Peter Handke

Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg

Suhrkamp Verlag

gewidmet dem Andenken an den katalanischen Journalisten Josep Palau Balletbó (und dem Theater als freiem Medium)

Die moralische Enttäuschung, verursacht durch die Fehler der andern, welche ganz und gar vergleichbare Fehler bei uns selbst anschwärzt, gestattet uns, die strenge und noble Haltung zugleich des Richters und des Opfers einzunehmen, und ruft in uns einen Zustand der moralischen Euphorie hervor. Diese Euphorie entfernt uns rasch und sicher vom Weg jeder persönlichen moralischen Vervollkommnung und macht aus uns fürchterliche und erbarmungslose, ja sogar blutrünstige Richter.

Ivo Andrić, Zeichen am Wegrand

Es ist … ein Unmerkliches, welches wohlempfunden sein will, und durch das Ganze durchgehen muß, aber höchst wichtig, weil der poetische Vortrag sich dadurch ganz eigentlich und einzig von dem geschichtlichen unterscheidet.

Johann Wolfgang von Goethe, Serbische Lieder

Da selo sa selom pase.

(Ein Dorf soll weiden mit dem andern.)

König Dušans Gesetzbuch, § 72, vierzehntes Jahrhundert

JOHN O'HARA, amerikanischer Filmregisseur

LUIS MACHADO, spanischer Filmregisseur

EIN ANSAGER

EIN FREMDENFÜHRER

EIN WALD- oder IRRLÄUFER

EIN CHRONIST oder DORFNACHBAR

EIN HISTORIKER

EINE SCHÖNHEITSKÖNIGIN oder FELLFRAU

DREI INTERNATIONALE oder MOUNTAINBIKER (two men, one woman)

EIN HÄFTLING oder IRRER

EIN HEREINGESCHNEITER oder GRIECHE oder EX-JOURNALIST

EIN DICHTER (aus einem anderen Film, samt KINDERN, HUND und ESEL)

EIN WOHLTÄTER (international, stumm)

EIN PRÄSIDENT oder GEWINNER (Silhouette)

EINIGE EINHEIMISCHE und UNBESTIMMBARE

(Doppel- und Dreifachrollen)

Die Geschichte spielt etwa ein Jahrzehnt nach dem vorläufig letzten Krieg.

Die Szenenangaben sind nicht immer unbedingt Szenenanweisungen.

 
 
 
 
 

Die Bühne ist der Speisesaal eines großen Provinzhotels irgendwo im tiefsten oder innersten Balkan. Ohne die mehr oder weniger gedeckten Tische könnte der Saal auch eine Bahnhofshalle sein, so weitläufig ist er, ohne Zwischenwände und Säulen, offen sowohl zur einen Hand, wo der Restaurantbereich sich spürbar noch um ein Mehrfaches fortsetzt, als auch zur andern Hand, wo es gleich, ohne Türen, übergeht in den nicht sichtbaren, dabei ebenso stark zu spürenden Hotelbezirk: Empfang, Halle, mit einer ständigen Ahnung oder einem Hauch von Vorplatz. Geschlossen ist allein der fast schon ferne, entlegene seitliche Hintergrund: die Wand zur Küche, darin eingelassen zwei Schwingtüren, die eine zum Auf-, die zweite zum Abtragen; in jeder der beiden Türen eine Art Bullauge aus Milchglas. Das Bullaugenpaar leuchtet, als einziges in dem Raum, hell, und in der Küche, deren Größe dem Anschein nach jener des Speisesaals entspricht, ist, wiederum spürbar, einiges im Gang, während in dem Restaurant, auf der Bühne, erst jetzt mit dem Spielbeginn die Lichter angehen, übertrieben starke, die Normallichtstärke in einem Hotelgästesaal um einiges übersteigend (vom Normallicht in einem Balkan-Provinzhotel zu schweigen). Zwischen den glanzhellen Lustern werden hier und dort jetzt auch Scheinwerfer eingeschaltet, teils hängend, teils stehend, wie für einen Film? eher wie für Probeaufnahmen. Die Scheinwerfer leuchten in dem nun überall sommersonnenhellen Raum, insbesondere das Podium im Mittelgrund aus, ein gutes Dutzend Schritte weg von den zwei Schwingtüren seitlich-hinten. Die Musikinstrumente, Mikrophone usw. dort auf dem Podest werden zügig weggetragen oder zum Teil auch bloß zusammengeschoben: Platz gemacht. Ebenso zügig wird einer der Eßtische abgedeckt, wie zu einer Schreib- oder Arbeitsfläche, kahl ‒ ein paar vielleicht zu nahe andere Tische beiseite geräumt: auch hier Platz gemacht; dazu die paar Restaurantstühle an dem Arbeitstisch, ersetzt durch »Regie-Sessel«, in einigem Abstand einer vom andern, mit den dazugehörigen Namen groß hinten an den Lehnen, LUIS MACHADO und JOHN O'HARA. Noch zu erwähnen, daß ein Teil der Wand im tiefsten Hintergrund ersetzt ist durch eine Riesenplastikplane, mit dem Aufdruck der internationalen Organisationen (U. ‌N. ‌Q. ‌R., E. ‌F. ‌T. ‌A., U. ‌E. ‌F. ‌A., oder was auch immer), die sie dem kriegsgeschädigten Hotel gespendet haben; Plane, die sich zeitweise bewegt, aber nichts von draußen durchscheinen läßt; davor, als einzige Zier im Saal, ein immergrüner Strauch, obenauf ein Kinderhandschuh; daneben, liegend, ein dicker toter Baumstamm. Auftritt nun, von der Empfangshallenseite und vom Vorplatz, LUIS MACHADO, wie nach einem langen Fußweg, beschwingt, im schneebedeckten Wintermantel und Hut; den Hut nimmt er gleich ab, den Mantel behält er an.

LUIS MACHADO

so im Stehen. Hey John! Ola, buenas noches, mi querido Jack!

JOHN O'HARA

auftretend von der verdeckten Seite des Saals, hemdärmelig, »wie nur je ein irischer Amerikaner« ‒ und ist das nicht die berühmte Augenklappe? nein, es handelt sich um einen jener »Schlafhelfer«, zum Augenverdunkeln bei langen Überseeflügen; damit auf die Szene getaumelt, nimmt er das Ding jetzt ab und taumelt ohne es weiter, eher wie in Schlaftrunkenheit. Bienvenido, Luis! Willkommen hier in Acapulco beim Bestimmen der Darsteller, der Helden und der Schurken für unseren europäisch-amerikanischen Gemeinschaftsfilm vom Krieg!

LUIS MACHADO

Das hier ist nicht Acapulco, Mr. O'Hara. Nur das Hotel heißt so, oder hat einmal so geheißen, vor dem Krieg. Wir sind hier in einem Schluchtkessel, in einer kleinen Stadt, oder einem Dorf aus mehreren Dörfern, eines sonst fast entvölkerten Bezirks im innersten Balkan, fern von einem Meer, fern von jeder Palme, fern der europäisch-amerikanischen Welt, mitten im langen bitterkalten dinarischen Winter, am Anfang wieder einer Nacht. Die Sommerhelle ist Studiolicht. Wie war der Flug?

JOHN O'HARA

Ohne Problem. In keiner Zeit von unserm Kontinent zu eurem. Die Anblicke, Geräusche und Gerüche hüben wie drüben. Die Probleme begannen erst mit dem Grenzübertritt in das Land hier, wo der scheint's häufigste Spruch »Kein Problem!« ist.

LUIS MACHADO

Immer noch so häufig wie seinerzeit, als das Land noch groß und ganz war. Und fast immer noch so häufig wie zu der Zeit, als das große Ganze auseinanderkrachte.

JOHN O'HARA

Mit dem Eintritt ins Land hier hätte ich nicht mehr sagen können, wo ich war. Nicht bloß kein Schimmer von meinen Vereinigten Staaten: auch ein Europa ‒ ist das denn überhaupt »Europa«? »Asien« ist es auch nicht? was ist es? ‒, wie es sich meine Amerikaneraugen nie hätten träumen lassen. Nicht, daß ich mir etwa das Grün meines Altvordern-Irland erwartet hätte, oder Ihre spanische Hochlandsteppe, Luis, oder das Matterhorn, oder den Himmel über Delft, oder eine Audienz beim Papst. Aber doch wenigstens hier und da einen kleinen Hinweis auf Universelles, auch bloß ein internationaler Firmenname ‒ es muß ja nicht »Benetton« sein. Trotz einer gewissen Allgegenwart der Euro- und Dollarscheine: was für eine Fremde. Was für ein Abenteuer. Er kommt wieder ins Taumeln, fängt sich mit einem kleinen Tanz und landet so in dem Sessel mit seinem Namen. Traumfremd. Traumnah. Jemand, der mir für unsern Film den Traum erklärt?

LUIS MACHADO

Es gibt Experten. Sie warten schon auf ihren Auftritt. Er zeigt auf die Schwenktüren.

JOHN O'HARA

Oder wollen wir den Traum einfach nur kräftig weiterträumen? ‒ Was für Experten?

LUIS MACHADO

Historiker, Ideologieforscher, Religions- und Kriegswissenschaftler, Spezialisten für Schwarze Löcher, für Leute mit zwei Köpfen und halben Herzen, für balkanesische Flughunde.

JOHN O'HARA

Und die sollen im Film mitspielen?

LUIS MACHADO

Das liegt in unsrer Hand, John. Wir beide bestimmen, nach Anhören der einen und der andern, die Geschichte. So haben unsere Produktionsgemeinschaften hüben und drüben es sich zumindest vorgestellt.

JOHN O'HARA

Los denn. Setz dich, Don Luis.

MACHADO

Fürs erste stehe ich. Das soll das Defilee beschleunigen. Es soll nicht länger dauern als dann unser Film. Er klatscht in die Hände.

O'HARA

Andrerseits sollten wir uns nicht scheuen vor einer gewissen Dauer. Je älter ich werde, desto weniger erlebe ich bei jeder Art von Beschleunigung.

DER ANSAGER

sich lösend aus dem Hintergrund. Die Reihenfolge, in der die möglichen Akteure des Films sich vorstellen werden, stimmt nicht überein mit dem Verlauf der Geschichte. Die Szenen, die sie spielen werden, sollen Ihnen bloße Einstimmungen sein zu Ihrer beider Film. Es soll Ihr Film werden! Es bestehen nur gewisse Richtlinien, gezogen durch das Weltkomitee für Ethik, das Internationale Ästhetik-Institut, undsoweiter.

O'HARA

Wer ist der Autor?

MACHADO

Wo ist der Autor? Wo versteckt er sich?

ANSAGER

Es ist ein Einheimischer; einer von hier. Er ist spurlos verschwunden; verschollen.

MACHADO

Hat er Angst vor seinem internationalen Publikum?

O'HARA

Wir sind weniger international, als er vielleicht glaubt.

ANSAGER

Jedenfalls sind Sie den Autor los. Und außerdem wird er nicht mehr gebraucht. Sie sind frei. Er gibt das Signal zum ersten Auftritt und kündigt diesen dann an: Ein Greis, vor dem Krieg Fremdenführer ‒ natürlich nicht hier in der Einöde, sondern in der einzigen sehenswürdigen Stadt des gesamten späteren Kriegsgebiets ‒, eine von sämtlichen Parteien respektierte Gestalt, nach dem Krieg große Auftritte in mehreren Dokumentarfilmen, umfassend gebildet, fließend Deutsch und Englisch, durchtränkt von mitteleuropäischer Kultur, gebadet in orientalischer Weisheit ‒

MACHADO

Keine Beiwörter, por favor.

O'HARA

Und keinen Kommentar.

ANSAGER

‒ wird Ihnen nun einen Abriß geben vom Zusammenleben der Völker einst im Frieden. Er wiederholt das Signal. Zugleich mit dem schlohweißhaarigen FREMDENFÜHRER, der augenblicks gemessen durch eine der Schwingtüren auftritt, irrt von der Hotelhalle her ins Bild eine unbestimmbare, am ehesten forstarbeiterhafte oder waldläuferische Figur, die in der Folge als Zuschauer im Speisesaal steht, nah an dem Spielpodest, durch keine Geste des ANSAGERS zu verscheuchen.

FREMDENFÜHRER

auf dem Podest ‒ Möglichkeit, sein Gesicht zugleich mit Video groß auf einer weißen Fläche zu zeigen. Schon in der ersten europäischen Schöpfungsgeschichte, jener des Griechen Hesiod, wird unsere Stadt erwähnt als eine der Grenzstädte des seinerzeitigen zivilisierten Erdkreises, als Leuchtturm gegen das barbarische Dunkel, lange vor Christus und Mohammed. Der erste Tempel des Sonnengottes soll da gestanden haben, an Stelle der anderswo üblichen Vorposten: nach allen Seiten offen, Durchgangsstation für die verschiedensten Völkerschaften und darüber hinaus in jeder Hinsicht deren Tauschplatz ‒ Markthalle, Akademie, Athletentransfer, Mischehenanbahnung gemeinsamer Friedensbrennpunkt schon gleich zu Beginn der Geschichte. »Stätte des Sonnengottes« unsere ganze Stadt, und ihr Name soll sich ja auch davon herleiten. Und durch die Jahrhunderte und Jahrtausende ist sie dann ihrem Ursprungsnamen treu geblieben! Der große Omar Khayam besang sie in einer der wenigen von seinen Quatrinen, das heißt: Vierzeilern, welche nicht von der Sinnlosigkeit des Erdendaseins und dem Sterbenmüssen handeln. Hafis stellte sie einem auch im Winter fruchttragenden Weinberg gleich. Spinoza widmete ihr seine Ethik, und Shakespeare siedelte in unserer Stadt bekanntlich das Lustspiel vom Sommernachtstraum an ‒ während heute da bekanntlich, nicht wahr, eher die Tragödie von Romeo und Julia aktuell ist. Seit ewigen Zeiten war unsere Stadt ein Muster für die übrige Welt. Hundert- und Dreißigjähriger Krieg gingen weit an ihr vorbei. Die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs waren woanders. Im Zweiten Weltkrieg wurde eine andere ‒ ganz andere! ‒ Balkanstadt bombardiert, und nicht nur von einer Kriegsmacht, von allen! Von allen! Hintereinander! Flächendeckend! Drauf! Bis zuletzt hat jedes einzelne Volk hier auf den Hochzeiten der anderen örtlichen Völker friedfertig mitgetanzt. Daß der erste Tote im ersten Krieg hierzulande dann ein Hochzeiter war: purer Zufall. Was ist uns da nur zugestoßen? Womit haben wir das verdient? Unsere Unglücksgeschichte begann mit denjenigen, die mit der Stadt nichts im Sinn hatten. Nicht bloß mit unserer Stadt ‒ mit den Städten überhaupt; den Metropolen; der Polis; dem artikulierten Sprechen. Hier etwa beginnt die von draußen dazugestoßene, unbestimmte Figur, der WALDLÄUFER, Laute auszustoßen, »Urlaute«, wie für sich, im Spiel. Nein, das hier war kein Krieg der Religionen oder der Völker, vielmehr ein Krieg des Hinterlands gegen die Stadt, eines Hinterlands, das ein einziges Riesengebirge ist, ein vieltausendfach zerklüftetes, gegen die einzige Stadt da, die den Namen verdient. Land gegen Stadt. Berg gegen Tal. Bergler-Barbarei gegen Ebenen-Elite! Dorfschlager, Drina-Marsch, Schnaps und Ich-fick-deine-Mutter gegen Beethoven, Ingmar Bergman, The Pursuit of Happiness, Sah ein Knab ein Röslein stehn, Parlez-moi d'amour, I Want To Hold Your Hand and Besame mucho!

Im Abgehen von dem Podest macht er einen Umweg hin zu dem WALDLÄUFER, der, immer weiter mit seinen Urlauten, untermischt mit Maultrommel, spielend, zu dem Schlußsatz des FREMDENFÜHRERS sich eine Art Trappermütze aufgestülpt hat, jetzt mit den Zähnen etwas wie eine Schnapsflasche entkorkt und deren Inhalt in sich hineingurgelt. Und auch der FREMDENFÜHRER fällt nun in Urlaute ‒ es ist aber nur die Landessprache und es kommt zu einem zunächst unverständlichen Frage- und Antwort-Geschehen, in das auch der ANSAGER miteinstimmt. Und allmählich wird das Kauderwelsch verständlich.