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Der neue Sonnenwinkel
– Staffel 1 –

E-Book 1-10

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-988-5

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Die neue Ärztin

Dr. Roberta Steinfeld sorgt für Aufregung im Sonnenwinkel

Roman von Dornberg, Michaela

Es war ein herrlicher, sonniger Mittag, ganz so wie in einem Bilderbuch, mit einem klarblauen Himmel, auf dem weiße Schäfchenwolken tanzten.

Das Mittagessen war gekocht.

Inge Auerbach saß auf ihrer Terrasse in einem schönen, dazu erstaunlich bequemen Korbsessel und wartete nur noch darauf, dass ihre Jüngste, Pamela, die jeder nur Bambi nannte, aus der Schule kam.

Es war still geworden im Landhaus am Sternsee.

Inge fragte sich immer wieder, wo die Zeit eigentlich geblieben war.

In der Erinnerung sah sie sich mit ihrer Familie in dieses wunderschöne Haus einziehen, das ihr Ehemann, der bekannte Professor Werner Auerbach, überraschend für sie gekauft hatte.

Anfangs waren sie wirklich nicht alle von dieser Idee begeistert gewesen. Doch dann hatten sie alle, trotz mancher Höhen und Tiefen, ihr Glück gefunden.

Ricky, die kein Mensch Henrike nannte, obwohl sie eigentlich so hieß, war mit ihrem Fabian glücklich geworden. Vier Kinder hatten sie mittlerweile und aus ihr eine glückliche Großmutter gemacht.

Ihr Ältester, Jörg, war praktischerweise mit Fabians Schwe­ster Stella verheiratet. Ob es bei diesem glücklichen Paar bei zwei Kindern bleiben würde, war noch nicht abzusehen.

Hannes, der es mit der Schule nie so genau genommen und­ jahrelang Achterbahnnoten nach Hause gebracht hatte, sehr zum Entsetzen seines klugen Vaters, hatte zum Schluss den Dreh bekommen und ein besseres Abitur gemacht als seine Geschwister.

Mit einer Eins-Komma-Null standen ihm alle Türen offen.

Er war noch jung, hatte keine Eile, wollte sich auch noch nicht festlegen, zumal er auch die Möglichkeit hatte, mit Stipendium in New York an der Columbia zu studieren.

Im Augenblick war er mit Freunden als Backpacker unterwegs, um sich den Wind ein wenig um die Ohren wehen zu lassen.

Inge hatte auch jetzt noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie daran dachte, dass er sich in Ländern aufhielt, in denen er nicht einmal mit Englisch weiterkam.

Werner hatte seinen Sohn bestärkt, hatte sogar ordentlich seine Reisekasse aufgebessert, die Hannes sich zuvor als Regalauffüller in einem Supermarkt mühsam verdient hatte.

Hinterher war herausgekommen, dass es auch ein Traum ihres Ehemannes gewesen war, unbeschwert nach dem Abitur durch die Welt zu reisen, was seine Eltern leider erfolgreich zu verhindern gewusst hatten.

Ricky hatte, obwohl sie sehr klug war, überhaupt keine beruflichen Ambitionen gehabt, sondern nach dem Abitur direkt ihren Lehrer, Dr. Fabian Rückert geheiratet, der mittlerweile der angesehene Direktor eines großen Gymnasiums war.

Jörg hatte bei der Auswahl seiner Freundinnen immer daneben gegriffen, und sie waren heilfroh gewesen, als er sich in Stella verliebt hatte. Eine bessere Schwiegertochter konnte Inge sich nicht wünschen. Umgekehrt war es allerdings ebenso. Sie und Werner hatten als ­Eltern alles für ihre Kinder getan, sie hatten immer zuerst an sie gedacht und ihnen all die Liebe geschenkt, die ein Kind brauchte, um sich zu einem selbstbewussten Menschen zu entwickeln. Und sie hatten sie gefördert, wo sie nur konnten.

Und als Schwiegereltern hatten sie die Partner ihrer Kinder mit offenen Armen aufgenommen.

Und sie taten etwas sehr Kluges, um Konflikte von vornherein zu vermeiden, sie hatten sich von Anfang an herausgehalten.

Ach ja, sie und ihr Werner, sie waren schon ein gutes Team. Vor die Wahl gestellt, würde sie sich sofort wieder für ihren Mann entscheiden.

Sie liebte ihn noch immer wie am ersten Tag, und seiner Liebe konnte sie sich auch sicher sein.

Natürlich war es auch bei ihnen nicht immer nur eitel Sonnenschein gewesen.

Manchmal hatte es sogar ganz ordentlich gekracht. Nur langanhaltende Kräche hatte es nie gegeben, sie hatten sich direkt wieder versöhnt. Und vor allem hatten sie, bei allem Zorn, ihre Kräche niemals vor ihren Kindern ausgetragen.

Leider hatten sie in ihrem Umfeld, auch unter ihren Freunden, einige Trennungen erlebt, die teilweise unterhalb der Gürtellinie verlaufen waren. Und sie hätten es nie für möglich gehalten, dass man sich um eine angeschlagene Vase erbittert streiten konnte.

Inge griff nach ihrer Kaffeetasse, trank genüsslich einen Schluck, ehe sie sich wieder zurücklehnte.

Sie war heute ganz schön sentimental. Vielleicht lag das an dem schönen Wetter. Da sah man die Welt mit ganz anderen Augen.

Ihre Augen sahen jetzt auf jeden Fall, dass überall Unkraut wucherte, und dass sie unbedingt den Gärtner bestellen musste, damit er die vom Sturm niedergerissenen Bäume entfernte.

So schön ein großer Garten auch war. Es gab stets eine Menge zu tun. Mit ihrem Professor konnte sie nicht rechnen, der hatte, was die praktischen Dinge des Lebens anging, zwei linke Hände.

Bambi war ihr eine sehr große Hilfe. Sie liebte die Gartenarbeit und war mit Feuereifer dabei. Sie war überhaupt ein richtiger Sonnenschein.

Dieses Kind war ihnen vom Himmel geschickt worden. Und so traurig es auch war, dass Bambi als Einjäh­rige ihre leiblichen Eltern durch einen tragischen Au­tounfall verloren hatte. Sie hatten es nie bereut, dieses entzückende Kind spontan bei sich aufgenommen und adoptiert zu haben.

Die Adoption …

Inge Auerbach bekam ein ganz schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, dass Bambi noch immer nicht wusste, dass sie kein leibliches Kind der Auerbachs war. Für sie und Werner war Bambi ein Kind ihres Herzens, das sie nicht weniger liebten als ihre anderen Kinder. Im Gegenteil, manchmal sogar ein wenig mehr, weil die Kleine ein ganz außergewöhnliches Mädchen war.

Inge seufzte bekümmert.

Sie hatten es Bambi immer sagen wollen. Auch ihre eigenen Kinder hatten darauf gedrängt, weil sie der Meinung waren, dass Bambi ein Recht darauf hatte, alles über ihre Herkunft zu erfahren.

Für Jörg, Ricky und Hannes hatte es nie ein Problem gegeben, keine Eifersüchteleien.

Bambi war vom ersten Augenblick an ihre kleine, vor allem ihre über alles geliebte Schwester gewesen.

Inge trank noch etwas von ihrem Kaffee, seufzte erneut. Werner und sie hatten den Zeitpunkt verpasst!

Je älter Bambi wurde, und je selbstverständlicher sie als eine Auerbach-Tochter auftrat, um­so schwieriger wurde es. Inge und Werner, der ganze Hörsäle von Studenten in seinen Bann ziehen konnte, dem interna­tional bekannte Wissenschaftler begeistert applaudierten, brachten es nicht übers Herz, ihrem Kind, und das war Bambi für sie, die Wahrheit zu sagen.

Auch wenn sie wussten, dass es falsch war, steckten sie weiterhin den Kopf in den Sand, verschoben es auf später.

Ein solches Verhalten passte weder zu Inge, noch zu Werner.

Sie waren offene, aufrichtige Menschen.

Was war da nur schief gelaufen?

Anfangs waren sie der Meinung gewesen, Bambi sei noch zu klein, um mit der Wahrheit konfrontiert zu werden.

Ach, es war müßig, sich jetzt all die Versäumnisse in Erinnerung zu rufen und die Gründe, weswegen sie es nicht getan hatten.

Sie waren zu feige gewesen, genau das war der Punkt.

Inge Auerbach blickte auf ihre Armbanduhr, die Werner ihr zum fünfundzwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte und die sie über alles liebte.

Wo blieb Bambi eigentlich? Sie hätte längst zu Hause sein müssen, weil sie nicht zu den Kindern gehörte, die herumtrödelten, sondern immer gleich nach der Schule zu ihren Eltern wollte.

Ihr war doch wohl nichts passiert?

Diesen Gedanken verwarf Inge so schnell, wie er ihr gekommen war.

Im Sonnenwinkel kannte jeder jeden.

Wäre etwas passiert, dann hätte man es ihr längst zugetragen, und man hätte sich um Bambi gekümmert.

Hier zu leben war ein Privileg!

Im Sonnenwinkel, der aus den Orten Erlenried und Hohenborn bestand, lag die Kriminalrate bei Null.

Hier gab es sie noch, die heile Welt.

Zumindest, was das Außen betraf. Dass innerhalb der einzelnen Familien nicht ­immer eitel Sonnenschein herrschte, war normal. Die Menschen waren verschieden, auch hier im Sonnenwinkel. Doch eines hatten sie schon gemeinsam. Sie liebten ein Leben fernab der Turbulenz der Großstädte.

Also gut, Sorgen machen musste sie sich keine.

Doch wo blieb Bambi?

Professor Werner Auerbach kam in diesem Augenblick auf die Terrasse hinaus.

Er war ein hochgewachsener Mann, schlank, mit einem schmalen Gesicht, zu dem die randlose Brille ganz hervorragend passte. Er gehörte zu den Männern, die mit zunehmendem Alter immer attraktiver wurden und bei denen graue Schläfen interessant aussahen.

Er lief auf seine Frau zu, beugte sich über sie, drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, ehe er sich erkundigte: »Bleibt bei uns heute die Küche kalt? Ich habe Hunger.«

Sie drehte sich zu ihm um, lächelte ihn an.

»Wir müssen nur noch auf Bambi warten. Das Essen ist fertig.«

Werner Auerbach setzte sich.

»Nun gut, das kann ja nicht mehr so lange dauern, ich hatte schon die Befürchtung, du wolltest wegen des schönen Wetters heute streiken und uns mit einem Butterbrot abspeisen.«

»Was auch kein Drama wäre«, bemerkte Inge leichthin. »In vielen Ländern werden mittags nur ein Salat oder ein Sandwich gegessen, und die Hauptmahlzeit wird am Abend eingenommen.«

Er lächelte sie an, und ihr wurde ganz warm ums Herz. »Mein Liebes, vielleicht erinnerst du dich daran, dass wir in einigen dieser Länder gemeinsam gelebt haben und ich mit diesen Gepflogenheiten durchaus vertraut bin? Seit wir hier im Sonnenwinkel leben, weiß ich die deutsche Gemütlichkeit zu schätzen.«

Nun blickte auch er auf seine Uhr. »Unsere Bambi ist wirklich überfällig. Ich denke, ich fahre ihr ein Stück entgegen. Vielleicht hat sie den Bus verpasst.«

*

Professor Auerbach wollte gerade aufstehen und sein Vorhaben in die Tat umsetzen, als Bambi auf die Terrasse gestürmt kam.

Sie war ein entzückender Teenager und sah mit ihren braunen Locken und den großen grauen Augen ausgesprochen hübsch aus.

Schon jetzt umstrichen die Knaben ihres Alters das Haus, doch noch war Bambi an Jungen nicht interessiert.

Ganz gegen ihre sonstige ­Gewohnheit schmiss sie ihre Schultasche in eine Ecke, ließ sich ebenfalls in einen Sessel fallen und rief: »Bitte sagt mir, dass das nicht wahr ist.«

Ihre Stimme war laut, ihre Augen blitzten.

Es musste schon etwas sehr Gravierendes geschehen sein, das Bambi so aufregte.

Inge nahm es gelassen. Sie lächelte ihre Tochter liebevoll an.

»Um dir eine Antwort geben zu können, solltest du dich ein wenig präziser ausdrücken, mein Kind.«

Das tat Bambi zunächst einmal nicht, denn pfeilschnell kam aus einer hinteren Ecke des Gartens Jonny, Bambis schon ziemlich in die Jahre gekommener Collie, hervorgeschossen, um sein Frauchen zu begrüßen.

Bambi und Jonny waren ein Herz und eine Seele, seit Fabian ihr den Hund als ­Welpen geschenkt hatte.

Für sein Alter war er noch gut dabei, doch auch ein Hundeleben dauerte nicht ewig, und Inge hatte jetzt schon Angst, wenn sie daran dachte, dass Jonny eines Tages nicht mehr da sein würde.

Doch augenblicklich mussten sie sich darum noch keine Gedanken machen.

Die Begrüßung war herzlich, Bambi umarmte ihren Jonny und streichelte ihn hingebungsvoll, und der war außer sich vor Freude.

Der Professor unterbrach diese Idylle, indem er aufstand und sagte: »So, dann können wir jetzt endlich essen.«

Er ging voraus in die Küche, nicht ohne vorher seiner Tochter gesagt zu haben: »Und wasch dir die Hände.«

Bambi lachte, sie schien ihren Ärger vergessen zu haben. »Aber Papi, das musst du mir doch nicht sagen, das weiß ich.«

Sie erhob sich, ging ebenfalls ins Haus, Jonny trottete neben ihr her, die Schultasche blieb auf der Terrasse liegen.

Inge nahm sie mit hinein.

Wenig später saßen sie an dem großen blank gescheuerten Küchentisch.

Die Auerbachs besaßen ein Esszimmer mit wunderschönen Biedermeiermöbeln, die Inge von einer Tante geerbt hatte.

Doch diesen Raum benutzten sie nur selten, sie liebten ihre Küche und deren Gemütlichkeit. Und Inge liebte große blanke Tische. Außerdem war es praktisch, da hatte sie nur kurze Wege vom Herd zum Tisch.

Heute Mittag gab es einen Gemüseeintopf, den Werner Auerbach besonders liebte. Er war zu vielen offiziellen Essen eingeladen, die jeweils aus mehreren Gängen bestanden. Früher war es noch häufiger der Fall gewesen. Er schätzte die bürgerliche Küche, ganz besonders die Kochkünste seiner Frau, die es mit so manchem Sternekoch aufnehmen könnte. Seine Inge war einfach großartig, und das in jeder Hinsicht. Und attraktiv war sie außerdem. Er hatte sich sofort in sie verliebt. Sie war seine Mrs Right, seine Mrs Perfect. Und obwohl er viele Gelegenheiten gehabt hatte und die noch immer da waren …

Er hatte einer anderen Frau nicht einmal einen Blick zugeworfen.

Er füllte seinen Teller ein zweites Mal, weil der Eintopf einfach zu köstlich war, dann wandte er sich an seine Tochter, der es auch schmeckte.

»Sag mal, mein Kind, du kamst mit einer Weltuntergangsstimmung nach Hause, warst außer dir … Was hat dich denn so aufgeregt? Was kann nicht wahr sein?«

Weil Jonny sie so hingebungsvoll begrüßt hatte und weil sie auch ziemlich hungrig gewesen war, hatte sie es vorübergehend verdrängt.

Doch nun war es wieder da. Bambi ließ ihren Löffel fallen, dann sagte sie: »Nun, dass Dr. Riedel mit seiner Familie hier wegziehen soll, angeblich nach Amerika.«

Inge begann zu lachen.

»Da musst du dich verhört haben, Kleines. Ehe er sich hier niedergelassen hatte, war Dr. Riedel in Amerika, das stimmt schon. Doch er arbeitet nun schon so viele Jahre als Arzt im Sonnenwinkel, er wird von seinen Patienten geliebt und gebraucht. Wenn man sich eine solche Existenz aufgebaut hat, dann gibt man das nicht wieder auf. Die Riedels sind glücklich hier, und wir sind es auch.«

Das hörte sich zwar sehr beruhigend an, was ihre Mutter da gesagt hatte, doch Bambi konnte sich damit nicht zufriedengeben.

»Mami, die Frau Hollenbrink hat es zu einer anderen Frau gesagt, die ich nicht kannte. Und die muss es doch wissen. Sie ist schließlich die Sprechstundenhilfe von Herrn Dr. Riedel und arbeitet seit vielen Jahren für ihn. Und Frau Hollenbrink hat ganz schön traurig geklungen.«

Bambi war ein sehr fantasievolles Kind, sie interpretierte sehr schnell Dinge in etwas hinein. Nicht nur das, manchmal ging die Fantasie auch mit ihrer Kleinen durch, und sie hatte Bambi deswegen schon mehrfach aufgefordert, Märchenbücher zu schreiben.

»Du kannst dich dennoch verhört haben, Bambi«, sagte Inge, weil sie sich auch einfach nicht vorstellen konnte, dass Dr. Riedel vom Sonnenwinkel wegziehen könnte. Die Riedels gehörten einfach dazu.

Werner Auerbach, der sich das bislang schweigend angehört hatte, räusperte sich.

»Bambi hat sich nicht verhört, Inge. Es trifft zu. Die Riedels werden uns verlassen, weil der Doktor ein ­Angebot bekommen hat, das er einfach nicht ablehnen kann.«

Inge konnte es nicht glauben.

Bambi konnte ihren Triumph nicht genießen, doch recht gehabt zu haben.

Inge Auerbach fasste sich als Erste.

»Werner, das glaube ich nicht«, sprach sie aus, was sie dachte. »Was kann so reizvoll sein, um alles hier einfach im Stich zu lassen? Die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen.«

Der Professor trank etwas, stellte bedächtig sein Glas wieder ab, während seine Frau und Bambi wie auf Kohlen saßen. Das wollten sie jetzt aber wissen!

»Sein früherer Chef hat ihm eine florierende Privatklinik in Philadelphia vermacht. Das allerdings nur unter der Voraussetzung, dass er sie auch selbst weiterführt.«

Nach diesen Worten war es still, und es dauerte eine ganze Weile, ehe Bambi sagte: »Damit kommt unser Sonnenwinkel natürlich nicht mit.«

Recht hatte sie.

»Und wann soll es losgehen?«, wollte Inge wissen.

»Recht schnell«, war seine Antwort.

»Und was wird aus uns?«

»Für seine Nachfolge ist gesorgt.«

Inge Auerbach schaute ihren Mann an.

»Sag mal, Werner, woher weißt du das eigentlich alles?«, erkundigte sie sich.

»Vom Doktor höchstpersönlich, und ehe ihr mich mit weiteren Fragen löchert, es wird kein großes Verabschieden geben, das wollen sie wegen der Kinder nicht, die natürlich viel lieber hierbleiben würden. Der Doktor wird jeden seiner Patienten anschreiben und sich verabschieden und bei dieser Gelegenheit dann auch seine Nachfolgerin vorstellen und empfehlen.«

»Nachfolgerin?«, riefen In­ge und Bambi wie aus einem Mund.

Diese Reaktion irritierte den Professor ein wenig. »Ja, Nachfolgerin. Ihr habt doch wohl keine Probleme mit einer Frau?«

Das hatten sie natürlich nicht. Doch jetzt waren sie neugierig und wollten natürlich mehr wissen.

Das verriet er nicht, obwohl er es wusste. Er sagte seinen beiden Grazien auch nicht, dass er die Frau Doktor sogar schon kennengelernt hatte.

»Sie ist eine großartige Ärztin, sie und Dr. Riedel haben zusammen studiert, danach niemals so ganz den Kontakt verloren.«

Für Bambi wurde es uninteressant, sie erkundigte sich höflich, ob sie aufstehen und gehen dürfe.

Dagegen hatte Inge überhaupt nichts, denn sie brannte darauf, von ihrem Mann mehr zu erfahren.

»Hat sie Familie?«, wollte sie wissen.

Ein Kopfschütteln war die Antwort.

»Wenigstens einen Ehemann?«

»Nein, Inge. Warum stellst du solche Fragen? Das alles hat doch nichts mit einer fachlichen Qualifikation zu tun.«

»Das nicht, mein Lieber. Aber wir wohnen hier, wie du weißt, nicht in einer Großstadt. Das kulturelle Angebot ist eher bescheiden. Eine alleinstehende Frau nimmt es doch nicht freiwillig auf sich, in … Nun ja, ich drücke es mal drastisch aus, in die … Pampa zu ziehen. Das ist was für Ehepaare, denen die Familienplanung noch bevorsteht, für Familien mit Kindern …, mal ganz ehrlich, mit dieser Frau Doktor scheint etwas nicht zu stimmen. Wie heißt sie überhaupt?«

Werner Auerbach liebte seine Frau wirklich über alles. Und sie war auch sehr klug, obwohl sie nicht ­studiert hatte. Sie besaß einen gesunden Menschenverstand, was manchmal mehr wert war als ein Prädikatexamen.

Nur wenn sie emotional bewegt war, und das war sie jetzt, plapperte sie, ohne nachzudenken.

Aber so war sie halt, und deswegen liebte er sie kein bisschen weniger.

»Liebes, um hier im Sonnenwinkel wohnen zu wollen, wohnen zu dürfen, dazu muss man sich keine Genehmigung einholen, und es setzt auch kein kollektives Verhalten voraus. Und das mit den Ehepaaren und Familien stimmt so auch nicht. Erinnere dich an die Opernsängerin, die wir mal in der Nachbarschaft hatten, die sich verzweifelt hierher geflüchtet hatte, weil sie Stimmprobleme hatte. Oder der Schriftsteller mit der Schreibblockade, der wohnte monatelang hier.«

Inge winkte ab. Wenn ihr Mann so drauf war, dann begann er zu dozieren. Und darauf hatte sie jetzt überhaupt keine Lust. Dazu war sie viel zu neugierig.

»Okay, Werner. Ich habe verstanden, du hast recht«, am liebsten hätte sie jetzt hinzugefügt: »wie immer«. Doch das stimmte nicht und würde auch nur einen unnötigen Streit heraufbeschwören. »Erzählst du mir, was du weißt?«

Natürlich tat er das, weil er vor seiner Frau keine Geheimnisse hatte, und sie würde es ohnehin erfahren. Warum also nicht sofort.

Er erzählte ihr, dass Dr. Roberta Steinfeld eine erfahrene Ärztin war, vor allem eine ganz hervorragende Diagonistikerin, die sich immer wieder weitergebildet hatte.

»Sie leitete zusammen mit ihrem Ehemann eine große Praxis, deren Erfolg in erster Linie ihr zu verdanken war. Als sie seine ewigen Seitensprünge nicht mehr aushalten konnte, ließ sie sich scheiden und verzichtete, weil sie keine schmutzige Wäsche waschen wollte, auf ihren Anteil an der Praxis und ging. Das Angebot von Dr. Riedel kam ihr gerade recht. Privat ist sie ziemlich am Boden, beruflich freut sie sich auf die neue Herausforderung.«

»Und wenn sie sich wieder gefangen hat, wird sie dann gehen?«

»Liebes, darüber müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen. Es ist allein ihre Entscheidung. Lass sie doch einfach erst mal ankommen. Ich werde ihr auf jeden Fall unvoreingenommen gegenübertreten.«

»Ich doch auch, Werner. So haben wir es bisher immer gehalten. Wieso sollte sich da etwas geändert haben? Die von Riedings haben uns mit offenen Armen aufgenommen, ganz besonders Sandra. Das werde ich nie vergessen.«

Der Professor nickte zufrieden.

»Da jetzt alles geklärt ist: Was hältst du davon … sollen wir noch gemeinsam auf der Terrasse einen Espresso hinken, ehe ich wieder an meine Arbeit gehe?«

Dagegen hatte Inge nichts einzuwenden, im Gegenteil.

Während sie sich an der Espressomaschine zu schaffen machte, hörte sie ihren Mann rufen: »Für mich bitte einen Doppelten.«

Sie lächelte. Als wenn sie das nicht wüsste.

*

Dr. Roberta Steinfeld deutete auf zwei große Kartons, die angefüllt waren mit Bekleidungsstücken.

»Damit mach, was du willst, Nicki. Du kannst die Sachen behalten, du kannst sie verkaufen, verschenken, ins Frauenhaus bringen.«

Nikola Beck blickte ihre Freundin bekümmert an.

»Wenn du deinem treulosen Ex schon alles überlässt, nichts mitnehmen willst, was dich an ihn erinnert. Anziehen musst du dich doch in diesem Dorf. Auch wenn das niemand kennt, kann ich mir nicht vorstellen, dass man dort nackt zwischen den Bäumen hindurchhüpft.«

Roberta schenkte ihrer Freundin ein nachsichtiges ­Lächeln.

Für Nicki war es unvorstellbar, dass jemand freiwillig die Stadt verließ, um irgendwo auf dem platten Land neu anzufangen.

Nicki irrte sich in mehrfacher Hinsicht, und es war kein plattes Land, sondern ein wunderschönes, hügeliges. Es war eine sehr reizvolle Gegend, in die Roberta sich sofort verliebt hatte.

»Nicki, ich überlasse Max nicht alles, sondern nur das, was wir gemeinsam angeschafft haben. Und was meine Bekleidung betrifft, so alt kann ich überhaupt nicht werden, um all das auftragen zu können, was ich mit in mein neues Leben nehme. Nicki, du bist voller Vorurteile, freue dich noch ganz einfach mit mir. Als freie Übersetzerin bist du unabhängig, du kannst überall arbeiten. Warum nicht im Sonnenwinkel? Ich werde da ein wunderschönes Haus beziehen, und du bist jetzt schon herzlich eingeladen, so viel Zeit bei mir zu verbringen, wie du willst.«

Das allerdings war für Nikola derzeit noch absolut unvorstellbar, doch das sagte sie ihrer Freundin nicht.

Eigentlich hatte sie schon mehr gesagt, als sie hätte sagen dürfen.

Roberta war eine kluge, erwachsene Frau, die wusste, was sie tat.

Und wenn man mit einem Schwerenöter, einem notorischen Fremdgänger verheiratet gewesen war wie mit diesem Max, den Nikola nie hatte leiden können, dann würde wohl jede Frau ver­suchen, von ihm so weit wie nur möglich wegzukommen.

Nikola stand auf, umarmte ihre Freundin stürmisch.

»Du wirst mir fehlen, Ro­berta. Ich vermisse dich schon jetzt.«

»Nicki, ich dich auch. Aber ich bin nicht aus der Welt, und wie gesagt, mein Angebot steht. Du bist jederzeit herzlich willkommen im Sonnenwinkel.«

Nikola Reck, noch immer auf der Suche nach ihrem Mr Right, trotz einiger schmerzhafter Fehlschläge, erkundigte sich. »Gibt es da attraktive und­ nicht ganz unvermögende Junggesellen?«

Trotz ihres ganzen Elends musste Roberta lachen.

Typisch Nicki. Sie sprach vollmundig über attraktive, reiche Männer, dabei waren ihre bisherigen Verehrer weder das eine noch das andere gewesen, und dennoch hatte ihre Freundin sich auf sie eingelassen, weil sie geglaubt hatte, sie zu lieben.

»Ich denke, eher nicht. In erster Linie leben Familien im Sonnenwinkel und Ehepaare, die eine Familie gründen möchten. Doch Enno Riedel hat mir auch von einer Ausnahme erzählt. Ein reicher verwitweter Fabrikant mit Kind hat sich in Sandra von Rieding aus dem Herrenhaus verliebt, sie geheiratet, und …«

Sie wurde von ihrer Freundin unterbrochen. »Warum erzählst du mir das, Roberta? Dieser Fabrikant ist vom Markt, und er wird sich meinetwegen bestimmt nicht scheiden lassen. Und ansonsten denke ich, werden Männer mit Kohle nicht reihenweise in dieser dörflichen Idylle auftauchen.«

»Meine Mutter hat immer gesagt: Was auf deinen Weg kommen soll, kommt auf deinen Weg«, bemerkte Roberta.

»Dabei hat sie bei dir aber ganz gewiss nicht an diesen windigen Max gedacht, der dich ausgenommen hat wie eine Weihnachtsgans«, sagte Nicki.

Es tat noch immer weh, doch Roberta bemühte sich, darüber hinwegzukommen.

»Es wird ihn einholen«, sagte sie leise. »So, wie er sich alles unter den Nagel gerissen hat, kann es ihm kein Glück bringen.«

»Als erstes werden ihm die Patienten wegbleiben. Die wollten nicht von ihm behandelt werden, sondern von dir. Abgesehen von diesen Hühnern, die mit ihm ins Bett wollten.«

Nikola blickte auf ihre Uhr, sprang entsetzt auf. »Du liebe Güte, ich habe eine Verabredung mit einem Auftraggeber. Ich muss weg, hoffentlich wartet er auf mich. Ich komme später wieder. Und du überleg währenddessen, ob du die Klamotten nicht doch mitnehmen willst.«

Sie umarmte ihre Freundin stürmisch, dann lief sie los. Roberta Steinfeld seufzte, dann sortierte sie weiter.

So cool, wie sie sich Nicki gegenüber gab, war sie längst nicht.

Sie hatte ihre Entscheidung, Enno Riedels Praxis zu übernehmen, sehr spontan getroffen, zumal die Voraussetzungen stimmten und er ihr ein gutes Angebot gemacht hatte, das sie so schnell nicht wieder bekommen würde.

Nur … War es die richtige Entscheidung?

Gut, das sah man meist erst hinterher. Aber der Schritt von einer Großstadt, aus einer Praxis mit mehreren angestellten Ärzten und vielen Helferinnen, Assistentinnen, in eine Ortschaft mit überschaubaren Häusern war schon ein gewaltiger Schritt.

Und als Einzelkämpferin mit einer einzigen Mitarbeiterin hatte sie auch noch keine Erfahrung. Das war eine gewaltige Umstellung.

Enno Riedel hatte es viele Jahre ausgehalten, war glücklich gewesen. Doch der war in den Sonnenwinkel gezogen, um eine Familie zu gründen, also unter ganz anderen Voraussetzungen.

Nach ihren Erfahrungen mit Max war es für Roberta unvorstellbar, dass sie sich noch einmal binden würde. Sie hatte ihren Beruf, den sie über alle Maßen liebte, und der musste ihr jetzt alles ersetzen.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie Schritte hörte. Wenig später stand Max vor ihr, sehr gut aussehend, selbstbewusst und sehr selbstverliebt.

Er sah leicht erregt aus, die Lippenstiftspuren auf seinem Hemdkragen waren nicht zu übersehen. Er kam von einer Frau.

So kannte sie ihn, so hatte sie ihn unzählige Male erlebt.

Zum Glück tat es nicht mehr weh wie während der Zeit ihrer Ehe.

Jetzt fragte sie sich nur, wie er so leichtfertig sein konnte zu einer Zeit, in der er eigentlich in der Praxis hätte sein müssen, seinen privaten Vergnügungen nachzugehen.

Sie wollte ihn darauf ansprechen, doch dann besann sie sich, ließ es bleiben. Es ging sie nichts mehr an. Doch wenn er so weitermachte, dann konnte man sich ausrechnen, wann er die Praxis heruntergewirtschaftet haben würde. Und dann würde es auch aus sein mit seinen Gespielinnen, denn ohne Geld würde er erheblich an Attraktivität einbüßen.

Sie erkundigte sich nur: »Was willst du?«, und freute sich, obwohl es in ihr ganz anders aussah, ihrer Stimme einen so gleichgültig klingenden Klang verliehen zu haben.

Das irritierte ihn.

Er zerrte an seinem Hemdkragen.

Und jetzt konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen: »Du hast übrigens Lippenstift am Kragen.«

Er wurde rot. Und das gefiel ihr, früher hatte sie ihn mit solchen Äußerungen wütend gemacht. Aber sie hatte genug von Spielchen. Max und sie, das war vorbei, und deswegen waren es auch die Verletzungen, die er ihr ­zugefügt hatte. Die musste sie noch verarbeiten, neue brauchte sie wirklich nicht.

Ganz ruhig wiederholte sie ihre Frage.

»Ich möchte nur mal sehen, was du alles mitnehmen willst«, sagte er.

Es war unglaublich.

»Das, was wir abgesprochen haben.«

Er grinste. »Na ja, zwischen dem, was man sagt und was man hinterher tut, gibt es ja wohl einen Unterschied.«

Er machte es ihr durch solche Äußerungen immer einfacher, ihn zu vergessen.

»Für mich nicht, Max«, antwortete sie ganz ruhig. »Und das solltest du auch wissen. Wir waren schließlich lange genug verheiratet. Aber bitte, kontrolliere noch mal alles, und am besten stehst du morgen früh um sieben auch hier auf der Matte, um nochmals alles zu überprüfen. Dann kommt nämlich der Möbelwagen.«

»Und wohin wirst du gehen?«, erkundigte er sich noch einmal. Auch wenn sie geschieden und zwischen ihnen alles geklärt war, interessierte ihn das schon. Man konnte ja nie wissen. Vielleicht brauchte er Roberta ja noch einmal. Seine Ex war nicht nachtragend, und sie war sehr hilfsbereit. So etwas musste man unbedingt in petto haben. Also, er hätte nicht so bereitwillig auf alles verzichtet. Wäre sie nicht so großzügig gewesen, hätte er um jeden Teller gestritten.

Sie schaute ihn an.

»Weg«, sagte sie kurz und knapp, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte und ihn einfach ignorierte.

Er blieb noch eine kurze Weile unschlüssig stehen, dann drehte er sich abrupt um und verschwand.

Roberta hatte keine Ahnung, ob er jetzt das Haus verlassen würde. Es konnte durchaus sein, dass er aus lauter Angst, sie könne etwas mitnehmen, was nicht vereinbart war, alles kontrollieren würde.

Es interessierte sie nicht.

Das Haus war verkauft, den Erlös würden sie teilen, obschon es in erster Linie von dem Geld bezahlt worden war, das sie geerbt hatte.

Sollte er glücklich werden, mit dem Geld, mit dem Inventar des Hauses, mit der Praxis.

Sie fragte sich allerdings, was er mit all den Möbeln, Bildern und sonstigen Einrichtungsgegenständen, mit all dem Geschirr, dem Porzellan, den Gläsern, dem Silber machen wollte, das er sich unter den Nagel gerissen hatte, in seiner abstoßenden Gier.

Das musste nicht wirklich ihre Sorge sein. Irgendwann hörte Roberta das Zuschlagen der Haustür. Er war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Damit konnte sie allerdings leben. Je weniger sie ihn sah, umso besser. Von alldem, was sie einmal für ihn empfunden hatte, war nichts mehr geblieben. Er hatte alles zerstört, wenigstens bei ihr, in ihr. Ob er sie je geliebt hatte, das bezweifelte sie mittlerweile. Es hatte ihm gefallen, dass sie ihn bewundert hatte, weil er so anders war, als die Männer, die sie vorher gekannt hatte. Und natürlich hatte er sehr schnell festgestellt, dass sie so etwas wie ein Lotteriegewinn war: klug, zielstrebig und nicht ganz arm. Und gut aussehend war sie auch.

Er hatte sich nicht in ihr getäuscht, sie hatte all seine Träume erfüllt. Ohne sie hätte er überhaupt nichts erreicht.

Mit einem mittelmäßigen Examen kam man nicht weit. Und ohne sie hätte er jetzt auch keinen Doktortitel, denn sie hatte seine Arbeit mehr oder weniger geschrieben.

Aus …

Vorbei …

Es würde ihn einholen. Für Max und seine Zukunft, ob in privater oder beruflicher Hinsicht, hatte Roberta kein gutes Gefühl.

Max hatte nie ernsthaft gearbeitet, sich nie ernsthaft um etwas bemüht, sondern das Leben, ganz besonders sein Liebesleben, stets als ein Spiel betrachtet.

In der Praxis spielte er den Chef, dem der weiße Arztkittel besonders gut stand, und bei besonders attraktiven Patientinnen spielte er den Charmeur und baggerte sie an.

Gutachten schreiben, Abrechnungen, Zahlungen, Verhandlungen, das alles waren für ihn böhmische Dörfer, das hatte er stets auf sie abgewälzt. Und was Verantwortung bedeutete, da hatte er gerade mal eine Ahnung davon, wie man das Wort schrieb.

Sie wünschte ihm nichts Schlechtes, doch die Praxis war eine Nummer zu groß für ihn. Das würde ihm um die Ohren fliegen. Roberta wusste es. Man musste keine hellseherischen Fähigkeiten haben, um das vorauszusehen.

Die Patienten, die sie behandelt hatte, und das waren viele, blieben größtenteils jetzt schon weg.

Sie könnte jetzt triumphieren, doch davon war Roberta weit entfernt.

Es war einfach nur traurig, diesen Untergang vorauszusehen.

Sie stellte eine weitere Kiste mit Bekleidungsstücken auf den Stapel, mit dem Nicki machen konnte, was sie wollte. Roberta wollte mit leichtem Gepäck in ihr neues Leben starten, und das in jeder Hinsicht.

Auch wenn sie augenblicklich ringsum nichts weiter als Trümmer sah, freute sie sich. Sie war eine Kämpferin, sie würde es schaffen, sie würde durchkommen.

Aus diesem Gefühl heraus rief sie Enno Riedel an, um sich für die Chance, die sie durch ihn bekam, zu bedanken.

»Hey, Roberta«, widersprach er sofort, »wenn sich hier jemand bedanken muss, dann ich. Ich kann, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, nach Philadelphia reisen. Für mich erfüllt sich ein Traum. Aber ich weiß, dass es dir im Sonnenwinkel gut gefallen wird. Als Großstadtpflanze musst du dich erst mal an diese himmlische Ruhe und den Frieden ringsum gewöhnen. Aber glaub mir, daran gewöhnt man sich schnell.«

Sie besprachen noch ein paar Details, die die Praxis betrafen. Da musste zunächst nichts verändert werden. Das Haus war ausgeräumt, frisch gestrichen. Enno würde mit seiner Familie die Nacht in einem Hotel in der Nähe des Flughafens verbringen, und wenn sie im Sonnenwinkel eintraf, dann würden sie im Flieger bereits eine ziemliche Strecke zurückgelegt haben.

Alles war gesagt.

»Enno, ich wünsche dir, Amelie und den Kindern viel Glück in Amerika. Du kannst dich ja mal melden.«

Das versprach er, dann sagte er: »Und du vergiss Max. Er hat­ nicht zu dir gepasst, und wir haben uns alle sehr ge­wundert, warum du ausgerechnet ihn geheiratet hast. Da gab es noch ein paar andere Bewerber um deine Hand, mit denen du mehr Glück gehabt hättest.«

Das wusste Roberta, doch damals hatte sie keinen anderen Mann außer Max gewollt.

Und dafür hatte sie einen hohen Preis bezahlt.

Das alte Sprichwort – wer nicht hören will, muss fühlen – würde sie heute glatt unterschreiben.

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Roberta wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Es gab noch viel zu tun.

Gutachten schreiben,Inge Auerbach wollte ihren Mann gerade fragen, ob er auch einen Kaffee trinken wollte, als draußen das Gartentor quietschte, sich eilige Schritte dem Haus näherten, die Haustür aufgerissen wurde und Ricky hereingestürmt kam, ihrer Mutter um den Hals fiel und lachend rief: »Mami, wolltest du gerade zu meinem Empfang den roten Teppich ausrollen?«

Sie deutete auf den roten Samt, den ihre Mutter in der Hand hatte.

Inge fiel in das Lachen mit ein, erklärte, dass sie aus dem Stoff für Bambi ein Prinzessinnenkleid für eine Schulaufführung nähen wollte, dann erkundigte sie sich: »Ist was passiert, Ricky?«

Angelockt durch das Lachen kam der Professor aus seinem Arbeitszimmer, sah seine Tochter und begrüßte sie herzlich. Die beiden verstanden sich gut, Ricky war schon immer ein Papakind gewesen, was nicht bedeutete, das sie ihre Mutter weniger liebte. Sie hatte ihren Vater früher einfach nur leichter um den Finger wickeln können.

»Papi, ehe du mich jetzt auch noch fragst ob etwas passiert ist, sage ich nein. ­Alles ist in bester Ordnung. Ich war nur gerade bei meinen Schwiegereltern, weil Rosmarie unbedingt etwas von meiner selbstgemachten Himbeermarmelade haben wollte. Und Ihr kennt sie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann muss es sofort geschehen. Sie ist jetzt glücklich, und Ihr und Omi und Opi bekommt natürlich auch ein Gläschen. Bei den Großeltern war ich schon. Hier ist also euer Glas, und über einen Kaffee würde ich mich sehr freuen. Ich habe euch nämlich etwas zu sagen.«

»Hast du es den Rückerts auch schon erzählt?«, erkundigte Inge sich. Sie und Rosmarie und Heinz Rückert verstanden sich ganz hervorragend. Sie waren sogar miteinander befreundet. Doch eine gewisse Rivalität gab es schon, was die Kinder und Enkel anging.

Da war Rosmarie ziemlich schmerzfrei, sie glaubte, sich das nehmen zu dürfen, was ihr als Mutter, Schwiegermutter und Oma zustand. Und das gefiel keinem so richtig. Ricky und Jörg hielten sich da zurück, aber Fabian und Stella hatten ihrer Mutter schon einige Male ihre Meinung gesagt, was stets zur Folge hatte, dass Rosmarie sich dann für einige Tage nicht blicken ließ und auch nicht anrief.

»Nein, Mama, die Rückerts wissen es nicht«, antwortete Ricky. »Omi und Opi habe ich es gerade erzählt, und nun seid ihr an der Reihe … bekomme ich jetzt den Kaffee?«

Inge verschwand in der Küche, Ricky holte Tassen aus dem Schrank und ging damit hinaus auf die Terrasse. Man musste das schöne Wetter einfach ausnutzen, ganz besonders, da bekannt war, dass das nächste Tief schon im Anzug war.

Wenig später saßen sie sich gegenüber, der Kaffee duftete, und die selbst gebackenen Kekse schmeckten köstlich.

Ehe Ricky anfangen konnte zu erzählen, erkundigte Inge sich: »Du sitzt hier in aller Ruhe. Musst du nicht die beiden Kleinen vom Kindergarten abholen und daheim sein, wenn Sandra und Henrik aus der Schule kommen?«

Typisch ihre Mutter!

»Mama, entspann dich, für die Kinder ist gesorgt.«

Ricky trank noch einen Schluck Kaffee, griff in die Keksschale, und als sie den Keks gegessen hatte, lehnte sie sich zurück.

»Es wird einige Veränderungen in meinem Leben geben«, sagte sie. »Ich werde studieren, genauer gesagt, Deutsch und Biologie auf Lehramt.«

Inge wollte gerade den Zucker in ihrer Tasse umrühren. Der Löffel landete klirrend auf der Untertasse.

Sie starrte ihre Tochter an, glaubte, sich verhört zu haben, dann stammelte sie: »Willst du … äh … hast du dich etwa von Fabian … getrennt?«

Nun konnte Ricky nur ganz verblüfft dreinblicken, ehe sie anfing, herzhaft zu lachen.

»Aber Mami, wie kommst du denn auf eine so absurde Idee? Fabian ist der Mann meines Lebens, ich habe ihn von der ersten Sekunde an geliebt. Mit uns wird es immer schöner, wir sind so eng miteinander, dass zwischen uns kein Blatt Papier passt.«

Inge Auerbach war verwirrt.

»Ricky, du bist verheiratet, hast vier Kinder … und nun willst du studieren? Wie soll das denn gehen? Bist du hier, um uns zu fragen, ob wir die Kinder nehmen sollen? Meinetwegen ja, und wenn Papa einverstanden ist … aber, Ricky, das ist alles zu hoch für mich. Das musst du mir erklären.«

Ihre arme Mama!

»Mami, das will ich ja, doch da musst du mich auch lassen. Es ist ganz einfach so, dass ich seit einiger Zeit weiß, dass das nicht alles gewesen sein kann. Ich war mit achtzehn verheiratet, bekam mit neunzehn mein erstes Kind, danach hintereinander weg drei weitere Kinder.«

»Die du alle wolltest«, wandte Inge Auerbach ein.

Ricky schenkte ihrer ­Mut­ter einen nachsichtigen Blick. Sie konnte es einfach nicht lassen.

»Ja, Mami, ich wollte die Kinder, ich liebe jedes von ihnen, könnte mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen, und …«, sie machte eine kurze, bedeutsame Pause, »ich würde es wieder so machen, nicht ganz, ich würde neben den Schwangerschaften studieren, wie es viele Frauen heutzutage machen.«

»Ricky«, stöhnte Inge, die die Welt nicht mehr begriff.

Werner Auerbach hatte bislang zugehört, jetzt wandte er sich an seine Tochter.

»Ich finde das gut, Ricky«, unterstützte er sie, »du bist klug, und du bist jung genug. Ich zweifle nicht daran, dass du es schaffen wirst, aber vier Kinder … das bedeutet Verantwortung und Zeitaufwand …«

Ricky nickte.

»Das haben Fabian und ich lange überlegt, alles abgesprochen. Den Kindern wird es an nichts mangeln. Fabian hat keinen Bürojob, administrative Dinge kann er von zu Hause aus regeln, ich kann mich mit der Wahl meiner Vorlesungen mit ihm absprechen. Und dann haben wir ja auch noch Oma Holper, unsere Nachbarin. Die Kinder lieben sie, sie springt jetzt schon ein, wie beispielsweise heute.«

Inge Auerbach sagte nichts, doch Ricky kannte ihre Mutter genau genug, um zu wissen, was die jetzt dachte.

»Mami, Frau Holper bekommt nur eine ganz kleine Rente. Sie ist froh, wenn sie etwas hinzuverdienen kann. Das Geld für sie bekomme ich übrigens von Opi. Die Großeltern sind ganz begeistert und wollen mich in jeder Hinsicht unterstützen. Sie wollen mir sogar ein kleines Auto kaufen, damit ich nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen bin.«

Ihr Ehemann!

Ihre Eltern!

Alle waren spontan dafür. War es jetzt an der Zeit für sie, umzudenken?

»Ricky, ich will wirklich nur das Beste für dich, deinen Mann und natürlich für die Kinder.«

Ricky stand auf, ging zu ihrer Mutter, umarmte sie, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.