Alban Nikolai Herbst
Thetis. Anderswelt
Fantastischer Roman
Elfenbein
Von Alban Nikolai Herbsts »Anderswelt-Trilogie«
erschienen bereits die Bände:
»Buenos Aires. Anderswelt« (2002)
»Argo. Anderswelt« (2013)
»Thetis. Anderswelt« erschien erstmals 1998.
Zweite, vom Autor überarbeitete Auflage 2018
© 2018 Elfenbein Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-941184-97-8 (E-Book)
ISBN 978-3-941184-22-0 (Druckausgabe)
Vorspiel
1 Die Qualität einer Stadt und also die der Aufzeichnungen über sie mißt sich an der Beschaffenheit ihrer Gehsteige, Fahrbahnen, an Unebenheiten, hohem und niederem Trottoir. Ist dieses, wie im Westen, uniform aufs Marktniveau gebracht, so ist die Stadt selbst nur Äquivalenz und sind es ihre Bewohner. Damit alle Fantasie perdu.
Ich aber will, daß Raum fürs Ungeheure bleibe.
Der ist auch im Kopf zu schaffen. Nur zu beobachten reicht nicht.
Ich will Dich Buenos Aires nennen. Ich nenn Dich nicht Paris, nenn Dich nicht Rom, schon gar nicht Prag, und auch Belgrad nicht und nicht London, geschweige so, wie Du heißt. Schon werdet Ihr alle mir eine. Und wo etwas fehlt, denk ich’s aus den Geschwistern hinzu.
Denn es fehlt vieles.
Die Stadt hat Lehm an den Füßen. Die Menschen wühlen, als würfen sie sich noch hellichten Tages unter stickigem Bettzeug auf einer mit Unlust gestopften Matratze herum. Spreche ich auf der Straße jemanden an, kann es gut sein, daß er meint, zurückschlagen zu müssen. Immer stehen vor verschmutzten Fassaden auch verschmutzte Leute herum. Nirgendwo sonst sieht man mehr zerstochene gepeinigte Lippen Nasen Ohren. Die Narben der Häuser wiederholen sich in ihren Bewohnern. Seelen sind es wie Bombentrichter.
Das reizt mich auf, Dich umzuerfinden.
Ich trete ins Treppenhaus, sperre die Tür hinter mir ab, meine Wohnhöhle schließt sich, wie Borkenbrods sich verschloß. Ich sollte den unterm Straßenpflaster wohnen lassen, denn seine Mutter ist Thetis, seine Seele muß im Grundwasser stecken.
Aber sie steckt im Boudoir.
Die dumpfe Wärme im Hausflur.
Ich zähle die Stufen, schließe die Augen, sechs mal zwei halbe Etagen. Jedes Geräusch ins Hallen verfremdet, die Schritte knallend. Werden heller auf dem muffigen Hinterhof, Gerüche, wart mal, Gras und Stein, dampfend vom Regenguß nach der Hitze. Hausmüll. Die Augen auf, blinzeln: Ein Bäumchen zwischen Tonnen und Fahrrädern, krumm, noch stehen Lachen auf der unebnen Pflasterung, versickern seitlich im Sandmatsch. Die Toreinfahrt durchs Vorderhaus, eine Art Tunnel, es riecht nach vergorener Gerste und der Pisse der Nacht. Das Portal rostigsteif in den Angeln, die Klinke fassen, ziehen, es knarzt. Hinaus auf die Straße, und sofort umschlägt mich ein Lärm, als würd ich in dichtere, in eine wollene Luft getaucht. Gleich rechts glänzen nasse Stühle vor der irischen Kneipe. Und das Kopfsteinpflaster dampft. Stimmen junger Leute. Diese eigenartige, mir so fremde Lust an der Farblosigkeit.
Mein flinker Blick, der flirten will. Niemand ist bereit zu spielen.
Proletarismus, mag sein, doch ohne Proletarier.
Ich gieße einen Liter Neapel hinein.
Welch seltsamer Graffito!
Wer formt die Waffen von Berg zu Berg, von Welle zu Welle?
Hier war doch gestern abend noch ein Second-hand-Laden … Wo ist der denn hingekommen? – Städte sind Vorstellungen. Wie sie wirklich und wie wirklich sie sind, erfahren wir nicht.
Das Schnaufen einer angezogenen Lkw-Bremse Mopeds schrill Fahrradgeklingel, es rattert ein Tor auf. Eine Dieselmaschine. Anfahren, stoppen, ich gerate ins Trudeln. Irgendwo wurde hier gestern gebaut, es wird hier überall gebaut. »Heiße Birne, wa?!«: Irgend sowas.
Achilles Borkenbrod, immer eine Sprühdose bei sich, verläßt seinen Unterschlupf, eine aufgelassene Wohnung inmitten der Zentralstadt. Vielleicht. Oder eine Art Slum, wohinein nicht einmal Polizisten und Milizionäre sich trauen. Geht aber direkt in ein von Dienstleistungsgewerbe brodelndes Handelsviertel über. Nicht aber doch Colón: heruntergekommene Altstadt?
Er schließt also die Tür hinter sich, aber das macht kein Geräusch. Es gibt auch kein Schlüsselknirschen, klacken keine Schritte das Treppenhaus runter, kein Atmen – und wenn Borkenbrod auf die Straße tritt, bleiben sogar Motoren und Passanten stumm.
Er ist unruhig, sieht sich oft um, aber auf eigentümlich routinierte Weise: wie gewöhnt daran, mit Verfolgern zu rechnen. Eine Ledertasche hat er um. Die Zuschauer müssen seinen Gang mit zugestopften Ohren verfolgen.
Ein Blinder, der fotografiert, macht eine Tonbandaufnahme.
Ich überquere die Stargarder Straße. Muß kurz wieder die Augen öffnen dazu. Überfahren will ich nun auch nicht werden. – Jemand spricht mich an. Nein, nicht mich, ein Irrtum. – »Bitte?« frag ich. »Verzeihung«, sag ich. Aber Borkenbrod – er nun tatsächlich – wird angesprochen, gleichwohl alles weiterhin stumm, außerdem hastig, sozusagen hinter vorgehaltener Hand. Man sieht jedoch, wie sich Lippen bewegen.
Borkenbrod macht eine Geste, um vielleicht den Weg zu weisen, die Kamera richtet sich auf seine Füße, die abermals zu schreiten beginnen. Leichtes Wippen der Kamera dabei, den Rhythmus der Augen gibt das wiegende Gehen vor.
Immer wieder die aufgerissene, gleichsam verätzte Oberfläche eines sehr breiten Trottoirs. Die Steine grau strukturiert, graubraun, hellbraun, bis ins Gelbe. Wo der Gehsteig keine Brüche mehr hat, beginnt das Geschäft. Was Aufmerksamkeit abzieht, potenziert sie in Wahrheit. Den einen Fuß in einem Schlagloch, das hier Trittloch ist und den Knöchel gefährdet; den anderen, balancierend eingebogenen Knies, erhöht. Breite Gehsteigplatten aus behauenem Granit, eingefaßt bisweilen in hügeliges Kopfsteinpflaster, teils aufgerissen, frost- und hitzegesprengt, schrundig, Sand … – und zur Fahrbahn bricht das Trottoir schroffe dreißig Zentimeter hinunter. Ein Abhang für den, der nicht aufpaßt. Die Bordsteinkanten nicht auf einer Höhe, alles Attacke auf Norm, jeder Überweg Falle.
Borkenbrod überquert einen Fahrdamm. Die Kamera zeigt nur Reifen und die unteren Seiten von Autotüren, man spürt an der Stummheit, daß hier das Schicksal einen voranzwingt. Lächerliches Pathos, gewiß, aber gegen Gefühle kommt die Großhirnrinde nicht an. Borkenbrod bleibt stehen vor dem Loch einer U-Bahn-Station. Noch einmal schaut er sich um. Dann hinab. Es riecht zuckrig nach karamelisiertem Gummi und erwärmtem Blech. Süßer Unterleibsgeruch der Stadt. Borkenbrod, jählings beeilt, geht auf den Billetautomaten zu. Kamerafahrt die Beine hinauf, Borkenbrod wühlt in der Hosentasche: Wir verfolgen seine Hand, wie sie sich zum Münzschlitz hebt – aber nein, nein!, nicht in Echtzeit, sondern verlangsamt, ja sich verlangsamend, weiter, noch mehr, soll eine atemlose Dehnung werden, Anspielung, klar, aufs Schildkröten-Paradoxon, dann – SCHNITT: Die Münzen eingeworfen, und jetzt erst, da Achilles Borkenbrod das Ticket aus der metallenen Auffangmulde zieht, eine volle dräuende Welle Musik: Sibelius, 4. Sinfonie, 1. Satz, Takte 1–32. Bei Einsatz der Blechbläser Vorspann, leuchtende Schrift quer über die Leinwand:
Buenos Aires will ich, Hans Deters, Dich nennen
So könnte es gehen. Ja. Noch immer keine Stadtgeräusche, aber die Musik. Unter dem allen Musik. Die U-Bahn fährt ein. Freilich ebenfalls lautlos, überhaupt kein Rattern. Das nämlich erst, nachdem sich hinter Borkenbrod die zweiseitigen Waggontüren geschlossen haben. Vorher soll ihm etwas widerfahren sein. Dazu muß ich die Stadt in meinen imaginären Zugriff bekommen.
Sie ist wenigstens drei verschiedene Städte: eine, die in die Augen fällt und den Sehnerv affiziert. Sie ist zudem die Stadt der Geräusche. Vor allem jedoch ist sie Stadt meiner unausgesetzten Erfindung, obendrein in heidnischer Weise dreifaltig: Stadt des Fußwegs, der öffentlichen Verkehrsmittel, der Privatkraftwagen.
Und niemals soll, wer eine Stadt erschreitet, sich vorbereiten. Man erschreitet sonst nichts als seine Lektüre. Was hilft es mir zu erfahren, aus welchem Familienschoß die hübsche Frau geworfen wurde, die mir eben einen Blick vergönnt hat? Es ist mir ganz egal, wer sie ist, ich will ihren Anschein. Um Straßen kennenzulernen, muß ich ihnen fremd sein: wie einer die lange Geliebte nicht mehr erkennt, sondern sieht nur noch die Geliebte-im-Innern und merkt keine neue Falte mehr. In der Stadt muß jeder immer der erste Mensch auf dem Mond sein. So geh ich unvorgebildet und bin doch, zu meinem Jammer, gebildet bis ins Mark. Meine Schritte, meist zügig, die Schneisen Plätze Kreuzungen durchmessen, werden nach einer halben Stunde zur rhythmischen Grundierung, einer Art Hintergrundrauschen. Dann seh ich nur noch Wand Denkmal Bäckerei und weiß eben nicht mehr: Osten Westen Lohnniveau. Dann erst bin ich in Buenos Aires angekommen.
Borkenbrod sitzt in der U-Bahn und starrt aus dem Fenster. Kameraschwenk in den Scheibenspiegel, Borkenbrods Gesicht, näher heran, der Anblick wird unscharf, verschwimmt, wir konzentrieren uns auf die etwas geöffneten Lippen, noch näher, dann hinein: Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, stürzen wir die Kehle hinab. Unschärfe, man dreht am Objektivring, nun konturiert sich das Bild: Straßenpanorama, noch Dunckerstraße, dort, wo jetzt ich steh.
Und Borkenbrod öffnet nach innen die Augen. Er beobachtet mich. Aus mir.
Die Geräusche weichen zurück. Ich habe, anders als er, kein Bedürfnis, an Wände Gedichte zu sprühen.
Gegenüber sitzen Leute draußen, man wird die Bestuhlung trockengewischt haben. Direkt vor mir, eigentlich hübsch, doch das Haar nicht gewaschen, eine junge Frau. Lehnt an Schuttwand. Das Gesicht auf Blässe geschminkt, aber siechrot die Lippen. Beide Ohrränder, wie eine Wundnaht, durchlöchert. Behängt mit Kinkerlitzchen. Einen Ring durch die Nasescheidewand gestochen. Das Ziel der Frauenemanzipation restlos erreicht. Da baumelt es nun, dieses Ziel, unter den hübschen Nüstern und wartet auf Erfüllung.
Muß es nicht länger: Ich habe stets eine Metallkette durch die Gürtelschlaufe gezogen, ein kleiner Karabinerhaken ist befestigt daran, der steckt, als wär es eine Taschenuhr, in meiner Weste.
Sie steht also an der Hauswand, von der Fladen und Fetzen blättern. Mißgelaunter Blick auf meine Krawatte. Ich schreite erst langsam an ihr vorbei, dann spontane Kehre ihr zu, den Karabinerhaken zwischen Daumen und Zeigefinger, Vorstoß, hab das geübt, es klickt. Schon der Nasenring in der Öse. Da schnalz ich einmal mit der Zunge. Die junge Dame sprachlos. Ich wend mich um und zieh sie hinter mir her. Sie brüllt los, es muß ziemlich wehtun. Wenn’s nicht bluten und der Nasensteg halten soll, wird sie mir folgen müssen.
Es ist ganz wunderbares Sommerwetter.
Paar Leuten bleiben stehn und gaffen. Drei Typen applaudieren. Ich lächle. Und mit meiner Beute immer die Straße entlang. Will meine Geisel sich wehren, reiß ich knapp an der Kette.
Am Helmholtzplatz schäumt grün – besinnungslos und geil nach Erde riechend – der kleine Park. Die junge Dame zetert und jault im Geschlepp. Das wird mir zuviel. Ich löse die Kette aus der Gürtelschlaufe und mach sie mit einem Abusschloß an einem Ring für Hundeleinen fest. »Arschloch!« brüllt meine Freundin. »Beschissenes Arschloch!« Doch sie hält still. Hörte sonst Engel im Himmel, an die sie nicht glaubt. Unter meinen Füßen knirscht der Sand des Weges, zur Seite raschelt Gebüsch, das sehe ich nur, kann’s nicht hören, denn unablässig rattern Automobile, klirren Scheiben, schnaufen Hydrauliken. Kieksige Schreie. »Äh! Geil!« ruft ein Junge, und als ich mich entfernt habe und am andren Ende des Platzes noch einmal umdreh, seh ich die Angekettete von einem Pulk Piercing-Freunde umschart.
Ich schließe die Augen wieder.
Noch immer starrt Borkenbrod sein Spiegelbild an. Die U-Bahn erreicht die nächste Station, bremst ab, eine Halle, auf dem Steig eine doppelreihige Sitzbank, aus deren Lehne Verstrebungen wachsen. Die wiederum halten ein längliches weißes Schild mit schwarzglänzender Schrift.
CHELSEA – BUENOS AIRES
Kein Mensch zu sehen. Borkenbrod steigt aus. Aberneuer Geschlechtsduft, leicht spitz, eine Spur Urins darin. Jetzt keine Musik mehr, sondern nur Geräusche, einfacher O-Ton: Schreiten, Stimmen, schleifendes Aus- und Einfahren der Métrozüge. Jeder Ton hallt lange nach, ganz besonders hallen lassen es die Absätze von Frauenschuhen. Vom Ausgang herunter fließt Licht.
Ich wende mich um.
War ich bislang eher zögernd gegangen, verfall ich nun in meinen alten Schritt. Ich will zum Kalemegdan-Park. Hab Lust, auf Sawe und Donau hinabzusinnieren. Bin aber ja noch immer auf dem Prenzlauer Berg. Allegro ma non troppo voran.
Über die bröckelnde rote Mauer hinweg quillt ein herber sirupartiger Unkrautduft, schwarzer Johannisbeergeruch aus Kindheitsgärten. Dann kommt die Station PALERMO in Sicht. »Palermo – Buenos Aires«, das ist keine Erfindung. Die U-Bahn fährt auf der Hochstrecke. Gründerzeitliche Bahnhofskonstruktion aus Gußeisenverstrebungen, als wär ich schon in Paris. Matt moosgrün lackiert. Darunter lärmt der Verkehr. Dann geschieht’s. Der Vietnamese, bei dem ich meine Schmugglerzigaretten kaufe – ein schmales Männchen mit erbarmenheischender Trichterbrust – wirft, da ich mich nähere, einem nächsten ein Päckchen zu, sehr flach, quadratisch, kurzer eckiger Diskus und kaum höher als eine Zigarillodose. In braunes Packpapier geschnürt. Und der andere, wie überrascht, greift zu. Doch als schriee er auf vor Entsetzen, läßt er’s fallen. Es ist, als hätte man ihm eine Rasierklinge durch die Handfläche gezogen, und tatsächlich spritzt bißchen Blut weg. Schon flitzt ein Dritter bei, ein jugendlicher Punk mit rosa aufgespitztem Schopf, unterschlüpft noch die ballistische Kurve, die das Päckchen genommen, packt zu, faßt das Ding und stürzt damit fort Richtung Schönhauser Allee.
Ich steh am Bordstein, um mich her tiefe Lachen vom Regen vorhin.
Der Vietnamese betrachtet mich stumm, der zweite Vietnamese wendet sich den Zigaretten zu, die auch er feilhält, und Borkenbrod, noch in der Métrostation CHELSEA stehend, den Aufstieg hinauflugend, blinzelnd ins Hallen und lauschend aufs Licht, wird angerempelt. Das erste Wort, das wir in diesem Film von ihm hören, ist ein schwedischer Fluch. Höchst verdutzt blickt er in seine zu einer Schale zusammengefügten Hände: Er hält das Päckchen darin.
Ich erwidere den Blick. Mir ist, als wär ich in eine fremde Erzählung gefallen, in der mich niemand mehr auffangen wird; schon gar nicht wird es der Vietnamese. Der wartet geduldig auf mich.
Wartet drauf, daß ich was sage.
Wollte ich nicht Zigaretten kaufen? Er hält beharrlich seinen Blick auf mich. Da wend ich mich weg. Ob ein Spaziergang Spuren im Geist hinterläßt, erweist sich daran, wie schnell einer wieder zum Schuster muß.
Hinüber.
Stets hört Buenos Aires irgendwo auf, stets fängt es seltsam wieder an; weite Trichter und Ebenen, macchiabewachsen oder voll ausgestreutem Nichts und bedenkenlos abgeladenem Schutt, sind zwischen die Stadtbezirke genäht wie brüchige fladenbreite Fontanellen.
Zwischen dem Monte Pellegrino und dem Parque del Retiro breitet sich ein etwa zwölf Quadratkilometer umfassendes schreckliches Gelände aus. Man nennt es Sarajewo. Der wüstenartig heiße Wind, der bisweilen in die angrenzenden Wohngebiete einfällt, trägt oft Mikrobenstaub mit sich. Morgens liegt er dann, eine hauchdünne gelbe, doch sehr dichte und wie nasse Schicht, auf den Karosserien. Er dringt in alle Fensterfugen. Klimaanlagen wälzen ihn um. Wer etwas davon eingeatmet hat, kann süchtig werden. Manche machen sich nachts dann auf. Jedes Jahr kommen in dem von Höhlen und Fallgruben und Labyrinthen aus Fahrzeugwracks durchspickten Gebiet durchschnittlich zweiundzwanzig Menschen um. Jedenfalls bleiben sie verschollen. Wenn sich Suchtrupps hineinbegeben, verschwinden auch die. Deshalb hat man um das Gelände einen drei Meter hohen Zaun aus Natodraht gezogen, an dem Grenzschutzsoldaten patrouillieren. Es heißt zudem, das Areal sei von Kannibalen bewohnt, die nächtlich Blutorgien feierten. Aber dafür gibt es keinen Beweis. Nur daß man bisweilen, steht man zwischen zwei und drei Uhr in der Frühe an der Nachtbushaltestelle Potsdamer Platz und blickt auf den sich unabsehbar dehnenden Stacheldrahtzaun hinüber, aus ferner Tiefe ein heulendes Singen und Bongotrommeln, aber auch Technopop vernehmen kann.
Ganz im Südwesten, weit unterhalb Neapels und jenseits Colóns, schließt Chelsea an. Das ist ein reicher, aber diskreter Kiez von Buenos Aires. Am rechten Ufer des Tibers langt er im Süden bis nach Zehlendorf, wo der Protz herrscht, und im Westen bis La Villette, wo die Arbeitersiedlungen liegen: kilometerlange Prospekte von Plattenbauten und Hochhauskomplexen aus pappigem Material mit Fensterscheiben aus dünnem welligen PVC, jedes Stockwerk birgt an die dreihundert billige Wohnungen. Chelsea hingegen wirkt beinahe ländlich. Rote Backsteinvillen hinter gepflegten Rabatten mit Stiefmütterchen und Hecken aus Sanddorn, der Hauseingang stets ein halbes Stockwerk erhoben, paar Stufen führen zur polierten Kirschholztür hinauf.
Borkenbrod verläßt nun endlich die U-Bahn-Station. Sie führt ins Freie gegenüber dem Haus, worin Abraham Stoker starb. Borkenbrod weiß das aber nicht. Ich werd, für gebildetes Publikum, eine Anspielung machen. Zufällig fährt die Kamera an einem Messingschild vorbei, worauf steht: »Jonathan Harker’s Son, Attorny in Law«.
Sinnierend läßt Borkenbrod das Päckchen von der Rechten in die Linke wechseln und zurück in die Rechte. Soll er’s öffnen? Es steht eine Adresse darauf. Ihm ist sie aber nicht bekannt.
Das Ding ist auf eigentümlich lockere Weise schwer. Wie nasser Sand. Er hält es ans Ohr, schüttelt vorsichtig. – Nichts.
Die Straße afrikahell, es wird Mittag sein. Die Leute liegen hinter Moskitonetzen auf Betten und schwitzen Kopulationsträume aus, die in Tropfen über den Oberlippen stehen oder milchig in die Kopfkissen seimen. Ein paar Kilometer entfernt, in La Villette, werden in die Realisierung solcher Nervositäten Buben und Mädel trainiert. Täglich schmuggeln Laster containervoll Kinder aus dem Osten hierher. »Verderbliche Lebensmittel« steht auf den silbermetallenen Truhen.
In der Weite, im Hitzedunst, verwolkt sich der Fernsehturm überm Alex. Eine Stadt muß Zeitsprünge machen. Zeit wie ein Ding, das sich durch die Prozesse hindurch bewahrt und doch nicht unverändert bleibt. Ganz so, wie ich täglich meine Haarfarbe wechsle: Wer in die Anderswelt tritt, verliert die Stetigkeit der Zeit. Städte sind Urwälder Dschungel: Es öffnet sich ein Tor wie eine Tür im Berg, durch die du in ihn hineintrittst. Kommst du nach wenigen Stunden wieder heraus, sind draußen sieben Jahre vergangen. Hiergegen wird mit Willen geglättet und die unterirdische unterseeische Flut sie zivilisierend kanalisiert. Sie spült auch wirklich Schrecken mit, doch mit dem Schrecken Lust.
Drüben entsteht ein Glaspalast. Schon jetzt, noch im Bau, darf er keine disparate Zeit in sich tragen, sondern seine Bauherren fugen die aus. Noch rettet ihn das Nachbargebäude: Voller Seel, die so drückt, versucht in der bröckelnden Mörtelwand die Geschichte, ihr Atmen zu halten. Und wirklich atmet sie, bis ein Bagger sie irgendwann wegreißt. Dann klaffen kurz noch Narben, durch die man einen Einstieg finden kann. Wird auch das geglättet, bleibt ein wie Chrom so kühles Schweigen. Die Moderne kompostiert nicht, sie entsorgt.
Noch gibt es Löcher in der Realität. Für den, der sie sieht, sind es Tore.
Jetzt aber wirklich die Straße überquern. Das verlangt eine Aufmerksamkeit, die nicht sieht, sondern sich vorsieht, was das Gegenteil ist. Unter das Lattengerüst, an den runden Mischmaschinchen vorbei, den Spaten Zementhaufen provisorischer Durchgang, dann drüben der Zeitungskiosk und noch drei Vietnamesenschmuggler, schließlich 180-Grad-Linksschwenk, die Tunneltreppen zu den Bahnsteigen hinauf. Na bitte:
PALERMO – BUENOS AIRES.
Es warten Polen Chinesen Tschechen Russen. Die lächeln zwar auch nicht, sehen aber neutral aus. Außerdem zwei ältere Fast-Food-Verbrecher, gewiß US-Touristen, sind immer an Shorts und T-Shirts zu erkennen. Und, übellaunig oder verblasen, die Deutschen: Ein Pulk schnittiger Wessis sowie paar AltDDRler. Denen ist der Ausdruck von Kleingartenkapos ins Gesicht tätowiert.
Geratter. Rumpeln. Die U2 Richtung Simmering.
Ich kann bis hierher Schrammeln hören.
Borkenbrod ist derweil zum Tiber spaziert. Vor der eleganten luftigen Albert Bridge steigt er zu den verlassenen Chelsea Embankments hinunter, die kniehoch mit verdorrtem Gras bewachsen sind. Aufgerissene Matratzen und Federkernspiralen liegen herum. Ich betrete die U-Bahn, setze mich, wir rumpeln davon. Jemand tritt auf Borkenbrod zu, sieht aus, als ob der was wollte von ihm. Ein Penner, der die Obdachlosenzeitung verkauft. Man merkt, er hat seine Ansprache mühsam erlernt. Borkenbrod schüttelt den Kopf. Der Penner insistiert. Borkenbrod schüttelt nachdrücklicher den Kopf, läßt den Verwahrlosten stehen und begibt sich flußabwärts.
Es ist andalusisch heiß geworden, sensationell für das Englische Viertel. Die Klimaanlage ist ausgefallen. Borkenbrods Schritt hat etwas durchaus Zielstrebiges. Seit er von den Landshuter Frauen gedrillt worden ist und besonders seit er jetzt hier im Untergrund kämpft, hat sein einmal so mädchenhaftes Gesicht energische, fast grausame Züge angenommen.
In der Ferne ist der Natodrahtzaun zu erkennen, der ein Stückchen noch dem Tiberufer folgt.
Die U-Bahn fährt in die Tiefe, es wird dunkel, ich nehme die Sonnenbrille ab.
Am Senefelderplatz steigt eine Frau ein, um die vierzig, schätze ich, vielleicht dreißig; sonderbar elegant für Buenos Aires und eigentümlich hochgewachsen. Über einsachtzig gewiß. Ein schmales arrogantes Gesicht, die vliesgoldnen Haare aufgesteckt, was den Körper streckt. Etwas Tierhaftes an ihr, schlangenartig Kätzisches. Woran erinnert sie mich?
Ein Gazerock spielt über den Knien. Um ihren Oberkörper schmiegt sich ein Bustier aus weißer Spitze. Sie bleibt direkt vor mir stehen. Seh ich gradaus, blick ich ihr aufs Sonnengeflecht. Und erschrecke: Ihre beiden Hände sind wie mit Identifikationsmustern über die Finger und den Rücken bis zu den Unterarmknochen tätowiert. Wie ein feiner gegerbter Handschuh sieht das aus.
Ich spüre, sie schaut auf mich herunter.
Borkenbrod hat sich einer grob zusammengezimmerten Hütte genähert, bleibt einen Moment stehen, strafft sich, geht weiter. Mit dem rechten Unterarm wischt er sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann langt er an, die Hosenbeine voll Kletten und Haarnadelsporen. Er streckt zögernd die Linke aus. In dem Moment, da seine Fingerknöchel an die Holztür pochen, wird der Ton schnell wieder weggeblendet. Ein akustisches Vakuum bei allerhellstem Sonnenlicht. Sowas dehnt noch das Warten. Als die Tür aufgeht, sofort Musikeinsatz: Sibelius’ Vierte, wieder 1. Satz, aber Takte 19–47. Nämlich steht die hochgewachsene Dame vor ihm. Er streckt ihr, den Blick gesenkt, das Päckchen zu. Sie reagiert nicht. Er sieht zaghaft auf, ungewöhnlich schüchtern für einen Terroristen. Sie lacht. Man hört es nicht, aber sieht ihren Mund. »Kommen Sie heute abend ins Café Samhain«, sagt sie. Kann sie nicht sagen, denn es gibt ja keinen Ton jetzt im Film, nur die Musik. Sagt sie aber trotzdem. Sie wiederholt es sogar. Da erst merke ich, daß sie nicht Borkenbrod meint, sondern mich. Und nicht im Film, sondern in der U-Bahn, hier, in der Realität. Nun muß ich aufschauen. Neongrüne Augen. »Wie bitte?« frag ich, noch immer den Blick auf ihren Tätowierungen. »Wohin?« »Ins Samhain.« »Kenn ich nicht.« »Aber neben der Synagoge doch, neben dem Café Orèn …« »Sie meinen das Silberstein …« »Wie Sie wollen. Holen Sie das Päckchen und bringen Sie’s mir«, sagt sie und lächelt. – Wenn ich nicht aufpaß, werd ich unter ihrem Blick noch rot. – »Ich kann Ihnen nicht sagen, wann ich da sein werde. Warten Sie auf mich.« Welch aufreizender Ton! Mitleidig fast. Und außerdem … – »Aber ich komme in jedem Fall!« »Moment mal!« rufe ich aus. »Das geht nicht!« Der Zug rattert in die Station Porte de Clignancourt, nein, Alexanderplatz, nein, Hyde Park, ach ich weiß es doch nicht! Geb mir einen derben Ruck, die Frau ist fort. Ausgestiegen wohl. Leutemasse drängt herein und drängt sich draußen auf dem Bahnsteig, ich kann die Frau nicht mehr sehen.
Ich versuch, mich zu erinnern, war sie blond, war sie brünett? Sie hatte schwarzes Haar?
Was rief sie mir ins Gedächtnis zurück? – Nichts doch, nichts!
Vor Borkenbrod ist die Tür wieder zugegangen. Jetzt habe ich nicht mitgekriegt, was die Frau ihm aufgetragen hat. Er nickt gegen die geschlossene Hütte. Er wischt sich abermals Schweiß aus Stirn und Geheimratsecken. Als die Tür zufiel, brach auch die Musik weg. Spatzengezeter und sirrendes Zirpen von Grillen. In der Ferne hupt wer. Man kann das helle Grollen einer Chessna vernehmen, die nicht sehr hoch über Chelsea in Richtung Tempelhof fliegt. Wir glauben, das dörre Gras zu riechen, so pastoral wirkt das Bild.
Hausvogteiplatz, ich glaub es nicht. Habe doch glatt, seit die Frau wieder weg ist, drei Stationen überfahren. – Was soll’s?! Raus jetzt und hoch zum Gendarmenmarkt. Ein Japanerschwapp. Ich bleib stehen, blicke mich um. Das Gefühl eines Dufts knapp vor Rom.
Der Gehsteig als Geschichte, als Antlitz mit Falten und Augen|Blicken und wieder einmal, vor lauter Leben, unrasiert, und nach Schweiß riecht es, es riecht nach Parfum und nach Kohle. Nur weiter! Weiter über die Via Nomentana, Unter den Linden, rechts Westminster Abbey, links die Kathedrale von Chartres, einen knappen Kilometer östlich von Wellington’s Monument, dahinter erstrecken sich die Champs-Élysées bis nach Sevilla. Aber man ahnt es nur noch, sinnlich ist es kaum mehr wahrzunehmen: Maritim und MacDonalds versperren die Sicht.
Hinter den Bauzaun.
Ein Hinterhof, ein zweiter, ein dritter, verbunden durch feuchte sich verdämmernde Tunnel. Wohin führen die? Ruhe. Glockenläuten. Ein schleifendes Knirschen. Immer noch Glocken. Woher nur? Kühl ist es hier. Der Fuß knickt mir weg. Ich humple ein Stück weiter, drei Türen. Und bezaubert bleib ich vor einem Grasbüschel stehen, das, in absehbarer Zeit jedenfalls, niemand jäten wird. Es birgt – nein: ist ein Geheimnis, weil dort, wo es nicht funktioniert. Eben kein Begrünungsplan. Uralte Farbe blättert vom Holzkreuz. Links, auf die Tür graffitiert, steht fuck off!, milchiges Grünrot.
Zurück und hinaus, Straße weiter eine Autowerkstatt Baugerüst Kübel, bunt schillert Öl. Der Gehsteig geborsten, als hätte den Stein von unten etwas hinaufgepreßt oder als wäre er von den Straßenenden her zusammengeschoben worden: alles Spuren von Nächten Tagen Gelächter Heulen Schlägereien Liebkosungen. Alles ist da. Wer hier nach Moral fragt oder nach Wohlstand, schüttet Leben weg.
Bürgersteige ebnen, damit man die Straßenseiten leichter wechseln kann, heißt: einen geheizten Aufzug auf den Mt. Everest zu installieren: Alles soll allen zugänglich, alles soll zu kaufen sein. Und dann sitzen sie da auf den herrlichsten Gipfeln der Welt, bei Schwarzwälder Kirsch und Prosecco, und machen es den Lebenden bitter, noch irgend einen Gipfel in Lust auf Schweiß und Gefahr hinaufzuklimmen, weil, was sie oben dann finden, vergammelte Coca-Cola-Dosen sind. So ist es auch mit den Städten. Dein Atem, Buenos Aires, wird Dir weggepflastert werden, an den roten, normiert zugeschnittenen Industriesandsteinen wirst Du ersticken, und all die Abwegsenken für Kinderwagen und Fahrradwege werden dich kotzen machen. So wird das Gutgemeinte Dir Stückchen für Stückchen die Seele ziehen. Ach es ist Dir, bevor sie Dich bereinigt haben, eine Reiseliteratur Deiner Gehwege not! – Doch weiter, nur weiter!
Über den Ponte dell’Accademia an der Basilika vorbei. Dunkelgrützig schimmert der Spreekanal, der drüben in die Themse fließt. Mit Touristen vollgestopfte Bateaux mouches tuckern darüber. Lautsprecher plärren übers Deck. »Voilà la Basilique du Salut, on y peut regarder les icones de la Notre-Dame Noire …« Die Schiffchen ziehen einen Duft von Diesel und Sonnenöl hinter sich her. Ich lehn mich für einen Moment übers Geländer und schau mir diese vorgeschobene Punta della Dogana an. Links am Ufer hockt ein Angler und holt einen Fisch mit Geschwülsten ein. Die rosawunde Schuppenhaut glänzt bis zu mir hoch.
Borkenbrod dürfte unterdessen die U-Bahn-Station EASTERN CHELSEA erreicht haben.
Etwas Wind ist aufgekommen. Nervös heb ich den Kopf, schnuppre in Richtung Natozaun: Trägt der Luftzug Sandstaub mit? Er weht aus gefährlicher Richtung. Borkenbrod treppt in den Untergrund ab. Dumpfe Warmluft steht im Gewölbe. Es riecht nach Desinfektionsmitteln und Silberfischchen. Er hält das Päckchen jetzt fest in der Hand.
Eine jugendliche Schlampe schlurft auf und ab und schabt eine Brötchentüte mit den Schlappen vor sich her. Schlunzt näher, bleibt stehen, wippt mit den Hüften und zieht den schmutzigen Baumwollrock bis zur Mitte eines ihrer speckigen Oberschenkel rauf. Wippt noch mal, schnellt die Zunge raus, und einmal flink vom rechten Mundwinkel zum linken, schlupft die Zunge wieder weg. Zwinkert. »Nein danke«, sagt Borkenbrod. »Verpiß dich doch, Wichser«, sagt sie.
Ich muß unentwegt an die Frau in der U-Bahn denken. Auch sie nur eine Fantasie, die Du, Buenos Aires, mir eingeflüstert hast? Zwar, ihr Gesicht hat sich vollständig ins Sommerlicht aufgelöst, aber mitunter ist mir, als rollte ihre Stimme auf dem Wasser, oder sie riefe mich aus Richtung Monbijoupark an. Dadurch komm ich hoch aus meinem Dämmern.
Da richt ich mich auf, dann schreite ich ganz die Brücke hinüber. Das Café Silberstein nicht mehr fern, doch ist es noch zu früh. Immerhin bin ich mir sicher: Das war mit Samhain gemeint.
Ich fange zu stöbern an, wittere in jeden Hauseingang, ein läufiges Tier, nestflüchtiger Weibchensucher, man hupt den aus dem Weg, man flucht ihm nach, man hebt die Fäuste gegen ihn, wenn auch nur in die Luft. Da ärgert er, erbost er sich, er schimpft zurück und geht den andren auf den preußisch-teutonischen Leim. Dreht sich um, und die Basilica della Salute schrumpft ins Bodemuseum ein, die Themse verdünnt sich zur Spree, und das Abenteuer wird karg. Wolkiggrauer Schaum klätschelt an modrige Kais. Borkenbrod ist in die U-Bahn gestiegen und weggefahren. Es riecht nicht, es stinkt. Nach Scheiße, nach Abgasen, verschimmeltem Müll. Nach verspäteter Jugendbewegung. Alles angegammelt. Auf den Hausdächern liegt als Asche Schuld, die man sich übers Haupt wischt. Wie einem entlassenen Sträfling das Gefängnis lebenslang anhängt, ist diese Stadt mit Geschichtsschuld beklebt, die man schon deshalb nicht abzieht, weil der Schuldbewußte sich immer auf der guten Seite weiß.
Da spielt sogar die Witterung mit. Buenos Aires ist häßlich zwei Drittel des Jahres. Alles kühlfeucht bis eisnaß und schmierig verrußt. Ganze Straßenzüge Abbruch. Doch welch ein Erwachen, wenn, wie heute, unversehens der Himmel strahlt! Das ist ein solcher Überfall, daß sich die schäbigste Laune vor lauter Erschrecken vergißt. Auch schon, weil gegen all die grüne Pflanzenglut kein Ankommen ist. Die Gesichter sogar – gemeinhin von unglücklich durchzechten Nächten und von Lebensüberdruß blaßgrau bestäubt, wenn sie sich nicht schon freiwillig leichig schminken –, ja die Arme und Schultern kommen um eine gewisse Bräune nicht mehr herum, die tatsächlich, man mag es kaum glauben, von der Sonne rührt. Dann schwipst eine losere Stimmung, und Buenos Aires reibt sich das Bindegewebe aus den Augen, das sie sonst so zäh verklebt. Dann durchziehen leichte Töne die Straßen, dann rauschen die Bäume, und es schwingen überall innere Lampions. Doch abermals fängt es zu regnen an und regnet klamm in die Menschen hinein. Schon klumpt es sich wieder, es gibt rein keinen inneren Widerstand, und der Tanz kam nicht von innen, war nicht Bedürfnis, sondern Reflex. Schon sind die Leute froh, in ihre schlechte Laune zurückzufinden: Flagellanten, wohin man blickt. Und keiner mehr geht aufrecht, sondern jeder trägt seinen miesesten Kontoauszug auf der Stirn.
Friedrichstraße, fast schon die Grenze Venedigs. Drüben, im Westen, der Bois de Boulogne, den die Champs-Élysées durchschneiden und der im Nordareal inmitten ausgedehnter Wiesenflächen und lockerer Wälder von Buchen und Ulmen die Königliche Oper birgt. Zu den berühmten Aufführungen fährt man abends privat teils mit Kutschen, teils mit modernsten Schwebegleitern hinaus. Weil der Besuch nicht teuer ist, quillen aus den U-Bahn-Stationen meist Hundertschaften. Die letzten fünf Kilometer müssen zu Fuß bewältigt werden, da es im Bois de Boulogne keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Doch vorher bereits haben viele weite Strecken zurückgelegt. Die Leute wälzen sich aus den entferntesten Vierteln hierher, aus Barcelona, Prag, ja von München sogar kommen sie, wo nur geistig Behinderte leben, die den Produktionsprozeß störten und ausgegliedert werden mußten. In Straubing werden sie so lange in psychiatrischen Lagern konzentriert, bis ihre Demenz behoben ist. Die unheilbaren Fälle werden nach Osten abgeschoben. Über den gehen nur Räuberpistolen.
Eiserner Steg, darunter wieder die Themse, dahinter der Tränenpalast, darüber die Stazione Tiburtina. Stolz erhobnes Stahl- und Glasgewölbe. Das Trottoir aufgerissen und überall Baustellen und Kräne und Lastwagen und zerfetzte Plasteplanen. Sandler schieben auf Einkaufswagen getürmt verschnürtes Habe. Dazwischen die Reisenden Geschäftsleute Einkaufsbummler. Es wird getütet und gekoffert und gewuchtet. Vor Sandkübeln liegen Informatikfixer herum, Simulaskope wie Motorradhelme über die Köpfe gestülpt, von den Augen stehen absurde Okulare ab. Durchbeulung Wühlen Gestein. Ungefüge Aufeinanderbrüche, wie Berge sich falten. Der Gehsteig als Urlandschaft mit Tausenden Schatten Ebenen Flußtälern. Haie und Unterseeboote kreuzen darin. Jede Pfütze Ozean. Wind und Kälte und Hitze haben Furchen ins Pflaster gewetzt, durch die ich in meinen Hörselberg steige. Dann wandr’ ich durch Schächte einer höllischen Lust … – »Haste maa ’ne Mack?«
Zwinkern. Aufblicken. Komplett abgedreht, der Typ. Drei eingerissene Alditüten hängen ihm am linken Arm. Die Rechte mir zugestreckt, zur Gänze verhufte Fingernägel. Augenhöhlen wie Ölbohrlöcher. Wer jedem Bettler in Buenos Aires was gibt, wird selbst zum Sozialfall. Gibt man ihnen aber nichts, bringt man sie um. Nachts patrouillieren Müllautos durch die Viertel und saugen die Obdachlosen vom Straßenrand. Ich krame also in der Hosentasche rum. Kriege ein Geldstück zwischen die Finger, ziehe es raus. – »Gracias, amigo«, sagt er. Ich schau ihn wohl ziemlich verdutzt an, denn er muß lachen. Lacht ausgesprochen hell. Lacht geradezu intelligent. »Follow me«, sagt er. »Wie bitte?« »Venga!«
Erstaunlich gewandt läuft er mir voraus, sieht sich nicht mehr um. Ins Bahnhofsgebäude, nicht die alten Treppen nach oben hinauf, wo die Züge der Ost-West-Achse halten, sondern an langgezogenen Bretterverschlägen aus nachlässig geschliffenen hellen Holzplatten und billigen Krimskramsläden vorbei. Wogen aus Menschen schwellen uns entgegen. Es riecht nach Mörtel, alles hier ist Baukulisse. Schon fährt die S1 ein. »Richtung Laguna Morta zurücktreten bitte!« Ich schlüpf grad noch so rein, versuche, den Mann was zu fragen, er legt einen Finger auf die Lippen. Zwei Stationen nur, am Potsdamer Platz gibt er mir einen Wink, und wir steigen aus. Ich folge ihm beklommen. Es ist völlig klar, er will an den Zaun.
Ein Wirrwarr aus Brettergassen, Krach von Bohr- und Schleifmaschinen Hämmern. Roboter schweben an den Wänden lang und ziehen ihre Materialschläuche hinter sich her. Wer nicht aufpaßt und nicht ausweicht, wird kurzerhand überrollt oder sonstwie zu Boden gerissen. Wer dann nicht mehr rechtzeitig auf die Füße kommt, über den trampeln Passagierströme weg. So gefährlich ist es, hier stehenzubleiben. Davor warnen unübersehbar, und zwar an jeder Biegung, erleuchtete Piktogramme. Und auch Lautsprecher, aus denen in leiser Permanenz gemäßigte Klassik rieselt, schnarren halbminütlich ihr »Passen Sie sich dem Verkehrsfluß an!«. Trotzdem bleiben immer wieder besonders alte Leute liegen und werden abends von den Putzmaschinen in Haufen zusammengekehrt, von Scannern anhand der Fingerabdrücke identifiziert und aus den Meldedateien gelöscht. Kleidung und Gepäck werden der Wohlfahrt zugeführt. Was mit den Leichen geschieht, entzieht sich meiner Kenntnis.
Wir kommen aus dem Schacht, der ganze Platz ist Baustelle zugleich und Trümmerfeld und lärmender Verkehrsknotenpunkt. Je nach Tageszeit wird die Straßenführung geändert. Busse Laster Schwebegleiter wälzen sich hier zentimeterweise voran. Bisweilen sind sie so ineinander verkeilt, daß der Betrieb über Stunden wie stillsteht.
Drüben den Zaun entlang eine schmale, nach Süden reichende Grasnarbe, auf der vereinzelte Kirschbäume und Birken, vor allem aber Sträucher und Gestrüppe wachsen. Ein zementbestäubtes mehliges Demarkationsgrün. Dahinter Sarajewo. Ein einziges Gebäude verbindet das verwilderte Areal mit der zivilisierten Stadt: das ehemalige Kaufhaus Esplanade. Es wurde bislang nur deswegen nicht weggesprengt, weil die angrenzenden Bürgermeistereien seit Jahren erbittert darüber streiten, welche von ihnen zuständig sei.
Zu meinem Schrecken streben wir genau darauf zu. Größer aber ist mein Erstaunen, daß niemand uns aufhält, ja die vielen Streifenpolizisten scheinen uns nicht einmal zu bemerken. Sie tragen seltsame Uniformen. Zumal verändert mein Führer, seit wir die U-Bahn-Station verlassen haben, ständig sein Aussehen; ich muß sehr auf ihn achten, will ihn ja meinerseits nicht aus den Augen verlieren: Kurzes Flirren, und er trägt Mantel, neuerliches Flirren, er wird zum kleinen dicken Ritter, nächstes Flirren, ein Jogger im Trikot.
Er bleibt an der verbretterten Eingangstür stehen, blickt sich zweimal schnell um, nimmt mich bei der Hand, pfeift ein amelodiöses Signal und schleudert mich gegen die Wand. Ich will losschrein, fall hindurch. Er folgt. Die ganze Wand simuliert. Oder nur ein Stückchen von ihr. Jedenfalls ein Eingang. Eine Holografie.
Drinnen der Blick in eine blühende Parklandschaft, Flüßchen Blumenwiesen Gartenbänke Springbrunnen. Rechts sitzt jemand hinter einem Klapptisch, darauf ein kleiner Computer und Listen. Er blickt kurz auf, lächelt, weist knapp auf eine umrankte Laube. »Bleiben Sie hier«, sagt mein Führer und begibt sich hinüber. Zweidrei getuschelte Satzfetzen, dann kommt er zurück und reicht mir das Päckchen. »Sie wissen schon«, sagt er. »Ich weiß gar nichts«, sage ich. Schaue hin: Was soll das denn?
Herrn
Hans Erich Deters
Waldschmidtstraße 29
00356 Buenos Aires – Berlin
Anderswelt
»Was ist das für eine Adresse?! Wo ham Sie das her?!« »Nehmen Sie schon. Und sein Sie vorsichtig, daß man Sie damit nicht erwischt.« Er schaut kurz zum Mann hinterm Klapptisch, der nickt, ich krieg abermals einen Stoß, steh draußen. Aber nicht auf dem Potsdamer Platz, sondern in einem der U-Bahn-Gänge der stazione Tiburtina.
»Nehmen Sie schon«, sagt der Penner. »Ich lasse mir nicht gern was schenken.« »Ja was soll ich denn damit? Was ist das denn?« Er zwinkert mir zu.
Mir kommt Borkenbrod in den Sinn, aber es fällt mir momentan nicht ein, wo der stecken könnte. Als ich mich umseh, ist der Penner weg. Das Päckchen hat er fallenlassen. Jedenfalls liegt es am Boden. Schon eingedellt, weil jemand draufgetrampelt ist. Ich bück mich, wisch mit einem Tempo den Schmutz runter, erschrecke. Eindeutig das Päckchen, das der Punk den Vietnamesen weggeschnappt hat. Ich ahne was. Ich reiße es auf. Styroporkügelchen quillen heraus, dann eine Kartonverpackung, ein Schuber. Darin, tatsächlich, die Diskette, ja, Computer-Diskette. Ich wie starr. Was hatte ich versucht, sie loszuwerden. Und war sie losgeworden doch! – Flaschenteufel. Flashback. Blut und Hirn verspritzten sich rings um die Wände. Und hatte mich wiedergefunden nach all diesen Jahren.
Ich wickle das Papier wieder drum, begeb mich nach oben, trete zurück auf die Friedrichstraße, um neue Blicke zu sammeln, blinzle in die Sonne. Zittre. Tränenpalast, drüben das BE, im Westen der Reichstag, dann zum Palast der Langen Beine. Wer war die Frau in der U-Bahn? Ich kenne sie. Ich erinner mich nicht. Würde sie wirklich ins Silberstein kommen? Aber nein, nein! Samhain hatte sie gesagt. Und es war noch so früh.
2 Es ist nicht viel später. Ich sitze doch schon im Café Silberstein, das zu meiner Überraschung wirklich Samhain heißt. Jedenfalls steht das auf der Speisekarte. Ich warte. Vielleicht, denke ich, haben die Pächter gewechselt. Verändert hat sich sonst aber nichts: Ein sehr witziger chaotischer Ort, der mich von dieser Diskette wenigstens vorübergehend ablenken kann. Etwas Dunkel-Utopisches. Skulpturen stehen herum, die an H. R. Giger erinnern. Man sitzt auch auf Kunst. Das gibt dem sozialen Raum etwas Kultisches. Über der der Eingangstür gegenüberliegenden Wand leuchten Diaprojektionen. An die Wand ein Gedicht geschmiert:
Three things that enrich the poet
Myths, poetic power, a store of ancient verse
Komisch. Und drunter, auch das in den typischen Pop-Lettern:
Über wen lächeln die Rinder des Tethra?
Mein Nachbar ist an den Unterschenkeln bis hinab zu den Knöcheln tätowiert. Das seh ich, als er seine Socken richtet. Eine junge Frau hat sich einen Schlüsselring durch die linke Augenbraue bohren lassen. Die Stühle sind so schwer, daß sie beim Rücken nicht quietschen, sondern auf den Steinfliesen kreischen. Ich warte auf eine Person, von der ich doch weiß, sie ist nichts als Schimäre. Jedenfalls ahne ich es.
Vor mir, auf der Theke, die fürchterliche Diskette. Es hat keinen Sinn, sie loswerden zu wollen. Das habe ich zu oft schon versucht.
Zwei Frauen am Tisch nebenan. »Dazu bin ich zu verdorben«, sagt die eine. »Kennst du meine Alpträume?« fragt die andere mit aggressivem Unterton.
Vier Musiker betreten den Raum: Baß Tamburin Klampfe Gesang. Gitarrenhalfterung mit rotem Strick angebunden, kein Gurt. Nach drei an Rock und Afro erinnernden Songs packen sie ihre Sachen wieder. Einer geht herum und sammelt. So ziehen sie durch von Kneipe zu Kneipe.
Ein kurzer, sozusagen vorüberfliegender Flirt. Ich muß mir unbedingt angewöhnen, immer mitten in die Gesichter zu schauen. Mein Flirt löst ihr Haar. Leicht hängender Fettansatz unterm Kinn. Lose weite Lederjacke, schwarzer Rock, Nylons grauschwarz geringelt, Schuhe halbhoch.
Wie angenehm und fantasievoll es ist, eine nächste von hinten zu beobachten, allenfalls übers Seitenprofil sehr schräg, und sich vorzustellen, wie schön sie sei. Ihre Art, das Haar zu zupfen. Finger viertels in den kurzen Locken, die sind marmorbraun. Clips an den Ohrläppchen. Ein Clip schaut durch und korrespondiert mit dem Goldknopf am Jackettärmel. Spreizen der Finger. Der Daumen bleibt versteckt. – »Nee nee, bin nich’ mehr so al dente!« hör ich von hinter mir.
Das Leben wäre ein anderes, wär es einem nicht wichtig, das Alter zu erreichen. Dem, der Moment für Moment den Tod gewärtigt, fängt jedes Erlebnis zu glühen an, dem vibriert jeder Sinn. Denk ich und starre die Diskette an. Und spüre wieder, daß mich die Frau, die ich erwarte, an jemanden erinnert. An etwas. Nur hab ich vergessen, woran. Ich versuche auch nicht, darauf zu kommen, nein, das Gesicht ist mir fremd, die Gestalt ist mir fremd, das Haar ist mir fremd. Trotzdem hat sie etwas ausgeströmt. Einen Duft vielleicht? Lag es in ihren Gesten?
So starr ich vor mich hin und warte auf das, was Du, Buenos Aires, aus mir herausziehen wirst.
Erster Teil:
Europa