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Warum hat mein Kind
Fischaugen und Vogelkrallen?

ISBN 978-3-492-98534-5
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»Carmen Zita og døden« bei Cappelen Damm, Oslo
© 2013 Karin Fossum
© CAPPELEN DAMM AS 2013
Für die deutsche Ausgabe
© 2014 Berlin Verlag in der Piper Verlags GmbH, München
© 2018 Piper Verlag GmbH
Cover: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Konvertierung: psb, Berlin

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Inhalt

Kapitel 1 – Der Schwindel kam …

Kapitel 2 – Im Eingang einige …

Kapitel 3 – 10. August. Abend …

Kapitel 4 – 11. August, morgens …

Kapitel 5 – 14. August, Vormittag …

Kapitel 6 – 15. August, Nachmittag …

Kapitel 7 – 17. August, Morgen …

Kapitel 8 – Es war Nachmittag, als …

Kapitel 9 – 25. August, Vormittag …

Kapitel 10 – Beerdigungen haben etwas …

Kapitel 11 – Langsam ging er …

Kapitel 12 – 27. August, morgens …

Kapitel 13 – Liebes Tagebuch …

Kapitel 14 – Das mit Carmen ist …

Kapitel 15 – Danach fuhr er …

Kapitel 16 – Nach dem Gespräch …

Kapitel 17 – Liebes Tagebuch …

Kapitel 18 – Papa Zita war ein …

Kapitel 19 – 21. September, Morgen …

Kapitel 20 – Liebes Tagebuch …

Kapitel 21 – 23. September, Vormittag …

Kapitel 22 – Die Saison ging längst …

Kapitel 23 – Dann gingen sie …

Kapitel 24 – Liebes Tagebuch …

Kapitel 25 – 10. Oktober, Nacht …

Kapitel 26 – 11. November, Morgen …

Kapitel 27 – Liebes Tagebuch …

Kapitel 28 – 12. Oktober, Morgen …

Kapitel 29 – 19. Oktober, Regen …

Kapitel 30 – Als endlich der Tag …

Kapitel 31 – Im Dezember kamen …

Kapitel 32 – Abteilungsleiter Holthemann ging …

Kapitel 33 – Es sollte bis zum Frühsommer …

Kapitel 34 – 22. Juni, Abend …

Kapitel 35 – 10. August in Granfoss …

Kapitel 36 – 23. Juni, Johannesabend, Vormittag …

Kapitel 37 – 23. Juni, Sommer …

 

»Wenn das Opfer unvorbereitet ins Wasser fällt, wird es sofort ein- oder zweimal tief durchatmen (respiration surprise) und eine Menge Wasser in die Atemwege ziehen, was zu einem kräftigen anhaltenden Husten führt. Wenn sich dann der ganze Körper unter Wasser befindet, hält das Opfer den Atem an und wird in den meisten Fällen wieder an die Oberfläche gelangen. Danach atmet es tief ein, bekommt aber oft noch mehr Wasser in die Lunge und hustet abermals, gerät dann vollständig in Panik, schreit und fuchtelt mit Armen und Beinen, planscht an der Oberfläche herum und greift nach jedem Gegenstand, der zufällig in der Nähe ist. Ein Boot, ein Ruder, ein Mensch.

Wenn der Kopf dann erneut unter Wasser sinkt, wird weiteres Wasser in langen Atemzügen in die Lunge geholt. Das Opfer kann noch ein oder mehrere Male an die Oberfläche gelangen, aber nicht zwangsläufig dreimal, wie es der Volksglaube behauptet. Dann sinkt es in die Tiefe und alles ist zu Ende. Der Kampf im Wasser dauert zwischen einer und mehreren Minuten, das hängt ab von Gesundheit und Durchhaltevermögen des Opfers. Aber am Ende sinkt es erschöpft auf den Grund. Öffnet den Mund und zieht noch einmal Wasser in die Lunge. Dann wird es endlich bewusstlos, erleidet Krämpfe und Brechreiz, wird blau, zyanotisch und leblos. Und am Ende, nach diesem langen Kampf um sein Leben, fällt es endlich ins Koma und in den sicheren Tod.«

 

Der Schwindel kam in heftigen Stößen, und obwohl er dagegen ankämpfte, verlor er das Gleichgewicht. Er versuchte nach besten Kräften, sich auf den Beinen zu halten, taumelte zum Spiegel an der Wand und starrte in sein eigenes Gesicht. Nein, es geht nicht, ich schaffe es nicht, es ist sicher eine Geschwulst, dachte er, vermutlich im Gehirn, warum sollte ich verschont werden, ich bin ja auch nicht besser als die anderen, kein bisschen besser. Natürlich ist es Krebs. Daran sterben wir doch fast alle, jeder Dritte, dachte er, oder jeder Zweite, wenn wir nur alt genug werden. Und bald bin ich ein alter Mann, ich bin schon auf dem halben Weg zur Hundert. Jetzt werde ich vermutlich sterben. So, wie Elise mit vierzig an Krebs gestorben ist. Langsam, über lange Zeit hinweg, wurden ihr die Kräfte genommen. Bleich, gelblich und abgemagert, mit Leberversagen und allem, was dazugehört, einem Anfall von hysterischer, ungebremster Zellteilung, so lag sie in diesen letzten Stunden in einem weißen und kühlen Bett im Rikshospital. Nein, jetzt nicht daran denken, es muss doch mal reichen mit dem Elend.

Er blieb eine Weile an die Wand gelehnt stehen. Wollte ruhig und gleichmäßig atmen, zur Besinnung gelangen. Na gut, dann ist es jetzt eben so, dachte er, ich kann ja nicht behaupten, ich wäre unvorbereitet, denn das bin ich nicht. Ich habe ja gewusst, dass es so enden wird, ich weiß es schon viel zu lange, im Unterbewusstsein habe ich schon lange mit der Angst gelebt, dass es mich treffen würde. So, wie es Elise getroffen hat, wie ein Blitzschlag. Sie wurde getroffen von einer wütenden und aggressiven Krankheit, einem verbissenen Heer aus Krebszellen auf Wanderung durch ihren Körper, jetzt nehmen wir uns die Lunge vor, jetzt das Skelett, jetzt das Gehirn. Jetzt zersetzen wir diesen Organismus, denn das ist unser Wesen. Aber geh die Sache mit Würde an, dachte er, mach kein Drama draus, das kommt nicht gut an. Andererseits könnte es ja eine Bagatelle sein. Lieber Gott, mach, dass es nur eine Bagatelle ist. Welcher Gott, dachte er dann in seiner Verzweiflung, ich habe ja keinen Gott, und vielleicht muss ich sterben. Danach gibt es nur noch Leere und Dunkelheit, ein Nichts, eine ohrenbetäubende Stille. Das Mobiltelefon piepte in seiner Tasche und er versuchte sich zusammenzureißen, diesem ganzen Chaos zum Trotz, er musste auch mal einen Punkt machen. Er hob das Telefon an sein Ohr, hörte am anderen Ende der Leitung die Stimme von Jacob Skarre, seinem Kollegen, und Skarre wirkte ein wenig hektisch. Wieder wurde er von einem Schwindelanfall überwältigt. Das Telefon fiel ihm aus der Hand, und rasch bückte er sich, um es wieder aufzuheben. Aber aus Versehen versetzte er dem Apparat einen Tritt und das Telefon schoss über den Boden und unter das Sofa. Er fluchte und kniete mühsam nieder, legte sich danach auf den Bauch und robbte weiter. Entdeckte das Telefon ganz hinten bei der Fußbodenleiste. Aber da war auch noch etwas anderes, etwas Winziges und Rotes, wie er jetzt sehen konnte. Zu seiner Überraschung entdeckte er, dass es ein Legostein war. Der musste hier liegen und dem Besen entgangen sein, seit Matteus klein gewesen war, was für eine Schlamperei. Es war ein Vierer. Ein schönes und perfekt geformtes flaggenrotes Klötzchen, der am meisten verwendbare Legostein, der überall hinpasste. Er ballte die Faust darum, spürte die scharfen Kanten an seiner Haut. Und dort, als er auf dem Bauch unter dem Sofa lag, stellten sich die Erinnerungen wieder ein, an seine Kindheit in Roskilde, im Gamle Møllevej. Das weiße Steinhaus mit den blauen Fensterrahmen, die Kletterrosen an den Wänden, der Rasen mit den alten Pflaumenbäumen und die braunen gesprenkelten Zwerghühner, die durch den üppigen, blühenden Garten trippelten. Jeden Morgen durfte er die winzigen Eier in einen Korb legen. Er dachte an seinen Vater, streng und grau, lang und sehnig wie er selbst, und an die Tonfiguren der Mutter, auf der Fensterbank in der Küche. Dann riss er sich zusammen, schnappte sich das Telefon und robbte wieder zurück. Er blieb eine ganze Weile liegen und rang um Atem.

»Bist du noch da? Was ist los? Hast du wieder Gleichgewichtsstörungen?«

Verlegen brummte er etwas Undeutliches. Er fühlte sich peinlich berührt und ängstlich.

»Du hast angerufen«, sagte er schroff. »Also erzähl du mir, was los ist.«

Er setzte sich auf, wischte sich Staub von der Brust, steckte den Legostein in die Hemdentasche. Sein Schwindel war endlich verflogen, bis zum nächsten Mal.

»Wir haben einen Tod durch Ertrinken«, sagte Jacob Skarre. »Im Damtjern oben bei Granfoss, weißt du, der kleine Stausee, erinnerst du dich an den? Zwanzig Minuten von der Møller-Kirche entfernt. Junge, sechzehn Monate. Die Mutter hat ihn beim Anleger gefunden und alles war zu spät. Die Leute vom Krankenwagen haben eine Dreiviertelstunde lang Wiederbelebungsmaßnahmen versucht, aber es hat nichts gebracht. Es ist noch nicht so ganz klar, wie er ins Wasser geraten ist. Er ist noch dazu nackt, und wir wissen nicht, was das bedeutet, ich bin mir da unsicher. Natürlich kann er ganz von selbst ins Wasser gegangen sein. Aber da habe ich ehrlich gesagt meine Zweifel. Wenn du mal vorbeischauen magst, dann können wir das vielleicht klären. Es ist das letzte Haus an der Dambråte, weiß, mit einem roten Schuppen. Der Junge liegt hier im Gras und wartet.«

»Ja«, sagte Sejer. »Bin schon unterwegs. Bin in einer halben Stunde bei dir.«

Und dann, nach einer kurzen Pause:

»Stimmt da irgendwas nicht? Rufst du deshalb an?«

»Ja«, sagte Skarre. »Da ist etwas mit der Mutter. Ich kann das nicht ganz erklären, aber ich finde, wir sollten uns die Sache genauer ansehen. Du weißt schon, was ich meine.«

»Sorg dafür, dass die Leute nicht überall rumtrampeln, behalte sie im Auge. Wo sind die Eltern jetzt?«

»Die sind auf der Wache«, sagte Jacob Skarre. »Holthemann redet mit ihnen. Die Mutter ist hysterisch und der Vater sagt kein Wort.«

Der Hund Frank Robert, ein chinesischer Shar-Pei, den Sejer nur Frank nannte, hob erwartungsvoll den Kopf und blickte ihn eindringlich an. Zwischen den vielen Falten und Runzeln, die typisch für diese Rasse waren, sah er den intensiven Blick, der ihn regelmäßig schwach machte. Augen, die bettelten und flehten, denen er nicht widerstehen konnte, die seine Autorität wie ausgegossenes Wasser verrinnen ließen. Der Hund war sein schwacher Punkt, er hatte sich nie dagegen gewehrt; dieses kleine runzlige Tier zu verwöhnen war seine große Freude. Eine Freude, die zu einem beträchtlichen Übergewicht geführt hatte.

»Na los, Dicker«, sagte er. »Zum Auto.«

Der Hund sprang auf und lief zur Tür, blieb fiepend stehen, konnte gar nicht schnell genug wegkommen. Sejers Wohnung lag im zwölften Stock, aber sie nahmen immer die Treppen. Der Hund sprang in gleichmäßigem, eingeübtem Tempo die Stufen hinunter. Dann erreichten sie den Platz vor dem Block und gingen zum Auto. Der Hund sank auf der Rückbank des Volvo mit einem tiefen Seufzer in sich zusammen, wie es seine Gewohnheit war. Sejer dachte an das Kind, nur sechzehn Monate alt. Doch, es war ganz bestimmt ein Unfall gewesen. Oder vielleicht auch die Mutter, unglücklich, oder in einer Psychose, oder außer sich vor Wut über ein trotziges Kind. Es wäre nicht das erste Mal. Oder der Vater, oder beide zusammen, auch das wäre nicht das erste Mal. Also, ertrunken in einem Stausee, dachte er, na gut, wir werden ja sehen. Er blinkte und fuhr auf die Schnellstraße hinaus. Wieder verspürte er einen leichten Schwindel, aber der verschwand ziemlich rasch wieder, zu seiner großen Erleichterung. Er saß im Auto, er musste einen klaren Kopf bewahren. Und immer, wenn der Schwindel verschwand, war er plötzlich ziemlich optimistisch, was die Zukunft anging. Wenn es ihm beim Fahren passierte, fuhr er zur Seite und hielt augenblicklich an. Aber jetzt war es sehr schnell vorbeigegangen. Als wäre es nur ein falscher Alarm gewesen und wirklich nicht der Rede wert, ja, gebe Gott, dass es nur eine Bagatelle war.

»Jetzt geh endlich mal zum Arzt«, hatte seine Tochter Ingrid schon oft gesagt, vor allem an einem Tag, als sie ihn auf frischer Tat ertappt hatte. Plötzlich war er am Küchentisch zusammengebrochen und hatte das Gleichgewicht verloren. »Aber der kann doch sicher nichts tun«, sagte Sejer, »ich muss mich damit bloß abfinden. Vielleicht sind die Adern in meinem Nacken verkalkt. Das Blut schafft es nicht mehr bis zum Kopf, das kommt bei älteren Menschen offenbar häufig vor. Und ob es dir passt oder nicht, ich bin ein älterer Mann. Von hier bis zum Ende wird alles ganz langsam passieren.«

»Papa«, sagte sie darauf, ein wenig resigniert. »Du bist doch erst fünfundfünfzig, jetzt mach aber mal einen Punkt. Sprich mal mit Erik, wenn du nicht zu deinem Hausarzt gehen willst.«

»Aber Erik ist doch Notfallmediziner«, protestierte Sejer. »Der hat bestimmt keine Ahnung von Schwindelanfällen.«

»Ach, jetzt wirst du wieder so unsachlich, da will ich nicht mehr mit dir reden«, sagt sie, wie immer mit einem kleinen Lachen. Und jedes Mal, wenn er dieses Lachen hörte, wurde ihm warm ums Herz. Aber jetzt also dieses tote Kind. Gefunden in dem kleinen See, der Damtjern genannt wurde. Keine voreiligen Schlüsse ziehen, dachte er, offen und klar und überlegt handeln. Es ist wichtig, dass alles richtig abläuft, dass alles gerecht ist. Denn das war es, was ihn durch seine Tage in seiner Arbeit als Hauptkommissar im Distrikt Søndre trieb, das hatte ihn schon als Jungen im Gamle Møllevej geprägt. Ein starkes, geradezu brennendes Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit.

Drei Wagen waren vor ihm gekommen.

Skarre, die Techniker und der Krankenwagen. Die Menschen lehnten an ihren Autos, sie konnten hier nichts mehr tun, und der im Damtjern ertrunkene Junge lag auf einer Plane. Ein nackter und glatter kleiner Körper mit deutlichen Adern. Mir darf jetzt nicht schwindlig werden, dachte er, um keinen Preis, nicht vor Zuschauern.

Der Junge war wohlgenährt und kräftig, und soweit Sejer sehen konnte, fehlte ihm nichts. Die Adern zeichneten sich deutlich an seiner Schläfe ab, ein feines blaugrünes Netz. Seine Augen waren blass und matt, aber er konnte sehen, dass sie blau waren, doch, das Kind war absolut in gutem Zustand. Wenn es auf irgendeine Weise vernachlässigt worden war, so war ihm das jedenfalls nicht anzusehen.

»Die Mutter hat erklärt, dass sie einen Schock erlitten hat«, sagte Jacob Skarre. »Sie hatte im Badezimmer zu tun, und als sie zurück in die Küche kam, war er plötzlich verschwunden. Danach lief sie auf den Hofplatz und zum See, und sie befürchtete sofort das Schlimmste. Sie fand ihn beim Anleger. Sprang ins Wasser und holte ihn an Land, er lag einen Meter tief. Und sie versuchte es mit Wiederbelebung, aber das ist ihr nicht gelungen. Das ist zumindest ihre vorläufige Erklärung, wir werden ja sehen, ob die stichhaltig ist.«

»Keine sichtbaren Verletzungen«, sagte Sejer. »Keine Wunden oder blauen Flecke, er ist heil und unversehrt.«

Er schaute auf seine Armbanduhr, es war halb drei. Mittwoch, der 10. August, schönes Wetter, windstill und ziemlich warm. Der Sommer war lang und heiß gewesen, fast ohne Regen, das Gras um den See war gelb und strohtrocken. Und jetzt dieser kleine Körper mit den winzigen Händen und den runden Wangen, bleich, bläulich und kühl wie glatter Marmor.

»Rufst du Snorrason an?«

»Ja«, antwortete Sejer. »Wir fahren ihn gleich ins Institut. Und wir bekommen sicher ziemlich schnell eine Antwort. Wenn er noch gelebt hat, als er in den See gefallen ist, muss Wasser in der Lunge sein. Damit fangen wir an.«

»Ein trauriger Anblick«, sagte Skarre und nickte zu dem kleinen Leichnam hinüber.

»Ja«, sagte Sejer zustimmend. »Ein wirklich trauriger Anblick.« Außerdem ist mir wieder schwindlig, dachte er, und er rang um Atem. Er hockte neben dem toten Kind, und jetzt wollte er sich nicht aufrichten, aus Angst, sich dabei zu verraten. Aus Angst, dass es ans Licht kommen könnte, dass er, der Hauptkommissar, ein Meter sechsundneunzig auf Socken, nicht mehr ganz auf der Höhe war, sondern stark im Verfall begriffen. Dass das Alter oder etwas noch viel Schlimmeres ihn eingeholt hatte. Deshalb blieb er sitzen und wartete darauf, dass der Anfall vorüberging.

»Wohnen die Eltern in dem weißen Haus?«, fragte er und zeigte auf das alte Bauwerk mit den roten Fensterrahmen.

»Ja«, antwortete Skarre, »und sie sind sehr jung. Gerade mal neunzehn und zwanzig, sie haben also früh angefangen. Hat er nicht irgendwas Besonderes an sich, ich meine, sein Aussehen?«

Sejer musterte das kleine Gesicht mit den bleichen Wangen. Doch, da war etwas, das ihm bekannt vorkam.

»Down-Syndrom«, entschied er. »Da wette ich. Sieh dir doch seine Augen an, daran erkennt man das. Und an den Händen, an der Linie, du weißt schon, die quer verlaufende Furche.« Er hob die Hand des Kindes, um das zu zeigen. Und die Hand war kalt und glatt und vollkommen ohne Leben.

»Aber er ist ziemlich sicher alt genug, um laufen zu können«, fügte er hinzu. »Und er kann ja auch gekrabbelt sein, vom Haus zum Steg hinunter.«

Skarre ging einige Schritte durch das trockene Gras. Sein Körper war geschmeidig und beweglich, sozusagen ständig auf dem Sprung, das Hemd seiner Uniform war sauber und frisch gebügelt und seine Schuhe waren blank. Und zusätzlich zu all diesen Vortrefflichkeiten glaubte er auch noch an Gott. Jacob Skarre hatte sich diesem Mysterium hingegeben, das Glaube genannt wird.

»Ich wüsste ja gern, warum er nackt ist«, sagte Sejer. »Das hat sicher auch etwas zu bedeuten. Andererseits ist es ja so warm. Kleinkinder schwitzen nur am Kopf. Und vielleicht ist er wegen der Hitze ausgezogen worden.«

»Es ist natürlich absolut möglich, dass er aus eigenem Antrieb zum See gegangen ist«, sagte Skarre. »So schrecklich weit ist das ja auch wieder nicht. Und die allermeisten Kinder lernen laufen, wenn sie so ungefähr ein Jahr alt sind. Allerdings. Ich habe es erst mit achtzehn Monaten gelernt. Meine Eltern konnten nachts nicht schlafen, sie hielten mich für behindert.«

»Wer hätte das gedacht«, sagte Sejer. »So schnell, wie du bist.« An die Techniker gewandt fügte er hinzu:

»Bringt ihn zu Snorrason und sagt, dass ich warte.«

Er ging einige Schritte durch das Gras und starrte zu dem weißen Haus mit den dunklen Fenstern hinüber. Eine Schaukel leuchtete rot, und er registrierte einen kleinen Sandkasten mit buntem Spielzeug. Drei alte Fahrräder lehnten an der Wand. Vor dem Haus gab es ein Blumenbeet, in dem kein Unkraut gejätet worden war. Ein blauer Golf stand neben der Schaukel.

»Wenn die erst neunzehn und zwanzig sind«, sagte er, »dann haben sie sicher keine anderen Kinder.«

»Stimmt«, sagte Jacob Skarre. »Sie haben nur das eine, es ist wirklich tragisch.«

Danach, als der Leichnam weggebracht worden war, ging Sejer zum Auto zurück. Er ließ den Hund heraus und der sprang glücklich durch das Gras. Skarre musterte das fette kleine Tier mit einem leicht vorwurfsvollen Lächeln.

»Niemand kann dir unterstellen, du hättest ihn wegen seiner Schönheit genommen«, meinte er. »Der sieht doch aus wie ein Scheuerlappen.«

»Alle Schönheit ist vergänglich«, sagte Sejer. »Das weißt du ja wohl am besten.«

Er ging auf den kleinen Anleger hinaus, blieb stehen und starrte auf das spiegelglatte Wasser. Die stille Wasseroberfläche verriet nichts darüber, was sich hier zugetragen hatte.

»Warum hast du angerufen?«, fragte er dann Skarre. »Erzähl mir, was du gedacht hast, und warum du zwei Techniker an einen Ort geholt hast, an dem aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein tragisches Unglück geschehen ist.«

»Na ja, etwas stimmt nicht mit der Mutter«, sagte Skarre. »Sie ist so seltsam. Es war schwer, mit ihr Blickkontakt aufzunehmen, und sie weicht immer aus, und ja, da ging bei mir also eine Alarmglocke los, und ich wollte nichts riskieren, und falls es Mord war«, fügte er hinzu, »kommt sie vielleicht sehr billig davon. In dem Punkt verstehe ich die Gesetze nicht. Ein Leben ist doch ein Leben, und wir sind alle gleich viel wert.«

»Na ja«, sagte Sejer langsam. »Da würden dir wohl nicht alle zustimmen. Aber zwischen Mutter und Kind gibt es vermutlich eine ganz eigene psychologische Dynamik. Und auch ihr junges Alter könnte zu einer geringen Strafe beitragen. Neunzehn Jahre, meine Güte, da war sie wirklich früh dran. Der Verteidiger wird ohne Probleme mildernde Umstände finden können. Falls es zur Verhandlung kommt. Falls wir Anklage erheben, aber so früh können wir darüber noch nicht spekulieren. Was für einen Eindruck hast du vom Vater des Kindes?«

»Der ist sehr still und zurückhaltend«, sagte Skarre, »er hat fast kein Wort gesagt, und sie sind auf der Wache getrennt worden. Sie haben seither nicht miteinander sprechen dürfen. Die Mutter hat nur kurz trockene Kleider aus dem Haus geholt. Holthemann hat sie erwartet, und er hat sich an einen Psychologen von Unicare gewandt, denn das hier ist ja auf jeden Fall eine Krisensituation. Mit oder ohne Schuld, wir haben ein totes Kind.«

Sejer fischte eine Tüte Fisherman’s Friend aus der Tasche und steckte sich eine Pastille in den Mund.

»Und sonst?«, fragte Skarre und musterte ihn forschend. »Merkst du noch was von den Schwindelanfällen, die dir so zugesetzt haben?«

»Nein«, sagte Sejer kurz. »Nein, ich habe gar nichts mehr gemerkt. Sicher war das ein Virus, das sich schnell gegeben hat, so was kommt ja vor.«

»Du bist ein furchtbar schlechter Lügner«, sagte Skarre lächelnd. »Aber los jetzt, lass uns mal die Entfernung zwischen Haus und See abschreiten, ich tippe auf fünfzig Meter. Und das ist doch nichts für einen kleinen Wicht auf Entdeckungsreise.«

Ihr Körper wollte nicht zur Ruhe kommen, und ihre Hände hasteten auf Jagd nach einer Beschäftigung über den Tisch.

»Was glauben Sie eigentlich?«, fragte sie, ihre Stimme war dünn vor Sorge. Ja, dachte Holthemann, sie piepst wie eine Maus in den Krallen der Katze.

»Wir glauben gar nichts«, sagte er, »aber wie gesagt, wir haben unsere Vorschriften. Wir wollen nur Ihre Erklärung aufnehmen, dann können Sie gehen. Machen Sie sich deshalb keine Gedanken, so ist das immer bei unerwarteten Todesfällen. Es gibt Regeln, die eingehalten werden müssen, also bleiben Sie ganz ruhig.«

»Er hat gerade laufen gelernt«, sagte sie. »Er saß auf einer Decke auf dem Boden, und plötzlich war er verschwunden.«

»Was haben Sie in diesem Moment gemacht?«, fragte Holthemann.

»Ach, ich war wohl mit Hausarbeit beschäftigt. Ich weiß es nicht mehr genau, in meinem Kopf ist alles durcheinander.«

Sie legte eine Pause ein, und auf ihrer Stirn bildete sich eine tiefe Furche.

»Ich habe vielleicht gekocht«, sagte sie und schien sich endlich entschieden zu haben.

»Sie haben Essen gemacht?«, fragte Holthemann freundlich.

Sie überlegte. Versuchte sich zu erinnern, wie die Situation eigentlich gewesen war. Ihre Stimme war hell und kindlich, und Holthemann lächelte. Das Lächeln machte sein sonst so strenges Gesicht ein wenig milder.

»Ja, ich habe wohl gerade einen Fisch sauber gemacht. Das glaube ich jedenfalls. Und ich kann das nicht so gut, es hat also etwas gedauert. Ja, ich bin ein bisschen wirr im Kopf, aber ich weiß noch, dass ich einen Fisch in der Hand hatte. Und Nicolai war unten im Keller mit einem Fahrrad beschäftigt, das ist sein Hobby. Ich begreife nicht, wie das passieren konnte«, rief sie. »Ich begreife das einfach nicht.«

Sie brach wieder in Tränen aus. Zerknüllte ihr Papiertaschentuch und gab sich ihrer Verzweiflung hin. Sie hatte einen verängstigten Blick, als könnte sie noch nicht fassen, was passiert war, dass das Kind wirklich tot und für immer verloren war. Dass das Kind, das sie natürlich geliebt hatte, jetzt nur noch ein kleines Paket in einer Plane war und ins Rechtsmedizinische Institut gebracht wurde, um äußerlich und innerlich untersucht zu werden.

»Kann ich Ihnen irgendetwas holen?«, fragte der Abteilungsleiter. Seinem düsteren Wesen zum Trotz gab er sich alle Mühe, verständnisvoll zu sein, und wenn er das wollte, gelang ihm das auch.

»Möchten Sie etwas trinken, ich kann Wasser holen.«

»Ich will nur Nicolai«, sagte sie.

Der Abteilungsleiter beugte sich vor und streichelte ihren Arm.

»Sie können mit einem Psychologen sprechen«, sagte er. »Der wird Ihnen helfen, Ordnung in Ihre Gedanken zu bringen. Denn jetzt rennen die in alle Richtungen auseinander, nicht wahr?«

Sie wischte sich immer weiter die Tränen ab. Sie war erst neunzehn Jahre alt und wirkte fast noch jünger, gertenschlank, mit blonden, fast weißen Haaren. Lange Ohrgehänge und rosa Nagellack. Eine Bluse, fast zu kurz, so dass der nach dem sonnigen Sommer goldene Bauch nackt war und der Nabel wie eine matte seidenglatte Perle in seiner kleinen Grube lag.

»Tommy ist erst sechzehn Monate alt«, weinte sie. »Ich habe es mit der Mund-zu-Mund-Methode probiert, wirklich, aber es war zu spät. Seine Lippen waren ganz blau. Ich weiß auch nicht, ob ich es geschafft habe, im Fernsehen sieht das immer so leicht aus. Und so eine Herzmassage konnte ich auch nicht machen, ich hab mich nicht getraut, ihn anzufassen. Ich hatte Angst, ihm etwas zu brechen, er ist doch so klein. Und wenn ich ihm eine Rippe gebrochen hätte, dann hätte die ja seine Lunge durchbohren können, an so was habe ich gedacht, davon habe ich nämlich gehört.«

»Ganz ruhig«, sagte Holthemann. »Wir werden genau durchgehen, was geschehen ist. Sie werden mit dem Hauptkommissar sprechen, und der wird Ihre und Nicolais Aussage aufnehmen. Dann können wir uns ein Bild von den Ereignissen machen, damit alles seine Richtigkeit hat.«

Sie legte die Hände auf den Tisch. Zerknüllte das Taschentuch zu einem feuchten Ball aus aufgeweichtem Papier.

»Aber ich habe doch schon alles gesagt«, schluchzte sie. »Ich kann nicht mehr erzählen, ich habe ihn beim Steg gefunden.«

Plötzlich erwiderte sie seinen Blick und war sehr entschieden.

»Ich weiß, dass es meine Schuld ist. Sie können das ruhig sagen, ich weiß doch, was Sie denken. Ich hätte besser aufpassen müssen, aber ich war einige Minuten nicht dabei, ich musste ins Badezimmer.«

»Auf die Schuldfrage und solche Dinge kommen wir noch zurück«, sagte Holthemann. »Wir werden feststellen, ob überhaupt jemand schuld ist. Leider passieren jeden Tag Unfälle, und jetzt hat es Sie getroffen.«

Sie schob den Stuhl vom Tisch zurück, beugte sich über ihre Knie und blieb eine ganze Weile so sitzen, als ob sie kurz vor einer Ohnmacht stände.

»Mir flimmert alles vor den Augen«, sagte sie müde. Ihre Stimme war dünn und zart, fast nicht zu hören.

»Ja, das ist die Angst«, erklärte Holthemann fachmännisch. »Die beeinflusst die Muskulatur um die Augen, aber das ist nicht gefährlich. Bleiben Sie einfach ruhig. Versuchen Sie, gleichmäßig zu atmen. Dann geht es langsam vorüber.«

»Ich will doch nur mit Nicolai sprechen«, sagte sie. »Sitzt der hier irgendwo ganz allein herum?«

»Nein, er ist mit einem Beamten zusammen. Und ich hole Ihnen jetzt etwas zu trinken. Dann rufen wir Ihre Eltern an. Die wohnen doch hier in der Stadt, nicht wahr?«

»Ja, sie wohnen in der Møllergate«, sagte sie. »Mama wird es nicht ertragen, und Papa auch nicht. Und er hat schon einen Herzinfarkt hinter sich. Das war im vorvorigen Jahr, und wir waren total verzweifelt. Ich kapiere nicht, warum ich hier sitzen muss«, klagte sie. »Ich will zu Nicolai, das können Sie mir doch nicht verbieten. Meine Güte!«

Holthemann sagte nichts dazu. Im Umgang mit Menschen in Not war er nicht gerade geschickt. Aber alles war geschehen, weil Jacob Skarre gesagt hatte, es sei ein Todesfall durch Ertrinken, den sie sich sicherheitshalber genauer ansehen müssten. Er erhob sich und ließ sie sitzen, ging ins Wachzimmer, wo ein Kühlschrank mit kalten Getränken stand. Er holte eine Flasche Mineralwasser, ging zu ihr zurück, als ihm einfiel, dass er vergessen hatte, aus dem Behälter an der Wand einen Pappbecher zu ziehen. Also ging er noch einmal zurück und holte den Becher, betrat dann wieder das Zimmer, in dem sie saß, reichte ihr den Becher und half ihr, die Flasche zu öffnen.

»Alles, was Sie an Hilfe und Verständnis verlangen können, werden Sie auf jeden Fall bekommen. Aber trinken Sie jetzt«, befahl er. »Die Verzweiflung macht Sie durstig.«

Vielleicht umgebracht, dachte Sejer, in den See geworfen, von der Mutter unerwünscht. Oder vom Vater, oder von beiden gemeinsam, ein Kind, das anders ist, eine Abweichung, vielleicht in irgendjemandes Augen ein Versager. Ein plötzlicher Zorn, ein bösartiger Impuls, ein Wunsch, zu zerstören. Oder er sah bei helllichtem Tag Gespenster. Die Küchentür hatte offen gestanden. Der Junge war unbeaufsichtigt gewesen, war aus dem Haus getrottet, war auf seinen kurzen weichen Beinen durch das trockene Gras gewandert, die kurze Wegstrecke vom Haus zum Steg. Angelockt von dem glitzernden Wasser, das spiegelglatt dalag. Ich habe keine Vorurteile, dachte Konrad Sejer, aber ich muss absolut alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Ich bin schon so lange in diesem Beruf, dass ich gar nicht anders kann, als so zu argumentieren. Bei diesem Fall ist alles möglich, dachte er, und das war eine so klare und einfache Regel, dass er sich zusammenreißen musste. Ich habe bittere Erfahrungen, dachte er, und ich will nicht belogen und hinters Licht geführt werden. Im Auto dachte er wieder an seine Eltern und an alles, was sie ihm gegeben hatten, als er ein kleiner Junge gewesen war. Liebe und Verständnis, Geduld. Ermunterung und Vertrauen, und Wissen um das im Guten wie im Bösen schwere Leben. Vorsichtig, ermahnte er sich dann, das junge Paar ist vermutlich unschuldig. Aber Skarre hatte deutlich Besorgnis geäußert. Jetzt dachte er an diese Besorgnis und an deren mögliche Bedeutung. Intuition war wichtig, sie spielte bei jeder Ermittlung eine große Rolle. Etwas im Gefühl zu haben, einen wachsenden Verdacht, dass etwas nicht stimmte. Es konnte ein ausweichender Blick ein oder eine seltsame Distanz zum Geschehenen. Unruhige Körpersprache, nervöse Hände, eine monotone Stimme, wenn jemand eine Aussage machen sollte. Ein Ereignisverlauf, der wie ein auswendig gelernter Spruch aufgesagt wurde, eine Art zurechtgelegte Version. Eine Hand, die immer wieder an die Augen fuhr, um imaginäre Tränen wegzuwischen, oder auch wirkliche Tränen. Weil alles so schiefgelaufen war, mit oder ohne Schuld. Oder Angst, weil ein Gefühl zur Katastrophe geworden war. Jetzt bringe ich dich um, denn das hier ist einfach unerträglich. Ich kann dieses Kind nicht ertragen, ich werde damit einfach nicht fertig, solche unmöglichen Gefühle. Alle diese unterschiedlichen Anzeichen von Lügen. Und dann das, was ihm immer wieder als düstere Besorgnis in die Gedanken kam. Das Kind hatte das Down-Syndrom. Deshalb diese Unruhe, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn der Staatsanwalt sich natürlich nur an die Tatsachen hielt, war dieses Bauchgefühl eben doch ungeheuer wichtig. Es hing mit der Erfahrung zusammen, die sie beide in ihren vielen Jahren im Dienst gesammelt hatten. Skarre waren einige verdächtige Nuancen aufgefallen, die er vielleicht nicht in Worte fassen konnte, aber Sejer nahm ihn immer ernst, weil er klug war. Und ziemlich gut, wenn er seine Beobachtungen anstellte. Ein Elternpaar, das auf der Wache saß und seine blutigen Tränen vergoss. Wurden sie von Kummer und Verlust bedrückt, oder von Schock und Panik, weil sie schuldig waren?

Dann dachte er abermals an die immer wiederkehrenden Schwindelanfälle. Ich werde wohl in den sauren Apfel beißen und mich zum Arzt schleppen müssen, dachte er, mit meiner nachlassenden Gesundheit, so ist das wohl. Dann muss ich eine Menge Untersuchungen und das nervenaufreibende Warten über mich ergehen lassen. Und das Leben, so, wie ich es bis jetzt gekannt habe, ja, das ist vielleicht vorbei. Wieder tauchte das Wort Krebs in seinen Gedanken auf, und die Gedanken ließen ihm keine Ruhe. In einem Anfall von Sehnsucht nach moralischer Unterstützung wählte er die Nummer seiner Tochter Ingrid, um ihr von dem Geschehnis beim Damtjern draußen in der Nähe von Granfoss zu erzählen.

»Hallo, Ingrid, ich bin’s nur. Ja, ich sitze im Auto. Sicher, mit der Freisprechanlage, red jetzt keinen Unsinn. Wir haben einen kleinen Jungen gefunden. Er lag in einem See oben bei Granfoss, seine Mutter hat ihn beim Steg gefunden. Ja, genau, ich bin auf dem Weg zur Wache, muss mit den Eltern sprechen. Vielleicht schau ich kurz bei dir vorbei. Nachher, wenn dir das recht ist?«

»Ja«, sagte sie. »Natürlich ist mir das recht. Und sonst, Papa, wie geht es dir?«

Sie meinte seine Schwindelanfälle. Er sagte, die würden sicher aufhören, wenn er nur Geduld hätte, aber mit einer ausweichenden Antwort wollte sie sich nicht zufriedengeben.

»Aufhören, von selbst? Erzähl mir doch keine Märchen, dafür bin ich zu alt. Ich kenne dich«, fügte sie hinzu. »Du unterschlägst eine ganze Menge. Aber du brauchst mich nicht zu schonen, denk daran, ich war im Krieg. Nur, damit du’s weißt, ich kann die Wahrheit vertragen.«