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Über dieses Buch:

Rom im Jahr 55 vor Christus: Liebe und Hass, dekadenter Luxus und exzessive Gewalt prägen das Bild der Stadt wie auch das Leben des Dichters Catullus. Vom wohlhabenden Vater verstoßen, widmet er sein Leben ganz der Dichtkunst. Doch dann verliebt er sich in Clodia, deren Name als skandalöse Geliebte eines Politikers in aller Munde ist. Seine Gefühle bleiben unerwidert, denn Clodias Interesse gilt nur den Mächtigen Roms, die sie für ihre eigenen Zwecke manipuliert. In seiner Verzweiflung stürzt Catullus sich in die Arbeit und prangert offen die politischen Missstände in der Stadt an. Doch damit macht er sich gefährliche Feinde – denn die Senatoren schrecken auch vor Mord nicht zurück …

Über den Autor:

Cornelius Hartz wurde 1973 in Lübeck geboren und promovierte in klassischer Philosophie. Heute lebt er in Hamburg und ist dort als freier Autor, Übersetzer und Lektor tätig. Er veröffentlichte bereits zahlreiche Romane, Krimis und Sachbücher. Daneben begleitet und fördert er im Literaturlabor Wolfenbüttel junge Schriftstellertalente.

Die Website des Autors: www.cornelius-hartz.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/corneliushartzhh

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eBook-Neuausgabe November 2018

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel Excrucior bei Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein.

Copyright © der Originalausgabe 2008 bei Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign, München, unter Verwendung von shutterstock.com/Amir Bajrich und Stefan Hilden

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-440-9

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Cornelius Hartz

Die Erben Roms

Historischer Roman

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Wenn du beginnst,
dich denen aufzuopfern,
die du liebst,
wirst du am Ende diejenigen hassen,
denen du dich aufgeopfert hast.
GEORGE BERNARD SHAW

Die Anzahl unserer Neider bestätigt unsere Fähigkeiten.
OSCAR WILDE

Kapitel 1

Sie kommen, mich zu holen. Ich weiß es. Sie stehen bereits, wenn es dunkel wird, an den finsteren Ecken der kleinen Gassen hinter meinem Haus und warten, dass ich herauskomme. Ich gehe nicht mehr vor die Tür. Aber irgendwann wird auch das nicht mehr reichen. Sie werden in mein Haus eindringen, sie werden meine Sklaven, die die Türschwelle bewachen, erschlagen und hereinkommen, mich mit sich fortschleppen, mich an eine verlassene Stelle des Tiber führen und mich ertränken. Ersaufen werden sie mich wie einen Hund, der seinen Herren gebissen hat. Mich, den Ankläger des Konsuls von Rom.

Dabei hat Politik mich nie interessiert. Obwohl ich aus einer alten und einflussreichen Familie stamme, hat mich allein die Idee, die Wände im Atrium meiner Villa mit den Abbildern meiner Vorfahren zu schmücken, so lange ich denken kann, angewidert. Eine feine Gesellschaft ist das, die Familie Licinius. Crassus und Lucullus waren nur die Spitze der Lanze, die im Misthaufen der Geschichte steckt. Einem Misthaufen, der mit jedem zu Unrecht gefolterten Sklaven, mit jedem im Krieg getöteten Barbaren nur noch mehr den Geruch fauliger Gase verströmt. Wie er jeden Morgen durch die Straßen dieser Stadt weht. Wie er aus der Mündung der Großen Kloake dringt, wenn sie sich vom Friedenstempel aus unter dem Forum hindurchgewunden hat und sich schließlich in den Fluss ergießen darf. Mit Recht kann ich wohl behaupten, dass diese Abwasserleitung im Verlauf meines nicht allzu langen Lebens mehr Blut von Bürgern gesehen hat als jemals zuvor in der Geschichte dieser Stadt, dieses Reiches, dieser Welt.

Ich wurde geboren im Jahr, als neben Papirius Carbo der erst sechsundzwanzigjährige Marius als Konsul den Senat anführte – siebenundzwanzig ist er nie geworden. In jenem Jahr schwang sich Cornelius Sulla zum Diktator auf. Tausende römische Bürger wurden durch seine Gesetzgebung für vogelfrei erklärt und auf offener Straße umgebracht. In den letzten Wochen des Bürgerkriegs kämpfte mein Onkel Crassus als Offizier im Dienste der Diktatur und legte den Grundstein zu seinem Vermögen, das am Ende seines Lebens so groß war, dass es zehn frische Aristokratenleben gebraucht hätte, es auszugeben. Und mein anderer Onkel, Lucius Licinius Lucullus, ein weiterer Günstling von Sulla, war auch nicht besser. Eine schöne Familie ist das.

Wenn ich bedenke, wie wenig ich mir – im Gegensatz zu diesen Politikern – schon immer aus dem täglichen Geschehen in der Republik gemacht habe, erstaunt es mich fast selbst, wie viel Zeit meines Lebens ich als Ankläger vor Gericht verbrachte. Es ging mir jedoch immer um die Sache, ich verfolgte diese Tätigkeit allein aus einem Bedürfnis meines Inneren heraus, das mich Unrecht und Anmaßung nur schwer ertragen lässt. Meine schöpferische Kraft hat dies indes nie beeinträchtigt. Eines steht fest: Ein Politiker wird aus mir nicht mehr werden. Ich bin Dichter. Dieses Buch soll somit auch nicht Politik beschreiben, sondern allein von einem einzigen Menschen erzählen – vom Leben meines Freundes. Von einem eigensinnigen, egoistischen, fürsorglichen, begeisternden, grausamen, liebenden und hassenden Menschen, der mich den größten Teil meines Lebens begleitet hat: Es ist die Geschichte von Gaius Valerius Catullus.

Für Catullus wie mich stand Dichtung immer an erster Stelle. Wenn wir uns wie so oft des Abends im Kreise unserer Freunde trafen, dann hatte jeder von uns zahlreiche Papyrusrollen dabei. Sie enthielten unsere eigenen Verse, aber auch die Werke anderer großer Dichter, die wir liebten, deren Werke wir mit unseren Freunden teilen wollten. Wir trugen uns aus all dem gegenseitig das vor, was uns gut und wichtig erschien, wir stritten und scherzten, aßen und tranken zusammen.

Es war bereits vierzehn Jahre her, dass unsere Gruppe auf Betreiben von Cornelius Nepos entstanden war; und Nepos nahm nicht nur als Gründungsmitglied eine besondere Stellung ein: Er war es, der Catullus zum bekanntesten und wichtigsten Dichter Roms gemacht hatte. Der ihn aus dem Hause seines strengen Onkels holte und den damals Sechzehnjährigen bei sich aufnahm, bis er seinen eigenen Hausstand gründete. Das hieß beileibe nicht, dass Nepos Catullus gegenüber frei von Neid war. Doch dies wurde mir erst an jenem Abend klar, von dem ich nun erzählen will. Jener Abend, den Catullus nicht überlebte.

Dieses letzte Mal, da Catullus und ich uns im Kreise unserer Freunde trafen, ist mir unvergessen. Es ist nun schon so lange her, und doch ist es ein ebenso unauslöschlicher Teil meiner Erinnerung wie mein erster Kuss oder der Tod meines Vaters. Es war der Abend des 23. Mai im Jahr des zweiten Konsulats von Pompeius und Crassus, ein wunderbarer Frühlingsabend. Wir hatten uns, wie so oft, um die zwölfte Stunde versammelt, dieses Mal im Hause von Nepos. Mit Einsetzen der Dämmerung trafen langsam die Freunde ein. Wir waren ungefähr ein Dutzend, darunter Gellius, Cinna, Furius, der junge Fallo und natürlich der Hausherr, Cornelius Nepos.

Nepos war in mancherlei Hinsicht der wohl ungewöhnlichste Teilnehmer unserer regelmäßigen Treffen. Nicht nur, dass er mit Abstand der älteste war, er war auch der einzige, der nicht ausschließlich dichtete: Einen beträchtlichen Teil seines Lebens widmete er der Aufzeichnung von Lebensbeschreibungen berühmter und legendärer Feldherren und Politiker. Nur seiner herausragenden Stellung als Gründungsmitglied unserer Gruppe war es zu verdanken, dass ihm diese Tatsache nicht schon Kopfschütteln einbrachte – Biografien! Hinter seinem Rücken wurde natürlich ab und zu getuschelt; spätestens seit Nepos sich immer öfter in der Öffentlichkeit mit Cicero zusammen zeigte, den einige von uns noch mehr verabscheuten als Caesar.

Der Abend verlief, zumindest anfangs, nach demselben bewährten Muster wie immer. Zunächst wurde gegessen, dann getrunken, dann gedichtet, vorgelesen, diskutiert und wieder getrunken, und wenn einem danach war, sich mit einem der Sklavenmädchen zu vergnügen, die, so die eiserne Regel, bei jeder Zusammenkunft andere, neue sein mussten – so würde man auch dazu später Gelegenheit bekommen. Nie jedoch, bevor die neuesten Gedichte angehört und auf Herz und Nieren seziert und analysiert worden waren.

»Das ist der Preis, den ein jeder hier zahlen muss«, hatte Catullus einmal gesagt, im Scherz natürlich, auch wenn an seinem Maßstab mancher der anderen von uns Dichtern hin und wieder scheiterte. Er wusste einfach, wie gut er war, und diese Gewissheit ist eine der schwierigsten Bürden, die die Welt einem Menschen auferlegen kann.

Wie immer war das Essen in Nepos' Haus vorzüglich, vielleicht sogar üppiger als sonst. Es gab gebratenes Wildschwein mit einer Soße aus Myrrhe und Aprikosen, in Essig eingelegte Kuheuter, silberne Teller mit Stierhoden, Gänseküken, Austern und Fischrogen, eine große Muräne, gefüllt mit in Honig eingelegten Haselmäusen, kleine Pyramiden aus gegrillten Zaunkönigen, Blaumeisen, Finken und neugeborenen Kaninchen, große Platten mit Meerbarben, Langusten und mir unbekannten Früchten, deren Namen ich längst wieder vergessen habe, sowie zahlreiche kunstvoll mit Szenen aus griechischen Mythen bemalte Straußeneier.

Zum Essen trat eine Gruppe Tänzerinnen auf, und ich erinnere mich genau an diese vier Syrerinnen; sie waren die ersten Frauen, die ich je sah, die durch die Brustwarzen goldene Ringe trugen. Fallo, auf der Liege neben mir, der gerade 17 war, wunderte sich so sehr, dass er mich fragte, ob dies Zauberei sei oder die Mädchen in Syrien eben »so seien«. Nun, der Junge war zum ersten Mal bei einem unserer Treffen dabei.

Schließlich waren wir zum Trinken übergegangen. Die Tänzerinnen zogen sich zurück, nur die Flötenspielerin blieb, spielte nun jedoch auf ein Zeichen des Hausherrn leiser als zuvor. Die großen Tische, die die Speisen trugen, wurden fortgebracht. Man reichte aus Myrten und Efeu und Blüten der Kamille gewundene Kränze herum und verteilte Salben- und Parfümfläschchen. Dabei war der Abend noch längst nicht so weit gediehen, dass man derlei Mittel gegen üble Ausdünstungen des Körpers bedurft hätte. Wir waren schließlich weder Barbaren noch durch die Ausbeutung von Provinzen fett gewordene alte Statthalter. Doch die Salbung, eine Tradition der Griechen, war uns lieb und teuer. Sie stand im Einklang mit unserem Streben nach Kultiviertheit, griechischer Kultiviertheit. Und sie betonte unsere Abneigung gegen die »guten alten Sitten« der Vorfahren dieser Stadt, Sitten, aufgrund derer auch zur Stunde wieder aus dem Senat derart geschrien wurde, dass es in ganz Rom widerhallte. Dass Caesar zur Zeit nördlich der Alpen war, um im Namen Roms Gallier abzuschlachten, bot dem Senat nur wenig Zerstreuung.

Eine junge, hellhaarige Sklavin in einem fast durchsichtigen Gewand füllte unsere Silberschalen mit Wein, der nun mit weniger Wasser vermischt war als der Wein beim Essen, und die grausamen Ereignisse nahmen ihren Lauf.

Acht Jahre lang habe ich geschwiegen, und nun, wenn ich daran denke, holt mich alles wieder ein, als sei es gestern gewesen. Doch es muss sein, es muss endlich sein: So lange ich noch die Luft dieser Welt atmen darf, muss ich aufschreiben, was damals geschehen ist. Allerdings erkenne ich im Rückblick, dass die Geschehnisse an jenem Abend sich schon Jahrzehnte vorher angekündigt haben. Manche Amme schwört gar, dass sich das Schicksal schon an jenem Tage zeigt, an dem man das Licht der Welt erblickt.

Kapitel 2

Keinen, sagt mein Mädchen, wolle sie lieber heiraten
Als mich, nicht einmal Jupiter, wenn er um ihre Hand anhielte.
Sagt sie: Doch was eine Frau dem begierigen Liebhaber flüstert,
Das gehört in den Wind geschrieben und ins reißende Wasser.

Catullus, 70. Gedicht

Catullus wurde, anders als die meisten anderen Mitglieder unserer Gruppe, nicht in Rom geboren, sondern in Norditalien, drei Jahre, bevor ich selbst auf die Welt kam. Die Familie Valerius war eine der reichsten und angesehensten in Verona. Vater Titus gehörte in ungezählter Generation dem Ritterstand an und war Besitzer eines großen Landgutes auf der Halbinsel Sirmio am südlichen Ufer des Sees Benacus. Dass Catullus so detailreich über seine eigene Geburt zu berichten wusste, ist der engen Bindung an seine Amme zu schulden, die diese Ereignisse noch viele Jahre später wiederzugeben wusste.

Es war bereits dunkel am achten Mai, etwa um die sechzehnte Stunde, und rußige Fackeln erleuchteten das Zimmer im Erdgeschoss des Hauses, in dem die Hausherrin Cassia bereits seit mehreren Stunden die Schmerzen werdenden Lebens erduldete. Sie befand sich nicht im eigenen Schlafzimmer, sondern auf Geheiß der Amme Ausonia in einem Raum, der näher an der Küche lag.

»Clio, hol uns noch ein paar feuchte Tücher, und stell einen neuen Topf auf das Herdfeuer! Und sag Noscus, er soll das Beißholz bringen!«

Die Schreie der Mutter hallten von den nackten Wänden des kleinen, halbdunklen Raumes wider, in dem gewöhnlich die Sklaven schliefen; ein bequemes, großes Bett war aufgestellt worden, in dem das Kind zur Welt kommen sollte.

Der Sklave Noscus, ein groß gewachsener Schwarzer aus Nubien in Afrika, der mindestens dreihundert Pfund wog, war noch nicht lange im Hause Valerius; er war ein Geschenk einer befreundeten Familie zum fünfundzwanzigsten Geburtstag der Mutter im Herbst des vorletzten Jahres gewesen, und er war der lateinischen Sprache immer noch nicht besonders mächtig. Noscus sprach nicht viel, und man sprach nicht viel mit ihm – noch dazu stammten alle anderen Sklaven aus dem östlichen Teil des Reiches und unterhielten sich untereinander in der griechischen Sprache. Vielleicht konnte er inzwischen sogar besser Griechisch als Latein?

Immerhin, er brachte, was Ausonia ihm aufgetragen hatte: das Beißholz.

»Noscus, steck ihr das Holz zwischen die Zähne und halte ihre Arme nach hinten! Nein, nein, nein – die Arme! Nach hinten! So!«

Ausonia musste ihren Platz am Fußende des Bettes verlassen und Noscus zeigen, was sie von ihm wollte, bis er schließlich begriff.

»Bei Valetudo, wie werden denn bei euch in Afrika die Kinder zur Welt gebracht?«

Noscus antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er die Frage gar nicht verstanden. Die Geburtshilfe gehörte nicht gerade zu seinen gewohnten Tätigkeiten im Haus.

Plötzlich ging die Tür zum Atrium auf, und der Vater, Titus Valerius, stand mit ungeduldigem Gesichtsausdruck auf der Schwelle: »Was sollen die ganzen Tücher, Ausonia, und was soll der Topf auf dem Herd? Meinst du, ich habe Brennholz zu verschenken? Und meinst du, die Tücher können hinterher noch zu irgendetwas anderem verwendet werden, als dass wir sie ebenfalls in den Ofen stecken? Und überhaupt: Was dauert das so lange?«

»Herr, bitte lasst mich meine Arbeit verrichten!«, zischte Ausonia ungeduldig. »Carmenta, Vesta, Valetudo und Juno werden diese Geburt beschützen, und dass das Wasser auf dem Herd kocht, ist eine alte Tradition meiner Familie und dient dazu, die Tücher der Göttin der Gesundheit zu weihen. Wenn Ihr den Beistand der Götter nicht wollt, dann ist dies Eure Sache, aber erwartet nicht von mir, das Leben, das nun bald in unsere Welt tritt, vor den Augen der Unsterblichen abzuschirmen!«

Titus Valerius blickte sie erzürnt an und wollte seine Stimme erheben, besann sich aber und ging wieder hinaus. Ausonias Blick ging sofort zu Cassia, und sie zuckte bei deren Anblick zusammen: Ihre Augen waren verdreht, so dass man nur das Weiße sah, und aus ihrer Kehle kam ein hohl klingendes Gurgeln. Beides erinnerte sie an das Lamm, das sie am vorigen Tag zu Ehren der Juno, der obersten Göttin, geopfert hatte. Genauso hatte es geschaut und eben solche Laute hatte es von sich gegeben, als ihm die Kehle durchgeschnitten wurde.

Dass die Geburt nach langem Warten nun endlich eingeleitet worden war, führte sie auf nichts anderes zurück als auf dieses Opfer. Und so konnte die Amme auch Cassias unmenschliches Erscheinungsbild schließlich nur als Zeichen für die Anwesenheit göttlicher Kräfte deuten, was sie zumindest fürs Erste beruhigte. Sie tupfte ihrer Herrin den Schweiß von der Stirn und redete eindringlich auf sie ein.

Doch obwohl die Wehen Cassia immer heftiger schüttelten, ließ das Kind auf sich warten.

»Pressen müsst Ihr, pressen, pressen! Lasst das Kind heraus, Herrin, betet zu den Göttern, bittet um ihren Beistand!«

Doch auf den Glauben der Mutter schien Ausonia ebenso wenig zu vertrauen wie auf den ihres Herren, denn nun begann sie selbst mit ihrer kräftigen Stimme den Raum zu füllen und sprach die über Jahrhunderte überlieferten Gebete: »Mögen die Götter dich lieben und dich immer bewahren; die Götter und Göttinnen mögen mit dir sein; unsterbliche Götter, bei Meer, Erde und Himmel beschwöre ich euer Vertrauen; mögen die Götter dir wohlgesonnen sein und deine Söhne beschützen!«

Cassias Fersen gruben sich in die Decken, Noscus hatte Mühe, sie zu halten, ihre Schreie wurden lauter, obwohl sie so fest auf das runde Stück Holz in ihrem Mund biss, dass ihre Zähne sich bereits einzugraben begannen; man hörte die lauten Gebete der Amme kaum.

Und dann, mit einem Mal, war es wieder still im Raum. So still wie unterhalb der Villa am Ufer des Sees, wenn in einer dunklen windstillen Sommernacht nicht einmal ein leises Plätschern des Wassers die Stille zu stören vermag – bis einen ein Kauz mit seinem Schrei aus den Gedanken reißt und man meint, dieses Tier sei geradewegs aus der Unterwelt gekommen, allein dazu, einen mit seinem Ruf zu erschrecken.

Genauso vernahm man nun in dem kleinen Raum das leise Wimmern eines Kindes, das anschwoll und immer lauter wurde, während Ausonia den kleinen Gaius Valerius Catullus hochhob, mit einer silbernen Schere die Nabelschnur durchschnitt, ihn säuberte, in ein Tuch wickelte und ihn gleich darauf auf den Boden legte, auf eine eigens bereitgelegte Samtdecke. Schließlich gebietet die Tradition es, dass das Neugeborene auf die Erde gelegt wird und der Vater es hochhebt, um es damit als sein eigenes Kind anzuerkennen. Und auch wenn der Hausherr nicht viel von solchen Traditionen hielt, wenn sie ihm nicht gerade bei seinen Geschäften nützten: Ausonia würde so handeln, wie man sie es gelehrt hatte.

Titus Valerius öffnete die Tür, in der Hand eine große, reich verzierte Öllampe aus Messing, die das spärlich beleuchtete Zimmer nur wenig mehr erhellte als die rußigen Fackeln an den Wänden. Doch anstatt in freudigen Jubel auszubrechen, blieb er stumm.

Cassia keuchte ein letztes Mal.

Ausonia rief nicht aus vollem Halse: »Es ist ein Junge, ein Junge ist geboren!«

Der Afrikaner Noscus ließ die Arme seiner Herrin los, ohne zu merken, dass diese sich nicht mehr bewegte.

Alle starrten sie ungläubig auf das neugeborene Kind, das auf der Samtdecke lag. Alles, was zu hören war, war das Schreien des jungen Catullus, und keiner der Anwesenden wagte, sich zu rühren. Das lag an dem Anblick, der sich ihnen bot, an dem kleinen Gesicht, das aus dem weißen Leinentuch schaute, in das die Amme das Kind gewickelt hatte.

Das Kind war schwarz.

Ob nun die Zeit eines Atemzugs oder eine Viertelstunde vergangen sein mag, konnte später niemand mehr sagen. Sicher ist nur, was als Nächstes geschah: Der Hausherr ging mit leeren Augen zur Samtdecke am Fuße des Bettes, und ohne sich bewusst zu sein, welche Bedeutung seine Handlung hatte, hob er das Kind hoch und musterte ausdruckslos das kleine Gesicht, das im Zwielicht der Fackeln dunkel glänzte.

Dann wanderte sein Blick über das Bett, in welchem Cassia sich noch immer nicht rührte, über die anwesenden zwei griechischen Sklavinnen, über Ausonia, der er nun fast beiläufig das Kind in den Arm legte, und blieb auf dem großen schwarzen Sklaven Noscus hängen.

Er schüttelte den Kopf, als käme er nach langer Ohnmacht endlich wieder zur Besinnung und sah nun auf die große Messinglampe, die er auf dem Tisch neben dem Bett abgestellt hatte, auf dem noch einige Tücher dampften.

Schließlich öffnete er den Mund und schrie: »Periskos! Thermiodos! Paistos! Kommt sofort her!«

Die Tür öffnete sich beinahe augenblicklich, und die drei großen makedonischen Sklaven erschienen.

»Haltet ihn fest!«, schrie Titus und deutete mit zitterndem Finger auf Noscus.

Die Sklaven taten, wie ihnen befohlen war. Je einer hielt Arm und Schulter des Schwarzen fest, während der dritte seinen Arm fest um Noscus' Hals legte. Dieser wehrte sich nicht. Titus Valerius nahm die brennende Lampe in beide Hände und ging langsam am Bett vorbei zu Noscus, bis er direkt vor ihm stand. Er hob die Arme über den Kopf, holte aus und schlug dem Sklaven mit der ganzen Kraft seiner Arme die schwere Messinglampe ins Gesicht. Aus Noscus' gebrochener Nase floss ein Schwall dunkelroten Blutes. Er gab keinen Ton von sich. Titus hob ein weiteres Mal die Lampe hoch und ließ sie nun direkt auf Noscus' Schädel niederfahren.

Der Sklave sackte zusammen, doch die anderen Sklaven hielten ihn weiterhin fest. Sie wendeten jedoch ihre Augen ab, während Titus unter seinen Schlägen von rasender Wut gepackt schrie: »Du Monster! Ich werde dich töten und deinen Körper den Hunden in der Gosse zum Fraß vorwerfen! Keiner deiner Götter kann dich retten!«

Immer wieder schlug Titus zu, bis er schließlich abließ und den Sklaven befahl, den Nubier loszulassen. Noscus fiel zu Boden und blieb reglos liegen. Und als Titus die Lampe öffnete, ihn mit Öl übergoss, eine Fackel von der Wand nahm und schließlich Noscus' Kleidung in Brand steckte, regte dieser sich bereits nicht mehr.

Titus verließ ohne ein weiteres Wort den Raum, und Ausonia, die sich erst jetzt wieder zu bewegen wagte, wie sie sich später erinnerte, zog sofort die feuchten Tücher vom Tisch und bedeckte den brennenden Leichnam damit, bevor die Flammen weiteren Schaden anrichten konnten. Dann wandte sie sich Cassia zu.

Was sie befürchtet hatte, war eingetreten.

Die Mutter war tot.

Kapitel 3

Sirmio, du beste aller Inseln
Und Halbinseln; wie viel an Wasser
Neptun auch schützen mag, im Meer und in Seen,
Wie gerne sehe ich dich, und wie fröhlich bin ich dabei!

aus Catullus, 31. Gedicht

Catullus war mitnichten der Sohn des Sklaven Noscus. Und er war auch mitnichten von schwarzer Hautfarbe. Was der Vater im Gesicht des neugeborenen Sohnes im gelben Schein der Lampe gesehen hatte, war nicht etwa die Haut eines schwarzen Menschen, und beim Licht der Sonne hätte er dies sicher auch erkannt: Es war ein Feuermal, das sich über das Gesicht des Knaben und die halbe Brust zog.

Auch wenn die Erfahrung lehrt, dass manche mit solch einer Entstellung Geborenen die dunkelroten Flecken nach einigen Wochen wieder verlieren: Bei Catullus blieben sie, und ein bis zwei Tage später hätte der Vater seinen Irrtum bemerken können; allein, Zorn und Schmerz über den Tod seiner Frau ließen ihn die Dinge auf andere Art und Weise wahrnehmen. Für Ausonia war der Fall ohnehin klar: Pluto, der Gott der Unterwelt, oder vielleicht auch dessen Frau Proserpina hatte den Eltern durch das Feuermal ein Zeichen geschickt. So hatte ihre Mutter es ihr beigebracht.

Ausonia wusste genau Bescheid, woher die Missbildungen bei Kindern kamen: Hatte ein Kind eine Hasenscharte, so bedeutete dies, dass Venus, die Göttin der Schönheit, diesem Kind ihren Segen versagte. Fehlende Gliedmaßen waren ein Zeichen von Mars, dem Kriegsgott; ebenso der Wasserkopf, auch als »Helmkrankheit« bekannt. Ausonia hatte zwar davon gehört, dass manch reiche Familie Ärzte aus dem Osten des Reiches konsultierte, die zur Heilung in einer schmerzhaften und komplizierten Prozedur lange dünne Nadeln in den noch nicht erhärteten Schädel des Säuglings trieben; für sie war dies ein inakzeptabler Frevel am Willen der Götter. Wenn ein Kind mit zwei Köpfen zur Welt kam, so hieß dies, dass Janus, der zweigesichtige Gott der Ein- und Ausgänge seine Finger im Spiel hatte; was wohl auch erklärte, dass niemandem ein Fall bekannt ist, nach welchem ein so gestalteter Säugling mehr als drei Tage überlebt hätte. Wenn die Eltern ihn aus lauter Furcht nicht selbst umbrachten. Starb ein Neugeborenes, weil sein Herz einfach zu schlagen aufhörte, so lag dies an Carna, der Göttin des Herzens und der inneren Organe. Ihr Feiertag war der erste Juni, und Ausonia erinnerte sich, dass sie einmal an einem ersten Juni ein Kind auf die Welt geholt hatte, dessen Herzschlag Carna bereits im Leib der Mutter angehalten hatte. Sie hatte in ihrer Furcht vor der zürnenden Göttin jenes Haus sofort verlassen und nie wieder betreten. Bei einer besonders schwierigen und schmerzhaften Geburt zürnten Diana und Carmenta, die Geburtsgöttinnen. Und für Krankheiten, die nach der Geburt auftraten, war Levana, die Schutzgöttin der Neugeborenen, zuständig. In jedem Fall war es jedoch den Eltern anzulasten, wenn ihr Kind nicht gesund zur Welt kam oder das erste Jahr nicht überlebte. Sie waren offenbar nicht fromm genug, besuchten nicht oft genug die Tempel. Und so hatte Ausonia es sich angewöhnt, den Vorgang einer Geburt mit zahlreichen Gebeten zu begleiten.

Da Titus Valerius sich kaum einmal Zeit nahm, den Göttern zu opfern und ihnen seine Ehrerbietung zu erweisen, war der Zustand des jungen Catullus in den Augen der Amme zwar schrecklich, aber eben auch nicht weiter verwunderlich. Anstatt jedoch nun, nach der Geburt, sich dem eigentlichen Problem zuzuwenden, beschloss der Vater, das Problem nicht wahrzunehmen. Er konnte ja doch nichts mehr daran ändern: Er hatte keine Frau mehr, mit der er ein weiteres gesundes Kind hätte in die Welt setzen können, und eine neue Frau wollte er nicht. Titus Valerius widmete sich von nun an ganz dem Geschäft, und er überließ es Ausonia, sich um die Kinder zu kümmern. Auch sein erstgeborener Sohn sollte den Vater von nun an kaum noch zu Gesicht bekommen; Catullus so gut wie gar nicht mehr. Wenn der Vater einmal im Hause sein Abendessen einnahm, so durfte nur der junge Titus dabei sein, Catullus aß mit Ausonia zusammen in einem anderen Raum. Nicht, dass ihm dies viel ausgemacht hätte – er kannte es ja nicht anders, und sobald der Vater außer Haus war, waren die beiden Brüder wieder unzertrennlich. Von den Kindern anderer Familien hielt der Vater ihn fern; er sorgte sogar dafür, dass einige Jahre vergingen, bis Catullus überhaupt das Haus verlassen durfte.

Vielleicht wollte er nicht Gefahr laufen, von anderen daran erinnert zu werden, dass sein Sohn das Zeichen Plutos im Gesicht trug, wenn er ihn schon selbst nicht ansehen wollte; und sicherlich hielt er es für schlecht fürs Geschäft. Viele seiner Geschäftsfreunde und Handelspartner waren sehr religiös; dass Titus Valerius den Zorn ausgerechnet des Gottes der Unterwelt auf sich gezogen hatte, musste um jeden Preis geheim bleiben. Zumindest bis der Sohn so alt war, dass man ihm selbst ein Handeln gegen die Götter zutrauen konnte.

Nun, wenn man eine äußere Auffälligkeit besitzt, so kann man auf zweierlei Art damit umgehen: Entweder man versucht, unauffällig zu sein, dass man weniger und weniger wird, kleiner, unscheinbarer, durchsichtig, bis man aus dem Licht der Öffentlichkeit verschwindet. Oder man versucht das Gegenteil: größer zu sein als der Körper, in dem man steckt. Hatte Catullus diese Wahl? Oder gibt es doch so etwas wie ein Schicksal? Halten wirklich die Parzen den Faden in der Hand, an dem der Mensch hängt, den sie für ihn spinnen, an dem sein Leben hängt und den sie schließlich abschneiden, um ihn aus dieser Welt zu entlassen?

Ausonia hatte natürlich auf die Parzen gewartet, und sie hatte sie auch gesehen. Drei Nächte nach der Geburt des kleinen Catullus waren sie, wie allgemein üblich, erschienen, um ihr seinen Lebensweg und sein Schicksal aufzuzeigen. Im Traum natürlich, wie sonst. Was sie ihr über Catullus' Leben mitteilten, ergab für sie jedoch kaum einen Sinn. Es muss dennoch großen Eindruck auf sie gemacht haben, denn sie konnte es ihm Jahre später noch erzählen. Und er hat es aufgeschrieben, es ist eines der vielen Stücke von eng beschriebenem Papyrus, die ich von ihm habe, und der Zufall wollte es, dass ich diesen Traum jüngst wiederfand, als ich in den mir überlassenen Unterlagen meines Freundes nach einem Gedicht suchte.

In ihrem Traum geht Ausonia mit dem kleinen Jungen an der Hand am Ufer des Sees spazieren, als auf einmal drei Frauen wie aus dem Nichts erscheinen, eingehüllt in dunkle Tücher und mit Kapuzen, die ihnen so weit über den Kopf gezogen sind, dass man die Gesichter nicht erkennen kann.

»Lass los!«, befiehlt die erste.

»Du musst ihn gehen lassen!«, meldet sich die zweite.

Ausonia gehorcht.

»Sieh genau, wohin er geht und was er tut!«, lässt sich die dritte der geheimnisvollen Frauen vernehmen. Gleich, nachdem Ausonia Catullus' Hand losgelassen hat, bemerkt sie etwas Sonderbares: Er geht von ihr fort, ohne sich umzuschauen, schreitet den Weg zum Ufer hinab, zum Steg, der, an die 30 Fuß lang, direkt vor der Villa der Familie Valerius auf den See führt. Catullus geht also von ihr fort – doch er wird nicht kleiner, sondern größer: Schon scheint er kein Knabe mehr zu sein, sondern hat die Gestalt eines schlanken, großgewachsenen Mannes. Und auf einmal ist er nicht mehr allein: Ein Mann steht vor ihm – Ausonia kann es genau sehen, sie und die drei Frauen befinden sich nun auch auf dem Steg, direkt hinter ihnen. Catullus geht auf den gebeugten und augenscheinlich sehr, sehr alten Mann zu, der ihm zunächst noch den Rücken zukehrt. Dann dreht er sich um, und sie erkennt ihn: Es ist Titus, ihr Dienstherr, Catullus' Vater. Er ist bereits so alt, dass er sich auf einen Stock stützen muss, ein weißgrauer Bart hängt ungepflegt von seinem Kinn. Auch seine Kleidung ist, wie ihr nun auffällt, seinem Stand nicht allzu angemessen: Das Gewand aus grobem Leinen ist grau und fleckig, Fliegen summen um sein Haupt. Wie anders dagegen die Gestalt des Sohnes: Hoch aufragend, den Blick stolz nach vorne gerichtet, sieht er über den Vater hinweg und schreitet weiter aus, als sei dieser gar nicht da. Ausonia will aufschreien, doch kein Laut kommt aus ihrer Kehle. Sie will hineilen, doch drei starke Paar Hände halten sie zurück, schneiden mit hartem Griff ins Fleisch ihrer Arme. Sie kann es nicht verhindern. Catullus tritt mit seinem nächsten Schritt gegen den Stock des Vaters. Dieser verliert den Halt, stürzt zur Seite, auf den Rand des Stegs zu und gleitet ohne einen Laut von sich zu geben und ohne, dass das Wasser ein Geräusch macht, unter die schwarze Oberfläche des Sees. Das dunkle Grab verschlingt ihn geräuschlos.

Catullus hat es nicht einmal bemerkt. Er geht weiter, und schon wieder gibt es eine Veränderung: Alles um sie herum scheint sich schwarz zu verfärben, nur am Ende des Steges beginnt ein Licht zu erstrahlen, immer heller und heller, so dass sie Catullus kaum noch sieht, der mit dem immer gleichen Schrittmaß auf dieses Licht, auf das Ende des Steges zugeht. Und schließlich wird er eins mit dem Licht, es vereinnahmt ihn, wie kurz zuvor die dunkle Tiefe den Leib des Vaters umschloss.

Dann, mit einem Mal, wird es um sie herum wieder hell. Sie sieht das Ende des Steges, und niemand ist zu sehen. Sie zittert und kann sich kaum auf den Beinen halten. Die drei Frauen, die Parzen, sind noch immer bei ihr, doch ist ihr Griff nun lockerer, vielmehr muss sie sich nun an ihnen festhalten, um nicht zu Boden zu gleiten. Ausonia fühlt eine große Erschöpfung, und die drei Frauen stützen sie und geleiten sie zurück ans Ufer. Sie setzt sich an der Böschung ins Gras. Doch als sie sich umblickt, sind die Frauen verschwunden, und Catullus sitzt neben ihr. Er ist groß und männlich, nur das Feuermal, das dunkelrot in seinem Gesicht leuchtet, verrät ihr, dass es ihr Ziehsohn ist, der neben ihr im feuchten Ufergras sitzt. Und weint. Aus seinem Mund kommen Worte, die sie zunächst nicht versteht, doch mit der Zeit werden sie klarer. Er sagt immer das Gleiche, immer wieder, immer wieder: »Ich habe alles gewonnen und dabei alle verloren. Ich habe alles gewonnen und dabei alle verloren. Ich habe alles gewonnen ...« Sie will ihn in den Arm nehmen, doch eine unsichtbare Kraft hält sie zurück. Und da begreift sie. Er sieht sie nicht, er kann sie gar nicht sehen, sie ist gar nicht bei ihm, niemand ist bei ihm. Als sie dies merkt, erfasst sie ein Gefühl, in dem die Regungen Furcht und Erleichterung, Freude und Angst sich zu mischen scheinen.

Und mit diesem Gefühl wachte sie auf.

Die Fürsorge und Liebe, die Eltern ihren Kindern geben sollen, hat Catullus nie erfahren. Ausonia war und blieb Catullus' engste Vertraute, sie ersetzte ihm die Mutter, den Vater, die Freunde. Sie war es wohl auch, die ihm den Spitznamen »Catullus« gab; er war eben ihr »Hündchen«. Und dass er sich Zeit seines Lebens von jedermann so anreden ließ, und dass er ihre unkorrekte, plebejische Schreibweise des durchaus nicht ungebräuchlichen »Catulus« beibehielt – all das zeigt, wie viel Ausonia ihm bedeutete. Und dass er niemand anderen hatte. Bis er Rufus kennenlernte.

Kapitel 4

Alle meine Freuden sind gemeinsam mit dir nun dahin,
Die deine Liebe in mir genährt hat, solange du lebtest. –
Wenn du nun also schreibst, Catullus geht es nicht gut in Verona,
Wo jeder Mann, der von etwas besserer Herkunft ist,
Die Glieder im einsamen Bette sich wärmt, dann muss ich sagen,
Es geht mir nicht nur nicht gut, es ist eine Katastrophe!

aus Catullus, 68. Gedicht

Ich selbst habe Verona und auch Sirmio nur einmal gesehen – und das erst nach dem Tod meines Freundes. Damals bin ich dorthin gefahren, um mir all das anzusehen, was er mir aus seiner Jugend so oft und lebhaft beschrieben hatte, doch es gab da niemanden mehr, der ihn gekannt hatte. Dabei gehörte Catullus' Familie zu seiner Zeit zu den angesehensten des Reiches; auch wenn sie nicht adlig waren, so hatte der Name Valerius doch auch in der Stadt Rom einen überaus guten Ruf. Catullus' Vater hatte das große Landgut seiner Familie übernommen, als sein Vater im gesegneten Alter von 59 Jahren starb, und er hatte es noch reicher gemacht.

Die Entfernung von Sirmio bis Verona beträgt einen Tagesmarsch, also ungefähr zwanzig Meilen. Und obgleich sich die Familie seit jeher meist auf dem Landgut aufhielt, so verbrachte der Vater, wie bereits sein Vater und Großvater, immer einige Tage in der Woche in der Stadt, um Geschäfte abzuschließen und die Kontakte zu den ansässigen Händlern zu pflegen. Die Familie besaß auch in der Stadt mehrere Häuser.

Ob es der Tatsache zu schulden ist, dass der Vater nach dem Tod der Mutter mit dem Landgut zu schmerzliche Erinnerungen verband, oder ob er sich einfach nur noch mehr als zuvor in die Geschäfte stürzte und keine Veranlassung mehr sah, überhaupt nach Sirmio zurückzukehren, wissen wir nicht. Er sorgte jedoch dafür, dass seine Söhne mitsamt der Amme und einem Dutzend Haussklaven einige Zeit nach der Geburt Catullus' zu ihm nach Verona umzogen. Das Landgut überließ er der Obhut eines griechischen Technikers namens Enkelados, der sein engster geschäftlicher Vertrauter war. Die Weinberge, die zum Gut gehörten, wurden mit den neuesten Gerätschaften bearbeitet; Enkelados hatte einzig und allein die Aufgabe, den Weinanbau effizienter zu machen und den Arbeitsaufwand zu reduzieren. Titus Valerius achtete darauf, die so immer wieder eingesparten Sklaven ausschließlich an durchreisende Händler aus entfernten Provinzen zu verkaufen. Er fürchtete, dass das Wissen, das sich seine Sklaven im Umgang mit den Apparaturen für Bewässerung, Düngung, Schädlingsbekämpfung, Ernte und Verarbeitung der Trauben angeeignet hatten, seinen direkten Konkurrenten um Verona und Sirmio herum zu Gute kommen könnte.

Der Vater hatte Enkelados in Aussicht gestellt, dass er ihn in naher Zukunft freilassen und offiziell als Prokurator, als Verwalter über Land, Vermögen und Besitz, einsetzen würde, wenn das Gut weiterhin Gewinn abwarf; zudem verdoppelte er sein Gehalt. Es heißt, Catullus' Vater habe nie wieder einen Fuß auf das Landgut gesetzt. Zumindest bis kurz vor seinem Tod.

Verona liegt am Fluss Atesis, dort, wo er am letzten Ausläufer der Alpen eine Schleife bildet, zwischen Ebenen voller Obstgärten und Hängen voller Weinstöcke. Die Stadt ist vor vielen hundert Jahren von alten italischen Völkern gegründet worden, die damals das Gebiet zwischen dem südlichen Alpenrand und Etrurien bewohnten. Vielleicht ist sie sogar älter als Rom. Vor etwa 500 Jahren fiel das Gebiet einem gallischen Stamm in die Hände, der gerade an diesem Ort großes Interesse hegte: Fast der gesamte Handel zwischen den Völkern nördlich der Alpen und dem italischen Raum verlief schon zu jener Zeit über die Straße, an der Verona entstanden war.

Und hier kreuzt eben jene Straße eine der wichtigsten römischen Straßen – die Via Postumia, vor nunmehr einhundert Jahren erbaut durch den Konsul Postumius Albinus, die über 300 Meilen von Genua nach Aquileia führt. Verona ist also nicht nur der Handelsknotenpunkt zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Diese günstige Lage und der fruchtbare Boden haben sie zu einer der reichsten italischen Städte gemacht. Und sie wuchs weiter: Seit Pompeius Verona wenige Jahre zuvor zur römischen Kolonie gemacht hatte, kamen immer mehr römische Siedler in die Stadt. Jeder wollte von der Lage profitieren, und viele Geschäftsleute aus Mediolanum, Ravenna, Genua und sogar Pisae oder Ancona verließen ihre Heimatstädte, um hierher überzusiedeln. Und mit ihnen kamen ihre Familien und oft genug ihre Klienten, Sklaven, Freigelassenen, Lehrer oder Ärzte. Die Stadt wurde zusehends römischer, und inzwischen waren auch alle alten Heiligtümer der Etrusker und der Gallier umbenannt und neu geweiht worden. So opferte man im großen Tempel am Forum nun Jupiter und nicht mehr Felvennis; auf dem Hügel über dem Nordostufer des Atesis nun Juno und nicht mehr Ihannagalle.

Nun lässt sich eine seit Jahrhunderten bewohnte Stadt jedoch nicht nach Belieben umbauen; und so besaß Verona zu dieser Zeit zwar bereits ein gut ausgebautes Straßennetz und eine ordentliche Wasserversorgung; an Annehmlichkeiten und Zerstreuung muss es jedoch gefehlt haben. Gerade mal ein kleines Theater gab es, und außer Darbietungen durchreisender Mimen fand dort kaum etwas statt, was man hätte »Kultur« nennen können. Das große Theater, in dem man heute an den Feiertagen die Tragödienaufführungen abhält, wurde ja erst gebaut, nachdem Catullus Verona den Rücken gekehrt hatte.

Auch öffentliche Thermen gab es noch nicht; die reicheren Patrizier waren darauf angewiesen, sich in ihre neuen Stadtvillen eigene Bäder einbauen zu lassen. Doch auch für solch große Villen musste Platz geschaffen werden, und so kam es mitunter vor, dass ganze Häuserblocks niederbrannten und sich danach herausstellte, dass sie mit einem Mal den Besitzer gewechselt hatten. Den ehemaligen Bewohnern blieb oft nichts weiter übrig, als sich in den zumeist behelfsmäßig aus Holz gebauten Unterkünften am Südrand der Stadt und rechts des Flusses eine neue Bleibe zu suchen. So dehnte sich das Stadtgebiet stetig aus.

Statt gehobener oder zumindest mittelmäßiger öffentlicher Unterhaltung gab es, wie üblich in einer Stadt, die vom Handel lebt, zur Zerstreuung vor allem zahlreiche Wirtshäuser. Ein Ritter oder Adliger, der etwas auf sich hielt, verirrte sich, wie auch in Rom, selten in eine dieser Stätten des Lasters; man traf dort, sobald es dunkel wurde, Plebejer jeden Alters: Durchreisende, Neureiche, Freigelassene, Händler, Schauspieler; und mitunter auch den einen oder anderen Sklaven, dessen Herr die Zügel nicht allzu straff hielt. Aber auch junge Männer gehobeneren Standes, angezogen durch den Lärm von Glücksspiel und Schlägereien und den Geruch von Schweiß und Wein, die vom Wirt freudig empfangen und von erfahrenen Würfelspielern, Betrügern, Dieben und Huren ebenso freudig ausgenommen wurden.

Wenn eine Hure, die im Wirtshaus arbeitete, einem ansässigen Kleinhändler vielleicht gerade drei Asse dafür abnehmen konnte, dass er mit ihr für eine halbe Stunde in einem der Hinterzimmer verschwinden durfte, so belief sich ihr Lohn bei einem unerfahrenen, sechzehnjährigen Patriziersohn, der hier mit seinen Freunden das erste Mal unverdünnten Wein trank, mitunter auf sechs bis acht Denare, also mehr als das Zwanzigfache. Zudem gerieten diese Jünglinge oft in die Fänge der erfahrenen Huren, die sich aufgrund ihres Alters oder der Spuren, die das zur Welt Bringen und Stillen zahlreicher Kinder hinterlassen hatte, normalerweise mit noch weniger als drei Assen begnügen mussten.

In einem ebensolchen Wirtshaus saß Catullus an einem Abend im Mai mit seinem Bruder Titus und seinem Freund Marcus Caelius Rufus. Für Catullus und Rufus war es das erste Mal, und ihnen war alles andere als wohl in ihrer Haut. Zwei Heranwachsende, die gerade erst begonnen hatten, sich zu rasieren, blütenweiße Kleider am Leib. Und um sie herum lauter dicke, alte, schmutzige, schwitzende, fluchende Männer, größtenteils aus der Nachbarschaft, dem Hafenviertel, die ihr weniges hart verdientes Geld bei schnellen, lauten Vergnügungen wieder loswerden wollten. Vergnügungen, von denen nichts blieb als eine vage Erinnerung und ein schmerzender Kopf am nächsten Morgen.

Catullus hatte Rufus in der Nachbarschaft kennengelernt. Auch sein Vater gehörte dem Ritterstand an, ein Händler, der vor kurzem mit seiner Familie aus Puteoli im Süden Italiens nach Verona gekommen war. Die Väter hatten schon länger geschäftlich miteinander zu tun, und Titus Valerius half Rufus' Vater dabei, sich im immer geschäftiger und reicher werdenden Verona niederzulassen. Bereits zu dieser Zeit war Wohnraum knapp geworden, und Titus Valerius musste einiges an Beziehungen einsetzen, um der Familie Caelius zu einer Stadtvilla zu verhelfen. Wer die Stadt verlassen musste oder durch einen fingierten Prozess sein Leben ließ, um zwei Straßen vom Forum entfernt Platz für Rufus' Familie zu schaffen, hat Catullus mir nicht anvertrauen können; umso mehr aber konnte er mir von Rufus berichten.

Die beiden Väter kamen überein, sich gemeinsam einen Grammaticus, einen Hauslehrer, für die zwei Jungen zu kaufen, der sie zusammen unterrichten könnte. Catullus war ein Jahr älter als Rufus, hatte aber den Elementarunterricht ein Jahr später abgeschlossen als üblich. Chrysippos, Catullus' Magister, der ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht hatte, war bereits der Lehrer seines Vaters gewesen. Nun war er zu alt und zu schwach und wohl auch zu nachgiebig für Titus Valerius' Geschmack geworden, zumal in Zeiten, wo man den unsicheren politischen Verhältnissen strenge moralische Ordnung und Erziehung zum Gehorsam entgegensetzen müsse. Zuletzt musste er es sogar dem Vater überlassen, die angeordneten Prügel auszuführen.

Titus Valerius dagegen, der selbst nie Griechisch gelernt hatte, war der Meinung, dass der Grundunterricht für den Sohn eines Geschäftsmannes völlig ausreichend war. Seinem älteren Sohn Titus blieb der weiterführende Unterricht erspart; schließlich sollte er das Geschäft bald übernehmen. Dass der Vater Catullus diesen Unterricht nun ermöglichte, geschah nicht, um diesem einen Gefallen zu erweisen: Titus Valerius wusste nur nicht, was er anderes mit ihm anstellen sollte, wusste nicht, wie er ihn sonst weiterhin im Haus halten und irgendwie beschäftigen konnte.

Für Gaius Caelius sah dies anders aus: Er hatte vor, seinen Sohn später nach Rom auf die Rhetorenschule zu schicken, um einen Anwalt aus ihm zu machen – was der Vater selbst gerne geworden wäre. Der Unterschied in der Zuneigung der Väter zu ihren Söhnen hätte nicht größer sein können: Caelius war stolz auf seinen Sohn und erlaubte ihm viele Freiheiten, gab ihm Geld und interessierte sich für sein Vorankommen im Unterricht. Er hatte seinem Sohn den Beinamen Rufus, »der Fuchsrote«, gegeben, da er die Haare seiner Mutter geerbt hatte.

Catullus kannte all dies nicht. Und er lief auch nicht Gefahr, die Anschaffung des Grammaticus als Auszeichnung oder Zeichen von Zuneigung zu deuten: Zu sehr hasste er den Unterricht, hatte er ihn schon immer gehasst. Rufus ging es allerdings ähnlich; zwar wusste er sehr wohl, dass sein Vater den Griechischunterricht als Vergünstigung und Auszeichnung betrachtete, doch in den Unterricht kam er ebenso ungern wie Catullus.

Und so saßen Catullus und Rufus jeden Tag mehrere Stunden lang gemeinsam in einem spärlich möblierten Raum bei Catullus zu Hause und langweilten sich.

Der Grammaticus war ein griechischer Sklave mit Namen Phaedros. Catullus hatte nur anfänglich darüber geschmunzelt, dass er den gleichen Namen hatte wie einer der niederen Haussklaven. Schon bald sah er diesen Namen in einem anderen Licht: Phaedros, so hieß einer der unzähligen Gesprächspartner des Sokrates in einem der unzähligen Dialoge, die Platon aufgeschrieben hatte, und war somit für Catullus Anlass unzähliger unterdrückter Anfälle des Gähnens in unzähligen nicht enden wollenden Unterrichtsstunden. Seine Sache war Sokrates' Philosophie von Anfang an nicht gewesen; und schon gar nicht mehr, seit er die Schriften des Epikuros entdeckt hatte.

Epikuros lehrte, dass man Schmerz, Furcht und Begierde überwinden müsse, um zum wahren Glück zu gelangen. Und das war für einen heranwachsenden Jungen, der im Leben wenig Zuneigung erfahren hatte, allemal einleuchtender als der ernste, trockene Sokrates, der sich am Ende auch noch lieber umgebracht hatte, als von seinen seltsamen Ideen abzulassen. Auch wenn der unerfahrene Catullus die »Überwindung der Leidenschaft« noch nicht ganz verstand: Hier war etwas, dem es lohnte, nachzugehen.

Es ist kaum der Erwähnung wert, dass sein Vater dies ganz anders sah. Als Phaedros eine Papyrusrolle aus Epikuros' »Über die Natur« unter Catullus' Schulsachen entdeckte, bekam dieser zunächst an Ort und Stelle die Weidenrute zu spüren; abends fuhr der Vater mit der Züchtigung fort. Zwar hatte dieser keine Ahnung, wer oder was Epikuros war. Doch nach dem, was Phaedros ihm erzählte, musste er wohl glauben, das Römische Reich stehe vor seinem Untergang, sobald man anfinge, diesen Trinker aus Samos ernst zu nehmen, der zweihundert Jahre zuvor Athen mit seinen gottlosen Gedanken infiziert hatte.

Catullus hatte das Buch in einem der zahlreichen Geschäfte im Viertel östlich des Forums gekauft, die für vier bis acht Asse Papyrusrollen mit Abschriften der Werke der großen Dichter und Philosophen anboten. Hin und wieder bekam er etwas Geld zugesteckt – von Ausonia, von seinem großen Bruder, mitunter sogar von Rufus; sein Vater ließ meist durchblicken, dass der Grammaticus zu teuer bezahlt worden war, als dass Catullus sich Hoffnung machen dürfte, noch zusätzlich ein Taschengeld zu bekommen. Bei seinem Bruder Titus sah dies anders aus; aber schließlich hatte der Vater ein gesteigertes Interesse daran, dass sein ältester Sohn so früh wie möglich lernte mit Geld umzugehen – immerhin war er mit seinen fünfzehn Jahren bereits einige Zeit aktiv im Geschäft des Vaters tätig. Seinen jüngeren Sohn wollte Titus Valerius so schnell wie möglich loswerden, zu sehr gemahnte ihn seine bloße Anwesenheit seit mehr als einem Jahrzehnt an den Verlust seiner Frau, zu sehr gemahnte ihn das dunkelrote Gesicht an seine Verfehlungen gegenüber den Göttern, auch wenn beides für ihn Schwächen waren, die er sich niemals eingestanden hätte.

Caelius' Idee mit der Rhetorenschule in Rom gefiel Catullus' Vater in letzter Zeit immer mehr. Wenn sein jüngerer Sohn ein bekannter Anwalt oder Politiker in der großen Stadt würde, könnte Titus das für sein Geschäft weit mehr nützen, als wenn Catullus, dieses wandelnde Mahnmal mangelnder Frömmigkeit, in Verona bliebe, einer Stadt, der der Aberglaube aus den Poren troff. Einer Stadt, die voller Menschen war, die den erfolgreichen Abschluss eines Handels unbedingt mit dem Opfern eines Rindes von zehn bis fünfzehn Denaren Wert feiern mussten – in Titus Valerius' Augen nichts als eine grobe Geldverschwendung.