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Alban Nikolai Herbst

Thetis. Anderswelt

Fantastischer Roman

Elfenbein

Von Alban Nikolai Herbsts »Anderswelt-Trilogie«

erschienen bereits die Bände:

»Buenos Aires. Anderswelt« (2002)

»Argo. Anderswelt« (2013)

»Thetis. Anderswelt« erschien erstmals 1998.


Zweite, vom Autor überarbeitete Auflage 2018

© 2018 Elfenbein Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-941184-97-8 (E-Book)

ISBN 978-3-941184-22-0 (Druckausgabe)

Vorspiel

1 Die Qualität einer Stadt und also die der Aufzeichnungen über sie mißt sich an der Be­schaf­fen­heit ihrer Gehsteige, Fahrbahnen, an Unebenheiten, hohem und niede­rem Trot­toir. Ist dieses, wie im Westen, uniform aufs Marktniveau gebracht, so ist die Stadt selbst nur Äqui­valenz und sind es ihre Bewohner. Damit alle Fantasie perdu.

Ich aber will, daß Raum fürs Un­geheure bleibe.

Der ist auch im Kopf zu schaffen. Nur zu beobachten reicht nicht.

Ich will Dich Buenos Aires nennen. Ich nenn Dich nicht ­Paris, nenn Dich nicht Rom, schon gar nicht Prag, und auch Belgrad nicht und nicht London, geschweige so, wie Du heißt. Schon werdet Ihr alle mir eine. Und wo etwas fehlt, denk ich’s aus den Geschwi­stern hinzu.

Denn es fehlt vieles.

Die Stadt hat Lehm an den Füßen. Die Menschen wühlen, als würfen sie sich noch hellichten Tages unter stickigem Bettzeug auf ei­ner mit Unlust ge­stopf­ten Matratze herum. Spreche ich auf der Straße jemanden an, kann es gut sein, daß er meint, zurück­schlagen zu müssen. Immer stehen vor verschmutzten Fassaden auch verschmutzte Leute herum. Nirgendwo sonst sieht man mehr zersto­chene ge­peinigte Lippen Nasen Ohren. Die Narben der Häuser wiederholen sich in ihren Bewohnern. See­len sind es wie Bombentrichter.

Das reizt mich auf, Dich umzuer­finden.

Ich trete ins Treppenhaus, sperre die Tür hinter mir ab, meine Wohnhöhle schließt sich, wie Borkenbrods sich verschloß. Ich sollte den unterm Straßenpflaster wohnen lassen, denn seine Mutter ist Thetis, seine Seele muß im Grund­wasser stecken.

Aber sie steckt im Boudoir.

Die dumpfe Wärme im Hausflur.

Ich zähle die Stufen, schließe die Augen, sechs mal zwei halbe Etagen. Jedes Ge­räusch ins Hallen verfremdet, die Schritte knallend. Werden heller auf dem muffigen Hinter­hof, Gerü­che, wart mal, Gras und Stein, damp­fend vom Re­genguß nach der Hitze. Hausmüll. Die Augen auf, blinzeln: Ein Bäumchen zwischen Ton­nen und Fahrrä­dern, krumm, noch stehen Lachen auf der unebnen Pflasterung, versickern seitlich im Sand­matsch. Die Toreinfahrt durchs Vorderhaus, eine Art Tunnel, es riecht nach vergo­rener Gerste und der Pisse der Nacht. Das Portal rostigsteif in den Angeln, die Klinke fas­sen, ziehen, es knarzt. Hinaus auf die Straße, und sofort umschlägt mich ein Lärm, als würd ich in dichtere, in eine wollene Luft getaucht. Gleich rechts glän­zen nasse Stühle vor der irischen Kneipe. Und das Kopfsteinpflaster dampft. Stim­men jun­ger Leute. Diese eigen­artige, mir so fremde Lust an der Farblosigkeit.

Mein flinker Blick, der flirten will. Niemand ist bereit zu spielen.

Proletarismus, mag sein, doch ohne Proletarier.

Ich gieße einen Liter Neapel hinein.

Welch seltsamer Graffito!

Wer formt die Waffen von Berg zu Berg, von Welle zu Welle?

Hier war doch gestern abend noch ein Second-hand-Laden … Wo ist der denn hinge­kommen? – Städte sind Vorstellun­gen. Wie sie wirklich und wie wirklich sie sind, erfahren wir nicht.

Das Schnaufen einer angezogenen Lkw-Bremse Mo­peds schrill Fahrradgeklin­gel, es rattert ein Tor auf. Eine Dieselmaschine. Anfahren, stoppen, ich gerate ins Tru­deln. Ir­gendwo wurde hier gestern gebaut, es wird hier überall gebaut. »Heiße Birne, wa?!«: Ir­gend sowas.

Achilles Borkenbrod, immer eine Sprühdose bei sich, verläßt seinen Unterschlupf, eine aufgelassene Wohnung inmitten der Zentralstadt. Vielleicht. Oder eine Art Slum, wo­hinein nicht einmal Polizi­sten und Milizionäre sich trauen. Geht aber direkt in ein von Dienstlei­stungs­gewerbe brodelndes Handelsviertel über. Nicht aber doch Colón: her­untergekommene Altstadt?

Er schließt also die Tür hinter sich, aber das macht kein Geräusch. Es gibt auch kein Schlüs­selknirschen, klacken keine Schritte das Trep­penhaus runter, kein At­men – und wenn Bor­kenbrod auf die Straße tritt, bleiben sogar Motoren und Passanten stumm.

Er ist unruhig, sieht sich oft um, aber auf eigentümlich routinierte Weise: wie gewöhnt daran, mit Verfolgern zu rech­nen. Eine Ledertasche hat er um. Die Zuschauer müssen seinen Gang mit zugestopften Ohren verfolgen.

Ein Blinder, der fo­tografiert, macht eine Tonbandaufnahme.

Ich überquere die Stargarder Straße. Muß kurz wieder die Augen öffnen dazu. Überfah­ren will ich nun auch nicht werden. – Jemand spricht mich an. Nein, nicht mich, ein Irrtum. – »Bitte?« frag ich. »Verzeihung«, sag ich. Aber Borkenbrod – er nun tatsächlich – wird angesprochen, gleich­wohl alles wei­terhin stumm, außerdem hastig, sozusagen hinter vorgehaltener Hand. Man sieht je­doch, wie sich Lippen bewegen.

Borkenbrod macht eine Geste, um vielleicht den Weg zu weisen, die Kamera richtet sich auf seine Füße, die abermals zu schreiten beginnen. Leichtes Wip­pen der Ka­mera dabei, den Rhythmus der Augen gibt das wiegende Gehen vor.

Immer wieder die aufgerissene, gleich­sam verätzte Oberfläche eines sehr breiten Trottoirs. Die Steine grau strukturiert, graubraun, hell­braun, bis ins Gelbe. Wo der Gehsteig keine Brüche mehr hat, beginnt das Geschäft. Was Aufmerk­samkeit ab­zieht, po­tenziert sie in Wahrheit. Den einen Fuß in einem Schlagloch, das hier Tritt­loch ist und den Knöchel gefährdet; den anderen, balancie­rend einge­bogenen Knies, erhöht. Breite Gehsteigplatten aus behauenem Granit, eingefaßt bis­weilen in hü­geliges Kopf­steinpflaster, teils aufgerissen, frost- und hitzege­sprengt, schrundig, Sand … – und zur Fahrbahn bricht das Trottoir schroffe dreißig Zentimeter hinunter. Ein Abhang für den, der nicht aufpaßt. Die Bord­steinkanten nicht auf einer Höhe, alles Attacke auf Norm, jeder Über­weg Falle.

Borkenbrod überquert einen Fahrdamm. Die Kamera zeigt nur Reifen und die unteren Seiten von Autotüren, man spürt an der Stummheit, daß hier das Schicksal ei­nen vor­anzwingt. Lächer­li­ches Pathos, gewiß, aber gegen Gefühle kommt die Groß­hirn­rinde nicht an. Borkenbrod bleibt stehen vor dem Loch einer U-Bahn-Station. Noch einmal schaut er sich um. Dann hinab. Es riecht zuckrig nach kara­melisiertem Gummi und er­wärmtem Blech. Süßer Unterleibsgeruch der Stadt. Borkenbrod, jählings beeilt, geht auf den Bil­letautomaten zu. Kamerafahrt die Beine hinauf, Borkenbrod wühlt in der Ho­sentasche: Wir verfolgen seine Hand, wie sie sich zum Münz­schlitz hebt – aber nein, nein!, nicht in Echtzeit, sondern verlang­samt, ja sich ver­lang­samend, wei­ter, noch mehr, soll eine atemlose Dehnung werden, Anspielung, klar, aufs Schildkröten-Paradoxon, dann – SCHNITT: Die Münzen eingewor­fen, und jetzt erst, da Achil­les Borkenbrod das Ticket aus der metallenen Auf­fangmulde zieht, eine volle dräuende Welle Musik: Sibelius, 4. Sinfonie, 1. Satz, Takte 132. Bei Einsatz der Blech­bläser Vor­spann, leuchtende Schrift quer über die Leinwand:

Buenos Aires will ich, Hans Deters, Dich nennen

So könnte es gehen. Ja. Noch immer keine Stadt­ge­räusche, aber die Musik. Un­ter dem allen Musik. Die U-Bahn fährt ein. Freilich ebenfalls lautlos, überhaupt kein Rattern. Das nämlich erst, nachdem sich hinter Bor­kenbrod die zweiseitigen Waggon­türen ge­schlos­sen haben. Vorher soll ihm etwas wi­derfahren sein. Dazu muß ich die Stadt in meinen imaginären Zugriff bekommen.

Sie ist wenigstens drei ver­schiedene Städte: eine, die in die Augen fällt und den Sehnerv affiziert. Sie ist zudem die Stadt der Geräusche. Vor allem jedoch ist sie Stadt meiner unausgesetzten Er­findung, obendrein in heidnischer Weise dreifaltig: Stadt des Fußwegs, der öffentli­chen Verkehrsmittel, der Privatkraftwagen.

Und niemals soll, wer eine Stadt erschreitet, sich vorbereiten. Man erschreitet sonst nichts als seine Lektüre. Was hilft es mir zu erfah­ren, aus welchem Familien­schoß die hübsche Frau gewor­fen wurde, die mir eben einen Blick ver­gönnt hat? Es ist mir ganz egal, wer sie ist, ich will ihren An­schein. Um Straßen kennenzulernen, muß ich ihnen fremd sein: wie einer die lange Geliebte nicht mehr er­kennt, sondern sieht nur noch die Geliebte-im-Innern und merkt keine neue Falte mehr. In der Stadt muß jeder immer der erste Mensch auf dem Mond sein. So geh ich unvorgebildet und bin doch, zu mei­nem Jammer, gebildet bis ins Mark. Meine Schritte, meist zügig, die Schnei­sen Plätze Kreu­zungen durchmessen, werden nach einer halben Stunde zur rhythmischen Grun­dierung, einer Art Hintergrund­rauschen. Dann seh ich nur noch Wand Denkmal Bäc­kerei und weiß eben nicht mehr: Osten Westen Lohnniveau. Dann erst bin ich in Bue­nos Aires an­gekommen.

Borkenbrod sitzt in der U-Bahn und starrt aus dem Fenster. Kameraschwenk in den Scheibenspiegel, Borkenbrods Gesicht, näher heran, der Anblick wird unscharf, ver­schwimmt, wir konzentrieren uns auf die etwas geöffneten Lippen, noch näher, dann hinein: Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, stürzen wir die Kehle hinab. Un­schärfe, man dreht am Objek­tivring, nun konturiert sich das Bild: Straßen­panorama, noch Dunckerstraße, dort, wo jetzt ich steh.

Und Borkenbrod öffnet nach innen die Augen. Er beobachtet mich. Aus mir.

Die Geräusche weichen zurück. Ich habe, anders als er, kein Bedürfnis, an Wände Gedichte zu sprühen.

Gegenüber sit­zen Leute draußen, man wird die Be­stuhlung trockenge­wischt haben. Direkt vor mir, eigentlich hübsch, doch das Haar nicht gewaschen, eine junge Frau. Lehnt an Schutt­wand. Das Gesicht auf Blässe geschminkt, aber siechrot die Lippen. Beide Ohrränder, wie eine Wundnaht, durch­löchert. Be­hängt mit Kinkerlitz­chen. Einen Ring durch die Nase­scheidewand gestochen. Das Ziel der Frauenemanzi­pation restlos erreicht. Da baumelt es nun, dieses Ziel, unter den hüb­schen Nüstern und wartet auf Erfüllung.

Muß es nicht länger: Ich habe stets eine Metallkette durch die Gürtelschlaufe ge­zogen, ein kleiner Karabinerhaken ist befestigt daran, der steckt, als wär es eine Ta­schenuhr, in meiner Weste.

Sie steht also an der Hauswand, von der Fladen und Fetzen blättern. Mißgelaunter Blick auf meine Krawatte. Ich schreite erst langsam an ihr vorbei, dann spontane Kehre ihr zu, den Karabiner­haken zwischen Daumen und Zeigefinger, Vorstoß, hab das geübt, es klickt. Schon der Nasenring in der Öse. Da schnalz ich einmal mit der Zunge. Die junge Dame sprachlos. Ich wend mich um und zieh sie hin­ter mir her. Sie brüllt los, es muß ziemlich wehtun. Wenn’s nicht bluten und der Na­sensteg hal­ten soll, wird sie mir folgen müs­sen.

Es ist ganz wunderbares Sommerwetter.

Paar Leuten bleiben stehn und gaffen. Drei Typen applaudieren. Ich lächle. Und mit mei­ner Beute immer die Straße entlang. Will meine Geisel sich wehren, reiß ich knapp an der Kette.

Am Helmholtzplatz schäumt grün – besinnungs­los und geil nach Erde rie­chend – der kleine Park. Die junge Dame zetert und jault im Ge­schlepp. Das wird mir zuviel. Ich löse die Kette aus der Gürtel­schlaufe und mach sie mit einem Abusschloß an einem Ring für Hundeleinen fest. »Arschloch!« brüllt meine Freundin. »Beschissenes Arschloch!« Doch sie hält still. Hörte sonst Engel im Himmel, an die sie nicht glaubt. Unter meinen Füßen knirscht der Sand des Weges, zur Seite ra­schelt Gebüsch, das sehe ich nur, kann’s nicht hören, denn unabläs­sig rattern Automobile, klir­ren Schei­ben, schnaufen Hydrauliken. Kieksige Schreie. »Äh! Geil!« ruft ein Junge, und als ich mich entfernt habe und am andren Ende des Platzes noch einmal umdreh, seh ich die Angekettete von einem Pulk Piercing-Freunde umschart.

Ich schließe die Augen wieder.

Noch immer starrt Borkenbrod sein Spiegelbild an. Die U-Bahn erreicht die näch­ste Station, bremst ab, eine Halle, auf dem Steig eine doppelrei­hige Sitzbank, aus de­ren Lehne Verstrebun­gen wachsen. Die wiederum halten ein längli­ches weißes Schild mit schwarzglänzender Schrift.

CHELSEA – BUENOS AIRES

Kein Mensch zu se­hen. Borkenbrod steigt aus. Aberneuer Ge­schlechtsduft, leicht spitz, eine Spur Urins darin. Jetzt keine Musik mehr, sondern nur Geräusche, einfacher O-Ton: Schreiten, Stimmen, schleifendes Aus- und Ein­fah­ren der Métrozüge. Jeder Ton hallt lange nach, ganz besonders hallen lassen es die Absätze von Frauen­schu­hen. Vom Ausgang herunter fließt Licht.

Ich wende mich um.

War ich bislang eher zögernd gegangen, verfall ich nun in meinen alten Schritt. Ich will zum Kalemegdan-Park. Hab Lust, auf Sawe und Donau hinabzusinnieren. Bin aber ja noch immer auf dem Prenzlauer Berg. Alle­gro ma non troppo voran.

Über die bröckelnde rote Mauer hinweg quillt ein herber sirupartiger Un­krautduft, schwarzer Johannisbeergeruch aus Kindheitsgärten. Dann kommt die Station PA­LERMO in Sicht. »Palermo – Buenos Aires«, das ist keine Erfindung. Die U-Bahn fährt auf der Hoch­strecke. Gründerzeitliche Bahnhofskonstruktion aus Gußeisen­ver­strebun­gen, als wär ich schon in Paris. Matt moosgrün lackiert. Darunter lärmt der Verkehr. Dann geschieht’s. Der Vietnamese, bei dem ich meine Schmugglerzigaretten kaufe – ein schmales Männ­chen mit erbarmenheischender Trichterbrust – wirft, da ich mich nä­here, einem nächsten ein Päckchen zu, sehr flach, quadratisch, kurzer eckiger Dis­kus und kaum höher als eine Zi­garillodose. In braunes Packpapier ge­schnürt. Und der an­dere, wie überrascht, greift zu. Doch als schriee er auf vor Ent­setzen, läßt er’s fallen. Es ist, als hätte man ihm eine Rasier­klinge durch die Hand­fläche gezo­gen, und tat­sächlich spritzt bißchen Blut weg. Schon flitzt ein Dritter bei, ein jugendlicher Punk mit rosa aufgespitztem Schopf, unterschlüpft noch die bal­listi­sche Kurve, die das Päckchen ge­nommen, packt zu, faßt das Ding und stürzt damit fort Richtung Schönhauser Allee.

Ich steh am Bordstein, um mich her tiefe Lachen vom Regen vorhin.

Der Vietnamese be­trachtet mich stumm, der zweite Vietnamese wendet sich den Ziga­retten zu, die auch er feilhält, und Borkenbrod, noch in der Métrostation CHELSEA stehend, den Auf­stieg hinauflugend, blinzelnd ins Hallen und lauschend aufs Licht, wird angerempelt. Das erste Wort, das wir in die­sem Film von ihm hören, ist ein schwedi­scher Fluch. Höchst verdutzt blickt er in seine zu ei­ner Schale zusam­mengefügten Hände: Er hält das Päck­chen darin.

Ich erwidere den Blick. Mir ist, als wär ich in eine fremde Erzählung gefallen, in der mich niemand mehr auffangen wird; schon gar nicht wird es der Viet­namese. Der wartet geduldig auf mich.

Wartet drauf, daß ich was sage.

Wollte ich nicht Zigaretten kaufen? Er hält beharrlich seinen Blick auf mich. Da wend ich mich weg. Ob ein Spaziergang Spuren im Geist hinterläßt, erweist sich daran, wie schnell ei­ner wieder zum Schuster muß.

Hinüber.

Stets hört Buenos Aires irgendwo auf, stets fängt es seltsam wieder an; weite Trichter und Ebe­nen, macchiabewachsen oder voll ausgestreutem Nichts und be­den­kenlos ab­geladenem Schutt, sind zwischen die Stadtbezirke genäht wie brüchige fladenbreite Fontanellen.

Zwischen dem Monte Pellegrino und dem Parque del Retiro breitet sich ein etwa zwölf Quadratki­lometer umfassendes schreckliches Gelände aus. Man nennt es Sarajewo. Der wüstenartig heiße Wind, der bisweilen in die angrenzenden Wohngebiete einfällt, trägt oft Mi­krobenstaub mit sich. Morgens liegt er dann, eine hauchdünne gelbe, doch sehr dichte und wie nasse Schicht, auf den Karosserien. Er dringt in alle Fensterfugen. Kli­maanlagen wälzen ihn um. Wer et­was davon ein­geatmet hat, kann süchtig werden. Manche machen sich nachts dann auf. Jedes Jahr kommen in dem von Höhlen und Fallgruben und Labyrin­then aus Fahrzeugwracks durchspickten Gebiet durch­schnittlich zweiundzwanzig Menschen um. Jeden­falls bleiben sie verschollen. Wenn sich Such­trupps hineinbegeben, verschwinden auch die. Deshalb hat man um das Gelände einen drei Meter hohen Zaun aus Natodraht gezogen, an dem Grenzschutzsoldaten patrouil­lieren. Es heißt zudem, das Areal sei von Kannibalen bewohnt, die nächtlich Blutorgien fei­erten. Aber dafür gibt es keinen Beweis. Nur daß man bisweilen, steht man zwischen zwei und drei Uhr in der Frühe an der Nachtbushaltestelle Potsda­mer Platz und blickt auf den sich unabsehbar dehnenden Stachel­drahtzaun hinüber, aus ferner Tiefe ein heulendes Singen und Bongotrommeln, aber auch Techno­pop vernehmen kann.

Ganz im Südwesten, weit unterhalb Neapels und jenseits Colóns, schließt Chelsea an. Das ist ein reicher, aber diskreter Kiez von Buenos Aires. Am rechten Ufer des Tibers langt er im Süden bis nach Zehlendorf, wo der Protz herrscht, und im Westen bis La Villette, wo die Arbeitersiedlun­gen lie­gen: kilometerlange Prospekte von Plattenbauten und Hoch­haus­komplexen aus pappi­gem Mate­rial mit Fensterscheiben aus dünnem wel­ligen PVC, je­des Stockwerk birgt an die dreihun­dert billige Wohnungen. Chelsea hinge­gen wirkt beinahe ländlich. Rote Backsteinvillen hinter gepflegten Rabatten mit Stief­müt­terchen und Hecken aus Sanddorn, der Hauseingang stets ein halbes Stockwerk er­ho­ben, paar Stufen führen zur polierten Kirschholztür hinauf.

Borkenbrod verläßt nun endlich die U-Bahn-Station. Sie führt ins Freie gegenüber dem Haus, worin Abraham Stoker starb. Borkenbrod weiß das aber nicht. Ich werd, für ge­bildetes Publikum, eine Anspie­lung ma­chen. Zufällig fährt die Kamera an einem Mes­sing­schild vor­bei, worauf steht: »Jonathan Harker’s Son, Attorny in Law«.

Sinnierend läßt Borkenbrod das Päckchen von der Rechten in die Linke wechseln und zurück in die Rechte. Soll er’s öffnen? Es steht eine Adresse darauf. Ihm ist sie aber nicht bekannt.

Das Ding ist auf ei­gentümlich lockere Weise schwer. Wie nasser Sand. Er hält es ans Ohr, schüttelt vorsichtig. – Nichts.

Die Straße afrikahell, es wird Mittag sein. Die Leute liegen hin­ter Moskito­netzen auf Betten und schwit­zen Kopulationsträume aus, die in Tropfen über den Oberlippen ste­hen oder milchig in die Kopfkissen seimen. Ein paar Ki­lometer ent­fernt, in La Vil­lette, werden in die Realisierung solcher Nervositäten Buben und Mädel trainiert. Täg­lich schmuggeln La­ster containervoll Kinder aus dem Osten hierher. »Verderbliche Le­bensmittel« steht auf den silbermetallenen Truhen.

In der Weite, im Hitzedunst, ver­wolkt sich der Fernsehturm überm Alex. Eine Stadt muß Zeitsprünge machen. Zeit wie ein Ding, das sich durch die Prozesse hin­durch be­wahrt und doch nicht unverändert bleibt. Ganz so, wie ich täglich meine Haarfarbe wechsle: Wer in die Anderswelt tritt, verliert die Stetigkeit der Zeit. Städte sind Urwäl­der Dschungel: Es öffnet sich ein Tor wie eine Tür im Berg, durch die du in ihn hinein­trittst. Kommst du nach wenigen Stunden wieder heraus, sind draußen sieben Jahre vergangen. Hiergegen wird mit Willen geglättet und die unterirdische unterseeische Flut sie zivilisierend kanalisiert. Sie spült auch wirklich Schrecken mit, doch mit dem Schrec­ken Lust.

Drüben entsteht ein Glaspalast. Schon jetzt, noch im Bau, darf er keine disparate Zeit in sich tragen, sondern seine Bauherren fugen die aus. Noch rettet ihn das Nachbarge­bäude: Voller Seel, die so drückt, versucht in der bröckelnden Mörtel­wand die Ge­schichte, ihr Atmen zu halten. Und wirklich atmet sie, bis ein Bagger sie irgend­wann wegreißt. Dann klaffen kurz noch Narben, durch die man einen Ein­stieg finden kann. Wird auch das geglättet, bleibt ein wie Chrom so küh­les Schwei­gen. Die Moderne kom­postiert nicht, sie ent­sorgt.

Noch gibt es Löcher in der Realität. Für den, der sie sieht, sind es Tore.

Jetzt aber wirklich die Straße überquern. Das verlangt eine Aufmerksamkeit, die nicht sieht, son­dern sich vorsieht, was das Gegenteil ist. Unter das Lattengerüst, an den run­den Misch­maschinchen vorbei, den Spaten Zementhaufen provisori­scher Durchgang, dann drüben der Zeitungs­kiosk und noch drei Vietnamesen­schmuggler, schließlich 180-Grad-Linksschwenk, die Tunneltreppen zu den Bahnsteigen hinauf. Na bitte:

PALERMO – BUE­NOS AIRES.

Es warten Polen Chinesen Tschechen Russen. Die lächeln zwar auch nicht, se­hen aber neutral aus. Außerdem zwei ältere Fast-Food-Verbrecher, gewiß US-Touri­sten, sind immer an Shorts und T-Shirts zu erkennen. Und, übellaunig oder verblasen, die Deut­schen: Ein Pulk schnit­tiger Wessis sowie paar AltDDRler. Denen ist der Aus­druck von Kleingartenkapos ins Gesicht tä­towiert.

Geratter. Rum­peln. Die U2 Richtung Simmering.

Ich kann bis hierher Schrammeln hören.

Borkenbrod ist derweil zum Tiber spaziert. Vor der eleganten luftigen Albert Bridge steigt er zu den verlassenen Chelsea Embankments hinunter, die kniehoch mit ver­dorrtem Gras bewachsen sind. Aufgerissene Matratzen und Federkernspiralen lie­gen herum. Ich betrete die U-Bahn, setze mich, wir rumpeln davon. Jemand tritt auf Bor­kenbrod zu, sieht aus, als ob der was wollte von ihm. Ein Penner, der die Obdach­lo­senzeitung verkauft. Man merkt, er hat seine Ansprache mühsam erlernt. Borken­brod schüttelt den Kopf. Der Penner insistiert. Borkenbrod schüttelt nachdrücklicher den Kopf, läßt den Ver­wahrlo­sten stehen und begibt sich flußabwärts.

Es ist andalu­sisch hei­ß geworden, sensationell für das Englische Viertel. Die Klimaanlage ist ausgefallen. Bor­kenbrods Schritt hat etwas durch­aus Zielstrebiges. Seit er von den Landshuter Frauen gedrillt worden ist und besonders seit er jetzt hier im Untergrund kämpft, hat sein einmal so mädchenhaftes Gesicht energi­sche, fast grausame Züge ange­nommen.

In der Ferne ist der Natodrahtzaun zu erkennen, der ein Stückchen noch dem Tiber­u­fer folgt.

Die U-Bahn fährt in die Tiefe, es wird dunkel, ich nehme die Sonnenbrille ab.

Am Senefelderplatz steigt eine Frau ein, um die vierzig, schätze ich, vielleicht dreißig; sonderbar elegant für Buenos Aires und eigentümlich hochgewachsen. Über eins­achtzig gewiß. Ein schmales arrogantes Gesicht, die vliesgoldnen Haare auf­gesteckt, was den Körper streckt. Etwas Tierhaftes an ihr, schlangenartig Kätzisches. Woran erinnert sie mich?

Ein Gazerock spielt über den Knien. Um ihren Oberkörper schmiegt sich ein Bustier aus weißer Spitze. Sie bleibt direkt vor mir stehen. Seh ich gradaus, blick ich ihr aufs Sonnengeflecht. Und erschrecke: Ihre beiden Hände sind wie mit Identifikationsmustern über die Finger und den Rücken bis zu den Unterarmknochen tätowiert. Wie ein feiner gegerbter Handschuh sieht das aus.

Ich spüre, sie schaut auf mich herunter.

Borkenbrod hat sich einer grob zusammengezimmerten Hütte genähert, bleibt ei­nen Mo­ment stehen, strafft sich, geht weiter. Mit dem rechten Unter­arm wischt er sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann langt er an, die Hosenbeine voll Kletten und Haar­nadelsporen. Er streckt zögernd die Linke aus. In dem Moment, da seine Fin­gerknöchel an die Holztür pochen, wird der Ton schnell wieder weg­geblendet. Ein aku­stisches Va­kuum bei allerhellstem Sonnenlicht. Sowas dehnt noch das Warten. Als die Tür aufgeht, sofort Musikeinsatz: Sibelius’ Vierte, wieder 1. Satz, aber Takte 1947. Näm­lich steht die hochgewachsene Dame vor ihm. Er streckt ihr, den Blick ge­senkt, das Päckchen zu. Sie reagiert nicht. Er sieht zag­haft auf, un­gewöhnlich schüch­tern für einen Terroristen. Sie lacht. Man hört es nicht, aber sieht ihren Mund. »Kommen Sie heute abend ins Café Samhain«, sagt sie. Kann sie nicht sagen, denn es gibt ja keinen Ton jetzt im Film, nur die Musik. Sagt sie aber trotzdem. Sie wiederholt es sogar. Da erst merke ich, daß sie nicht Borken­brod meint, sondern mich. Und nicht im Film, sondern in der U-Bahn, hier, in der Realität. Nun muß ich aufschauen. Neongrüne Au­gen. »Wie bitte?« frag ich, noch immer den Blick auf ihren Tätowierungen. »Wohin?« »Ins Samhain.« »Kenn ich nicht.« »Aber neben der Synagoge doch, neben dem Café Orèn …« »Sie meinen das Silberstein …« »Wie Sie wollen. Holen Sie das Päckchen und bringen Sie’s mir«, sagt sie und lächelt. – Wenn ich nicht aufpaß, werd ich unter ihrem Blick noch rot. – »Ich kann Ihnen nicht sagen, wann ich da sein werde. Warten Sie auf mich.« Welch aufreizender Ton! Mitleidig fast. Und außerdem … – »Aber ich komme in jedem Fall!« »Moment mal!« rufe ich aus. »Das geht nicht!« Der Zug rattert in die Station Porte de Clignan­court, nein, Alexanderplatz, nein, Hyde Park, ach ich weiß es doch nicht! Geb mir einen der­ben Ruck, die Frau ist fort. Ausgestiegen wohl. Leutemas­se drängt herein und drängt sich draußen auf dem Bahnsteig, ich kann die Frau nicht mehr sehen.

Ich versuch, mich zu erinnern, war sie blond, war sie brünett? Sie hatte schwarzes Haar?

Was rief sie mir ins Gedächtnis zurück? – Nichts doch, nichts!

Vor Borkenbrod ist die Tür wieder zugegangen. Jetzt habe ich nicht mitgekriegt, was die Frau ihm aufgetragen hat. Er nickt gegen die ge­schlossene Hütte. Er wischt sich aber­mals Schweiß aus Stirn und Geheimratsecken. Als die Tür zufiel, brach auch die Musik weg. Spatzengezeter und sirrendes Zirpen von Grillen. In der Ferne hupt wer. Man kann das helle Grollen einer Chessna vernehmen, die nicht sehr hoch über Chelsea in Richtung Tempelhof fliegt. Wir glau­ben, das dörre Gras zu riechen, so pa­storal wirkt das Bild.

Hausvogteiplatz, ich glaub es nicht. Habe doch glatt, seit die Frau wieder weg ist, drei Sta­tionen überfahren. – Was soll’s?! Raus jetzt und hoch zum Gendarmenmarkt. Ein Ja­panerschwapp. Ich bleib stehen, blicke mich um. Das Gefühl eines Dufts knapp vor Rom.

Der Gehsteig als Ge­schichte, als Antlitz mit Falten und Augen|Blicken und wieder einmal, vor lauter Leben, unra­siert, und nach Schweiß riecht es, es riecht nach Par­fum und nach Kohle. Nur weiter! Weiter über die Via Nomentana, Unter den Linden, rechts West­minster Abbey, links die Kathedrale von Chartres, einen knappen Kilometer öst­lich von Wellington’s Monument, dahinter er­strecken sich die Champs-Élysées bis nach Sevilla. Aber man ahnt es nur noch, sinn­lich ist es kaum mehr wahrzunehmen: Mari­tim und MacDonalds versperren die Sicht.

Hinter den Bauzaun.

Ein Hinterhof, ein zweiter, ein dritter, verbunden durch feuchte sich verdäm­mernde Tunnel. Wohin führen die? Ruhe. Glockenläuten. Ein schleifendes Knirschen. Immer noch Glocken. Woher nur? Kühl ist es hier. Der Fuß knickt mir weg. Ich humple ein Stück weiter, drei Türen. Und bezaubert bleib ich vor einem Grasbü­schel stehen, das, in absehbarer Zeit jedenfalls, niemand jäten wird. Es birgt – nein: ist ein Geheimnis, weil dort, wo es nicht funktio­niert. Eben kein Begrünungsplan. Uralte Farbe blättert vom Holz­kreuz. Links, auf die Tür graffitiert, steht fuck off!, milchiges Grünrot.

Zurück und hinaus, Straße weiter eine Auto­werkstatt Baugerüst Kübel, bunt schillert Öl. Der Gehsteig ge­bor­sten, als hätte den Stein von unten etwas hinaufgepreßt oder als wäre er von den Stra­ßenenden her zusammengeschoben worden: alles Spuren von Nächten Ta­gen Ge­lächter Heulen Schlägereien Liebkosungen. Alles ist da. Wer hier nach Moral fragt oder nach Wohlstand, schüttet Leben weg.

Bürgersteige ebnen, damit man die Straßenseiten leichter wechseln kann, heißt: einen geheizten Aufzug auf den Mt. Everest zu installieren: Alles soll allen zu­gänglich, alles soll zu kaufen sein. Und dann sitzen sie da auf den herrlichsten Gipfeln der Welt, bei Schwarz­wälder Kirsch und Prosecco, und machen es den Lebenden bitter, noch irgend einen Gipfel in Lust auf Schweiß und Gefahr hinaufzuklimmen, weil, was sie oben dann fin­den, vergammelte Coca-­Cola-Dosen sind. So ist es auch mit den Städten. Dein Atem, Buenos Aires, wird Dir weg­gepflastert werden, an den roten, normiert zugeschnit­tenen Industrie­sandsteinen wirst Du ersticken, und all die Abweg­senken für Kinderwa­gen und Fahr­radwege werden dich kotzen ma­chen. So wird das Gut­gemeinte Dir Stück­chen für Stückchen die Seele ziehen. Ach es ist Dir, bevor sie Dich bereinigt haben, eine Reiseliteratur Deiner Geh­wege not! – Doch weiter, nur wei­ter!

Über den Ponte dell’Accademia an der Basilika vorbei. Dunkelgrützig schim­mert der Spreekanal, der drüben in die Themse fließt. Mit Touristen vollgestopfte Ba­teaux mouches tuckern darüber. Lautsprecher plärren übers Deck. »Voilà la Basilique du Sa­lut, on y peut regarder les icones de la Notre-Dame Noire …« Die Schiffchen zie­hen ei­nen Duft von Diesel und Sonnenöl hin­ter sich her. Ich lehn mich für einen Mo­ment übers Geländer und schau mir diese vorgeschobene Punta della Dogana an. Links am Ufer hockt ein Angler und holt einen Fisch mit Geschwülsten ein. Die rosawunde Schuppenhaut glänzt bis zu mir hoch.

Borkenbrod dürfte unterdessen die U-Bahn-Station EASTERN CHELSEA erreicht ha­ben.

Etwas Wind ist aufgekommen. Nervös heb ich den Kopf, schnuppre in Richtung Na­tozaun: Trägt der Luftzug Sandstaub mit? Er weht aus gefährlicher Richtung. Bor­ken­brod treppt in den Untergrund ab. Dumpfe Warmluft steht im Gewölbe. Es riecht nach Desinfektionsmitteln und Silberfischchen. Er hält das Päckchen jetzt fest in der Hand.

Eine ju­gendliche Schlampe schlurft auf und ab und schabt eine Bröt­chentüte mit den Schlappen vor sich her. Schlunzt nä­her, bleibt stehen, wippt mit den Hüften und zieht den schmutzigen Baum­wollrock bis zur Mitte eines ihrer speckigen Oberschenkel rauf. Wippt noch mal, schnellt die Zunge raus, und einmal flink vom rechten Mundwin­kel zum linken, schlupft die Zunge wieder weg. Zwinkert. »Nein danke«, sagt Borken­brod. »Verpiß dich doch, Wichser«, sagt sie.

Ich muß unentwegt an die Frau in der U-Bahn denken. Auch sie nur eine Fantasie, die Du, Buenos Aires, mir eingeflüstert hast? Zwar, ihr Gesicht hat sich vollständig ins Sommerlicht aufge­löst, aber mitunter ist mir, als rollte ihre Stimme auf dem Wasser, oder sie riefe mich aus Richtung Monbi­joupark an. Dadurch komm ich hoch aus meinem Dämmern.

Da richt ich mich auf, dann schreite ich ganz die Brücke ­hinüber. Das Café Silberstein nicht mehr fern, doch ist es noch zu früh. Immerhin bin ich mir sicher: Das war mit Samhain ­gemeint.

Ich fange zu stöbern an, wittere in jeden Hauseingang, ein läufiges Tier, nestflüchti­ger Weibchensucher, man hupt den aus dem Weg, man flucht ihm nach, man hebt die Fäu­ste gegen ihn, wenn auch nur in die Luft. Da ärgert er, erbost er sich, er schimpft zu­rück und geht den andren auf den preußisch-teutonischen Leim. Dreht sich um, und die Basilica della Salute schrumpft ins Bode­museum ein, die Themse verdünnt sich zur Spree, und das Aben­teuer wird karg. Wolkiggrauer Schaum klätschelt an modrige Kais. Borkenbrod ist in die U-Bahn ge­stiegen und weggefahren. Es riecht nicht, es stinkt. Nach Scheiße, nach Abga­sen, verschimmeltem Müll. Nach ver­späteter Jugend­bewegung. Alles angegammelt. Auf den Hausdächern liegt als Asche Schuld, die man sich übers Haupt wischt. Wie ei­nem entlassenen Sträfling das Gefängnis lebens­lang an­hängt, ist diese Stadt mit Geschichtsschuld beklebt, die man schon des­halb nicht ab­zieht, weil der Schuldbewußte sich immer auf der guten Seite weiß.

Da spielt sogar die Witterung mit. Buenos Aires ist häßlich zwei Drittel des Jahres. Alles kühlfeucht bis eisnaß und schmierig verrußt. Ganze Straßen­züge Abbruch. Doch welch ein Erwachen, wenn, wie heute, unversehens der Himmel strahlt! Das ist ein sol­cher Überfall, daß sich die schäbigste Laune vor lauter Erschrec­ken vergißt. Auch schon, weil gegen all die grüne Pflanzenglut kein Ankommen ist. Die Gesichter sogar – ge­meinhin von unglücklich durchzechten Nächten und von Lebens­überdruß blaßgrau be­stäubt, wenn sie sich nicht schon freiwillig leichig schminken –, ja die Arme und Schul­tern kommen um eine ge­wisse Bräune nicht mehr herum, die tat­sächlich, man mag es kaum glauben, von der Sonne rührt. Dann schwipst eine losere Stimmung, und Buenos Ai­res reibt sich das Bindegewebe aus den Augen, das sie sonst so zäh verklebt. Dann durchziehen leichte Töne die Straßen, dann rau­schen die Bäume, und es schwingen überall innere Lampions. Doch abermals fängt es zu regnen an und reg­net klamm in die Menschen hinein. Schon klumpt es sich wieder, es gibt rein keinen inneren Wider­stand, und der Tanz kam nicht von innen, war nicht Bedürfnis, sondern Reflex. Schon sind die Leute froh, in ihre schlechte Laune zurückzufinden: Flagellanten, wohin man blickt. Und keiner mehr geht aufrecht, sondern jeder trägt seinen miesesten Kontoauszug auf der Stirn.

Friedrichstraße, fast schon die Grenze Venedigs. Drüben, im Westen, der Bois de Boulogne, den die Champs-Élysées durchschneiden und der im Nordareal inmitten ausgedehnter Wiesenflächen und lockerer Wälder von Buchen und Ulmen die Königli­che Oper birgt. Zu den berühmten Aufführungen fährt man abends privat teils mit Kut­schen, teils mit modernsten Schwebegleitern hinaus. Weil der Besuch nicht teuer ist, quillen aus den U-Bahn-Stationen meist Hundert­schaften. Die letzten fünf Kilometer müssen zu Fuß bewältigt werden, da es im Bois de Boulogne keine öffentlichen Ver­kehrsmittel gibt. Doch vorher bereits haben viele weite Strecken zu­rückgelegt. Die Leute wäl­zen sich aus den entferntesten Vierteln hierher, aus Bar­celona, Prag, ja von München sogar kommen sie, wo nur geistig Behin­derte leben, die den Produktionspro­zeß störten und ausgegliedert werden mußten. In Straubing wer­den sie so lange in psychiatrischen Lagern konzentriert, bis ihre Demenz behoben ist. Die unheilbaren Fälle werden nach Osten abgeschoben. Über den gehen nur Räuberpistolen.

Eiserner Steg, darunter wieder die Themse, dahinter der Tränenpalast, darüber die Sta­zione Tiburtina. Stolz erhobnes Stahl- und Glasgewölbe. Das Trottoir aufgeris­sen und überall Baustellen und Kräne und Lastwagen und zerfetzte Plastepla­nen. Sandler schie­ben auf Einkaufswagen getürmt verschnürtes Habe. Da­zwischen die Rei­senden Ge­schäftsleute Einkaufsbummler. Es wird getütet und gekof­fert und gewuchtet. Vor Sandkübeln lie­gen Informatikfixer herum, Simulaskope wie Motorradhelme über die Köpfe gestülpt, von den Au­gen stehen absurde Okulare ab. Durchbeulung Wühlen Gestein. Ungefüge Aufeinander­brüche, wie Berge sich falten. Der Gehsteig als Ur­land­schaft mit Tausenden Schatten Ebenen Flußtälern. Haie und Un­terseeboote kreuzen darin. Jede Pfütze Ozean. Wind und Kälte und Hitze ha­ben Fur­chen ins Pflaster ge­wetzt, durch die ich in meinen Hörselberg steige. Dann wandr’ ich durch Schächte ei­ner höllischen Lust … – »Haste maa ne Mack?«

Zwinkern. Aufblicken. Komplett abgedreht, der Typ. Drei eingerissene Alditüten hän­gen ihm am linken Arm. Die Rechte mir zugestreckt, zur Gänze verhufte Fingernä­gel. Augenhöhlen wie Ölbohrlöcher. Wer jedem Bettler in Buenos Aires was gibt, wird selbst zum Sozi­alfall. Gibt man ihnen aber nichts, bringt man sie um. Nachts patrouil­lieren Müllautos durch die Viertel und sau­gen die Obdachlosen vom Straßen­rand. Ich krame also in der Hosentasche rum. Kriege ein Geldstück zwischen die Finger, ziehe es raus. – »Gracias, amigo«, sagt er. Ich schau ihn wohl ziemlich verdutzt an, denn er muß lachen. Lacht ausgesprochen hell. Lacht geradezu intelligent. »Follow me«, sagt er. »Wie bitte?« »Venga!«

Erstaunlich gewandt läuft er mir voraus, sieht sich nicht mehr um. Ins Bahnhofs­ge­bäude, nicht die alten Treppen nach oben hinauf, wo die Züge der Ost-West-Achse halten, sondern an langgezogenen Bretterverschlägen aus nachlässig geschliffenen hel­len Holzplatten und billigen Krimskramsläden vorbei. Wogen aus Menschen schwellen uns entgegen. Es riecht nach Mörtel, alles hier ist Baukulisse. Schon fährt die S1 ein. »Richtung Laguna Morta zurücktreten bitte!« Ich schlüpf grad noch so rein, versuche, den Mann was zu fragen, er legt einen Finger auf die Lippen. Zwei Sta­tionen nur, am Potsdamer Platz gibt er mir einen Wink, und wir steigen aus. Ich folge ihm beklommen. Es ist völlig klar, er will an den Zaun.

Ein Wirrwarr aus Brettergassen, Krach von Bohr- und Schleifmaschinen Hämmern. Robo­ter schweben an den Wänden lang und ziehen ihre Materialschläuche hinter sich her. Wer nicht aufpaßt und nicht ausweicht, wird kurzerhand überrollt oder sonstwie zu Bo­den gerissen. Wer dann nicht mehr rechtzeitig auf die Füße kommt, über den trampeln Passagierströme weg. So gefährlich ist es, hier stehenzublei­ben. Davor warnen unübersehbar, und zwar an jeder Bie­gung, erleuchtete Pikto­gramme. Und auch Lautsprecher, aus denen in leiser Perma­nenz gemäßigte Klas­sik rieselt, schnarren halbminütlich ihr »Passen Sie sich dem Ver­kehrsfluß an!«. Trotz­dem bleiben immer wieder besonders alte Leute liegen und wer­den abends von den Putzma­schinen in Haufen zusammengekehrt, von Scan­nern an­hand der Fingerabdrücke iden­tifiziert und aus den Meldedateien gelöscht. Klei­dung und Gepäck werden der Wohl­fahrt zugeführt. Was mit den Leichen geschieht, entzieht sich meiner Kenntnis.

Wir kommen aus dem Schacht, der ganze Platz ist Baustelle zugleich und Trüm­merfeld und lärmender Verkehrsknotenpunkt. Je nach Tageszeit wird die Straßenführung geän­dert. Busse Laster Schwebegleiter wälzen sich hier zentimeterweise voran. Bisweilen sind sie so ineinander verkeilt, daß der Betrieb über Stunden wie stillsteht.

Drüben den Zaun ent­lang eine schmale, nach Süden reichende Grasnarbe, auf der vereinzelte Kirschbäume und Birken, vor allem aber Sträucher und Gestrüppe wachsen. Ein ze­mentbestäubtes mehliges Demarkationsgrün. Dahinter Sarajewo. Ein ein­ziges Gebäude verbindet das verwilderte Areal mit der zivilisierten Stadt: das ehema­lige Kaufhaus Es­planade. Es wurde bislang nur deswegen nicht weggesprengt, weil die angrenzenden Bürgermeistereien seit Jahren erbittert darüber streiten, welche von ihnen zuständig sei.

Zu meinem Schrecken streben wir genau darauf zu. Größer aber ist mein Erstaunen, daß niemand uns aufhält, ja die vielen Streifenpolizisten scheinen uns nicht einmal zu be­merken. Sie tragen seltsame Uniformen. Zumal verändert mein Führer, seit wir die U-Bahn-Station verlassen ha­ben, ständig sein Aussehen; ich muß sehr auf ihn achten, will ihn ja meinerseits nicht aus den Augen verlieren: Kurzes Flirren, und er trägt Mantel, neuerliches Flirren, er wird zum kleinen dicken Ritter, nächstes Flirren, ein Jogger im Trikot.

Er bleibt an der verbretterten Eingangstür stehen, blickt sich zweimal schnell um, nimmt mich bei der Hand, pfeift ein amelodiöses Signal und schleudert mich ge­gen die Wand. Ich will los­schrein, fall hin­durch. Er folgt. Die ganze Wand simuliert. Oder nur ein Stückchen von ihr. Jedenfalls ein Eingang. Eine Holografie.

Drinnen der Blick in eine blühende Park­landschaft, Flüßchen Blumenwiesen Gartenbänke Springbrunnen. Rechts sitzt je­mand hinter einem Klapptisch, darauf ein kleiner Computer und Listen. Er blickt kurz auf, lächelt, weist knapp auf eine umrankte Laube. »Bleiben Sie hier«, sagt mein Führer und begibt sich hinüber. Zweidrei getuschelte Satzfetzen, dann kommt er zurück und reicht mir das Päckchen. »Sie wissen schon«, sagt er. »Ich weiß gar nichts«, sage ich. Schaue hin: Was soll das denn?

Herrn

Hans Erich Deters

Waldschmidtstraße 29

00356 Buenos Aires – Berlin

Anderswelt

»Was ist das für eine Adresse?! Wo ham Sie das her?!« »Nehmen Sie schon. Und sein Sie vorsichtig, daß man Sie damit nicht erwischt.« Er schaut kurz zum Mann hin­term Klapptisch, der nickt, ich krieg abermals einen Stoß, steh draußen. Aber nicht auf dem Potsdamer Platz, sondern in einem der U-Bahn­-Gänge der stazione Tiburtina.

»Nehmen Sie schon«, sagt der Penner. »Ich lasse mir nicht gern was schenken.« »Ja was soll ich denn damit? Was ist das denn?« Er zwinkert mir zu.

Mir kommt Borken­brod in den Sinn, aber es fällt mir momen­tan nicht ein, wo der stecken könnte. Als ich mich umseh, ist der Penner weg. Das Päckchen hat er fallenlassen. Jedenfalls liegt es am Boden. Schon eingedellt, weil je­mand draufgetrampelt ist. Ich bück mich, wisch mit ei­nem Tempo den Schmutz run­ter, erschrecke. Eindeutig das Päck­chen, das der Punk den Vietnamesen wegge­schnappt hat. Ich ahne was. Ich reiße es auf. Styroporkügelchen quillen heraus, dann eine Kartonverpackung, ein Schuber. Darin, tatsächlich, die Dis­kette, ja, Computer-Diskette. Ich wie starr. Was hatte ich versucht, sie loszuwerden. Und war sie losgeworden doch! – Flaschenteufel. Flashback. Blut und Hirn verspritzten sich rings um die Wände. Und hatte mich wiedergefunden nach all diesen Jahren.

Ich wickle das Papier wieder drum, begeb mich nach oben, trete zurück auf die Fried­richstraße, um neue Blicke zu sammeln, blinzle in die Sonne. Zittre. Tränenpalast, drü­ben das BE, im Westen der Reichstag, dann zum Palast der Langen Beine. Wer war die Frau in der U-Bahn? Ich kenne sie. Ich erinner mich nicht. Würde sie wirklich ins Silberstein kommen? Aber nein, nein! Samhain hatte sie gesagt. Und es war noch so früh.

2 Es ist nicht viel später. Ich sitze doch schon im Café Silberstein, das zu meiner Überraschung wirklich Samhain heißt. Jedenfalls steht das auf der Speisekarte. Ich warte. Vielleicht, denke ich, haben die Pächter gewechselt. Verändert hat sich sonst aber nichts: Ein sehr witziger chaoti­scher Ort, der mich von dieser Diskette wenigstens vorübergehend ablenken kann. Etwas Dunkel-Utopisches. Skulpturen stehen herum, die an H. R. Giger erin­nern. Man sitzt auch auf Kunst. Das gibt dem sozialen Raum etwas Kultisches. Über der der Eingangstür gegenüber­liegenden Wand leuchten Diaprojektionen. An die Wand ein Gedicht geschmiert:

Three things that enrich the poet

Myths, poetic power, a store of ancient verse

Komisch. Und drunter, auch das in den typischen Pop-Lettern:

Über wen lächeln die Rinder des Tethra?

Mein Nachbar ist an den Unterschen­keln bis hinab zu den Knöcheln tätowiert. Das seh ich, als er seine Socken richtet. Eine junge Frau hat sich einen Schlüsselring durch die linke Augenbraue bohren lassen. Die Stühle sind so schwer, daß sie beim Rücken nicht quietschen, son­dern auf den Steinfliesen kreischen. Ich warte auf eine Person, von der ich doch weiß, sie ist nichts als Schimäre. Jedenfalls ahne ich es.

Vor mir, auf der Theke, die fürchterliche Diskette. Es hat keinen Sinn, sie loswerden zu wollen. Das habe ich zu oft schon versucht.

Zwei Frauen am Tisch ne­benan. »Dazu bin ich zu verdorben«, sagt die eine. »Kennst du meine Alpträume?« fragt die andere mit aggressivem Unter­ton.

Vier Musiker betre­ten den Raum: Baß Tambu­rin Klampfe Gesang. Gitarrenhalf­terung mit rotem Strick an­gebunden, kein Gurt. Nach drei an Rock und Afro erinnernden Songs packen sie ihre Sachen wieder. Einer geht herum und sammelt. So ziehen sie durch von Kneipe zu Kneipe.

Ein kurzer, sozusagen vorüberfliegender Flirt. Ich muß mir unbedingt angewöh­nen, immer mitten in die Gesichter zu schauen. Mein Flirt löst ihr Haar. Leicht hängender Fettansatz unterm Kinn. Lose weite Le­der­jacke, schwarzer Rock, Nylons grauschwarz geringelt, Schuhe halb­hoch.

Wie angenehm und fantasievoll es ist, eine nächste von hinten zu beobachten, al­lenfalls übers Seitenprofil sehr schräg, und sich vorzustellen, wie schön sie sei. Ihre Art, das Haar zu zupfen. Finger viertels in den kurzen Locken, die sind marmorbraun. Clips an den Ohrläppchen. Ein Clip schaut durch und korrespondiert mit dem Gold­knopf am Jac­kettärmel. Spreizen der Finger. Der Daumen bleibt versteckt. – »Nee nee, bin nich’ mehr so al dente!« hör ich von hinter mir.

Das Leben wäre ein anderes, wär es einem nicht wichtig, das Alter zu er­reichen. Dem, der Moment für Moment den Tod gewärtigt, fängt jedes Erlebnis zu glühen an, dem vibriert jeder Sinn. Denk ich und starre die Diskette an. Und spüre wieder, daß mich die Frau, die ich erwarte, an jemanden erinnert. An etwas. Nur hab ich vergessen, woran. Ich versuche auch nicht, darauf zu kommen, nein, das Gesicht ist mir fremd, die Gestalt ist mir fremd, das Haar ist mir fremd. Trotzdem hat sie etwas ausgeströmt. Einen Duft vielleicht? Lag es in ihren Gesten?

So starr ich vor mich hin und warte auf das, was Du, Buenos Aires, aus mir herauszie­hen wirst.

Erster Teil:

Europa