Peter Handke

Über die Dörfer

Dramatisches Gedicht

Suhrkamp Verlag

 
 
 
 
 

Für die Schauspieler:

»Hier stehe ich.« ‒ Alle sind im Recht. ‒ Nach Schlußworten weiterspielen. ‒ Innige Ironie.

 
 
 
 
 

»Eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden.«

Friedrich Nietzsche, Ecce homo

»Rolling on the river …«

Creedence Clearwater Revival, Proud Mary

 
 
 
 
 

img_42781_01_004_Band02_Text012_abb01_b1

1

Gregor vor dem Vorhang. Nova kommt dazu und weist auf Gregor.

NOVA

Er war ohne Ohr für den unterirdischen Heimwehchor

Mann aus Übersee, blind für die Tropfen Blut im Schnee

Zuschauermaske über den Wangen, Hand unter Händen an Haltestangen

Wanderer ohne Schatten ‒ Nordsüdostwestherr!

Aber jetzt weiß ich nicht mehr.

GREGOR

Mein Bruder hat mir einen Brief geschrieben. Es geht um Geld, um mehr als Geld: um das Haus unsrer verstorbenen Eltern und um das Stück Grund, auf dem es steht. Beides habe ich als der Älteste geerbt. Mein Bruder wohnt in dem Haus, mit seiner Familie. Er bittet mich, auf das Haus und das Grundstück zu verzichten, damit unsre Schwester sich selbständig machen und sich ein Geschäft einrichten kann. Meine Schwester ist angestellt in einem Warenhaus. Mein Bruder hat ein Handwerk gelernt, arbeitet aber seit langem nur noch auf Großbaustellen, weit weg vom Haus und vom Dorf, und tut dort alles mögliche, das nicht mehr mit seinem ursprünglichen Beruf zusammenhängt. ‒ Es ist eine lange Geschichte. Ich erinnere mich an keinen Moment ausgesprochener Liebe zu den Geschwistern, aber an nicht wenige Stunden der Angst und der Sorge um sie. Noch vor dem Schulalter waren sie einmal einen ganzen Tag verschwunden, und ich lief den Bach ab, bis jenseits des Nachbardorfes, wo er schon in den großen Fluß mündete. Wir wußten vielleicht nichts Besonderes miteinander anzufangen, aber es war immer wieder eine Beruhigung, sie ums Haus zu wissen. Wir waren oft uneins, aber das Versöhnende war jedesmal der Gedanke: »Wir sind doch alle da!« Später war ich es, der wollte, daß sie gleich mir länger auf Schulen gingen; ich blieb der einzige, der das wollte. Oft bei der Abreise in die Universitätsstadt ging ich mit dem Koffer an dem Sägewerk vorbei, wo ich den kaum ausgeschulten Bruder in seiner blauen Arbeitermontur sah, fuhr dann im Omnibus an der Gemischtwarenhandlung vorbei, wo ich die Schwester in ihrem Lehrmädchenkittel vor den Stoffballen oder hinten im kalten Magazin wußte, und spürte dann in der Brust ein Stechen, das nicht das übliche Heimweh war. Ich werde etwas tun, dachte ich. Aber durch all die Jahre weg vom Dorf entschwanden die Geschwister, und ich fand andre Angehörige, zum Beispiel dich, und das erschien mir recht so. Die Verwandten waren nur noch wie ferne Stimmen im Schnee. Bloß einmal kam einer von ihnen wieder nah. An einem Abend schaute ich im Fernsehen die Geschichte von einem halbwüchsigen Mädchen an, das als Vergewaltigte vom Dorf geächtet wurde und sich am Ende umbrachte. Sie wickelte sich in einen Schleier oder Umhang und rollte damit eine Flußböschung hinunter. Sie blieb freilich immer wieder hängen, im Gebüsch oder im hohen Gras, oder weil die Böschung zu flach war und der Schwung noch nicht stark genug. Endlich gelang es ihr doch, sie plumpste ins Wasser und ging auf der Stelle unter, und bei der Orgelmusik, die zugleich einsetzte, packte mich ein Weinkrampf. Es war eigentlich kein Krampf, sondern eine Art Lösung oder Befreiung. Das nächtliche Zimmer von damals ist ein sehr klarer und weiter Raum. Das Bild, das mit dem ertrinkenden Mädchen auf mich einstürzte, handelte von meinem Bruder und befahl mir, ihn von zu Hause, aus dem Dorfbereich, den er noch kein einziges Mal verlassen hatte, wenigstens für eine kurze Zeit herauszuholen und ihm etwas von der anderen Welt zu zeigen. Er mußte, wenigstens einmal, weg von seiner Arbeit, und in einem andern Gewand auftreten als in seiner blauen Montur, und von dem Glanz der Städte wenigstens eine Ahnung kriegen! Bis dahin kannte er ja einzig die nahe Landstadt, und diese fast nur von dem Bett der »Arbeiterunfallklinik«: noch nicht erwachsen, hatte er an Armen und Beinen schon Narben und Verstümmelungen, wie sonst kaum ein Veteran. Er folgte dann gehorsam meiner Einladung. Es wurde nichts Großes daraus, aber immerhin: es war gewesen. In den Jahren danach kam es freilich zwischen dem Bruder und mir zur Entzweiung. Die Ursache dafür war, daß er den Eltern Kummer machte, weit über das dorfübliche Maß hinaus. Ich veranlaßte schließlich, daß er von Haus und Grund verwiesen wurde. Es kam zu einer Szene, bei der ich in der Haustür stand, und der Verstoßene weiter weg, an der Grundstücksgrenze, vor dem Nachbarhaus; zwischen uns die mit seinen Sachen vollgepackte Reisetasche, die ihm am Morgen, als er von irgendwo daherkam, auf den Weg gestellt worden war. Das Stillschweigen im Haus hinter mir, wo gerade noch die fast lautlose Wehklage um den Sohn die Räume erfüllt hatte! Ich schrie zu dem Bruder hinüber: »Wenn du es wagst, hier noch einmal über die Schwelle zu treten, dann erschieße ich dich!« Er antwortete darauf nur mit Hohn; denn es gab bei uns ja kein Gewehr im Haus, und das einzige, auf das ich bisher geschossen hatte, waren die Plastikblumen an den Kirchtagsständen gewesen. »Komm her, und ich schlage dich nieder!« schrie er zurück. Und dabei blieben wir doch beide, wo wir waren, ich auf den Haustorstufen, er an der Grundstücksgrenze, und tauschten auf die Entfernung alle möglichen Drohungen und Verfluchungen aus; und in der folgenden Nacht holte er tatsächlich seine Tasche ab und verschwand ins Ausland, als Fremdarbeiter in irgendeiner Barackenunterkunft irgendeiner Großstadtperipherie. Trotzdem kam mir im nachhinein jener Verfeindungsauftritt unecht und bloß gespielt vor. Schon im Verlauf der Beschimpfungen war mir zwischendurch zum Abwinken und Lachen zumute. Wir hätten jederzeit aufhören und ohne einen Gedanken an das gerade Vorgefallene zusammen ein Bier trinken gehen können. Bei allem Unheil, für das der Bruder verantwortlich war ‒ wir hatten im Grund nichts gegeneinander, gar nichts, auch nicht damals in unsrer Streit-Stunde! Aber wir hatten das Spiel wohl spielen müssen. Endgültig war damit nichts geworden. Nicht wenige Traumbilder handelten von ihm ‒ und solcherart verkehrten wir weiterhin miteinander. Das Wiedersehen an den Grablöchern der Eltern bedeutete dann nicht etwa die Aussöhnung, sondern bestätigte, bekräftigte, beruhigte, und setzte außerdem fest: Wir würden einander nie wieder ein böses Wort sagen. Ich wußte doch, daß ich vielleicht noch weit ärgere Dinge als damals der Bruder getrieben hätte, wäre ich dem vorgegebenen Lebenslauf nicht durch irgendein Glück entkommen. Der Bruder liebt seine Frau und sein Kind wie seine Retter. Und das Anwesen ist für ihn ein Reservat geworden: er will nie mehr von dort weg, und hat sich bei der Beerdigung der Eltern das Bleiberecht auf Lebenszeit erbeten. Seinerzeit auf dem Friedhof sah ich den Taugenichts neu, als einen stolzen und zugleich ortsfremden Menschen. Es war weniger ein Blick als ein Geruch, und der Geruch ist nachhaltig. Der Brief zugunsten der Schwester ist ein Rätsel ‒ und wieder nicht: denn als wir uns damals umarmten, roch ich an meinem Bruder auch das ewige Opfer.

NOVA

Du fingst von zwei Geschwistern an, und am Ende ging es nur noch um einen.

GREGOR