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Am 29.7.2012 wurden die Zuschauer des Kanals »PietSmiet« Zeugen eines folgenschweren Verbrechens. In Folge 99 des Let’s Plays zum Videospiel »DayZ« wird ein unschuldiger Zivilist namens Viggo von Peter Smits auf einem Krankenhausdach erschossen. Seit diesem Tag rätselt die Community: War es kaltblütiger Mord, oder wurde Peter von seinem PietSmiet-Kollegen Brammen zur Tat nur angestiftet? Eine Legende formt sich. Die Frage nach der Schuld bleibt bis zum heutigen Tage ungeklärt. Der Roman »Viggo« klärt die Frage nach dem Opfer.

Über die Autoren:

PietSmiet leben und lieben Videospiele: Die fünf Jungs sind kein seelenlos zusammengecastetes Let’s-Player-Pendant zu einer Boyband, sondern seit vielen Jahren beste Freunde. Das fühlen und spüren ihre rund 2,3 Millionen Abonnenten in jedem der inzwischen über 21.000 Videos.

Mikkel Robrahn ist Mitarbeiter der PietSmiet UG und Co. KG und dafür verantwortlich, dass nichts liegen bleibt. Als begeisterter Schreiber hat er sich bereits auf der PietSmiet.de ausgetobt. »Viggo« ist sein erster Roman.

© 2019 Community Editions GmbH
Zülpicher Platz 9
50674 Köln

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
Die Inhalte dieses Buches sind von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung von Autor und Verlag für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Covergestaltung: Risto
Redaktion: Mirka Uhrmacher

Gesamtherstellung: Community Editions GmbH
ISBN epub 978-3-96096-084-3

www.community-editions.de

Dieses Buch ist für alle,
die die schändlichen Taten des gewissenlosen Schweins
niemals in Vergessenheit geraten lassen!
#NeverForgetViggo

Inhalt

Eine Stunde zuvor

Wenig später auf dem Krankenhausvorplatz

Am Tag zuvor im Supermarkt

Am selben Morgen

Einige Zeit später

Monate später

Danke

Das Dröhnen der Kaffeemaschine war wie Musik in Viggos Ohren. Zwei Stunden noch, dann hätte er endlich Feierabend, würde nach Hause fahren und Abendbrot für die Familie zubereiten, bevor seine Frau von ihrem Job im Supermarkt zurückkam. Und er hatte nicht vor, diese zwei Stunden ohne Kaffee zu verbringen.

Brühend heiß plätscherte die braune Flüssigkeit in die weiße Tasse mit der Aufschrift Dad of the year, die ihm Alexandra vor zwei Jahren zum Vatertag geschenkt hatte. Auch wenn es kitschig war: Er hütete sie wie einen Schatz.

Nachdem die Maschine ihren Dienst verrichtet hatte, nahm er die Tasse aus der Halterung, schlurfte zurück zum Rechner und ließ sich auf dem Bürostuhl nieder, der so bequem war wie eine Holzbank. Vor ihm stand ein alter Röhrenmonitor – denn auch wenn das Krankenhaus erst vor Kurzem gebaut und mit aktuellen medizinischen Geräten ausgestattet worden war, hatte man beim Rest gespart. Die Rechner liefen noch mit Windows 2000, das von Microsoft bereits seit zwei Jahren nicht mehr mit Updates versorgt wurde. Für ein Krankenhaus natürlich ein großes Sicherheitsrisiko – aber das hatte er oft genug angesprochen und wurde ignoriert.

Er nippte kurz am Kaffee, den er schwarz trank, und warf dann einen Blick auf die Patientenakten. Seit einem Jahr arbeitete er als Krankenpfleger im städtischen Krankenhaus – kein Job, mit dem man reich wurde, aber zusammen mit dem Gehalt seiner Frau kamen sie gut über die Runden, und alle zwei Jahre war ein Urlaub drin, den sie gern im Sommer am Meer verbrachten.

Als er gerade dabei war, die Essensbestellungen für das kommende Frühstück einzutippen, klingelte das Telefon.

»Station 3, Viggo Nikolaij am Apparat.«

»Hey, Viggo, Viktor hier«, meldete sich derjenige am anderen Ende der Leitung. Viktor war einer von Viggos Freunden bei der Arbeit. Er kam mit vielen gut aus, aber mit Viktor war er schon einige Nächte um die Häuser gezogen. So etwas schweißte zusammen.

»Ich ruf an, weil ich dich fragen wollte, ob du heute Abend dabei bist. Anja feiert ihren dreißigsten Geburtstag und wollte das mit einer Flasche Sekt im SammysInn begießen.«

»Liebend gern«, sagte Viggo. »Du weißt, dass ich bei so was eigentlich nicht Nein sagen kann. Aber ich habe Magda versprochen, dass wir das Wochenende gemeinsam einläuten. Wir werden Pizza machen, einen Film gucken, und wenn Alexandra im Bett ist, wird eine Flasche Rotwein geköpft. Tut mir leid, aber die Familie geht vor.«

Am anderen Ende herrschte kurz Stille, dann räusperte sich Viktor. »Oh Mann, du alter Spießer. Na gut, dass ich da den Kürzeren ziehe, ist wohl klar. Dann sehen wir uns morgen in der Mittagspause?«

»Morgen in der Mittagspause. Es gibt Lasagne in der Kantine, und du kommst nicht ohne ein paar gute Geschichten von der Party, verstanden?« erwiderte Viggo.

»Dann bis morgen«, sagte Viktor und legte auf.

Sie kannten sich noch aus der Schulzeit, hatten dort drei Jahre nebeneinandergesessen, sich aber anschließend aus den Augen verloren. Es war eine große Überraschung gewesen, als sie sich im Krankenhaus über den Weg liefen und beide die schlichte blaue Krankenpflegeruniform trugen. Viggo hasste die Klamotten, in denen man immer aussah wie ein Sack Kartoffeln, bloß blau und nicht braun. Aber es half ja nichts.

Viktor arbeitete auf Station 6 mit suchtkranken Patienten – ein Job, um den ihn Viggo nicht beneidete. Dort kamen die krassen Fälle hin: Junkies, Alkoholsüchtige, Abhängige, die aufgrund einer Krankheit ins Hospital mussten und weiterhin ihren Stoff brauchten – natürlich unter ärztlicher Aufsicht. Ein Entzug war für den Körper eine solche Herausforderung, dass er neben einer Lungenerkrankung oder Krebs nicht zu stemmen war.

Viggo nahm einen Schluck Kaffee, der mittlerweile schon kalt war, und verzog leicht angewidert das Gesicht. Kalter Kaffee ist wie Sex ohne Orgasmus, hatte sein Vater mal zu ihm gesagt. Damals hatte er nicht viel damit anfangen können, aber heute wusste er sehr gut, was sein alter Herr damit gemeint hatte.

Seine Augen wanderten ungeduldig in Richtung Uhrzeitangabe auf seinem Monitor. Er konnte den Feierabend kaum abwarten, auch wenn er seinen Job gern machte. Aber weil er und seine Frau beide im Schichtdienst arbeiteten, war die gemeinsame Zeit als Familie rar gesät. Deshalb hatten sie sich vorgenommen, zumindest einmal im Monat zu kochen und zu dritt einen Film zu schauen. Und dieser Abend war heute. Viggo freute sich wie ein Kind auf die Bescherung.

Die Zutaten für die Pizza hatte Magda schon am Vortag mitgebracht: Tomatensoße, Käse, Pilze, Schinken und Mais. Den Teig würde er frisch mit Alexandra machen und die Pizza dann vorbereiten. Um neunzehn Uhr fünfundfünfzig würde er sie in den Ofen schieben, und eine Viertelstunde später würden alle gemeinsam am Esstisch sitzen. Den Abwasch würden sie stehen lassen und sich stattdessen auf die Couch setzen, um den ersten Ghostbusters-Film zu schauen – einen von Alexandras Lieblingsfilmen. Anschließend würde seine Tochter ins Bett gehen, und dann stand das Erwachsenenprogramm an, das aus einer Flasche Rotwein und irgendeiner romantischen Komödie bestand – und schlafen würden sie in dieser Nacht natürlich nicht viel.

Es klopfte an der Tür des Stationszimmers, kurz darauf schob sich ein blond gelockter Kopf durch den Türrahmen, und Frau Iwanow sah ihn freundlich an.

»Ich will ja nicht drängeln, aber wissen Sie schon, wann es Abendbrot gibt?«

Frau Iwanow war wegen eines komplizierten Bruchs im rechten Unterarm im Krankenhaus. Sie war mit ihrem Hund spazieren gegangen, einer winzigen Corgi-Hündin namens Emma, die einer vorbeilaufenden Katze hinterherjagen wollte. Das allein wäre kein Problem gewesen, aber Emmas Leine hatte sich ungünstig um Frau Iwanows Handgelenk verknotet, der Hund wuselte ihr aufgeregt zwischen den Beinen hindurch, und bei dem Versuch, nicht auf das kleine Tier zu treten, war sie gestolpert und auf ihrem Arm gelandet.

Viggo sah auf die Uhr. »Da müssen sie sich noch ungefähr zwei Stunden gedulden, dann fangen die Kollegen mit der Essensausgabe an, Frau Iwanow.«

»Zwei Stunden noch?«, gab sie in gespielt beleidigtem Ton zurück. »Ich werde meinem Sohn sagen, dass er mir das nächste Mal ein paar Kekse mitbringen soll, damit ich hier nicht noch verhungere, während ich auf meine OP warte.«

»Keine Angst, erwiderte Viggo ironisch. »Wir würden Ihnen vorher schon eine Sonde verpassen. Stellen Sie sich die Schlagzeilen vor, wenn Sie uns hier verhungern. Das würde die Leitung bestimmt nicht riskieren.«

Die rüstige Dame schenkte ihm ein Lächeln und machte sich dann wieder auf den Weg in ihr Zimmer. Viggo liebte den Umgang mit den Patienten – zumindest, wenn es so nette und freundliche wie Frau Iwanow waren. Natürlich gab es auch das komplette Gegenteil: Nörgler, die weder Danke noch Bitte sagen konnten und das Krankenhauspersonal für ihre persönlichen Leibeigenen hielten. Aber mit solchen Menschen hatte man wohl in so ziemlich jedem Job zu tun, weshalb er versuchte, so etwas nicht zu sehr an sich heranzulassen.

Eine Bewegung im Augenwinkel ließ Viggo aufblicken. Er konnte von seinem Stationszimmer aus direkt durch die große Scheibe auf den Flur sehen, der zum Treppenhaus führte. Dort liefen ein paar Leute hektisch auf den Ausgang zu. Er dachte sich nichts dabei. Im Krankenhaus gab es schnell mal Hektik, wenn ein Notfall eintrat – auch wenn sie sich das natürlich nach Möglichkeit nicht anmerken lassen sollten, um den Patienten keine Angst zu machen.

Doch keine fünf Sekunden später ertönte plötzlich das Heulen einer Sirene. Ein lang gezogener, schriller Ton, der Viggo an einen Fliegeralarm aus einem Zweiter-Weltkriegs-Film erinnerte. Jemand hatte den Feueralarm ausgelöst.

Sergej, mit dem er gerade Dienst schob, kam von hinten aus dem Aufenthaltsraum. Sergej war ein großer, kräftiger Mann mit Glatze, und Viggo vermutete, dass er mal geboxt haben muss, denn seine Nase war in alle Richtungen gebogen und seine Ohren sahen aus wie Blumenkohlröschen. Im Dunklen wollte er ihm nicht begegnen, aber Sergej war einer der freundlichsten und zuvorkommendsten Menschen, die er kannte.

»Der Feueralarm, Viggo!«

»Ja, eine Übung war nicht angekündigt, oder?«

»Nein, nicht dass ich wüsste. Was machen wir?«, wollte Sergej wissen.

Viggo zuckte mit den Schultern. »Das, was wir gelernt haben: Wir evakuieren unsere Station.«

Im Brandfall war vorgesehen, dass das gesamte Krankenhaus evakuiert wird. Die Krankenpfleger waren dafür verantwortlich, dass alle Patienten, die nicht auf Maschinen angewiesen waren, auf die große Rasenfläche neben dem Krankenhaus gebracht wurden. Alle anderen mussten auf umliegende Krankenhäuser verteilt werden. Für Viggo und Sergej war das kein großes Problem, denn sie hatten keine bettlägerigen Fälle – sie mussten ihre Schützlinge nur wie eine Herde Schafe zusammentreiben und dann zu den speziellen Feuerwehraufzügen bringen.

Sergej nickte, dann eilte er den Flur nach links, Viggo nach rechts hinunter. Wenige Minuten später hatten sie alle Patienten vor dem Fahrstuhl versammelt und brachten sie nach unten.

Vor dem Krankenhaus gab es einen großen Menschenauflauf. Das Gebäude leerte sich schlagartig – wie eine Bar, in der kein Alkohol mehr ausgeschenkt wurde. Alle redeten wild durcheinander, niemand wusste, was den Alarm ausgelöst hatte.

Einen Brand gab es offensichtlich nicht, denn es waren kein Rauch und vor allem keine Flammen zu sehen, die sich dem Himmel entgegenstreckten.

Schließlich trat ein Mann mit einem Megafon vor die Menge. Er war klein, dürr, hatte eine Halbglatze und steckte in einem schlecht sitzenden Anzug. Es war Artjom Popow, der stellvertretende Krankenhausdirektor, wie Viggo erkannte.

»Sehr geehrte Damen und Herren, es besteht kein Grund zur Sorge. Der Feueralarm wurde auf der Intensivstation ausgelöst, aber wie Sie sehen, scheint es nicht zu brennen. Die Feuerwehr wird gleich eintreffen und den entsprechenden Bereich kontrollieren. Danach dürfen Sie wieder auf Ihre Zimmer.«

Wie auf Bestellung fuhren mehrere Löschfahrzeuge vor, und Männer und Frauen mit Brandschutzmonturen und Atemmasken sprangen aus den Autos. Es gab eine kurze Besprechung zwischen dem – wie Viggo vermutete – Einsatzleiter und dem stellvertretenden Direktor, danach wurde ein Trupp Feuerwehrleute zusammengestellt, die das Krankenhaus betraten, während der Rest bei der Versorgung der Patienten half und die Löschfahrzeuge in Position brachte.

Viggo sah sich um. An die hundert Leute standen auf der Wiese. Viele waren Patienten, ein paar lagen in ihren Betten. Es war ein kalter Tag Anfang Januar, der Schnee des letzten Jahres begann gerade erst zu tauen, und die Sonne war ein seltener Gast. Deshalb begann das Personal auch gleich damit, Decken auszuteilen, und von irgendwoher hatte man eine große Kanne mit heißem Wasser herbeigeschafft, das nun zusammen mit Teebeuteln ausgeteilt wurde.

Immerhin regnete es nicht, dachte Viggo. Lieber würde er sich hier draußen eine Erkältung einfangen, als da drinnen zu verbrennen.

Die Minuten verstrichen, aber die Stimmung vor dem Krankenhaus war locker. Es ging wohl niemand davon aus, dass wirklich etwas passiert war.

»Was meinst du?«, fragte Sergej. »Fehlalarm, oder wollte irgendein Besuchskind aus Langeweile wissen, was passiert, wenn es den Knopf drückt?«

Viggo lachte. »Ich hoffe für das Balg, dass seine Eltern gut versichert sind. Das kann schnell teuer werden. Aber höchstwahrscheinlich war es einfach ein Fehlalarm, oder die Krankenhausleitung wollte sehen, wie schnell wir die Leute rausbekommen, und hat uns deshalb nicht vorgewarnt.«

»Meinst du nicht, in dem Fall hätte man der Feuerwehr Bescheid gegeben, damit sie nicht extra ausrückt?«

Viggo nickte. Damit hatte Sergej auf jeden Fall recht.

Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass sich ihrer aller Leben in ein paar Minuten komplett auf den Kopf stellen würde und sie viel Glück brauchten, um die kommenden vierundachtzig Stunden zu überleben.

Eine Stunde zuvor

Ein Krankenwagen hielt mit quietschenden Reifen vor der Notaufnahme. Sanitäter sprangen heraus und brachten einen bewusstlosen Mann auf einer Bahre ins Krankenhaus.

»Patient männlich und ohne Bewusstsein. Eine Anwohnerin hat ihn im Treppenhaus gefunden, als sie mit den Einkäufen vom Supermarkt wiederkam. Niedriger Puls, Herzschlag unregelmäßig, Vitalfunktionen lassen nach, Frau Dr. Manakov.«

Schweißperlen rannen über die blasse Stirn des Mannes. Seine Pupillen waren winzig und reagierten nur stark verzögert auf das Licht aus der kleinen Taschenlampe, mit der Manakov ihm in die Augen leuchtete.

»Vermutlich eine Überdosis, haben Sie Einstiche an den Armen festgestellt?«, wollte Dr. Manakov wissen.

»Nichts«, gab der Sanitäter zurück.

Manakov nickte. »Sofort in den Schockraum mit ihm.«

Die Sanitäter schoben den Patienten weiter in den Schockraum, wo der Bewusstlose an allerhand Geräte angeschlossen wurde. Wie bei einem Boxenstopp saß jeder Handgriff, Monitore lieferten kurz darauf erste Ergebnisse, und das Personal stand Spalier.

Neben Frau Dr. Manakov befanden sich noch ein Assistenzarzt und drei extra für solche Notfälle ausgebildete OP-Pflegekräfte im Raum.

Manakov blickte auf den Monitor, auf dem eine feine Linie Rückschlüsse auf die Herzfrequenz des Mannes zuließ. Der Ausschlag der grünen Linie wurde immer unregelmäßiger, kleiner und die Abstände kürzer.

»Beginnen Sie mit der Beatmung«, bellte Manakov eine Frau an, die sofort eine Maske über den Mund des Mannes legte, woraufhin eine weitere Maschine zu surren anfing und weitere Lichter auf einem der vielen Displays blinkten.

»Sauerstoffsättigung steigt«, sagte jemand mit monotoner Stimme, die auch von einem Roboter hätte kommen können.

Manakov blickte wieder auf die Linie und hoffte inständig, dass Besserung eintrat. Sie hasste solche Fälle, bei denen es keinen klar erkennbaren Grund für den Zustand des Patienten gab. Wenn jemandem ein Arm fehlte, war klar zu erkennen, wo das Problem lag und was zu tun war. Aber das hier war wie eine Runde Topfschlagen, und sie konnte nur hoffen, dass sie sich in die richtige Richtung bewegte und den Topf schnell genug fand.

Die Werte wurden schlechter.

»Defibrillator bereit machen!«

Geübte Griffe folgten auf ihren Befehl, und als hätte sie es gewusst, ertönte kurz darauf ein langer, unangenehmer Ton, der in den Ohren wehtat. Der Herzstillstand war eingetreten.

»3-2-1, zurücktreten!«, rief Dr. Manakov und drückte den Defibrillator auf die nackte Brust des Mannes. Strom floss durch den leblosen Körper und ließ ihn einmal zucken.

Wieder der Blick auf den Monitor: keine Veränderung. Statt eines regelmäßigen Piepens war immer noch der hohe Ton zu hören.

»3-2-1, zurücktreten!«

Wieder schoss Strom durch den Körper des Mannes, und er zuckte, aber es holte ihn nicht ins Leben zurück.

Manakov überlegte kurz, wusste aber, dass sie den Kampf so gut wie verloren hatte.

»Einmal noch. 3-2-1, zurücktreten!«

Der Körper zuckte, das ganze Team sah wie gebannt auf den Monitor und hoffte auf eine Veränderung, auf ein Lebenszeichen. Auch wenn sie alle schon Patienten in diesem Raum verloren hatten, den Job übten sie aus, um Leben zu retten. Kein Verlust ging spurlos an ihnen vorbei. Fünf Augenpaare waren auf den kleinen Monitor gerichtet, und wäre nicht der hohe Ton des Messgerätes gewesen, man hätte eine Nadel fallen hören können.

Dr. Manakov zählte stumm bis zehn, und als sich dann immer noch nichts am Zustand des Mannes auf der Liege geändert hatte, schob sie resigniert den Mundschutz runter. »Schalten Sie es aus«, wies sie die Pflegekraft am Beatmungsgerät an. Dann wandte sie sich an ihren Assistenzarzt Harven. »Notieren Sie den Zeitpunkt des Todes, Ursache ungeklärt.«

Harven nickte und begann das Formular auf seinem Klemmbrett auszufüllen. Er war ein junger Uni-Absolvent aus der Großstadt, der hier Praxiserfahrung sammelte. Er war ehrgeizig und hatte das Medizinstudium in der Regelstudienzeit absolviert – was nur den Besten gelang. Sein Vater war Chefarzt in einem Krankenhaus fünfzig Kilometer südlich, und Manakov hatte keinen Zweifel, dass er mal in die Fußstapfen seines alten Herrn treten würde.

»Was soll ich beim Namen eintragen?«, fragte er.

Manakov überlegte, einen Namen hatten die Sanitäter nicht genannt. »Hat er Dokumente bei sich?«

Der Assistenzarzt fing an, den Toten auf irgendetwas Brauchbares abzutasten – Ausweis, Krankenkassenkarte oder einen Brief vom Arbeitsamt, Hauptsache, der Schrieb ließ Rückschlüsse auf den Namen zu. Erst tastete er die Hosentaschen ab, die allerdings abgesehen von einem Schlüsselbund und ein paar Kaugummis der Marke Seventeen Powergum leer waren.

»Helfen Sie mir mal bitte, den Körper auf die Seite zu drehen«, bat er eine der Pflegekräfte, die auf der anderen Seite der Leiche standen. »Vielleicht finden wir etwas in den Gesäßtaschen seiner Jeans.«

Die junge Frau packte sofort mit an, und gemeinsam schoben und zogen sie ihn auf die Seite, was bei einem schlaffen Körper alles andere als einfach war, das wusste Manakov aus eigener Erfahrung nur zu gut. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würden sie es auch zu zweit nicht schaffen. Skeptisch beobachtete die Oberärztin das Treiben. Wer nicht mal eine Leiche auf die Seite legen konnte, der konnte schließlich auch keine Operationen durchführen.

Zu ihrer Erleichterung gelang es den beiden aber schließlich, und der Tote lag auf der Hüfte. Harven tastete an der Gesäßtasche nach einem Portemonnaie oder einem Zettel und hatte dabei sichtlich wenig Berührungsängste. Wenn man tagein, tagaus mit entweder toten oder – im besseren Fall – für die OP narkotisierten Patienten und deren Körpern zu tun hatte, legte man ganz schnell jede Distanz ab.

Seine Hand glitt in die rechte Tasche, und er zog eine Geldbörse hervor.

»Jackpot, wir haben …«, setzte er gerade an, da durchschnitt ein schriller Schrei die Luft.

Alle blickten auf, und Entsetzen spiegelte sich in den Gesichtern wider. Die Leiche oder das, was sie für eine Leiche gehalten hatten, hatte sich in den Unterarm der Krankenpflegerin verbissen.

Die junge Frau riss sich los, wobei ein großes Stück Fleisch aus ihrem Unterarm herausgetrennt wurde. Arterien lagen frei und bespritzten die sonst so makellos weißen Wände mit Blut.

Harven taumelte ein paar Schritte zurück, verlor das Gleichgewicht und landete auf seinem Hintern. Er stammelte etwas, das Dr. Manakov nicht verstand, und sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen – was der Wirklichkeit näher kam, als sie sich eingestehen wollte. Der Kopf des Patienten drehte sich ruckartig zur Seite, und die kalten Augen sahen die Ärztin an.

»Sie … müssen …«, stotterte sie. »Sie stehen unter Schock. Wir … dachten, Sie wären tot. Beruhigen Sie sich, Ihnen wird hier geholfen.«

Aus dem Gesicht des Mannes auf der Liege war jede Farbe gewichen – wenn man von dem Blut absah, das aus dem Unterarm der Pflegekraft stammte. Seine Augen zuckten hin und her, schienen den Raum abzuscannen.

Harven war immer noch wie zu Stein erstarrt. Als der unruhige Blick des Patienten an ihm hängen blieb, wirkte er wie ein Reh, das einem Rudel Wölfe in die Augen schaut. Manakov wurde eiskalt. Sie wusste plötzlich, dass es keine Rettung mehr für den jungen Nachwuchsarzt gab. Er war die Beute, und der Patient auf der Liege, dessen Leben sie vor ein paar Minuten noch zu retten versucht hatte, war der Jäger.

Als sie diese Erkenntnis traf, sprang das Ding auch schon von der Liege, war mit zwei schnellen Schritten bei Harven und vergrub seine Zähne tief in der Kehle des ambitionierten Mediziners. Es war über ihn hereingebrochen wie ein Unwetter in den Bergen, in seiner Schockstarre war ein Handeln unmöglich.

Aber der Sprung riss die umstehenden Personen aus ihrer Untätigkeit – abgesehen von der verletzten Krankenschwester, die wimmernd auf dem Boden lag. Manakov und die anderen beiden Pflegekräfte stürzten zu Harven und versuchten, den Angreifer von ihm herunterzuziehen. Der Mann wand sich in ihrem Griff, schlug wie in Raserei um sich, erwischte Manakov im Gesicht und zerkratzte ihr mit den Fingernägeln die Wange. Sofort quoll warmes Blut aus der Wunde.

Das hier ist kein Mensch mehr, durchzuckte es die Ärztin. Drogen ließen Menschen vielleicht gewalttätig werden und Dinge tun, die sie ohne Rauschmittel nicht machen würden. Manche verliehen sogar scheinbar übermenschliche Kräfte. Aber Drogen ließen niemanden von den Toten auferstehen. Sie selbst hatte den Tod festgestellt, Vitalfunktionen waren keine mehr messbar gewesen, und kurze Zeit später sorgt diese Leiche für ein Massaker im Schockraum! Das konnte einfach nicht sein.

Sie stolperte einen Schritt zurück. Mittlerweile hatte das Monster von Harven abgelassen, einen der Krankenpfleger abgeschüttelt und dem anderem ein Ohr abgebissen. Seine zu Klauen verkrampften Hände gruben sich in alles, was sie zwischen die Finger bekamen. Die Motorik war grob, die Bewegungen ruckartig, der eben noch völlig schlaffe Körper stand unter unglaublicher Spannung.

Dr. Manakov sah sich hilflos um. Der wild gewordene Patient stand zwischen ihr und dem verbliebenen Krankenpfleger, der die Tür im Rücken hatte.

Ihre Blicke trafen sich, und in seinem Gesicht konnte sie lesen, dass er schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, dieses Ding irgendwie überwältigen zu können. Einen Herzschlag später drehte er sich um und lief zur Tür, die auf den Flur führte und die einzige Rettung darstellte.

Die plötzliche Flucht schien den Jagdinstinkt in dem Wesen zu wecken. Noch bevor sein Opfer die Tür erreichen konnte, sprang es den Pfleger von hinten an und riss ihn zu Boden. Es vergrub seine Zähne im Nacken und löste Fleischbrocken heraus, obwohl sich seine Beute unter ihm immer noch wand und wehrte.

Manakovs Blick irrte durch den Raum: Blut sammelte sich in großen Pfützen auf dem Boden, und ihre Kollegen, mit denen sie schon Hunderte Operationen durchgeführt und Patienten vor dem Tod gerettet hatte, waren bewusstlos oder so schwer verletzt, dass sie sich nicht mehr rührten. Harven war tot, dafür brauchte sie nicht mal seinen Puls fühlen, das konnte man sehen. Wenn sie hier irgendwie lebendig herauskommen wollte, musste sie handeln.

Sie nutzte den Moment der Unachtsamkeit, während der Angreifer wie ein Aasgeier über den Nacken des Mannes herfiel, und schlich zum Operationsbesteck. Ihre Hand wanderte zielsicher zum Skalpell – ein Werkzeug, mit dem sie schon unzählige Körper aufgeschnitten hatte, um Leben zu bewahren. Doch sie wusste auch, wo sie zustechen musste, um damit zu töten.

Sie griff nach dem Messer und umklammerte es so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Mit zögerlichen Schritten näherte sie sich dem Ungetüm, ihre Hand mit dem Skalpell darin zitterte stark, Schweiß vermischte sich mit dem Blut auf ihrem Gesicht und ließ die Wunde brennen. Sie stellte sich hinter das Monster und nahm Maß. Dann schnellte ihr Arm hinunter.

Sie traf die Halsschlagader präzise und durchtrennte sie. Egal, was das da vor ihr war, ein solcher Schnitt musste einfach ausreichen, um das Ding außer Gefecht zu setzen.

Aber das tat er nicht.

Ihr Ziel hielt kurz inne, als würde es darüber nachdenken, ob sich gerade eine Fliege auf seiner Schulter abgesetzt hatte. Dann drehte es sich ruckartig um und schlug in der Drehung mit der flachen Hand nach der Ärztin.

Manakov war auf den Angriff nicht vorbereitet, hatte sie doch erwartet, dass ihr Opfer tot zusammenbrechen würde. Sie schlug der Länge nach hin. Im Sturz sah sie etwas, das sie alle in der Panik völlig vergessen hatten. Es würde sie zwar nicht mehr retten, aber vielleicht gab es den vielen Menschen im Krankenhaus die Gelegenheit, noch rechtzeitig aus dem Gebäude zu flüchten, ehe das Monster über sie alle herfallen konnte.

Es war ein kleiner roter Kasten mit einer Glasscheibe. Unter dem Glas stand: »Scheibe einschlagen. Knopf tief drücken.« Der Feueralarm.

Das hier war zwar kein Feuer, aber es war ein Notfall, und der Alarm würde die Leute aus dem Krankenhaus treiben.

Allerdings dachte Manakov diesen Gedanken nicht zu Ende. Sie dachte nicht an die Feuerwehrmänner, die irgendwann durch die Tür treten und mit Feuerlöschern nach einem Brand suchen würden. Sie dachte nicht daran, dass die Einsatzkräfte mindestens so unvorbereitet waren auf das, was hier passiert war, wie jeder andere. Niemand war auf das hier vorbereitet.

Verzweifelt rappelte sie sich wieder auf und stürzte auf den Feuermelder zu, die Hand zur Faust geballt, während sie bereits hörte, wie sich das Monster von hinten langsam näherte. Der Jäger hatte seine Beute gewählt. Sie spürte nicht mehr viel, als sie angefallen und zu Boden gerissen wurde. Das Letzte, was sie wahrnahm, war das laute Schrillen der Sirenen.

Wenig später auf dem Krankenhausvorplatz

»Was dauert das denn so lange?«, wollte Sergej wissen.

Mittlerweile war bestimmt schon eine Viertelstunde vergangen, seit die Feuerwehr das Gebäude betreten hatte, was den Verdacht aufkommen ließ, dass es sich nicht bloß um einen Fehlalarm oder einen brennenden Mülleimer handeln konnte. Der Alarm meldete immerhin nicht bloß, dass es möglicherweise ein Problem gab, sondern der Feuerwache wurde auch automatisch angezeigt, in welchem Bereich des Krankenhauses das Feuer gemeldet worden war. Dorthin zu gelangen, konnte nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen.

»Ich weiß es nicht, aber komisch ist es schon«, sagte Viggo und sah sich die vielen Kranken an, die hier im Freien standen. »Hauptsache, wir bekommen die Leute wieder schnell ins Warme, ansonsten haben wir bald eine schöne Erkältungswelle bei uns im Laden.«

Sergej nickte und schaute wieder gespannt zur Haupteingangstür, aus der die Feuerwehrmänner eigentlich jeden Moment wieder herauskommen müssten. Die Alten und Bettlägerigen wurden mittlerweile von den restlichen Feuerwehrleuten mit gold- und silberschimmernden Rettungsdecken ausgestattet.

Viggo hatte nie verstanden, wie diese Dinger funktionierten und warum sie so gut warm hielten, aber in diesem Moment war er froh, dass sich jemand um die Menschen kümmerte. Er selbst aber fühlte sich nutzlos, wie er so herumstand und nichts tat. Es musste sich doch etwas in Erfahrung bringen lassen!

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er zu Sergej. »Hab ein Auge auf unsere Leute.«,

Dann marschierte er zu Artjom Popow, dem stellvertretenden Krankenhausdirektor, der etwas abseits der Menge stand und besorgt den Blick immer wieder am Gebäude nach oben schweifen ließ.

»Entschuldigen Sie, Herr Popow, aber können Sie sagen, was vorgefallen ist?«

Popow drehte sich um und schien kurz verwirrt, dann erkannte er offensichtlich, wen er vor sich hatte. Viggo hatte bei der letzten Weihnachtsfeier gemeinsam mit ihm und noch ein paar weiteren Kollegen bis in die frühen Morgenstunden in einer Bar Tequila getrunken und Weihnachtslieder gesungen. Er nahm ihm das Zögern nicht übel – es war eine Nacht, in der viel Alkohol floss, und er selbst konnte sich nicht mehr an jedes Gesicht erinnern.

»Schwierig zu sagen.« Popow fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere Haar. »Der Feueralarm wurde in Schockraum 1 ausgelöst, dort versuchte Dr. Manakov eigentlich, einem Notfall das Leben zu retten.«

Viggo schaute sich um, sah die Ärztin aber nicht. »Gehen Sie denn von einem Feuer aus?«, wollte er wissen.

»Nun, ich bin ehrlich zu Ihnen: Ich habe absolut keinen Plan. Vielleicht hat sich irgendjemand eine Zigarette angesteckt, und dabei ist ein Stapel Papiertücher in Flammen aufgegangen … wäre möglich.« Er klang selbst nicht sehr überzeugt.

Viggo deutete auf die Menschenansammlung auf dem Rasen. »Wenn die Leute noch länger hier draußen rumstehen, dann müssen wir uns bald nicht nur Sorgen um gebrochene Beine und neue Hüften machen, sondern auch um Lungenentzündungen. Es ist einfach zu kalt.«

»Ich weiß doch, ich weiß doch!« Nun schien Popow eher genervt als angespannt. »Aber was soll ich machen? Das Protokoll sieht vor, dass das Krankenhaus erst von der Feuerwehr freigegeben werden muss, bevor ich Sie und die Patienten wieder nach drinnen schicken kann. Meinen Sie, es macht mir Spaß, die Leute hier im Kalten stehen zu sehen?«

Das war eine rhetorische Frage, trotzdem antwortete Viggo mit einem resignierten Kopfschütteln. Popow wusste ganz offensichtlich ebenso wenig wie er. Missmutig schlurfte zu zurück in Richtung seines Kollegen. Auf halber Strecke kam er an einer Feuerwehrfrau vorbei, deren Funkgerät sich genau in diesem Moment meldete. Das Rauschen war stark, die Wörter aber unmissverständlich.

»… HILFE …« Starkes Rauschen und Wortfetzen folgten. »… ANGEGRIFFEN … VERLETZT …«

Viggo und die Feuerwehrfrau sahen sich an. Die Augen der Beamtin wurden groß, dann brachen Hektik und Unruhe unter den Männern und Frauen in Uniform aus. Befehle wurden gerufen, ein zweiter Trupp formierte sich und lief ins Krankenhaus, wobei Viggo nicht entging, dass einer der Männer eine Feuerwehraxt bei sich trug. Der lange Axtstiel war deutlich zu erkennen.

Nur zwei Feuerwehrmänner waren zurückgeblieben und liefen zu den Löschfahrzeugen, wo sie irgendwas in ihre Funkgeräte brüllten. Viggo war zu weit weg, um zu verstehen, um was es ging, aber das Ganze gefiel ihm nicht. Irgendwas schien überhaupt nicht so zu laufen, wie es sich die Rettungskräfte vorgestellt hatten, und das war kein gutes Zeichen. Mit schnellen Schritten hastete er zu Sergej zurück, um ihn zu warnen.

»Mach dich darauf gefasst, dass wir hier gleich ein paar Leute vom Gelände bringen müssen«, rief er seinem Kollegen zu, sobald er in Hörweite war.

Sergej sah ihn erstaunt an. »Warum schiebt die Feuerwehr so eine Hektik?«

»Gute Frage, irgendwer hat den ersten Trupp da drin wohl angegriffen, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Hoffentlich war es kein Drogenjunkie oder so«, antwortete Viggo.

Dass Patienten aggressiv wurden, kam schon mal vor. In der Regel waren es Suchtkranke, die von der Polizei gebracht wurden und auf einem Trip waren – allerdings wurden die einfach an der Liege fixiert, ein Spuckschutz wurde um das Gesicht geschnallt, und das Thema war erledigt. Vermutlich musste da drinnen einer der Klitschko-Brüder höchstpersönlich wüten, um einer Feuerwehrmannschaft gefährlich zu werden.

Viggo versuchte, Viktor unter den Wartenden auszumachen, um ihn zu fragen, ob einer seiner Patienten vielleicht durchgedreht war, doch plötzlich ging alles sehr schnell: Zuerst nahm Viggo in der Ferne das Heulen von Sirenen wahr, die immer näher kamen. Jemand musste die Polizei gerufen haben, was den Verdacht erhärtete, dass im Krankenhaus irgendein Verrückter völlig ausgetickt war. Es musste sich um mindestens drei Fahrzeuge handeln, da die Geräusche versetzt ertönten und aus unterschiedlichen Richtungen kamen.

Keinen Augenblick später flog die Tür des Haupteingangs auf, und eine Frau in Feuerwehrmontur kam herausgestolpert. Sie ging auf die Knie, zog sich die Maske vom Gesicht und schrie: »Verschwindet, schnell! Bevor sie hier sind!«

Viggo erkannte, dass es die Frau war, bei der er vorhin den Funkruf mitgehört hatte. Sie brüllte sich die Seele aus dem Leib, aber niemand regte sich. Alle waren perplex und verwirrt, erwarteten, dass jeden Moment ein Moderator mit Mikrofon und Kamerateam um die Ecke kommen und sie fragen würde, ob sie Spaß verstehen.

Aber das war kein Spaß. Es war etwas, das noch niemand richtig verstehen konnte und viele nie verstehen würden, aber es war kein Spaß.

Während die Frau weiterbrüllte und niemand ihren Anweisungen folgte, konnte Viggo beobachten, wie sich jemand sehr schnell durch die Eingangshalle bewegte. Irgendwas an der Körperhaltung der Person kam ihm komisch vor. Sie wirkte nicht wirklich … menschlich. Aber er konnte zu wenig sehen, um sein ungutes Gefühl genauer zu deuten, bis die Person mit einem großen Satz ins Tageslicht hinaussprang und sich sofort auf die Feuerwehrfrau warf, deren warnende Rufe ins blanke Kreischen übergingen.

»Was zum …?«, stammelte Sergej.

Viggo sah mit vor Entsetzen geweiteten Augen genauer hin. »Ist das Dr. Manakov?« Er konnte sich nicht rühren, so unglaublich war das Bild, das sich ihm bot. »Was macht sie da?«

Das Gesehene war für alle Anwesenden kaum zu begreifen. Sie wurden Zeuge, wie eine Angestellte der Feuerwehr von einer tobenden Ärztin angegriffen wurde. Die beiden rangen auf dem Boden miteinander, und es sah so aus, als versuchte die Frau im Kittel die Frau in Montur zu beißen. Auch wenn es keinen Sinn ergab, war es das, was Viggos Augen seinem Hirn zu vermitteln versuchten.

Zwischen den Evakuierten und den beiden kämpfenden Frauen lagen vielleicht hundert Meter, vielleicht etwas weniger, und noch immer regte sich niemand. Die Leute standen mit offenen Mündern da und starrten, als würden sie gerade dem Erstkontakt mit einer außerirdischen Rasse beiwohnen.

Es war Sergej, der nach endlos scheinenden Augenblicken beschloss einzugreifen, wodurch auch die anderen aus ihrer Tatenlosigkeit gerissen wurden. Mehrere Pflegerinnen und Pfleger liefen zur Schlägerei und versuchten, Dr. Manakov von der Feuerwehrfrau zu trennen, deren Gesicht bereits völlig zerkratzt war. Blut lief ihr aus einer Bisswunde am Ohr.

Als Viggo wie benommen auf die Gruppe zutaumelte, war die Ärztin bereits wieder halbwegs unter Kontrolle. Er konnte kaum glauben, was er sah. Dr. Manakov war leichenblass, und unterhalb des Kinns sah es aus, als hätte ihr ein wild gewordener Hund ein Stück Haut mit den Zähnen herausgerissen. Ihre Pupillen waren ganz klein, und sie stöhnte und schrie animalisch, Speichel und Blut rannen ihr aus den Mundwinkeln. An jedem Bein und Arm hing ein Pfleger, Sergej hatte sie von hinten in den Schwitzkasten genommen. Nur so gelang es ihnen, sie notdürftig am Boden zu halten. Sie schien plötzlich über eine unglaubliche Kraft zu verfügen, ihr ganzer Körper stand unter Druck, wie eine Dose Cola, die man zu stark geschüttelt hatte.

Da Viggo zum Fixieren von Manakov nicht benötigt wurde, kümmerte er sich um die angegriffene Feuerwehrfrau. Wimmernd lag sie am Boden wie ein angefahrener Hund.

»Was fehlt Ihnen?«, fragte er, während er sich vor ihr hinkniete.

»Da drinnen«, stammelte sie, »sind noch mehr von denen.« Sie musste tief Luft holen und versuchte, sich zu beruhigen. »Sind über uns hergefallen wie ein Rudel verhungernder Löwen.«

»Was meinen Sie?« Viggo verstand nicht, was die Frau ihm sagen wollte. Vermutlich stand sie unter Schock und redete wirres Zeug.

»Wir wurden von unseren eigenen Leuten angegriffen«, stöhnte sie und biss dann die Zähne zusammen. Sie schien starke Schmerzen zu haben – kein Wunder, wenn einem ein Stück Ohr abgebissen wurde.

»Wie viele haben Sie angegriffen?«, wollte Viggo wissen.

»Sechs oder acht, ich weiß es nicht.«

Viggo dachte erst an einen Amoklauf oder einen terroristischen Anschlag, aber das erklärte nicht, was mit Dr. Manakov passiert war. War vielleicht eine Chemikalie ausgetreten, die die Leute durchdrehen ließ? Möglich …

Drei alte Dacias in weiß-gelber Lackierung rasten auf das Gelände und hielten mit quietschenden Reifen neben den Löschfahrzeugen. Auf den Seiten und Motorhauben stand mit großen Buchstaben »Polizei« geschrieben. Eigentlich hatte die Stadt die Fahrzeuge schon längst gegen modernere austauschen wollen, aber es war mal wieder kein Geld da.

Die Sirenen verstummten. Sechs Männer stiegen aus den Autos. Sie trugen blaue Uniformen und hatten je einen Schlagstock an der einen und eine Pistole an der anderen Seite des Gürtels befestigt. Als wären sie sich nicht ganz sicher, was ihre Aufgabe an diesem Einsatzort war, sprachen sie zunächst untereinander. Viggo konnte es nicht fassen. Es war ja wohl offensichtlich, dass schnelles Handeln gefragt war, kein endloses Rumstehen.

»Hierher!«, brüllte er die etwas überfordert dreinschauenden Männer an. »Wir brauchen hier Hilfe!«

Endlich setzte sich der Trupp in Bewegung und kam zum Haupteingang gelaufen.

»Was ist hier vorgefallen?«, blaffte einer der sechs Polizisten, der seinem Äußeren nach vermutlich auch der Dienstälteste war. Unter der Mütze schauten kurze graue Stoppeln hervor, und er hatte einen beeindruckend dicken Schnurrbart.

»Sie wurde angegriffen, von ihr«, sagte Viggo und zeigte erst auf die Feuerwehrfrau und dann auf Dr. Manakov, die sich immer noch mit ganzer Kraft wehrte. »Und sie«, Viggo zeigte wieder auf die Feuerwehrfrau, »sagt auch, dass da drinnen noch mehr durchgedreht sind.«

Der Polizist runzelte die Stirn, wobei sich sein Schnurrbart kräuselte. »Sie wollen mir also sagen, dass eine Ärztin des Krankenhauses eine Mitarbeiterin der Feuerwehr angegriffen hat?«, vergewisserte er sich.

Viggo seufzte. Ihm war klar, wie absurd das klingen musste. »Wir haben es mit eigenen Augen gesehen.«

»Und da drin sind noch mehr, die Leute angreifen?«

»Hab ich Ihnen doch gerade gesagt, verdammt!« Viggo wurde langsam ungeduldig. »Wir wissen auch nicht, was los ist. Es gab einen Feueralarm, alle haben das Krankenhaus verlassen, und die Feuerwehr ist reingegangen. Sie ist die Einzige, die seitdem wieder rauskam.«

Die Feuerwehrfrau am Boden war mittlerweile ohnmächtig geworden. Die Wunde am Ohr blutete noch immer stark und tränkte ihre Uniform. Viggo musste dringend einen sauberen Verband auftreiben, um die Blutung zu stoppen.

»Okay, einen Moment«, sagte der Polizist und besprach sich dann mit seinen Kollegen. Viggo konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber offensichtlich waren sie sich über das weitere Vorgehen nicht ganz einig. Es wurde wild gestikuliert, dann setzte sich der Mann mit dem Schnurrbart von der Gruppe ab und holte ein Funkgerät aus seiner Brusttasche. Während er sich wahrscheinlich mit der Leitstelle in Verbindung setzte, übernahmen seine Kollegen Dr. Manakov. Nur unter Aufbietung aller Kräfte konnten sie die Ärztin auf den Bauch rollen und am Boden fixieren, wobei sie immer noch mit ihrem Kiefer wild um sich schnappte wie ein in die Enge getriebener Wolf.

Der Polizist mit dem Schnurrbart kam zurück zu Viggo. »Die Verstärkung wird gleich …« Weiter kam er nicht. Sie hörten das Geräusch schneller Schritte aus dem Krankenhausinneren. Vieler schneller Schritte.

Im Nachhinein fiel es Viggo schwer, die nachfolgenden Momente in eine richtige Reihenfolge zu bringen. Es war wie ein Mosaik, in dem viele Teile fehlten. Sechs oder sieben Menschen kamen aus dem Krankenhaus gelaufen – bloß waren es keine Menschen mehr. Später würden sich Begriffe wie Zombies oder Beißer etablieren, in diesem Moment aber waren sie für Viggo blutrünstige Monster ohne Namen. Wesen, die irgendein Horrorautor im Drogenrausch erfunden hat. Mit unnatürlich verdrehten Gliedern und wild in jede Richtung zuckenden Köpfen kam die Horde auf den Vorplatz gestürmt.

Viggo starrte voller Entsetzen auf das Schauspiel. Sein Gehirn weigerte sich zu verarbeiten, was seine Augen wahrnahmen. Er wusste zwar, dass er sich wahrscheinlich bewegen sollte, dass er weglaufen sollte, dass er irgendetwas tun sollte, aber er regte sich nicht.

Plötzlich wurden Schüsse abgegeben, die zwar nicht viel auszurichten schienen, Viggo aber endlich aus seiner Starre rissen. Die Krankenpfleger und Patienten um ihn herum flohen panisch in alle Richtungen. Zumindest jene, die noch schnell genug laufen konnten. Das Schicksal der anderen war besiegelt, aber sie verschafften dem Rest ein wenig Vorsprung – lagen sie doch wie ein Festmahl für die Zombies parat.

Die Panik verbreitete sich wie ein Buschfeuer im Hochsommer. Jeder, der konnte, war auf der Flucht. Viggo blickte zu der Feuerwehrfrau hinab, die noch immer bewusstlos auf dem kalten Asphalt lag. Er würde sie hier zurücklassen müssen. Er würde sie in den sicheren Tod schicken.

Nur langsam rappelte er sich auf und blickte sich ein letztes Mal verzweifelt in der Hoffnung um, doch noch jemanden zu finden, der ihm oder der Beamtin helfen würde. Aber es war niemand mehr da.

Zu seinen Füßen regte sich die Gestalt der Frau. Ein Ruck ging durch den vorher leblosen Körper, dann riss sie unvermittelt die Augen auf. Tote Augen.

Viggo rannte.

Er brauchte ein paar Anläufe, bis der Haustürschlüssel endlich in das Schloss wollte. Seine Hände zitterten, und er wusste nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Auf der Kreuzung vor dem Bahnhof hätte ihn fast ein Auto überfahren, als er ohne einen Blick nach links oder rechts über den Zebrastreifen lief.

Er hatte die erste Bahn nach Hause genommen und die ganze Zeit keinen klaren Gedanken fassen können. Die Menschen um ihn herum hatten ihn irritiert angeschaut, waren aber völlig ruhig. Offensichtlich hatte sich noch nicht herumgesprochen, was vor dem Krankenhaus passiert war.

Was war da überhaupt passiert?

Eine Frage, auf die Viggo keine Antwort wusste. Er wusste, was er gesehen hatte, aber nicht, was es bedeutete. Er fühlte sich wie ein Grundschüler, den man in einen Mathevorbereitungskurs für die Uni gesetzt hatte. Nur dass die Dozenten untote Monster waren.

Nachdem er mit zitternden Fingern endlich die Haustür geöffnet hatte, ging Viggo direkt ins Wohnzimmer und fand dort zu seiner großen Erleichterung seine Tochter vor. Sie lümmelte auf der Couch und las ein Jugendmagazin, als wäre die Welt in bester Ordnung. Sie war gerade fünfzehn geworden, hatte lange schwarze Haare und die kleine Stupsnase ihrer Mutter.

»Hey, Dad, schon …«, begrüßte Alexandra ihn. Als sie ihren Vater sah, blieben ihr die Worte aber im Halse stecken.

Viggo nickte kurz, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. Ungeduldig zappte er sich durch das Programm, bis er endlich den regionalen Nachrichtensender fand. In der Regel liefen dort Berichte über Bauern, die große Kürbisse züchteten, entlaufene Hunde und die 1. Frauenfußballmannschaft, die mal wieder irgendein Turnier gewonnen hatte. Belangloser Kram, aber man blieb auf dem Laufenden, um beim Friseur oder Bäcker mitreden zu können.

Gerade wurde eine Reportage über ein örtliches Restaurant gesendet, in dem nur Burger und Beilagen serviert wurden. »In Pennys Burger Pub gibt es aber nicht nur normale Fritten, sondern auch selbst gemachte Chips und Süßkartoffelpommes«, säuselte die Stimme aus dem Off.

Alexandra sah irritiert zwischen dem Fernseher und ihrem Vater hin und her, doch der deutete nur stumm auf die rote Schrift auf gelbem Grund am unteren Rand des Bildschirms. Als der Sender das letzte Mal eine solche Einblendung gebracht hatte, war eine Chemiefabrik einige Kilometer östlich in die Luft geflogen, und die Anwohner waren angewiesen worden, alle Türen und Fenster geschlossen zu halten und in ihren Häusern zu bleiben.

Buchstabe für Buchstabe formte sich eine Botschaft: »Bitte meiden Sie das Gebiet um das Krankenhaus weiträumig.«

Wenn der Text einmal über den Bildschirm gelaufen war, wiederholte er sich sofort. Das war alles, keine Bilder, keine Notstandsmeldung, nur eine kleine Information am Bildschirmrand eines unbedeutenden Regionalsenders.

»Was ist los, Dad?« In Alexandras Stimme schwang Besorgnis mit.

»Ich weiß es nicht«, stammelte Viggo. »Irgendwas Schlimmes ist im Krankenhaus passiert.«

Als Alexandras Augen sich weiteten, bereute er seine Gedankenlosigkeit sofort. Er wollte seiner Tochter keine Angst einjagen. Aber jetzt, da er es einmal ausgesprochen hatte, konnte er auch nicht mehr zurückrudern. Also erzählte er ihr das wenige, was er von den vergangenen Stunden wusste, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Es gab Dinge, die musste eine Fünfzehnjährige wirklich noch nicht hören.

Als er fertig war, schüttelte Alexandra ungläubig den Kopf. »Dad, du weißt, wie das klingt, oder?«