»Verzeihen Sie, Madame …«

Nach minutenlangem, geduldigem Bemühen gelang es Maigret endlich, seine Besucherin zu unterbrechen …

»Sie sagen mir gerade, Ihre Tochter würde Sie langsam vergiften …«

»Das ist die Wahrheit …«

»Eben noch haben Sie mir aber nicht weniger bestimmt versichert, Ihr Schwiegersohn versuche im Flur immer das Dienstmädchen abzupassen, um dann heimlich Gift in Ihren Kaffee oder in einen Ihrer vielen Kräutertees zu geben.«

»Ja, das stimmt auch.«

»Und dabei haben Sie mir zu Beginn erzählt …«, er blickte auf die Notizen, die er sich während der schon mehr als einstündigen Unterhaltung gemacht hatte, oder tat wenigstens so, »dass Ihre Tochter und ihr Mann sich hassen …«

»Auch das ist die Wahrheit, Herr Kommissar.«

»Und doch trachten sie Ihnen gemeinsam nach dem Leben?«

»Aber nein! Sie versuchen es jeder für sich.«

»Versucht es ebenfalls …«

Es war Februar. Das Wetter war mild und sonnig; nur manchmal zeigte sich eine graue Wolke am Himmel, aus der ein Regenschauer niederging. Seit seine Besucherin da war, hatte Maigret trotzdem schon dreimal im Ofen gestochert, dem letzten Kohleofen im Haus, den er mit so viel Mühe gerettet hatte, als am Quai des Orfèvres die Zentralheizung eingebaut worden war.

Die Frau, die einen Nerzmantel über ihrem schwarzen Seidenkleid trug und wie eine Zigeunerin mit Schmuckstücken aller Art behangen war –  Ohrringen, Ketten, Armbändern, Broschen –, musste schon schweißgebadet sein. Überhaupt erinnerte sie mehr an eine Zigeunerin als an eine feine Dame, mit ihrer dick aufgetragenen Schminke, die in der Hitze langsam gerann und sich aufzulösen begann.

»Drei Personen versuchen also, Sie zu vergiften.«

»Sie versuchen es nicht, sie sind schon dabei.«

»Und Sie behaupten, jeder von ihnen tut es ohne das Wissen der anderen …«

»Ich behaupte es nicht, ich weiß es.«

Sie hatte den gleichen rumänischen Akzent wie eine berühmte Boulevardschauspielerin und die gleichen lebhaften Bewegungen, die Maigret jedes Mal zusammenzucken ließen.

Sie hatte an alles gedacht, hatte sogar den bekanntesten Irrenarzt von Paris konsultiert und sich von ihm ein Attest ausstellen lassen, das ihre volle Zurechnungsfähigkeit bestätigte.

Es half nichts, man musste ihr geduldig zuhören und zu ihrer Beruhigung hin und wieder ein paar Worte auf einen Notizblock kritzeln. Sie kam auf Empfehlung eines Ministers, der den Direktor persönlich angerufen hatte. Ihr erst vor wenigen Wochen verstorbener Mann war Staatsrat gewesen. Sie wohnte in der Rue de Presbourg, in einem der riesigen Etagenhäuser, deren eine Seite auf die Place de l’Étoile geht.

»Ich werde Ihnen erklären, wie mein Schwiegersohn vorgeht. Ich habe es genau verfolgt und beobachte ihn schon seit Monaten …«

»Er hat also schon damit begonnen, als Ihr Mann noch lebte?«

Sie reichte ihm einen säuberlich gezeichneten Plan vom ersten Stock des Hauses.

»Mein Zimmer habe ich mit A gekennzeichnet, das meiner Tochter und ihres Mannes mit B. Allerdings schläft Gaston seit einiger Zeit nicht mehr dort.«

»Hallo … Wer ist am Apparat?«

Der Telefonist stellte Anrufe gewöhnlich nur in dringenden Fällen zu ihm durch.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ein Mann, der seinen Namen nicht nennen will, möchte unbedingt mit Ihnen sprechen. Er schwört, es gehe um Leben oder Tod.«

»Und er will mich persönlich sprechen?«

»Ja … Kann ich ihn durchstellen?«

Gleich darauf hörte Maigret ein ängstliches »Hallo … sind Sie es?«

»Kommissar Maigret, ja …«

»Verzeihen Sie … Mein Name würde Ihnen doch nichts sagen. Sie kennen mich nicht, aber Sie haben meine Frau gekannt, Nine. Hören Sie? … Ich muss Ihnen alles erzählen, schnell, denn er kann jeden Moment hier sein.«

Maigret dachte im ersten Augenblick: noch ein Verrückter? Es gab solche Tage.

Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass Verrückte gewöhnlich serienweise auftauchten, als stünden sie unter dem Einfluss bestimmter Mondphasen. Er würde später im Kalender nachsehen.

»Eigentlich wollte ich zu Ihnen kommen. Ich stand schon vor dem Haus. Aber dann habe ich nicht gewagt hineinzugehen, weil er mir auf den

»Von wem sprechen Sie?«

»Einen Augenblick … Ich bin ganz in der Nähe … Direkt gegenüber. Eben habe ich noch das Fenster gesehen … Am Quai des Grands-Augustins. Kennen Sie das kleine Café Aux Caves du Beaujolais? … Ich stehe in der Telefonkabine. Hallo? Sind Sie noch da?«

Es war zehn nach elf, und Maigret notierte mechanisch die Zeit und den Namen des Cafés.

»Ich habe schon alles Mögliche versucht, habe einen Polizisten an der Place du Châtelet angesprochen …«

»Wann?«

»Vor einer halben Stunde. Einer der Männer war mir auf den Fersen. Der kleine Dunkelhaarige. Es sind mehrere. Sie wechseln sich ab. Ich bin nicht sicher, ob ich sie alle wiedererkennen würde. Ich weiß nur, dass der kleine Dunkelhaarige …«

Schweigen.

»Hallo?«, rief Maigret.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Stimme zurückmeldete.

»Entschuldigen Sie. Jemand ist ins Café gekommen, und ich glaubte schon, er wäre es … Ich habe kurz hinausgeschaut, aber es ist nur ein Lieferant … Hallo? …«

»Dass mich seit gestern Abend einige Männer verfolgen. Nein, im Grunde seit gestern Nachmittag. Dass sie ganz sicher auf eine Gelegenheit lauern, mich umzubringen. Ich habe ihn gebeten, den Mann zu verhaften, der hinter mir her war.«

»Und der Polizist hat sich geweigert?«

»Er meinte, ich solle ihm den Mann zeigen. Aber da war er plötzlich nicht mehr da … Darum hat er mir nicht geglaubt … Ich bin zur Metro runter, in einen Wagen rein, und als der Zug anfuhr, gleich wieder raus. Dann bin ich durch die Gänge gerannt, oben beim Bazar de l’Hôtel de Ville wieder herausgekommen und durch das Kaufhaus gelaufen.«

Man hörte, dass er gerannt war.

»Ich möchte Sie bitten, sofort einen Beamten in Zivil zu mir zu schicken, hierher ins Café … Er darf mich aber nicht ansprechen … Er soll sich ganz unauffällig verhalten … Ich werde hinausgehen, und ganz sicher wird der andere mir folgen … Man braucht ihn nur zu verhaften, dann komme ich zu Ihnen und erkläre Ihnen alles …«

»Hallo!«

»Also, ich …«

Stille. Verworrene Geräusche.

»Hallo? Hallo!«

Niemand mehr am anderen Ende der Leitung.

»Einen Moment noch, bitte.«

Er öffnete die Tür, die sein Büro mit dem der Inspektoren verband. »Janvier, nimm deinen Hut und lauf zum Quai des Grands-Augustins hinüber. Da ist ein kleines Café, Aux Caves du Beaujolais. Erkundige dich, ob der Mann noch da ist, der eben telefoniert hat.«

Er nahm den Hörer ab.

»Verbinden Sie mich mit den Caves du Beaujolais.«

Er sah zum Fenster hinaus und konnte auf der anderen Seite der Seine, dort, wo der Quai des Grands-Augustins zum Pont Saint-Michel ansteigt, die schmale Fassade eines kleinen Lokals erkennen, in dem er gelegentlich ein Glas an der Theke getrunken hatte. Er erinnerte sich, dass man eine Stufe hinuntersteigen musste, dass es in dem Raum sehr kühl war und dass der Wirt eine schwarze Küferschürze trug.

Ein Lastwagen hielt vor dem Café und versperrte die Sicht. Auf dem Gehsteig gingen Leute vorüber.

»Wissen Sie, Herr Kommissar …«

»Bitte nur noch einen Augenblick, Madame!«

Und er stopfte sich sorgfältig seine Pfeife, während er weiter zum Fenster hinausblickte.

»Ich war von Anfang an misstrauisch, verstehen Sie?«

Sie roch nach einem widerlichen Parfum, das den guten Pfeifenduft verdrängt hatte und das ganze Büro verpestete.

»Hallo? … Konnten Sie die Verbindung noch nicht herstellen?«

»Ich rufe dauernd an, Herr Kommissar, immer wieder, aber es ist ständig besetzt; oder jemand hat vergessen, den Hörer aufzulegen.«

Janvier, der nicht einmal seine Jacke angezogen hatte, überquerte mit seinem schlaksigen Gang die Brücke und verschwand kurz darauf in dem Café. Der Lastwagen fuhr endlich weiter, aber man konnte nicht hineinsehen, weil es im Inneren des Lokals zu dunkel war. Wieder verstrichen einige Minuten. Dann klingelte das Telefon.

»So, Herr Kommissar, jetzt habe ich die Verbindung. Es ist nicht mehr besetzt.«

»Hallo, wer ist am Apparat? Bist du es, Janvier? Der Hörer war also nicht eingehängt? Und sonst?«

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein, er war schon fort. Anscheinend hat er die ganze Zeit durch die Scheibe der Telefonkabine gespäht und unaufhörlich die Tür auf- und zugemacht.«

»Und dann?«

»Ein Gast ist hereingekommen, hat zur Kabine hinübergeschaut und sich dann an der Theke einen Schnaps bestellt … Als der andere ihn gesehen hat, hat er sofort sein Gespräch abgebrochen …«

»Und beide sind hinausgegangen?«

»Ja, einer nach dem andern.«

»Lass dir vom Wirt eine möglichst genaue Beschreibung der beiden Männer geben … Moment noch! Bevor du zurückkommst, mach einen Abstecher zur Place du Châtelet und frag die diensthabenden Polizisten, ob einer von ihnen vor etwa einer Dreiviertelstunde von dem kleinen Mann gebeten wurde, seinen Verfolger festzunehmen …«

Als er auflegte, blickte ihn die alte Dame voller Genugtuung an und sagte anerkennend wie zu einem guten Schüler:

»Genau so stelle ich mir eine Ermittlung vor. Sie verlieren keine Zeit. Sie denken an alles.«

Er setzte sich seufzend hin. Am liebsten hätte er das Fenster geöffnet, in dem überheizten Raum

Aubain-Vasconcelos, so hieß sie, und der Name sollte ihm im Gedächtnis bleiben. Allerdings sah er sie nie wieder. War sie einige Tage später gestorben? Wohl kaum. Er hätte davon gehört. Vielleicht hatte man sie in eine Anstalt eingewiesen. Oder sie hatte sich, enttäuscht von der Polizei, an einen Privatdetektiv gewandt. Vielleicht war sie aber auch schon am nächsten Morgen mit einer neuen fixen Idee aufgewacht.

Jedenfalls musste er sich noch fast eine Stunde lang anhören, was sie von den Bewohnern des großen Hauses in der Rue de Presbourg zu berichten hatte, wo das Leben nicht gerade heiter zu sein schien und man ihr den lieben langen Tag Gift in die Getränke mischte.

Mittags konnte er endlich das Fenster öffnen. Die Pfeife im Mund ging er hinüber ins Büro des Chefs.

»Haben Sie sie freundlich abgewimmelt?«

»So freundlich wie möglich.«

»Sie soll in ihrer Jugend eine der schönsten Frauen Europas gewesen sein. Ich habe ihren Mann flüchtig gekannt. Der sanfteste, unscheinbarste und langweiligste Mensch, den man sich vorstellen kann. Machen Sie Mittagspause, mein Lieber?«

Maigret zögerte. Auf den Straßen roch es schon

»Ich glaube, ich bleibe besser hier. Ich habe vorhin einen seltsamen Anruf erhalten.«

Gerade als er davon erzählen wollte, klingelte das Telefon. Der Chef meldete sich und reichte Maigret den Hörer.

»Für Sie.«

Und sofort erkannte der Kommissar die Stimme, die jetzt noch gequälter klang.

»Hallo? … Wir sind vorhin unterbrochen worden. Da kam er gerade herein. Er konnte das Gespräch mit anhören. Ich bin panisch geworden.«

»Wo sind Sie jetzt?«

»Im Tabac des Vosges, an der Ecke Place des Vosges und Rue des Francs-Bourgeois … Ich habe versucht, ihn abzuhängen. Ich weiß nicht, ob es mir geglückt ist, aber ich schwöre Ihnen, ich täusche mich nicht, er will mich umbringen … Auf die Schnelle lässt sich das nicht erklären … Ich dachte mir schon, dass die anderen mich nicht ernst nehmen würden, aber Sie, Sie werden …«

»Hallo?«

»Er ist hier … Ich … Entschuldigen Sie.«

Der Chef beobachtete Maigret, der ein düsteres Gesicht machte.

»Ich weiß nicht. Das ist eine merkwürdige Geschichte. Erlauben Sie?«

Er ging an einen anderen Apparat.

»Verbinden Sie mich mit dem Tabac des Vosges … Hier beim Chef, ja.«

Und zu Letzterem gewandt: »Wenn er nur nicht wieder vergessen hat einzuhängen.«

Die Verbindung kam rasch zustande.

»Hallo, Tabac des Vosges? Der Wirt am Apparat? … Ist der Gast, der eben telefoniert hat, noch bei Ihnen? … Wie? … Ja, sehen Sie bitte nach … Hallo? … Er ist eben gegangen? … Hat er gezahlt? … Sagen Sie, ist ein anderer Gast hereingekommen, während er telefoniert hat? … Nein? … Auf der Terrasse? Sehen Sie doch bitte nach, ob er noch da ist … Er ist ebenfalls gegangen? … Ohne auf seinen Aperitif zu warten? … Danke … Nein … Wer hier spricht? Die Polizei … Nein, es hat nichts mit Ihnen zu tun.«

Nach diesem Gespräch beschloss er endgültig, den Chef nicht zur Brasserie Dauphine zu begleiten. Als er die Tür zum Inspektorenbüro öffnete, sah er, dass Janvier zurück war und auf ihn wartete.

»Komm rüber und erzähl.«

»Das ist ein ulkiger Kauz, Chef … Ein kleiner Mann mit beigem Regenmantel, grauem Hut und schwarzen Schuhen. Er ist ins Café gestürmt, zur

»Und der andere?«

»Auch ein Kleiner, jedenfalls nicht sehr groß, gedrungen, dunkelhaarig.«

»Und was hat der Polizist an der Place du Châtelet gesagt?«

»Die Geschichte ist wahr. Der Mann im Regenmantel hat sich völlig atemlos und aufgeregt an ihn gewandt. Hat wild herumgefuchtelt und ihn gebeten, jemanden festzunehmen, der ihn verfolge, aber dann hat er ihn in dem Gewühl nicht mehr gesehen. Der Polizist wollte den Vorfall auf alle Fälle in seinem Bericht erwähnen.«

»Du gehst jetzt zur Place des Vosges, zu der Bar an der Ecke Rue des Francs-Bourgeois.«

»Gut.«

Ein kleiner, heftig gestikulierender Mann in beigem Regenmantel und mit grauem Hut. Das war alles, was man von ihm wusste. Man konnte nichts anderes tun, als am Fenster auszuharren und die Leute zu beobachten, die aus den Büros kamen und in die Cafés, die Restaurants und auf die Terrassen

Maigret rief in der Brasserie Dauphine an.

»Hallo, Joseph? Hier Maigret. Kannst du mir zwei Bier und Sandwiches bringen? … Für eine Person, ja.«

Die Sandwiches waren noch nicht da, als ein Anruf für ihn kam. Er hatte die Zentrale angewiesen, jeden, der ihn am Telefon verlangte, direkt zu ihm durchzustellen.

»Hallo! … Diesmal bin ich ihn, glaube ich, losgeworden.«

»Wer sind Sie?«

»Ich bin der Mann von Nine. Aber das ist jetzt unwichtig … Es sind mindestens vier, die Frau nicht mitgerechnet. Es muss unbedingt jemand herkommen, sofort, und …«

Diesmal kam er nicht dazu zu sagen, von wo aus er anrief. Maigret erkundigte sich bei der Zentrale. Darüber vergingen einige Minuten. Der Anruf war aus dem Restaurant Quatre Sergents de La Rochelle am Boulevard Beaumarchais gekommen, in der Nähe der Bastille.

»Hallo, bist du’s, Janvier? … Habe mir schon gedacht, dass du noch da bist.« Maigret erreichte ihn an der Place des Vosges. »Geh schnell hinüber zum Restaurant Quatre Sergents de La Rochelle … Ja, lass das Taxi warten.«

Eine Stunde verging, ohne dass ein neuer Anruf erfolgte, ohne dass man etwas von Nines Mann hörte. Und als das Telefon wieder klingelte, war nicht er, sondern ein Kellner am Apparat:

»Hallo? Habe ich die Ehre, mit Kommissar Maigret zu sprechen? … Mit Kommissar Maigret persönlich? … Hier ist der Kellner vom Café de Birague, Rue de Birague … Ich spreche im Auftrag eines Gastes, der mich gebeten hat, Sie anzurufen.«

»Wie lange ist das her?«

»Vielleicht eine Viertelstunde. Ich sollte sofort anrufen, aber um diese Zeit ist hier ein Mordsbetrieb.«

»Ein kleiner Mann im Regenmantel?«

»Genau. Gut … Ich hatte schon befürchtet, das Ganze wäre ein Scherz … Er hatte es sehr eilig. Er hat die ganze Zeit die Straße beobachtet … Moment, ich versuche mich genau zu erinnern. Ich soll Ihnen ausrichten, er würde versuchen, den

 

Maigret begab sich selbst dorthin. Er nahm ein Taxi und brauchte bis zur Place de la Bastille keine zehn Minuten. Die Brasserie war ein großes, ruhiges Lokal, in dem vor allem Stammgäste verkehrten, die das Tagesgericht oder einen Wurstteller aßen. Er sah sich nach einem kleinen Mann im Regenmantel um und inspizierte dann die Kleiderständer, in der Hoffnung, einen solchen Mantel zu entdecken.

»Sagen Sie, Garçon …«

Es waren sechs Kellner da, dazu die Kassiererin und der Wirt. Er befragte sie alle. Niemand hatte den Mann gesehen. Also setzte sich Maigret in eine Ecke nahe dem Eingang, bestellte ein Bier, rauchte seine Pfeife und wartete. Eine halbe Stunde später ließ er sich trotz der schon verzehrten Sandwiches eine Elsässer Sauerkrautplatte bringen. Er beobachtete die Passanten. Bei jedem Regenmantel stutzte er, und davon gab es viele, denn es ging schon der dritte Schauer an diesem Tag nieder, ein beinahe

»Hallo? Bin ich bei der Kriminalpolizei? … Hier Maigret. Ist Janvier zurück? … Geben Sie ihn mir … Janvier? … Spring in ein Taxi und komm zu mir ins Canon de la Bastille … Stimmt, das ist eine wahre Kneipentour heute … Ich warte auf dich … Nein, nichts Neues.«

Vielleicht war der wild fuchtelnde Mann doch bloß ein Schaumschläger. Und wenn schon. Maigret ließ seinen Inspektor trotzdem im Canon de la Bastille sitzen, während er selbst ins Büro zurückfuhr.

Es war kaum anzunehmen, dass Nines Mann seit seinem Anruf um halb eins ermordet worden war, denn er schien sich nicht in abgelegene Gegenden zu wagen, wählte im Gegenteil die belebten Viertel und verkehrsreiche Straßen. Trotzdem setzte sich der Kommissar mit der polizeilichen Notrufzentrale in Verbindung, wo man innerhalb weniger Minuten über alle Vorkommnisse in Paris unterrichtet wurde.

»Sobald Sie hören, dass ein Mann im Regenmantel in einen Unfall, einen Streit oder sonst was verwickelt wurde, rufen Sie mich bitte an.«

Er gab auch Anweisung, dass einer der Wagen der Kriminalpolizei im Hof zu seiner Verfügung stehen solle. Vielleicht war es lächerlich, aber er wollte nichts außer Acht lassen.

»Sie haben meine Frau gekannt …«, hatte der Mann gesagt.

Maigret versuchte, sich an eine Nine zu erinnern. Ihm mussten schon etliche begegnet sein. Vor einigen Jahren hatte er eine Nine gekannt, die eine kleine Bar in Cannes betrieb, aber sie war schon damals eine alte Frau und inzwischen vermutlich gestorben. Und seine Frau hatte eine Nichte, die Aline hieß, aber von allen Nine genannt wurde.

»Hallo? Ist dort Kommissar Maigret?«

Es war vier Uhr. Obwohl es draußen noch hell war, hatte Maigret die Lampe mit dem grünen Schirm auf seinem Schreibtisch bereits angeknipst.

»Hier spricht der Vorsteher vom Postamt 28 in der Rue du Faubourg-Saint-Denis … Entschuldigen Sie bitte die Störung. Wahrscheinlich handelt es sich um einen dummen Scherz. Vor wenigen Minuten war hier jemand am Paketschalter … Hören Sie? … Er war in Eile und sehr nervös. Das hat mir unsere Angestellte Mademoiselle Denfer berichtet. Er hat sich ständig umgedreht, ihr ein Papier hingeschoben und gesagt: ›Sie müssen es nicht verstehen. Geben Sie diese Nachricht schnell

 

»Hallo … Janvier? … Du kannst zurückkommen, mein Guter …«

Eine halbe Stunde später saßen sie beide rauchend in Maigrets Büro. Aus dem Ofen fiel ein rötlicher Schein auf den Boden.

»Ich habe mir im Canon eine Sauerkrautplatte bestellt.«

Er also auch! Maigret hatte inzwischen die Fahrradpatrouille und die städtische Polizei verständigt. Die Pariser, die sich in den Kaufhäusern und auf den Gehsteigen drängten, in die Kinos oder die Metroeingänge strömten, merkten nichts davon, und doch beobachteten Hunderte Augen aufmerksam die Menge und blieben an jedem beigen Regenmantel und jedem grauen Hut hängen.

Gegen fünf, als das Gedränge im Châtelet-Viertel seinen Höhepunkt erreichte, regnete es noch einmal. Das Pflaster glänzte, die Straßenlaternen waren von einem Lichthof umgeben, und alle zehn Meter hob jemand den Arm, um ein Taxi heranzuwinken.

»Der Wirt von den Caves du Beaujolais schätzt ihn auf fünfunddreißig bis vierzig, der vom Tabac des Vosges dagegen auf höchstens dreißig. Er ist glattrasiert, hat einen rosigen Teint und helle Augen. Was ihn sonst ausmacht, habe ich nicht herausbekommen können. Man hat mir jedes Mal geantwortet: Ein Mann wie jeder andere.«

Madame Maigret, die ihre Schwester zum Abendessen eingeladen hatte, rief um sechs an, um sicherzugehen, dass ihr Mann rechtzeitig zu Hause sein

»Kannst du hier bis neun die Stellung halten? Ich bitte Lucas, dich abzulösen.«

Janvier war einverstanden. Man konnte nichts anderes tun als warten.

»Wenn irgendetwas ist, ruft mich zu Hause an.«

Er vergaß nicht, beim Konditor in der Avenue de la République vorbeizugehen, dem einzigen in Paris, der nach Madame Maigrets Meinung anständige Cremeschnitten zu machen verstand. Er begrüßte seine Schwägerin, die wie immer nach Lavendel duftete. Dann aßen sie zu Abend. Hinterher trank er einen Calvados. Bevor er Odette zur Metro brachte, rief er am Quai des Orfèvres an.

»Lucas? … Nichts Neues? … Bist du immer noch in meinem Büro?«

Lucas hatte es sich bestimmt in Maigrets Sessel bequem gemacht, ein Buch vor sich, die Füße auf dem Schreibtisch.

»Mach weiter, mein Lieber. Gute Nacht …«

Als er von der Metrostation zurückkam, war der Boulevard Richard-Lenoir menschenleer, und seine Schritte hallten durch die Stille. Da hörte er andere Schritte hinter sich, zuckte zusammen und drehte sich unwillkürlich um. Er dachte an den Mann, der womöglich noch immer angsterfüllt

Er schlief vor seiner Frau ein – wenigstens behauptete sie das, so wie sie auch immer behauptete, dass er schnarche –, und als das Klingeln des Telefons ihn aus dem Schlaf riss, zeigte der Wecker auf dem Nachttisch zwanzig Minuten nach zwei. Es war Lucas.

»Vielleicht störe ich Sie umsonst, Chef. Ich weiß noch nichts Näheres. Die Notrufzentrale hat mir mitgeteilt, an der Place de la Concorde sei ein Mann tot aufgefunden worden, beim Quai des Tuileries. Darauf habe ich das Revier vom 1.Arrondissement angerufen und gebeten, alles unverändert zu lassen … Wie? … Gut, wenn Sie wollen … Ich schicke Ihnen ein Taxi.«

Madame Maigret sah seufzend zu, wie ihr Mann in seine Hose schlüpfte und nach seinem Hemd suchte.

»Wird es lange dauern?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hättest du nicht einen Inspektor hinschicken können?«

Sie hörte ihn den Schrank im Esszimmer öffnen. Er goss sich noch einen Calvados ein. Dann kam er zurück, um seine Pfeifen zu holen, die er vergessen hatte.

Das Taxi wartete schon. Die Boulevards waren

An der Place de la Concorde, unweit der Tuilerien, hielten zwei Wagen am Straßenrand. Dunkle Gestalten eilten hin und her.

Das Erste, was Maigret sah, als er aus dem Taxi stieg, war der helle Fleck eines beigen Regenmantels auf dem silbrig glänzenden Gehweg.

Und während die Polizisten in ihren Pelerinen auseinandertraten und ein Inspektor vom Revier des 1.Arrondissements auf ihn zutrat, murmelte er:

»Es war kein Scherz. Sie haben ihn also erwischt.«

Ganz in der Nähe hörte man das leise Plätschern der Seine, und fast lautlos glitten Autos vorbei, die von der Rue Royale Richtung Champs-Élysées fuhren. Das Schild vom Maxim’s leuchtete rot durch die Nacht.

»Eine Stichwunde, Herr Kommissar«, meldete Inspektor Lequeux, den Maigret gut kannte. »Wir wollten auf Sie warten, bevor wir ihn mitnehmen.«

Warum spürte Maigret schon da, dass etwas nicht stimmte?

Die Place de la Concorde, in deren Mitte hell der Obelisk aufragte, war zu weit, zu groß, zu leer. Das passte nicht zu den Anrufen vom Vormittag, zu den Caves du Beaujolais, zum Tabac

Bis zu seinem letzten Anruf, bis zur Abgabe des Zettels auf dem Postamt vom Faubourg Saint-Denis hatte der Mann sich nur durch enge, belebte Straßen bewegt.

Begibt sich jemand, der sich verfolgt glaubt, der seinen Mörder hinter sich spürt und jeden Moment mit einem tödlichen Schlag rechnet, begibt sich der auf ein so weitläufiges Gelände wie die Place de la Concorde?

»Sie werden feststellen, dass er nicht hier ermordet wurde.«

Eine Stunde später sollte man den Beweis dafür haben, als der Polizist Piedbœuf, der vor einem Nachtclub in der Rue de Douai Wache gestanden hatte, seine Meldung machte.

Vor dem Lokal hatte ein Auto gehalten, dem zwei Männer im Smoking und zwei Frauen im Abendkleid entstiegen waren. Die vier machten einen etwas beschwipsten Eindruck, vor allem einer der Männer, der, als die anderen schon im Nachtclub verschwunden waren, noch einmal umgekehrt war.

»Hören Sie mal, Herr Wachtmeister. Ich weiß nicht, ob ich’s Ihnen erzählen sollte, denn ich will ja nicht, dass man uns den Abend verdirbt, aber was soll’s. Machen Sie damit, was Sie wollen … Als wir eben an der Place de la Concorde vorbeifuh

Wann genau wurde Nines Mann Maigrets Toter, wie man ihn später bei der Kriminalpolizei nannte? Vielleicht war es gleich bei ihrer ersten Begegnung, wenn man das so sagen kann, in jener Nacht an der Place de la Concorde. Inspektor Lequeux jedenfalls wunderte sich über das Verhalten des Kommissars. Es war schwer zu sagen, was so ungewöhnlich daran war. Bei der Polizei ist man an gewaltsame Tode gewöhnt, an die seltsamsten Leichen, die man mit professionellem Gleichmut behandelt, wenn man nicht sogar Witze über sie reißt wie Assistenzärzte im Gemeinschaftsraum. Regelrecht ergriffen schien Maigret übrigens nicht zu sein.

Aber warum zum Beispiel beugte er sich nicht wie üblich als Erstes über die Leiche. Er zog ein paar Mal an seiner Pfeife, blieb bei den uniformierten Beamten stehen, unterhielt sich mit Lequeux und blickte flüchtig auf eine junge Frau in Lamékleid und Nerzmantel, die gerade in Begleitung zweier Männer aus einem Wagen gestiegen war und, den Arm des einen umfassend, abwartend dastand, als müsste noch etwas passieren.

Als er sich wieder aufrichtete, waren seine Brauen zusammengezogen. Man spürte seine Wut. In einem Ton, als wollte er alle Anwesenden für den Mord verantwortlich machen, fragte er:

»Wer hat das getan?«

Waren es Faustschläge oder Fußtritte gewesen? Es war nicht zu erkennen. Jedenfalls hatte man den Mann, bevor oder nachdem man ihn erstochen hatte, mehrmals heftig geschlagen. Sein Gesicht war geschwollen, auf einer Seite völlig entstellt, die Oberlippe eingerissen.

»Ich warte auf den Leichenwagen«, erklärte Lequeux.

Ohne die Spuren der Misshandlungen hätte das Gesicht des Mannes wohl eher gewöhnlich gewirkt, recht jung und unbekümmert. Noch im Tod hatten seine Züge etwas Kindlich-Naives.

Warum schien die Frau im Nerz vor allem über den Anblick des einen Fußes verstört, der nur mit einer fliederfarbenen Socke bekleidet war? Es hatte etwas Lächerliches, dieser unbeschuhte Fuß auf dem Gehweg, neben dem anderen im schwar

Danach sagte er nichts mehr. Er wartete und rauchte seine Pfeife. Schaulustige mischten sich unter die Anwesenden und flüsterten miteinander. Dann hielt der Leichenwagen am Bordstein, und zwei Männer hoben den Toten auf. Wo er gelegen hatte, war nichts zu sehen, nicht die kleinste Blutspur.

»Schicken Sie mir einfach nur Ihren Bericht, Lequeux.«

War es in diesem Moment, dass Maigret sich des Toten bemächtigte, indem er vorne in den Wagen stieg und die anderen stehen ließ?

Es blieb so die ganze Nacht. Und auch noch am nächsten Morgen. Es war, als gehörte diese Leiche ihm, als wäre dieser Tote sein Toter.

Er hatte Anweisung gegeben, dass Moers, einer der Spezialisten vom Erkennungsdienst, im Gerichtsmedizinischen Institut auf ihn warten sollte. Moers war ein langer und dünner junger Mann; er lächelte nie, und seine scheuen Augen verschwammen hinter dicken Brillengläsern.

»Dann wollen wir mal, mein Junge.«