder den gleichen Griff.

Das Tor zum Grundstück der Shofestallers stand offen, was jedoch nicht bedeuten musste, dass sie tatsächlich am Strand waren. Corinna würde bis zur Stelle weitergehen,

»Bereue nicht, was du getan hast, bereue, was du nicht getan hast.« Wie oft hatte sie seit Michaels Tod an seinen letzten Satz gedacht, mit dem er aus ihrer Eigentumswohnung in Aarau gestürmt war. Bereute er, etwas nicht getan zu haben? Oder galt sein letzter Satz etwa ihr? Bereute sie, was sie getan hatte? Hatte sie etwas verpasst, was sie hätte tun sollen?

Sie ging parallel zur Straße durch den Wald. Als ihr bewusst wurde, wie vorsichtig sie auftrat, als dürfte sie keine Geräusche machen, fing sie an, ungestüm auf den Boden zu stampfen und in die Hände zu klatschen. Sie nahm

Die Schönheit der Bucht verschlug ihr jedes Mal den Atem: Eingefasst von Felsen wie von schützenden Armen, beschrieb der Strand eine perfekte Sichel aus ockerfarbenem Sand. Corinna legte sich lieber auf die rechte Felsschulter als an den Strand, weil sie von dort weit übers Meer sehen konnte. Links lag die Brücke, die Spruce Head Island mit dem Festland verband, geradeaus sah man über die gegenüberliegende Waterman Beach Road Richtung Norden, rechts auf den offenen Atlantik mit den Inseln Vinalhaven und North Haven. Corinna sprang barfuß auf die Felsen, nahm ihr Badetuch aus der Tasche, die sie in Round Pond bei einer Frau aus Durban gekauft hatte, die achtzig Jahre alt und wie ein Hippiemädchen gekleidet war, und breitete es auf dem Stein aus. Auf der Sandbank, die zwanzig Meter vor der Küste aus dem Wasser ragte, hockten Dutzende von Möwen, die sie misstrauisch beobachteten, jedoch sitzen blieben. Der Himmel war beinahe wolkenlos, bereit für den ersten Kreidestrich, ein erstes Wort auf einer geputzten Wandtafel.

Die Sonne brannte heiß auf den Felsen, weit draußen war ein Fischer, der allein auf seinem Boot arbeitete, damit beschäftigt, von Boje zu Boje zu fahren, die die

Der Motor des Hummerbootes wurde lauter, die Rockmusik ebenso, aber Corinna blieb liegen und lauschte dem Flügelklatschen der Möwen, die sich in die Luft erhoben und flüchteten. Als das Motorengeräusch verklungen war und die Wellen, die das Boot verursachte, nicht länger gegen die Küste schlugen, stand sie auf. Sie würde von der Steinschulter auf die angrenzenden Felsen klettern und um die Landzunge herum bis zu der Stelle gehen, von der man direkt ins tiefe Wasser steigen konnte. Sie zog ihr Sommerkleid aus und schlüpfte in die Badeschuhe. Michael hatte sich geweigert, das Paar anzuziehen, das sie für ihn bei Walmart gekauft hatte. Lieber hatte er sich die Fußsohlen an den Steinen zerschnitten und war ihr

Die Sonne blendete Corinna, und sie ging vorsichtig um die Landzunge herum auf die Südseite der Insel. Nun spürte sie den Wind. Ein dicker Ast, bestimmt bei einem der Frühlingsstürme vom Stamm einer Föhre abgebrochen, knarzte, ein abgestorbener Zweig schien ihr zuzuwinken. Das Meerwasser, das sich in einer wannenförmigen Mulde angestaut hatte, war so warm, dass sie sich hineinstellte und, geblendet vom Licht, auf die weiße Fläche des Meeres hinausschaute. Das Wasser reichte ihr bis über die Knöchel; sie strich mit den Zehen über den fein geschmirgelten Stein, kratzte an den winzigen schwarzen Muscheln, die sich daran festgesaugt hatten. Schließlich hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt. Der Kondensstreifen eines Flugzeugs zerschnitt den Himmel, bestimmt unterwegs nach Europa.

Da sah sie den Mann.

Er trieb rücklings dicht am Ufer im Meer.

Corinna stieg aus der Mulde und trat so nahe wie möglich an den Mann heran. Er war tot. War es wichtig, eigene Grenzen zu überschreiten oder reichte es, sie zu erkennen und zu akzeptieren? Sie versuchte verzweifelt, so ruhig wie möglich zu atmen und sich darauf zu konzentrieren, was sie wahrnahm, und sich wichtige Details einzuprägen, statt zuzulassen, dass sich die Bilder des Vierfachmordes davorschoben, die von der Hitze des Feuers ausgelöschten Gesichtszüge, die verkohlten, in menschenunmögliche Verrenkungen gezwungenen Körper. Der schwere Körper

Jemand hatte dem Mann die Greifbacken einer Hummerzange durch die Augenhöhlen in den Kopf und damit ins Hirn getrieben. War er daran gestorben? Eine Blutfahne trieb um seinen Hinterkopf, ein hauchzarter verwehter roter Seidenschal. Die Zange saß ihm wie ein Insekt mitten im Gesicht, eine silberne Spinne.

Der Tote war groß und kräftig.

Der Tote war braun gebrannt.

Auf seinen rechten Oberarm war eine stilisierte Sonne mit gewundenen Strahlen tätowiert, darunter ein Wort, das sie nicht lesen konnte.

Corinna kannte den Toten.

Norman Dunbar.

Mit seiner Frau Tracy war sie befreundet.

Norman Dunbar gehörte das größte Anwesen auf Spruce Head Island.

Künstliches Lachen

Im Keag war die Zeit stehen geblieben; der Grocery Store sah aus wie der Laden im Dorf von Corinnas Großeltern im Appenzell Anfang der siebziger Jahre. Im hinteren Teil des Raumes standen eine Handvoll Tische, im vorderen Bereich befanden sich die Theke mit Kasse, die offene Küche, Kühlregale sowie Gestelle mit Lebensmitteln, Haushaltsartikeln und einem verblüffend guten Weinsortiment. Touristen verirrten sich nur im Sommer ins Keag; Corinna war von den Einheimischen lange behandelt worden, als wäre sie unsichtbar. Aber mittlerweile wurde sie selbst von den Lobsterfischern begrüßt, und Linda öffnete die Vitrine mit den Donuts, sobald sie zur Tür hereinkam.

Corinna setzte sich mit einer Tasse Kaffee und einem Zimtdonut an einen der Fenstertische und stellte erstaunt fest, dass ihre Hände zitterten. Die Angler standen wie üblich an der Stelle, an der der Weskeag River in die Bucht floss, über sich Möwen, die geduldig im Wind segelten und versuchten, den Männern die Fische von den Haken zu schnappen.

Nachdem sie den toten Norman Dunbar gefunden hatte, war sie nicht sofort zu ihrer Tasche gelaufen, um auf dem Handy die 911 anzurufen. Erst war sie ins Meer gestiegen und hatte sich seine Leiche aus der Nähe angesehen. Die Greifbacken der Hummerzange waren mit enorm viel Kraft und demnach Wut oder gar Hass durch die

Das Wasser vor den Fenstern hatte jenen stahlblauen, für den Sommer viel zu kalten Farbton angenommen, den es bekam, bevor das Wetter umschlug. Ihre rechte Hand zitterte immer noch. Sie stand auf, schob sich den Rest des Donuts in den Mund und stellte sich ans Fenster. Drei Vögel jagten hintereinander über den Wasserspiegel, drehten vor der Brücke ab und stiegen steil in den Himmel. Die Sonne traf den Glockenturm der weiß gestrichenen Kirche am anderen Ufer und verwandelte ihn in eine blitzende Klinge. Ein Mann ging über die Brücke, die lange Angel geschultert. Das Budweiser-Neonschild, das über ihr im Fenster hing, knisterte. Corinna schluckte; es war nicht einfach, die Spirituosen im Regal beim Eingang zu ignorieren. »Ich will nicht trinken, ich muss!«, hatte sie Michael ins Gesicht geschrien. Er war aus ihrer Wohnung gestürmt, mit dem Auto weggefahren und nie mehr zurückgekehrt. Als sie das erste Mal bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker aufstand und redete, erfand sie eine nicht angebrochene Flasche Johnny Walker, die sie unter der Spüle verstecke, weil sie die bewundernden Blicke der anderen ehemaligen Trinker genoss. Sie beschrieb die stete Versuchung, die die Whiskyflasche bedeutete, wobei sie das Knacken im Ohr habe, das es gab, wenn man einen Verschluss das erste Mal aufdrehte und das Siegel brach.

Corinna trat an die Theke und schaute zu, wie Linda für eine ältere Frau einen Hummer aus dem Wassertank nahm und in eine Plastiktüte stopfte. Da die Frau den Zahlencode ihrer Kreditkarte vergessen und kein Geld bei sich hatte, musste sie anschreiben lassen. Die Frau ging langsam zu einem Truck vor dem Postamt, reichte die Tüte mit

»Eine Schachtel Marlboro, Linda.«

»Du rauchst?«

Corinna schüttelte den Kopf und vermied es, Linda anzusehen. Sie kam sich vor wie ein Schulmädchen, das von seiner Mutter beim Lügen erwischt worden war.

»Willst du sie etwa essen?«

»Ich fang wieder an.«

»Wann hast du aufgehört?«

»Vor vier Jahren, zehn Monaten und sechs Tagen.«

»Da zählt eine die Stunden«, sagte die Köchin und lächelte Corinna verschwörerisch zu, während sie Hamburger auf der Grillfläche wendete.

»Ich halte dich ganz bestimmt nicht auf«, sagte Linda und reichte ihr die Schachtel. »Du siehst aus, als könntest du etwas Nikotin brauchen.«

Das Funkeln der bernsteinfarbenen und glasklaren Spirituosen in ihrem Rücken war so verführerisch, dass Corinna verkrampft geradeaus starrte, während sie zahlte.

Als sie am Steuer saß und die Zigarette anstecken wollte, fiel ihr ein, sie hatte weder Streichhölzer noch Feuerzeug. Sie musste ins Keag zurück und unter Lindas Spott – »Du brauchst kein Feuer, du willst sie doch essen!« – ein Plastikfeuerzeug kaufen. Sie zündete die Zigarette an und fuhr los; sie schmeckte furchtbar. Corinna ließ das Fenster nach unten gleiten und warf die Zigarette nach einem weiteren Zug erleichtert auf die Straße. Zumindest mit dem Rauchen war sie durch. Die Schachtel zerknüllte sie und schmiss sie in den Fußraum vor dem Beifahrersitz.

Sie beschloss den Umweg über die Waterman Beach Road zu nehmen, weil sie von dort zum Fundort der Leiche hinübersehen konnte. Nach dem Lobster Buoy

Corinna ließ das Fernglas sinken. Tracy hatte letzten Sommer auf der Route 131 zwischen Saint George und Tenants Harbor eine Reifenpanne gehabt. Corinna hatte angehalten und sie bis Port Clyde mitgenommen, wo sie im Dip Net an einem Tisch direkt am Wasser eine Flasche Chablis getrunken, Austern geschlürft und den Sonnenuntergang genossen hatten und sich nach der zweiten Flasche von einem Taxi abholen lassen mussten. So hatten sie sich kennengelernt. Tracy war Michael unsympathisch gewesen: »Sie ist operiert, und ihr Lachen ist nicht echt.« Zu viert getroffen hatten sie sich nie. Corinna war Norman nur ein Mal begegnet, als sie Tracy in ihrem Haus an der Headland Road besuchte. Während Norman ihr die Hand schüttelte, war Corinna sein Credo eingefallen, das Tracy ihr verraten hatte: »Money talks, it says goodbye!« Er war auf dem Weg zum Flughafen gewesen, um den Flug nach Boston zu erwischen und danach nach New York weiterzureisen, »um aufzupassen, dass mein Geld auf keinen Fall auf Wiedersehen sagt«.

Und nun war Norman Dunbar tot. Ziemlich sicher umgebracht mit einer Hummerzange. Corinna startete den Motor und fuhr weiter, ohne noch einmal über die Bucht zu schauen.

Nachtlichter

Nach Einbruch der Dunkelheit setzte Corinna sich am liebsten auf das obere Deck, um zu telefonieren, unter sich das dunkle Meer und die Positionslichter der Hummerboote, die im Seal Harbor vor Anker lagen, hinter sich das Licht ihrer Nachttischlampe, das einen buttergelben Kreis auf ihr Bett warf. In Maine wurde es im Sommer viel früher dunkel, als sie erwartet hatten. Es war kühl geworden, hatte aber nicht wie vorhergesagt geregnet. Sie holte eine Wolljacke aus dem Schrank und warf einen Blick auf den Radiowecker: 19:20 Uhr.

Sie besaß weder Tracys Festnetznummer in Boston noch die ihres Anwesens in South Carolina und hatte den ganzen Abend ohne Erfolg versucht, sie auf dem Handy zu erreichen. Woher kam das Licht, das die Kabinenscheiben der Boote aufblitzen ließ? Hantierte jemand mit einer Stablampe herum? Noch einmal wählte sie Tracys Handynummer, wieder klingelte es endlos, ohne dass ihr Anruf auf die Mailbox weitergeleitet wurde. Kaum hatte sie auf- und das Telefon neben sich auf den Tisch gelegt, klingelte es.

»Tracy! Es tut mir leid, was …«

»Ma? Hallo? Bist du das?«

»Tom?«

Ihr Sohn Thomas lachte unbekümmert. Seine Stimme hatte zwar nichts mehr mit seiner Kinderstimme zu tun, aber er klang trotzdem eher wie ein Junge als wie ein Erwachsener.

»Eine Bekannte. Wie geht es dir?«

In der ersten Klasse hatte Thomas sie allen Ernstes gefragt, ob Dinge genau wie Menschen Wünsche hätten. »Wäre Wasser lieber trocken?« »Möchte eine Lampe leuchten?« »Stinkt ein Käse gerne?«

»Gut, Ma.«

»Kannst du nicht schlafen? Bei euch ist es halb zwei!«

»Ich habe lange gearbeitet. Charlotte ist nervös.«

»Nervös? Wieso?«

»Sie fliegt nicht gern. Wieso habt ihr kein Haus in Italien gekauft, Ma? Oder in Spanien?«

»Weil es uns in Maine besser gefällt, Tom! Die Küste ist traumhaft, das Meer sauber, die Wälder riesig, die Natur unverbaut, die Menschen in sich gekehrt, aber freundlich. Sie lassen dich in Ruhe.«

»Ist es nicht saukalt? So hoch im Norden?«

»Heute waren es 26 Grad, gestern 29. Und vorgestern 34. Zufrieden?«

»Gibt es überhaupt Wein bei euch? Oder muss Charlotte Bier trinken?«

»Witzig, witzig!«

»Und wie ist das Essen?«, fragte er ironisch.

»Besser als du denkst, viel besser. Ihr werdet staunen! Wann kommt ihr genau?«

»Du weißt nicht, wann wir ankommen? Freust du dich überhaupt?«