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Werner Münch

Freiheit ohne Gott

Kirche und Politik in der Verantwortung

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Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

FREIHEIT OHNE GOTT

Kirche und Politik in der Verantwortung

Werner Münch

© Media Maria Verlag, Illertissen, 2. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-9454013-8-5

www.media-maria.de

Inhalt

Vorwort

Eine staatliche Ordnung: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen«

Eine gedankliche Skizze zu Glaube und Moral

Päpste als Mahner der Weltpolitik

Das »hörende Herz« König Salomons. Die Ansprache Papst Benedikts XVI. vor dem Deutschen Bundestag

Ohne Irrtum und Verwirrung: »Familiaris consortio« als Wegweiser für eine gelungene Familienpastoral

Wertewandel in den europäischen Gesellschaften: Wir brauchen eine moralische Erneuerung

Eine neue Ideologie des Bösen: Das Europäische Parlament kämpft gegen das christliche Menschenbild

Feminismus und Gender-Ideologie zerstören Ehe und Familie sowie unsere christliche Kultur und demokratische Zivilisation

Verschweigen, verharmlosen und verzerren: Auseinandersetzung mit Nationalstaat und Populismus

So darf es nicht weitergehen: Der Wandel der CDU

Realismus statt Rechthaberei in der Flüchtlingspolitik

Die Diskussion über den Islam verlangt Ehrlichkeit. Ignoranz, Verharmlosung oder Gleichgültigkeit führen nicht weiter

Der Islam und die Toleranz

Die »kleine Herde«: Rolle und Bedeutung von Minderheiten in Gesellschaft, Politik und Kirche

Vorwort

In den vergangenen Jahren gab es viele Anfragen für Fernseh- und Rundfunkkommentare und Interviews (Radio Horeb, Kirche in Not, K-TV, bonifatius.tv), Essays in Zeitungen und Zeitschriften (Die Tagespost, Forum der »Jungen Freiheit«, Neue Bildpost, Der 13., Der Fels), Online-Beiträge (kath.net) und vor allem Vorträge in Deutschland, Österreich, Südtirol, Polen und der Schweiz an mich. Die Hörer und Leser waren junge und ältere Menschen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Gruppen. Besonders interessant war, dass sie sich weit überwiegend durch eine zum Teil harte Kritik an den Versuchen der Bevormundung durch die Politik, durch ihre Ablehnung des egoistischen Verständnisses von Freiheit in unserer säkularen Gesellschaft und durch großes Unverständnis wegen des Bemühens der Kirche, die biblische Wahrheit durch einen »modernen« Zeitgeist zu ersetzen, auszeichneten.

Aufgrund zahlreicher Wünsche bin ich zu dem Ergebnis gekommen, wesentliche Beiträge zu publizieren und einem größeren Publikum zum Nachdenken vorzulegen.

Sie stammen aus den letzten zwei Jahren, was bezüglich der Aktualität in der Lektüre beachtet werden muss.

Auch partielle Wiederholungen kleinerer Abschnitte in verschiedenen Beiträgen ließen sich nicht vermeiden, zumal sie in einem anderen Zusammenhang stehen und dadurch auch einen anderen Schwerpunkt setzen.

Dankbar bin ich dem Verlag Media Maria und seiner Verlegerin Gisela Geirhos, dass sie meinen Vorschlag ohne zu zögern positiv aufgenommen und umgesetzt haben.

Die Überarbeitung der Manuskripte ist Ostern 2017 abgeschlossen und danach nicht mehr aktualisiert worden.

Freiburg, Ostern 2017

Werner Münch

Eine staatliche Ordnung: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen«

Bei der Behandlung dieses Themas sollen zuerst unsere Verfassung und der Gottesbezug und danach die Situation in Politik, Gesellschaft und Kirche anhand dreier ausgewählter Themenbereiche dargestellt werden.

1. Der Gottesbezug in unserer Verfassung

Im Sommer 1948 waren die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder von den Militärgouverneuren ermächtigt worden, »eine Verfassunggebende Versammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung einzuberufen …«.1 Die Ministerpräsidenten nannten diese konstituierende Versammlung »Parlamentarischer Rat« und das auszuarbeitende Dokument »Grundgesetz«.2 Nach der Wahl der Abgeordneten in den Landtagen trat der Rat am 1. September 1948 mit 65 Mitgliedern zur Konstituierung zusammen, wählte Konrad Adenauer zum Präsidenten und gab dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der dritten Lesung des Plenums am 8. Mai 1949 die endgültige Gestalt. Am 23. Mai 1949 wurde es verkündet und trat in Kraft. Es beginnt in der Präambel mit dem Satz: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …«3 Seine Bedeutung soll in drei Punkten erörtert werden:

Erstens: Aus den Diskussionen im Parlamentarischen Rat geht eindeutig hervor, dass unsere Verfassung ein Beweis der Lernfähigkeit aus den Fehlern der Vergangenheit der deutschen Geschichte war, auch der Verleugnung Gottes und christlicher Grundwerte. Das Inferno des Nationalsozialismus war das stärkste Motiv zur Aufnahme dieses Gottesbezuges, um »totalitären Staatsmodellen eine Absage« zu erteilen.4

Zweitens: Der bekannte Verfassungsrechtler Josef Isensee hat in seinem Aufsatz »Christliches Erbe im organisierten Europa«5 den Gottesbezug in unserer Verfassung als »Ausdruck der Demut und des Respekts vor den unverfügbaren geistigen Mächten der Religion und der Sittlichkeit, die er nicht zu ersetzen vermag«, bezeichnet6 und wie folgt zusammengefasst: »Der Universalitätsanspruch des Christentums ist heute übergegangen auf die politischen Ideen, die europäischem Boden entstammen, aber der ganzen Menschheit zugedacht sind: Menschenrechte und Demokratie. Im Menschenbild des Christentums, das auf Schöpfung und Erlösung gründet, sind wesentliche Züge der modernen Menschenrechte angelegt: die Einheit des Menschengeschlechts, das auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeht, die Gleichheit aller, die von Gott erschaffen sind, die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen, in dem sich ein Gedanke Gottes verkörpert, seine Personalität und Eigenverantwortung. … Die dignitas humana kommt dem Menschen als Person zu. Im christlich-jüdischen Glauben ist er das Ebenbild Gottes, der ihn geschaffen hat. Die von seinem Schöpfer verliehene Würde erneuerte sich in der Menschwerdung Gottes.«7 Also: Der Gottesbezug in unserer Verfassung bringt ein Selbstverständnis zur Geltung im Sinne eines Programms mit einer Verpflichtung des Staates und seiner Bürger, weil nämlich, im Sinne von Robert Kardinal Sarah, »die Verfinsterung des Göttlichen die Erniedrigung des Menschlichen bedeutet«.8 Deshalb können wir auch die Begründung für das Entfernen der Kreuze aus deutschen Gerichtssälen, ein Urteil würde »im Namen des Volkes« und nicht im Namen Gottes verkündet, nicht akzeptieren, weil auch ein richterliches Urteil »in Verantwortung vor Gott und den Menschen« gesprochen wird.

Drittens: In Verfassungen unterscheidet man zwischen der invocatio Dei, also der Anrufung Gottes, und, so wie in unserem Grundgesetz, der nominatio Dei, also der bloßen Nennung Gottes, wodurch die Fragen über die Natur und die Würde des Menschen eine besondere Bedeutung erhalten. Im Verständnis dieser Naturrechtsfrage ist uns, wie so oft, Papst Benedikt XVI. eine große Hilfe, der uns darauf hinweist, dass es selbstverständlich Naturgesetze im Sinne physikalischer Funktionen gebe, aber das eigentliche Naturgesetz ein moralisches Gesetz sei. Die Natur sei nicht Zufall oder Montage, sondern Schöpfung. Jede staatliche Verfassung ruhe auf Grundlagen, die sie selbst nicht vorschreiben kann, sondern voraussetzen muss.9

Mit den letzten Aussagen ist eine gute Überleitung zum nächsten Teil unseres Themas hergestellt, nämlich zu der Frage, in welcher Weise Politik, Gesellschaft und Kirche die genannten Grundlagen beachten und umsetzen.

2. Wie geht die Politik mit der »Verantwortung vor Gott und den Menschen« um?

Dies soll konkretisiert werden anhand von Ehe und Familie, Abtreibung und Suizidassistenz.

2.1 Ehe und Familie

»Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.« So steht es seit Mai 1949 unverändert in Art. 6 (1) unseres Grundgesetzes. Vor 68 Jahren war es rechtlich, politisch und gesellschaftlich völlig zweifelsfrei, dass unter Ehe ein verheiratetes Paar von einem Mann und einer Frau und unter Familie ein solches Paar mit Kind bzw. Kindern verstanden wurde. Aber dieses Verständnis hat sich geändert. Die Richter des Bundesverfassungsgerichtes haben sich immer häufiger und eindeutiger den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen angepasst und sie sogar gefördert, indem sie Art. 6 durch Art. 3 (1) unseres Grundgesetzes praktisch ausgehebelt haben, der lautet: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.« Obwohl sich diese Regelung nicht auf verschiedene Formen von eheähnlichen Partnerschaften bezieht, sondern hiermit natürlich etwas ganz anderes gemeint war, haben die Richter alle neuen Formen von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die in ihren Beziehungen wie Mann und Frau in einer Ehe zusammenleben, der herkömmlichen Ehe und Familie gleichgestellt bzw. sind dabei, dies uneingeschränkt zu tun.

Die Politik liegt seit Jahren mit ihren Gesetzen auf dieser Linie, wie zum Beispiel mit:

– dem Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001;

– zahlreichen weiteren Gesetzen in den Folgejahren, die verschiedene Lebenspartnerschaften im Güter- und Unterhaltsrecht, im Ehegattensplitting, Familienzuschlag, Versorgungsausgleich und in der Hinterbliebenenversorgung der Ehe gleichgestellt haben;

– dem Elterngeldgesetz von 2006 und dem Kinderförderungsgesetz von 2008;

– dem Paradigmenwechsel in der Familienpolitik durch die Reformen des Scheidungs- und Unterhaltsrechts sowie des Kindschafts- und Sorgerechts.

Einen weiteren wichtigen Vorstoß zur rechtlichen Gleichstellung hat der Bundesminister der Justiz im Mai 2015 unternommen, indem er in 23 bestehenden Gesetzen und Verordnungen die Vorschriften für die Ehe auf die Lebenspartnerschaften ausgedehnt hat. Eine Änderung von Artikel 6 des Grundgesetzes erfolgt nur deshalb nicht, weil die Politik für diese direkte Aktion zu feige ist (noch!).

Die Bilanz ist eindeutig:

Erstens: Politik und Rechtsprechung spielen zusammen. Das Verfassungsgericht hat sich sogar als Motor hervorgetan. Einen eindeutigen Beweis dafür hat es zum Beispiel durch sein Urteil vom 21. Juli 2015 gegen das Betreuungsgeld mit einer ausschließlich formalen Begründung erbracht.

Zweitens: Frauen gelten nur als vollwertig, wenn sie außerhalb der Familie berufstätig sind. Tätigkeiten zu Hause in der Erziehung der Kinder werden gering geschätzt.

Drittens: Ehe und Familie sind in ihrer Existenz und ihrem besonderen Wert durch die Politik und Gesetzgebung auf eine »Verantwortungsgemeinschaft« reduziert worden, die jetzt alle Formen des Zusammenlebens umfasst, »in denen Menschen Verantwortung füreinander übernehmen«. – »Einen besonderen Schutz der staatlichen Ordnung« für Ehe und Familie gibt es nicht mehr. Die Ehe von Mann und Frau ist nur noch »eine Lebensweise unter vielen«. Ungleiches ist gleichgemacht worden.

Die Ehe ist inzwischen anders definiert und rechtlich verankert, als sie über Jahrhunderte in zahlreichen Kulturen verstanden und gelebt wurde.

2.2 Abtreibung

Nach wie vor ist die Abtreibung bei uns verboten, wenn auch straffrei. Das Statistische Bundesamt meldet seit 1996 im Durchschnitt pro Jahr 100 000 Abtreibungen. Die nicht registrierten und anders erfassten Fälle ergeben wahrscheinlich insgesamt tatsächlich eine zwei- bis dreifache Größenordnung. Art. 1 (1) unseres Grundgesetzes lautet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Der Staat tut dies aber nicht, obwohl das Bundesverfassungsgericht das ungeborene Leben in diese Schutzvorschrift des Gesetzes ausdrücklich miteinbezogen hat, wie aus einer Entscheidung des Gerichtes von 1993 eindeutig hervorgeht. Hierin heißt es: »Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben zu schützen. Zum menschlichen Leben gehört auch das ungeborene. Auch ihm gebührt der Schutz des Staates. Die Verfassung untersagt nicht nur unmittelbare Eingriffe in das ungeborene Leben, sie gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, d. h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen vonseiten anderer zu bewahren.« Aus dem »Recht des ungeborenen Kindes auf Leben« hat sich ein »Rechtsanspruch auf Abtreibung« entwickelt.10 In unserer Gesellschaft ist die Kultur des Lebens verloren gegangen, und dafür ist der Staat mitverantwortlich, weil er durch eine flächendeckende Versorgung mit einem Beratungsschein die Voraussetzungen für eine Abtreibung geschaffen hat und damit zum Helfer bei der Tötung von Ungeborenen geworden ist, obwohl ihn das Gesetz zum Gegenteil verpflichtet. Die Regierung erfüllt nicht einmal die gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollen durch den Staat. Wie kann eigentlich eine Regierung in der Flüchtlingsfrage eine »Willkommenskultur« für alle Menschen auf der Welt propagieren und gleichzeitig ein sogenanntes »Recht auf Abtreibung«, d. h. eine millionenfache Tötung von ungeborenen Kindern zulassen und unterstützen? Eine Willkommenskultur für entstehendes Leben und für Behinderte wäre im Programm einer christdemokratischen Partei wahrlich angebracht gewesen.

Von der Erfüllung des Verfassungsgebotes »in Verantwortung vor Gott und den Menschen« kann also auch bei diesem Thema keine Rede sein.

Im Kern ist das, was der Staat tut, noch viel schlimmer: Mit unseren Steuern bezahlt er zuerst die Abtreibungsberater, dann die Abtreibung selbst und schließlich die Versuche zur Beseitigung der negativen Folgen bei vielen Frauen, die oft noch lange nach einer Abtreibung Hilfe benötigen. Ein anderes Beispiel: Ein Bewerber für ein öffentliches Amt in München ist Mitglied in einer Lebensschutz-Organisation. Nach Bekanntwerden wird er öffentlich angegriffen, diffamiert und aus dem Bewerbungsverfahren gekippt. Er war Kandidat der CSU, die ihn fallen ließ, als sie politisch unter Druck geriet. Der Staat achtet auf den Schutz von Kröten, auf Umwelt- und Verbraucherschutz, aber der Schutz eines ungeborenen wehrlosen Kindes ist ihm völlig gleichgültig. Ein solcher Staat darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn seine Bürger ihm keine Gesetzestreue und Loyalität mehr entgegenbringen!

2.3 Suizidassistenz

Anfang November 2015 hat der Deutsche Bundestag einen neuen Paragrafen (217) im Strafgesetzbuch mit folgendem Wortlaut beschlossen: »Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten ist oder diesem nahesteht.« D. h. also: Suizid und Beihilfe dazu bleiben, wie bisher, straffrei. Lediglich eine geschäftsmäßige, d. h. auf Wiederholung und Gewinn angelegte Suizidbeihilfe ist ebenso verboten wie eine aktive Sterbehilfe. Der bereits zitierte Robert Kardinal Sarah sagt hierzu treffend: »Die Euthanasie ist das schrillste Anzeichen einer Gesellschaft ohne Gott, einer untermenschlichen Gesellschaft, die die Hoffnung verloren hat.«11

Und er folgert daraus: »Wenn wir aus der Kultur des Todes nicht aussteigen, läuft die Menschheit in ihr Verderben. Zu Beginn dieses dritten Jahrtausends gilt die Vernichtung von Leben nicht mehr als Barbarei, sondern als ein Fortschritt der Zivilisation; das Gesetz gibt unter einem Recht zur individuellen Freiheit vor, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, seinen Nächsten zu töten. Die Welt könnte zu einer regelrechten Hölle werden.«12

Der Befund, wie der Staat seine »Verantwortung vor Gott und den Menschen« wahrnimmt, ist also in allen drei aufgezeigten Bereichen bedrückend.

Und da bekannt ist, dass politische Entscheidungen und die Rechtsetzung häufig eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen sind, schauen wir uns jetzt kurz die Situation in unserer Gesellschaft an.

3. Wie geht die Gesellschaft mit der »Verantwortung vor Gott und den Menschen« um?

Die gesellschaftlichen Krisensymptome bei uns sind bedrohlich geworden, unterstützt von zunehmenden Fernseh-Primitivsendungen aus der Verblödungsindustrie mit hohen Einschaltquoten wie zum Beispiel »Dschungelcamp« oder »Bauer sucht Frau«. Wegen des staatlich verordneten Rundfunk-Zwangsbeitrages gibt es wohl auch keine Chance, diese Situation zu verbessern. Gerichtsurteile aus der jüngsten Vergangenheit lassen uns da ziemlich mutlos werden. Welche unserer Lebensgewohnheiten weisen denn eigentlich noch auf eine christliche Ethik hin? Sind es der allgemeine Glaubensverlust, der rapide abnehmende Besuch von Gottesdiensten, der Rückgang beim Empfang von Sakramenten, Egoismus, Abbau menschlicher Sensibilität und sozialer Solidarität, Macht, Geld, Sex, totales Lustprinzip, Disqualifikation der Ehe und des Kindeswohls mit Verächtlichmachen der ehelichen Treue, Liebe und Verantwortung, Patchworkfamilien, Homo-Ehen, hohe Scheidungsraten, Abbau von vertrauensvollen Eltern-Kind-Beziehungen, Gleichgültigkeit gegenüber den sexuellen Verführungen unserer Kinder in Kindergärten und Schulen, Abtreibung als Menschenrecht, Verachtung von Behinderten, Wegschieben und Aussondern von alten Menschen, weil sie zu teuer und zu lästig sind, ungebremste Versuche zur Optimierung des Menschen durch grenzenlose Forschung und Anwendung der Gen- und Biotechnik? Also was wollen wir? Wir haben zahlreiche Gründe, über unsere immer wieder von den Politikern viel beschworenen sogenannten Werte nachzudenken, die es in der Realität doch kaum noch gibt! Aber allein mit einem solchen Befund kommen wir nicht weiter, denn Ernst-Wolfgang Böckenförde hat recht mit seinem bereits vor über vierzig Jahren ausgesprochenen Diktum: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«13 Es nutzt aber dann nichts, wenn wir nicht bereit sind, nach diesen Voraussetzungen zu handeln und zu leben.

Interessant bleibt jetzt noch die dritte Frage, ob wir katholischen Christen heute in unserem Bekenntnis zur Würde des Menschen »in Verantwortung vor Gott und den Menschen« von unserer Kirche genügend unterstützt werden. Wir fragen also nach der

4. Haltung der katholischen Kirche zu den drei Bereichen:

4.1 Ehe und Familie

Schon der große Familienpapst Johannes Paul II. hat während seines Pontifikats die Gender-Ideologie als eine »neue Ideologie des Bösen« bezeichnet, und Papst Franziskus hat sie »dämonisch« genannt. Warum wird diese klare Position nicht ohne Wenn und Aber vertreten? Warum brauchen wir plötzlich bei der Ehe, die ein Sakrament ist und bleibt, nach Reinhard Kardinal Marx »neue Lösungen« oder einen »Paradigmenwechsel«? Wieso muss »der Kern der Wahrheit« neu freigelegt werden? Jesus Christus hat uns doch geoffenbart, was seine Wahrheit ist, und die ist zweifelsfrei und völlig zeitunabhängig. Wieso ist nach Auffassung der Deutschen Bischofskonferenz plötzlich das personale Gewissen der Maßstab für den Empfang der Sakramente? Wieso ist auf einmal nicht mehr jeder objektive Ehebruch schwere Sünde? Im Kern wird hier nach dem fatalen Fehler der »Königsteiner Erklärung« erneut ein überflüssiges Scheunentor geöffnet, das im Ergebnis dazu führen wird, dass der Dammbruch nicht aufzuhalten ist und sich unsere Kirche im Verständnis und in der Anwendung von Sakramenten spalten wird. Erste Erklärungen von nationalen Bischofskonferenzen weisen bereits zweifelsfrei darauf hin.

Was hat denn ein völlig überflüssiger Flyer »Geschlechtersensibel: Gender katholisch gelesen«14, mit dem Logo der Deutschen Bischofskonferenz versehen, für ein Ziel, wenn er lediglich den falschen Eindruck erweckt, dass Gender die Chancengleichheit von Frauen und Männern herstellen will? Gottlob haben sich mehrere Bischöfe wie zum Beispiel Paul Josef Kardinal Cordes und die Bischöfe Voderholzer und Algermissen dagegen verwahrt und ausdrücklich betont, dass sie dazu auch gar nicht befragt worden seien. Ja, wer hat den Flyer denn initiiert, gebilligt und finanziert, und warum ist bis heute keine Distanzierung durch die DBK erfolgt? Seit Jahren mahnen katholische Gläubige ein Hirtenwort zur Gender-Ideologie an – bis heute leider vergeblich!

Zwei andere Fragen möchte ich noch kurz erwähnen:

Erstens: Vor allem in Berlin, aber auch in anderen Bundesländern haben verantwortliche Betreuer in Flüchtlingseinrichtungen mehrfach öffentlich darüber berichtet, dass Christen es nicht wagen, ihren Glauben zu bekennen, weil sie nicht selten mit dem Tod bedroht und tätlich angegriffen werden. Daran beteiligen sich sogar Dolmetscher und Personen des Sicherheitspersonals in den Unterkünften. Viel zu spät hat man damit angefangen, auch an der Spitze der beiden Kirchen, diese Klagen ernst zu nehmen und sich zu überlegen, wie man darauf reagieren soll. Ein früheres und entschiedeneres öffentliches Signal zum Schutz der christlichen Flüchtlinge wäre für die Betroffenen sehr viel hilfreicher gewesen und hätte der katholischen Kirche in Deutschland viele neue Sympathien statt Verwunderung, Zweifel und Ablehnung eingebracht. Und ich füge ohne Scheu hinzu, zumal ich weiß, dass gerade in dieser Frage viele katholische Christen einer Meinung mit mir sind: Wenn Papst Franziskus bei seinem Besuch der Flüchtlingseinrichtungen auf der Insel Lesbos in Griechenland am 16. April 2016 nicht ausschließlich muslimische Familien aus Syrien, sondern auch christliche mit nach Rom genommen hätte, dann wäre dies ein ermutigendes und hoffnungsvolles Zeichen für die vielen verfolgten Christen in diesem Land gewesen. Der Hinweis auf ungültige Papiere von vorgeschlagenen christlichen Familien kann nicht überzeugen.

Zweitens: Die ständige Verharmlosung des Islam durch einige Bischöfe mit unterschiedlichen Begründungen hat inzwischen ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Wer immer noch behauptet, dass Islamismus nichts mit dem Islam zu tun hat, der kann uns auch gleich zusätzlich darüber belehren, dass Alkoholismus nichts mit Alkohol zu tun hat. Es ist selbstverständlich, dass bei uns das Recht auf Religionsfreiheit für alle gelten muss, für Christen wie für Muslime und alle anderen. Aber wir sollten schon den Mut haben und sagen, dass in unserem Land Christen und Juden von Muslimen angegriffen werden und nicht umgekehrt.

Und im Übrigen scheint es überfällig zu sein, dass sich unsere Bischöfe mehr zu Fragen des Glaubens äußern und sich darüber hinaus vor allem auf Probleme wie Zerschlagung der Familien, sexuelle Verführung der Kinder in den Schulen, Abtreibung, »Pille danach« oder verlassene Scheidungskinder konzentrieren. Ständige Stellungnahmen zur aktuellen Politik sind nicht Aufgabe der Bischöfe, auch nicht öffentliche Laudationes für die Regierungschefin. Und es macht ebenfalls keinen Sinn, wenn zum Beispiel Erzbischof Schick fordert, dass gegenüber der AfD deutlich gemacht werden müsse, »was unsere demokratischen und christlichen Positionen sind, was geht und was nicht«, wenn er diese Forderung nicht gleichzeitig gegenüber allen Parteien erhebt, die keine christlichen Positionen vertreten. Und wenn ein Kardinal in der Öffentlichkeit erklärt, er sehe keine Spaltung in unserer Gesellschaft, dann ist das bestenfalls ein Beitrag aus einer gesellschaftlichen Isolierstation. Es gibt ja nicht einmal mehr einen Diskurs in Kirche und Gesellschaft, der diskriminierungsfrei ist.

Und die Aussage des Kölner Kardinals, Christen und Muslime hätten denselben Gott, ist theologisch schlicht und ergreifend falsch.

4.2 Abtreibung

Hier möchte ich mich auf den Hinweis beschränken, dass unsere Kirche immer wieder mutig in der Öffentlichkeit und auch in Gesprächen mit Politikern darauf hinweisen müsste, dass sie die Tötung ungeborenen Lebens verurteilt. Dass dies in eindrucksvoller Weise von einigen Bischöfen, wenn auch nur von wenigen, beim »Marsch für das Leben« sowohl im letzten als auch schon im Jahr davor in Berlin unter Beweis gestellt worden ist, haben wir mit großer Dankbarkeit ebenso registriert wie das Plädoyer des Rottenburger Weihbischofs Thomas Maria Renz für ein neues Denken und Handeln in der Schwangerenberatung. Solche Bekenntnisse unserer Hirten würden wir gern noch öfter hören, denn sie verfehlen nicht ihre öffentliche Wirkung. Auch eine Predigt über den Schutz des ungeborenen Lebens sollte kein Tabu sein. Wir haben lange keine mehr gehört.

4.3 Suizidassistenz

Nach der in einem vorhergehenden Kapitel zitierten Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Erlaubnis der Suizidassistenz haben Reinhard Kardinal Marx und der damalige ZdK-Vorsitzende Alois Glück, zusammen mit Repräsentanten der EKD, eine Pressemitteilung herausgegeben, die einen katholischen Christen geradezu fassungslos macht. Sie feiern darin nämlich diese Entscheidung als »ein starkes Zeichen für den Lebensschutz und für die Zukunft unserer Gesellschaft und ihren Zusammenhalt«. Noch ein Jahr vorher stand in einem Flyer der deutschen Bischöfe unter dem Titel »Sterben in Würde«: »Aus ethischer Sicht ist die Beihilfe zur Selbsttötung – sowohl durch Organisationen als auch durch Ärzte oder andere nahestehende Personen – abzulehnen.« Jetzt finden wir keinen Hinweis mehr darauf und auch nicht auf die religiöse Ethik des Christentums, dass nämlich jedes Leben ein Geschenk Gottes ist und nicht der Verfügbarkeit des Menschen unterliegt. Diese Stellungnahme unserer Kirche ist eine traurige Niederlage für den Schutz des menschlichen Lebens und den Zusammenhalt einer kultivierten Gesellschaft, über die wir erschüttert sind.

Für unseren Einsatz für Ehe und Familie brauchen wir ebenso wie für unseren Kampf für die Erhaltung des menschlichen Lebens und seiner Würde Verbündete. Der erste und wichtigste Verbündete ist unsere Kirche, und auf sie müssen wir uns verlassen können. Anpassung an den Zeitgeist und Anbiederung an die Politik helfen uns nicht weiter, sondern machen uns immer schwächer. Wenn Tradition und Lehre gegen den Zeitgeist ausgespielt werden, haben wir bereits im Ansatz die Auseinandersetzung mit der säkularisierten Welt verloren. Und die Forderung nach einer »Verheutigung des Evangeliums« halten wir für ebenso abwegig wie die Bemerkung, wir seien keine »Filiale von Rom«. Unser Glaubensverständnis ist ein anderes.

5. Schluss

Wir wollen uns bemühen, die Glaubenswahrheiten zu leben und mutig zu vertreten, um damit unserer »Verantwortung vor Gott und den Menschen« gerecht zu werden. Wir lehnen jegliche Art von Gewalt ab, gleichgültig, ob sie von »Linken« oder »Rechten« begangen wird, und erwarten dies auch von den Politikern aller demokratischen Parteien. Und wenn zum Beispiel unbescholtene Menschen, die sich für den Erhalt von Ehe und Familie und den Schutz des menschlichen Lebens einsetzen, in einem Theaterstück mit einem Massenmörder und einer Rechtsterroristin in Zusammenhang gebracht und die dafür verantwortlichen sogenannten Künstler anschließend mit Verweis auf die »Freiheit der Kunst« vom Landgericht in Berlin von der Anklage freigesprochen werden, dann ist das ein Skandal. Es gab kein Wort dazu von einem hohen Kirchenvertreter, keines vom Bundesminister der Justiz und auch keines von der Bundeskanzlerin. Es kann doch nicht sein, dass eine deutsche Regierungschefin bei übler Schmähung und Beleidigung von Jesus Christus und früher auch mehrfach von Papst Benedikt XVI. im eigenen Land schweigt, aber bei einer Schmähkritik gegen einen Despoten eines anderen Landes, der brutale Kriege führt und im Inneren alle Kritiker und Gegner verfolgen und gefangen nehmen lässt, in demütigen Kotau verfällt, nur um ihre umstrittene Flüchtlingspolitik zu retten. Abschaffung der Pressefreiheit, Ausschaltung der unabhängigen Justiz, willkürliche Verhaftungen und Aufruf zu Denunziationen verlangen mehr als eine sanfte Sprache der Diplomatie.