Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe A Head Full of Ghosts

erschien 2015 im Verlag William Morrow.

Copyright © 2015 by Paul Tremblay

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-660-1

www.Festa-Verlag.de

Für Emma,

Stewart und Shirley

»My memory, she was first to the plank, and a B movie played in the aisle.«

(»In meiner Erinnerung ging sie als Erste über die Planke, und im Mittelgang lief ein B-Movie.«)

Future of the Left, »An Idiot’s Idea of Ireland«

»Es ist so angenehm, mich frei in diesem großen Zimmer zu bewegen und umherzukriechen, wie es mir gefällt!«

Charlotte Perkins Gilman, »Die gelbe Tapete«

»Do you wanna know a secret? Will you hold it close and dear? This will not be made apparent, but you and I are not alone in here.«

(»Willst du ein Geheimnis hören? Kannst du es für dich behalten? Wir werden es nicht an die große Glocke hängen, aber du und ich, wir sind hier drin nicht allein.«)

Bad Religion, »My Head Is Full of Ghosts«

TEIL 1

1

»Es ist bestimmt nicht leicht für Sie, Meredith.«

Bestsellerautorin Rachel Neville trägt das perfekte Herbst-Ensemble: einen dunkelblauen Hut, passend zu ihrem zweckmäßigen knielangen Rock, und eine beige Wolljacke mit Knöpfen so groß wie Katzenköpfe. Sie achtet gewissenhaft darauf, auf dem unebenen Fußweg zu bleiben. Die Schiefersteine sind gekippt, ihre Kanten ragen aus dem Boden heraus, und sie wackeln unter ihren Füßen wie lockere Milchzähne.

Als Kind habe ich immer ein Stück rote Zahnseide um einen Wackelzahn gebunden und dann tagelang aus meinem Mund baumeln lassen, bis der Zahn von selber ausfiel. Marjorie hänselte mich deswegen, und sie jagte mich durch das Haus und versuchte, an dem Faden zu ziehen, und ich schrie und jammerte, weil es Spaß machte und weil ich Angst hatte, dass sie, wenn ich sie einen Zahn herausziehen ließe, sich nicht mehr beherrschen könnte und auch den Rest herausziehen würde.

Ist tatsächlich so viel Zeit vergangen, seit wir hier gewohnt haben? Ich bin erst 23, aber wenn mich jemand nach meinem Alter fragt, sage ich immer, dass ich ein Vierteljahrhundert minus zwei Jahre alt bin. Ich mag es, wenn man den Leuten ansieht, wie sie sich im Kopf mit den Zahlen abmühen.

Ich ignoriere den Weg und gehe quer durch den verwahrlosten Vorgarten, der im Frühjahr und Sommer wild und ungezähmt wuchert und sich jetzt in der neuen Kälte des Herbstes zurückzuziehen beginnt. Blätter und Unkrautfinger kitzeln meine Fußknöchel und greifen nach meinen Turnschuhen. Wäre Marjorie jetzt hier, würde sie mir wahrscheinlich eine kurze Geschichte über Würmer, Spinnen und Mäuse erzählen, die unter der modernden Vegetation herumkrabbeln und sich an die junge Frau heranpirschen, die so töricht ist, nicht in der Sicherheit des Fußweges zu bleiben.

Rachel betritt das Haus zuerst. Sie hat einen Schlüssel und ich nicht. Also bleibe ich hinter ihr zurück, knibble einen Streifen weißer Farbe von der Haustür ab und stecke ihn in meine Hosentasche. Warum sollte ich kein Souvenir mitnehmen? Es ist ein Souvenir, mit dem sich offenbar schon viele andere eingedeckt haben, wenn ich mir die abblätternde Tür und die schuppige Veranda so ansehe.

Mir war nicht bewusst, wie sehr ich das Haus vermisst habe. Und ich komme gar nicht darüber hinweg, wie grau es jetzt aussieht. War es schon immer so grau gewesen?

Ich schleiche mich hinein und die Haustür fällt flüsternd hinter mir zu. Auf dem zerkratzten Parkett der Diele stehend, schließe ich die Augen, um diesen ersten Schnappschuss meiner Heimkehr als verlorene Tochter besser sehen zu können: Decken so hoch, dass ich nie an etwas herankommen konnte; gusseiserne Heizkörper, die sich in vielen Zimmerecken verstecken, als könnten sie jeden Moment wütend dampfend zum Leben erwachen; direkt voraus ist das Esszimmer, dann die Küche, in der wir auf keinen Fall verweilen dürfen, und ein Flur, ein gerader Weg zur Hintertür; rechts von mir das Wohnzimmer und weitere Flure, die Speichen eines Rades; unter mir, unter dem Boden, der Keller mit seinem Stein- und Mörtelfundament und dem kalten Lehmboden, den ich noch immer zwischen meinen Zehen fühlen kann. Links von mir ist der Durchgang zur Klaviertreppe mit ihren weißen Setzstufen und Geländern und den schwarzen Trittstufen und Absätzen. Sie führt in drei Abschnitten mit zwei Treppenabsätzen in den ersten Stock. Es geht so: sechs Stufen hoch, Absatz, nach rechts drehen, dann nur fünf Stufen bis zum nächsten Absatz, wieder nach rechts drehen und sechs Stufen bis zum Flur des Obergeschosses. Am besten gefallen hat mir immer, dass man sich einmal komplett umdreht, wenn man nach oben geht, aber ach, was habe ich mich geärgert über die fehlende sechste Stufe im Mittelteil.

Ich öffne die Augen. Alles ist alt und vernachlässigt und in gewisser Weise noch genauso wie früher. Aber der Staub und die Spinnweben, der rissige Putz und die abblätternden Tapeten wirken irgendwie gestellt. Das Vergehen der Zeit als ein Requisit der Geschichte, dieser Geschichte, die so oft erzählt und wiedererzählt wurde, dass sie ihre Bedeutung verloren hat, selbst für diejenigen unter uns, die sie miterlebt haben.

Rachel setzt sich ans entlegene Ende eines langen Sofas im fast leeren Wohnzimmer. Eine Abdeckfolie schützt die Polsterung des Sofas vor allen, die so achtlos sind, sich darauf zu setzen. Aber vielleicht ist es auch Rachel, die geschützt wird, indem die Folie sie davor bewahrt, mit einem modrigen Sitzmöbel in Berührung zu kommen. Ihr Hut macht es sich auf ihrem Schoß bequem, ein zerbrechliches Vögelchen, das aus seinem Nest gestoßen wurde.

Ich beschließe, doch noch verspätet auf ihre Nicht-Frage zu antworten.

»Sie haben recht, es ist nicht leicht für mich. Aber bitte nennen Sie mich nicht Meredith. Merry ist mir lieber.«

»Es tut mir leid, Merry. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierherzukommen.« Rachel steht auf, ihr Hut flattert zu Boden, und sie versteckt die Hände in ihren Jackentaschen. Ich frage mich, ob sie in ihren Taschen ihre eigenen Farbchips, Tapetenstreifen oder irgendwelche anderen Bruchstücke der Vergangenheit dieses Hauses verbirgt. »Wir können das Interview auch an einem anderen Ort fortsetzen, an dem Sie sich wohler fühlen.«

»Nein, nein. Ist schon okay. Ich habe mich ja freiwillig dazu bereit erklärt. Ich bin nur …«

»Nervös. Das verstehe ich vollkommen.«

»Nein.« Ich sage Nein im singenden Tonfall meiner Mom. »Das ist es ja gerade. Ich bin das genaue Gegenteil von nervös. Ich kann es kaum fassen, wie wohl ich mich hier fühle. So verrückt es klingt – es ist überraschend nett, wieder zu Hause zu sein. Ich weiß nicht, ob das irgendeinen Sinn ergibt, und normalerweise plappere ich auch nicht so drauflos, also bin ich vielleicht doch nervös. Aber wie dem auch sei – bitte setzen Sie sich wieder hin; ich komme zu Ihnen.«

Rachel setzt sich wieder aufs Sofa und sagt: »Merry, ich weiß, dass Sie mich nicht besonders gut kennen, aber ich verspreche Ihnen, dass Sie mir vertrauen können. Ich werde Ihre Geschichte mit der Würde und Sorgfalt behandeln, die sie verdient hat.«

»Vielen Dank. Ich glaube Ihnen. Wirklich«, sage ich und setze mich ans andere Ende des Sofas, das sich pilzartig weich anfühlt. Jetzt, da ich sitze, bin ich froh über die Schutzfolie. »Es ist die Geschichte selbst, der ich nicht ganz traue. Es ist ja nicht meine Geschichte. Sie gehört nicht mir. Und es wird knifflig werden, sich den Weg durch einige der unerforschten Regionen zu bahnen.« Ich lächle, stolz auf die Metapher.

»Dann betrachten Sie mich als Ihre Begleiterin auf dieser Entdeckungsreise.« Ihr Lächeln ist – ganz anders als meines – ungezwungen.

»Wie sind Sie daran gekommen?«

»Woran, Merry?«

»An den Haustürschlüssel. Haben Sie das Haus gekauft? Nicht unbedingt die schlechteste Idee. Gut, Besichtigungen des berüchtigten Barrett-Hauses anzubieten hat sich für den vorherigen Besitzer nicht so recht bezahlt gemacht, aber das heißt ja nicht, dass es nicht jetzt funktionieren könnte. Das wäre eine großartige Reklame für das Buch. Sie oder Ihr Agent könnten die Besichtigungstouren wieder aufnehmen. Sie könnten das Ganze mit Lesungen und Buchsignierungen im Wohnzimmer aufpeppen. Richten Sie einen Andenkenshop in der Diele ein und verkaufen Sie raffinierte gruselige Souvenirs zusammen mit den Büchern. Ich könnte dabei helfen, Szenen aufzubauen oder Live-Darbietungen in den verschiedenen Zimmern im Obergeschoss vorzuführen. Als – wie heißt es noch mal in unserem Vertrag? – ›Kreativberaterin‹. Ich könnte mich um Requisiten und Regieanweisungen kümmern …« Ich verzettele mich da in etwas, das als leichter Scherz angefangen hat und jetzt ein bisschen aus dem Ruder läuft. Als ich endlich aufhöre zu brabbeln, hebe ich die Hände und betrachte Rachel und das Sofa durch einen Rahmen aus meinen Daumen und Zeigefingern wie ein imaginärer Regisseur.

Rachel lacht höflich während meines Vortrags. »Um es klarzustellen, Merry, meine liebe Kreativberaterin – ich habe Ihr Haus nicht gekauft.«

Mir ist bewusst, wie schnell ich rede, aber ich schaffe es nicht, langsamer zu werden. »Das ist wahrscheinlich schlau, wenn man den schlechten Zustand des Gebäudes bedenkt. Und gibt es da nicht diesen Spruch, dass man, wenn man ein Haus kauft, auch die Probleme anderer Leute kauft?«

»Angesichts Ihrer sehr vernünftigen Bitte, dass uns heute niemand begleitet, konnte ich den äußerst entgegenkommenden Immobilienmakler überreden, mir den Schlüssel und etwas Zeit in diesem Haus zur Verfügung zu stellen.«

»Ich bin sicher, dass das gegen irgendwelche Immobilienmakler-Bestimmungen verstößt, aber Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«

»Sind Sie gut darin, Geheimnisse zu bewahren, Merry?«

»Besser als manche anderen.« Ich überlege kurz, dann füge ich hinzu: »Aber meistens ist es eher so, dass sie mich bewahren«, weil es so schön mysteriös und kernig klingt.

»Ist es okay, wenn ich jetzt mit der Aufzeichnung beginne, Merry?«

»Was denn, keine Notizen? Ich hatte Sie mir mit einem Stift in der Hand vorgestellt und einem kleinen schwarzen Notizbuch, das Sie stolz in Ihrer Jackentasche verbergen. Es ist voll mit bunten Klebezetteln und Lesezeichen, um die Seiten zu markieren, auf denen Sie Recherchen festhalten, Charakterskizzen und unzusammenhängende, aber treffende Beobachtungen über die Liebe und das Leben.«

»Ha! Das ist ja so was von nicht mein Stil.« Rachel entspannt sich merklich. Sie beugt sich vor und berührt meinen Ellbogen. »Aber wenn ich Ihnen ein Geheimnis verraten darf: Ich kann mein eigenes Gekritzel nicht lesen. Ich glaube, einer meiner Gründe dafür, Autorin zu werden, war, dass ich es all den Lehrern und Mitschülern zeigen wollte, die sich immer über meine Handschrift lustig gemacht haben.« Ihr Lächeln ist zurückhaltend und echt, und sie ist mir gleich viel sympathischer. Mir gefällt auch, dass sie ihr grau meliertes Haar nicht färbt, dass ihre Haltung korrekt ist, aber nicht unausstehlich korrekt, dass sie ihren linken Fuß über ihren rechten kreuzt, dass ihre Ohren nicht zu groß sind für ihr Gesicht und dass sie noch keine Bemerkung darüber gemacht hat, zu was für einem gruseligen, leeren alten Haus das Heim meiner Kindheit geworden ist.

»Ah, süße Rache!«, sage ich. »Wir werden Ihre zukünftigen Memoiren Nieder mit der Schreibschrift! nennen, und Sie schicken Ihren verwirrten und seit Langem pensionierten ehemaligen Lehrern jeweils ein Exemplar, natürlich unleserlich in Rot signiert.«

Rachel öffnet die Jacke und holt ihr Smartphone heraus.

Ich beuge mich langsam zum Boden und hebe ihren blauen Hut auf. Nachdem ich höflich den Staub von der Krempe geklopft habe, setze ich ihn schwungvoll auf meinen Kopf. Er ist zu klein.

»Ta-dah!«

»Er steht Ihnen viel besser als mir.«

»Finden Sie wirklich?«

Wieder lächelt Rachel. Diesmal kann ich es nicht deuten. Ihre Finger tippen und wischen auf dem Touchscreen ihres Smartphones, und ein Piepton durchdringt die Leere des Wohnzimmers. Es ist ein schreckliches Geräusch – kalt, endgültig, unwiderruflich.

»Wollen wir damit anfangen, dass Sie mir von Marjorie erzählen und davon, wie sie war, bevor alles geschah?«

Ich nehme den Hut ab und wirble ihn herum. Die Zentrifugalkraft der Rotation wird ihn entweder an meinem Finger halten oder quer durch das Zimmer fliegen lassen. Ich frage mich, wo in diesem großen, leeren Haus er wohl landen würde.

»Meine Marjorie …«, sage ich. Und dann zögere ich, weil ich nicht weiß, wie ich ihr erklären soll, dass meine ältere Schwester in den 15 Jahren kein Stück gealtert ist und dass es nie ein bevor alles geschah gab.

2

THE LAST FINAL GIRL

Yeah, dies ist ein BLOG! (Wie retro!) Oder ist THE LAST FINAL GIRL der großartigste Blog aller Zeiten!?!? Hier interessiert uns alles, was mit Horror und Grauen zu tun hat. Bücher! Comics! Computerspiele! TV! Kino! High School! Vom blutrünstig-schnulzigen Spätfilm-Käse bis zum hochgeistigen Experimentalkunstwerk für Chianti schlürfende Intellektuelle. Und natürlich: SPOILERALARM!!!!!

Autorin: Karen Brissette

Montag, 14. November 20__

Besessen!, 15 Jahre danach: Folge 1 (Teil 1)

Ja, ich weiß, es ist schwer zu glauben, dass unser aller (na gut, zumindest mein) Lieblings-Reality-Fernsehspektakel Besessen! schon vor 15 Jahren auf Sendung ging. Ich meine: 15 Jahre! Das waren jene berauschenden Tage der NSA-Überwachung, des Filesharings, Crowdfundings und der Prä-Kollaps-Ökonomie!

Zieht euch warm an für meine ausführliche Dekonstruktion der sechsteiligen Serie. Es gibt so viel, über das man reden kann. Allein über die Pilotfolge könnte ich eine Dissertation schreiben. Ich halte es nicht mehr aus! Ihr haltet es nicht mehr aus! Karen, hör auf, uns auf die Folter zu spannen!!!

Einsatz Hintergrundsprecher: Mitte der 2000er führte die Ablösung durch eine andere Serie in der Mitte der Herbststaffel dazu, dass die Serie abgesetzt wurde. Doch angesichts des Erfolges von Duck Dynasty und vielen anderen sogenannten Redneck-Reality-Shows der Kabelsender könnte es jederzeit zu einem Überraschungserfolg einer neuen Reality-Serie kommen.

(Nebenbemerkung: Diese Redneck-Reality-Serien – eine spießige Bezeichnung, wenn es je eine gab – füllten die Lücke nach dem Niedergang der Malocher-Sitcoms oder -Dramen ... erinnert ihr euch noch an Green Acres oder Ein Duke kommt selten allein? Ich auch nicht.)

Der Discovery Channel setzte große Hoffnungen auf Besessen!, auch wenn die Serie auf den ersten Blick nicht so direkt in die Redneck-Schiene passte. Die Serie spielte (Ja, ich verwende das Wort spielen, da ich die Serie als Dichtung behandle, und zwar weil sie wie all die anderen Reality-Serien auch tatsächlich Dichtung war. So.) in der gut situierten Bostoner Vorstadt Beverly, Massachusetts. Schade, dass die Familie Barrett nicht im benachbarten Salem wohnte, wo man, wie ihr wisst, damals in der guten alten Zeit all diese Hexen verbrannt hat. Ich beantrage hiermit, dass die Fortsetzung bitte in Salem spielt und produziert wird! Ich scherze – aber man hätte Besessen! doch genauso gut in einer Stadt spielen lassen können, die dafür berüchtigt ist, dass man dort »unangemessene« junge Frauen zu Tode gefoltert hat, oder? Aber ich schweife ab ... Also, ja, auf den ersten Blick hatte die Serie keine Rednecks, keine Hinterwäldler, keine Teiche mit schnappenden Schildkröten, keine bodenständige, rustikale Lebensweisheit, keine Typen mit langen Bärten und Overalls. Die Barretts waren eine stereotype Mittelschichtfamilie in einer Zeit, als die Mittelschicht sich zunehmend auflöste. Ihre verblassende Mittelschichtigkeit trug sehr zum Reiz bei, den die Serie auf die Arbeiter- und Unterschicht ausübte. So viele Amerikaner dachten und denken immer noch, sie gehören zur Mittelschicht, auch wenn es nicht stimmt, und sie wollen verzweifelt weiter an die Mittelschicht und die Werte des bourgeoisen Kapitalismus glauben.

Und dann kam da also diese 80er-Jahre-Soap-Opera-Familie (denkt an Familienbande, Wer ist hier der Boss?, Unser lautes Heim), die von auswärtigen Mächten (realen wie fiktiven) belagert wurde, und nach Malocher-Sympathien fischte die Serie mit John Barrett, einem arbeitslosen Vater Anfang 40. Die finanzielle Situation der Familie war, wie die so vieler anderer Leute, im Arsch, um es mal so zu formulieren. Barrett hatte 19 Jahre lang für den Spielzeughersteller Barter Brothers gearbeitet, wurde aber entlassen, als Hasbro die Firma kaufte und die 80 Jahre alte Fabrik in Salem dichtmachte. (Schon wieder Salem! Sag mir, wo die Hexen sind.) John besaß keine College-Ausbildung und hatte in der Fabrik gearbeitet, seit er 19 war, angefangen am Fließband, von wo er sich hochgearbeitet hatte und die Spielzeugleiter emporgeklettert war, bis er schließlich Leiter der Poststelle wurde. Er bekam 38 Wochen Gehalt als Abfindung für seine zwei Jahrzehnte der Sklaverei, was er auf anderthalb Jahre Existenzminimum strecken konnte. Aber das Geld ließ sich nur begrenzt strecken, um zwei Töchter und ein großes Haus zu finanzieren und die Grundsteuer und all die Hoffnungen und Versprechungen und Wünsche, die der Mittelschicht-Lebensstil mit sich bringt.

Die Pilotfolge beginnt mit Johns Leidensgeschichte. Was für eine brillante Entscheidung der Autoren/Regisseure/Produzenten! Gleich mit einer der zu erwartenden nachgestellten Besessenheitsszenen anzufangen, wäre viel zu klischeehaft gewesen und ehrlich gesagt ziemlich albern. Stattdessen präsentieren sie uns unscharfe Schwarz-Weiß-Fotos von Johns alter Fabrik in ihrer Blütezeit, Fotos von Arbeitern, die fröhlich ihre Schaumstoff- und Gummispielzeuge anfertigen. Dann folgt ein Schnitt zu einer Montage, in der die Bilder fast subliminal schnell vorbeiblitzen: Politiker in Washington, wütende Occupy-Wallstreet-Demonstranten, Tea-Party-Kundgebungen, Arbeitslosentabellen und -grafiken, chaotische Zustände bei Vorstandssitzungen, zeternde TV-Kommentatoren, weinende Arbeiter, die aus der Barter-Brothers-Fabrik trotten. In der ersten Minute der Serie sind wir schon Zeuge der neuen und allzu vertrauten amerikanischen Wirtschaftstragödie geworden. Die Serie beschwört ein Gefühl der Ernsthaftigkeit herauf, zusammen mit einer Aura der Unbehaglichkeit, indem sie ausschließlich Realismus verwendet und zuerst John Barrett vorstellt: den neuen entmannten Mann des Postmillenniums; ein lebendes Symbol für den patriarchalen Zusammenbruch der Gesellschaft, und meine Güte – er symbolisiert ihn wirklich gut, nicht wahr?

Urks, ich hatte eigentlich gar nicht vor, diese Reihe von Blog-Beiträgen über DIE Serie mit Politik einzuleiten. Ich verspreche, dass es nicht mehr lange dauert, bis ich zum lustigen blutrünstigen Horrorkram komme, aber bis dahin müsst ihr Nachsicht mit mir haben – WEIL KAREN ES SAGT!!!

Wenn Besessen! den vielen erzkonservativen Besessenheits- und Horrorfilmen der Vergangenheit nacheifern wollte, dann würde die Serie das auf den hängenden Schultern des Mannes im Haus stehend tun. Die Botschaft war bereits klar. Daddy Barrett war ohne Job und folglich die Familie und die Gesellschaft als Ganzes voll im Niedergang begriffen. Der Lebenslauf der armen Mom, Sarah Barrett (wackere Bankkassiererin), wird in der Einleitungssequenz nur kurz gestreift. Dass sie die einzige Ernährerin der Familie ist, findet erst später in der Pilotfolge Erwähnung, als sie ihren Job in einem der Beichtinterviews (Seht ihr, was sie hier getan haben???) nebenbei erwähnt. In der Einleitung ist Sarah kaum mehr als ein Requisit, das in der Montage aus Hochzeitsfotos und auf den Bildern der beiden Töchter Merry und Marjorie auftaucht.

Auf den Fotos sind alle glücklich und lächeln, aber im Hintergrund läuft Unheil verkündende Musik ... (bamm, bamm, BAMM!)

3

Ich erkläre Rachel, dass es eigentlich keinen richtigen Ausgangs- oder Nullpunkt für das gibt, was Marjorie und unserer Familie widerfahren ist.

Und wenn es einen gab, dann hat ihn mein achtjähriges Ich nicht bemerkt, und mein fast ein Vierteljahrhundert altes Ich kann ihn auch durch die angeblich so klare Linse der Rückschau nicht entdecken. Noch schlimmer: Meine Erinnerungen vermischen sich mit meinen Albträumen, mit Extrapolationen, mit verzerrten mündlichen Erzählungen meiner Großeltern und Tanten und Onkel, und mit all den urbanen Legenden und Lügen, die von den Medien, der Popkultur und dem beinahe unaufhörlichen Strom von Websites/Blogs/YouTube-Kanälen, die sich mit der Serie befassen (und ich muss gestehen, dass ich weit mehr Online-Zeug gelesen habe, als ich es hätte tun sollen), verbreitet werden. Deshalb ist alles nur eine hoffnungslose Mixtur von dem, was ich wusste, und dem, was ich jetzt weiß.

In gewisser Weise ist die Tatsache, dass meine persönliche Geschichte nicht mir gehört und sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne von äußeren Kräften manipuliert wird, fast so schrecklich wie das, was wirklich geschehen ist. Fast.

Lassen Sie mich ein kurzes Beispiel anführen, bevor wir ernsthaft loslegen.

Als ich vier war, besuchten meine Eltern zwei von der Kirche organisierte Ehebegegnungswochenenden. Ich habe aus zweiter, dritter oder vierter Hand gehört, dass Dad auf der Teilnahme bestanden hatte in der Hoffnung, eine schwierige Phase ihrer Ehe zu bewältigen und Gott in ihrer Beziehung und ihrem Leben neu zu entdecken. Mom gehörte zu der Zeit schon nicht mehr der katholischen oder irgendeiner anderen Kirche an, und sie war sehr gegen die Idee, ging aber trotzdem mit. Warum sie mitging, bleibt reine Spekulation, denn sie hat weder mir noch jemand anderem den Grund genannt. Dass ich jetzt darüber rede, wäre ihr äußerst peinlich. Das erste Wochenende lief ganz gut mit den Blockhütten, Waldwanderungen, den Gruppendiskussionen und Dialogübungen; die Paare schrieben abwechselnd ihre Antworten auf Fragen ihre Ehe betreffend auf und lasen sie den anderen vor, wobei die Fragen immer im Kontext zu irgendwelchen Bibellektionen oder -texten standen. Offenbar lief das zweite Wochenende nicht so gut, denn Mom kehrte der Ehebegegnung und Dad den Rücken, als Dad angeblich vor der kompletten Versammlung aufstand und einen Vers aus dem Alten Testament zitierte, nach dem sich das Weib dem Manne unterwerfen solle.

Nun ist es durchaus möglich, dass die Geschichte von Moms wütendem Abmarsch eine Übertreibung ist, die auf zwei Fakten basieren könnte: Meine Eltern reisten tatsächlich früher von dem zweiten Wochenende ab und verbrachten eine Nacht in einem Kasinohotel in Connecticut; und während Dad bekanntlich wieder zur Religion fand, als er älter wurde, besuchte er (und besuchten wir) viele Jahre vor dem versuchten Exorzismus niemals die Kirche (katholisch oder anderweitig). Ich erwähne diese Tatsachen im Interesse der Genauigkeit und des Kontextes und um darauf hinzuweisen, dass es durchaus möglich ist, dass die Sache mit dem Bibelzitat tatsächlich niemals so geschehen ist, auch wenn genug Leute glauben, dass es so war.

Womit ich allerdings nicht sagen will, dass Dad nicht vielleicht doch das kränkende Zitat vor Mom ausgesprochen hat, denn es klingt absolut nach etwas, das er tun würde. Den Rest dieser speziellen Geschichte kann man sich leicht vorstellen: Mom stürmt aus der Versammlungshütte, Dad rennt ihr hinterher, bittet sie um Verzeihung und entschuldigt sich wortreich, und um es wiedergutzumachen, fährt er mit ihr ins Kasino.

Jedenfalls, woran ich mich bei diesen Ehebegegnungswochenenden erinnere, ist nur, dass meine Eltern wegfuhren mit dem Versprechen, bald wieder zurück zu sein. Weg war das einzige Wort, das mir mit meinen damals vier Jahren im Gedächtnis blieb. Ich hatte keine Vorstellung von Entfernung oder Zeit. Nur dass sie weg waren, was seltsam bedrohlich klang, auf eine mystische Weise. Ich war davon überzeugt, dass sie weggingen, weil sie es satthatten, dass ich meine Nudeln ohne Soße aß. Dad hatte immer gebrummelt, während er Butter und Pfeffer über meine Hörnchennudeln gab (meine bevorzugten Nudeln), dass er gar nicht glauben könne, dass ich keine Soße wolle. Solange meine Eltern weg waren, passte Dads jüngere Schwester, Tante Erin, auf Marjorie und mich auf. Marjorie nahm es gelassen, aber ich war zu verängstigt und überdreht, um meine normalen Schlafgewohnheiten einzuhalten. Ich errichtete mit penibler Sorgfalt eine Festung aus Stofftieren um meinen Kopf herum, während Tante Erin mir ein Lied nach dem anderen vorsang. Was für ein Lied es war, spielte keine Rolle, wie meine Tante später erzählte, solange es etwas war, das ich aus dem Radio kannte.

Okay, ich verspreche, dass ich im Allgemeinen nicht alle Quellen (widersprüchlich oder nicht) meiner Geschichte anführen werde. Hier, vor dem eigentlichen Anfang, wollte ich nur demonstrieren, wie knifflig das alles ist und wie knifflig es noch werden kann.

Um ehrlich zu sein – und mal alle externen Einflüsse beiseite –, gibt es einige Teile dieser Geschichte, an die ich mich in ausführlichen, schrecklichen Einzelheiten erinnere, so sehr, dass ich manchmal fürchte, mich im Labyrinth der Erinnerung zu verlaufen. Und es gibt andere Teile, die so unklar und unverständlich bleiben, als kämen sie aus dem Kopf eines anderen, und ich fürchte, dass ich in meiner Erinnerung wahrscheinlich einige Zeitabläufe und Ereignisse verschmolzen und komprimiert habe.

So, und nun, indem wir das alles im Hinterkopf behalten, fangen wir noch einmal an.

Was ich mit dieser Einleitung auf nicht ganz so subtile Weise sagen will, ist, dass ich mir alle Mühe gebe, eine Stelle zu finden, an der ich beginnen kann.

Obwohl … ich schätze, ich habe schon begonnen, oder?

4

Ich hatte ein Spielhaus aus Pappe, das in der Mitte meines Zimmers stand. Es war weiß mit schwarz aufgemalten Dachziegeln und gezeichneten Blumenkästen unter den Fensterläden. Ein kurzer Pappschornstein mit aufgemalten Ziegelsteinen thronte oben auf dem Dach, viel zu klein für den Weihnachtsmann – nicht dass ich in dem Alter noch an den Weihnachtsmann geglaubt hätte, ich tat nur für die anderen immer so als ob.

Eigentlich war das weiße Papphaus dazu gedacht, es bunt anzumalen, aber ich ließ es, wie es war. Mir gefiel, dass alles an dem Haus weiß war und dass meine blauen Zimmerwände wie der dazugehörige Himmel aussahen. Und statt das Haus von außen zu bemalen, richtete ich es innen mit einem Nest aus Decken und Stofftieren ein und verzierte die Innenwände mit Zeichnungen von mir und meiner Familie in verschiedenen Szenen und Posen, wobei Marjorie oft als Kriegerprinzessin dargestellt war.

In diesem Papphaus, die Fenster und Türen verschlossen, saß ich, ein kleines Faltbuch in der Hand, auf meinem Schoß ein weiteres Buch.

Ich hatte nie viel übriggehabt für die Schweine und ihr albernes Picknick. Ich interessierte mich nicht für das Bananamobil, das Gurkenauto oder das Hotdog-Auto. Dingo Dogs wilde Raserei und Officer Flossys endlose Verfolgungsjagden langweilten mich ohne Ende. Ich hatte nur Augen für den verschmitzten Goldkäfer, obwohl ich ihn längst auf jeder Seite gefunden und mir die Stelle gemerkt hatte. Er befand sich auf dem Umschlag, wo er einen gelben Bulldozer fuhr, und später in dem Buch saß er hinten in Michael Angelos Lastwagen und auf dem Fahrersitz eines roten VW Käfer, der an der Kette eines Abschleppwagens in der Luft baumelte. Die meiste Zeit war er aber nur ein Paar gelber Augen, die mich durch ein Autofenster anschauten. Dad erzählte mir mal, dass ich, als ich noch sehr klein war, in wahre Raserei verfallen konnte, wenn ich den Goldkäfer nicht fand. Ich glaubte ihm, obwohl ich damals den Begriff »wahre Raserei« nicht kannte.

Ich war acht Jahre alt, also eigentlich zu alt für Richard Scarrys Cars and Trucks and Things That Go, worauf meine Eltern mich immer wieder hinwiesen. Was ich las und was nicht, war eine Zeit lang ein großes Thema und die Hauptquelle familiärer Besorgnis, bevor das alles mit Marjorie geschah. Meine Eltern machten sich Sorgen – ungeachtet der Beteuerungen meines Kinderarztes –, dass mein linkes Auge nicht stärker wurde und nicht mit seinem rechten Nachbarn mithalten konnte und dass das der Grund dafür sei, weshalb ich mich in der Schule nicht hervortat und nicht viel Interesse daran zeigte, Bücher zu lesen, die mehr für mein Alter geeignet waren. Tatsächlich konnte ich gut lesen und tat es auch, aber ich war mehr an den Geschichten interessiert, die meine Schwester und ich uns zusammen ausdachten. Ich beschwichtigte meine Eltern, indem ich immer irgendwelche »Kinderlesebücher«, wie meine Lehrerin Mrs. Hulbig in der zweiten Klasse sie nannte, mit mir herumschleppte und so tat, als würde ich Sachen oberhalb meiner Altersstufe lesen. Meistens stammte diese Pseudolektüre aus dieser endlosen Serie abgedroschener Abenteuergeschichten, deren schlichte Handlung praktisch schon durch den Titel verraten wurde und bei denen üblicherweise ein magiebegabtes Tier eine Rolle spielte. Moms Frage, worum es in dem Buch ging, zu beantworten, war nicht schwer.

Es war also nicht so, dass ich Cars and Trucks and Things That Go immer wieder las. Meine stille und zurückgezogene Suche nach dem Goldkäfer war vielmehr ein Ritual, das ich immer vollzog, bevor Marjorie und ich eine neue Geschichte in das Buch schrieben. Wir hatten schon unzählige Geschichten erfunden, eine für fast jeden der zahlreichen Nebencharaktere in Richard Scarrys Buch, und wir hatten jede Geschichte in das Buch hineingeschrieben. Ich kann mich natürlich nicht mehr an alle Geschichten erinnern, aber da war eine über eine Katze, die einen Wagen fuhr, der in einer Pfütze Sirup stecken blieb. Die braune Pampe lief aus einem Lastwagen heraus, auf dessen Tank passenderweise in großen schwarzen Buchstaben SIRUP stand. Über das Gesicht der Katze hatte ich eine klobige, schwarz gerahmte Brille gemalt, die genauso aussah wie meine, und die gleiche Brille hatte ich auch auf die anderen Charaktere gemalt, für die wir Geschichten erfanden. Auf den freien Platz um die Katze und den Siruplaster herum hatte ich in meiner kleinen, sorgfältigen Handschrift (aber mit grässlicher Rechtschreibung) die folgende Geschichte notiert: »Merry die Katze verspätete sich auf dem Weg zu ihrer Arbeit in der Schuhfabrik, und da blieb sie in dem klebrigen Sirup stecken. Sie war so sauer, dass ihr der Hut vom Kopf flog! Sie steckte den ganzen Tag und die ganze Nacht fest. Tagelang steckte sie da mitten auf der Straße fest, bis ein paar freundliche Ameisen kamen und den ganzen Sirup aufaßen. Merry die Katze freute sich und nahm die Ameisen mit zu sich nach Hause. Sie baute ihnen eine riesige Ameisenfarm, damit sie bei ihr blieben. Merry die Katze redete immer mit ihnen, gab ihnen Namen, die alle mit dem Buchstaben A anfingen, und sie gab ihnen immer ihr Lieblingsessen. Sirup!«

Die Geschichten in meinem Scarry-Buch waren kurz und bizarr und hatten immer seltsam glückliche oder beruhigende Enden. Marjorie war die Hauptquelle dieser Geschichten, und natürlich benannte sie alle Tierfiguren nach mir.

Nachdem ich den Goldkäfer auf dem letzten Bild gefunden hatte, umschlang ich das Buch mit den Armen, preschte aus dem Papphaus und meinem Zimmer und rannte den langen Flur entlang zu Marjories Zimmer. Ich rannte mit bloßen und schweren Füßen, deren Sohlen laut auf den Parkettboden klatschten, damit sie mich kommen hörte. Es war nur fair, sie vorzuwarnen.

In jenem Herbst waren neue Privatsphäreregeln eingeführt worden. Marjorie hatte angefangen, ihre Zimmertür zu schließen, was bedeutete: »Merry, bleib draußen, sonst …!« Die Tür war normalerweise dann zu, wenn sie ihre Hausaufgaben machte oder sich morgens für die Schule anzog. Marjorie war 14 und im ersten High-School-Jahr. Und sie brauchte jetzt morgens zum Fertigmachen viel länger, als sie zuvor als kindliche Mittelschülerin gebraucht hatte. Sie okkupierte das Bad im Obergeschoss, dann vergrub sie sich in ihrem Zimmer, bis Mom, die ungeduldig im Treppenhaus stand, nach oben rief, dass wir ihretwegen zu spät zur Schule und/oder zu einem nicht näher spezifizierten Termin kämen und dass Marjorie sehr ungezogen und/oder bockig sei. Bei »bockig« musste ich immer kichern, weil ich das Wort bisher nur mit Wildpferden in Verbindung gebracht hatte, die sich nicht zähmen ließen, und ich war jedes Mal insgeheim enttäuscht, wenn Marjorie dann nicht wie ein Pferd die Treppe heruntergaloppiert kam.

Es war ein träger Samstagnachmittag, deshalb rechnete ich nicht damit, ihre Tür verschlossen vorzufinden. Ich respektierte Marjories Tür-zu-Regeln so, wie man es von einer kleinen Schwester nur erwarten konnte, aber gewiss musste Marjorie mein lautes Stapfen im Flur gehört haben.

Leicht keuchend blieb ich vor Marjories eindrucksvoller Zimmertür stehen, der einzigen Tür im Haus, die sich noch im Originalzustand befand. Sie bestand aus solider Eiche, passend zum Fußboden dunkel verfärbt, und war dick wie die Wand und stabil genug, um Barbarenhorden, Rammböcken und kleinen Schwestern zu widerstehen. Ganz anders als meine billige Spanplattentür, die mich meine Eltern verzieren und entweihen ließen, wie es mir gefiel.

Eiche hin oder her – da es Samstag war, gehörte es zu meinen verbrieften und hart erkämpften Rechten, an Marjories Tür zu klopfen, was ich auch tat. Dann legte ich die Hand um meinen Mund und das Schlüsselloch und rief: »Geschichtenzeit! Du hast es mir gestern versprochen!«

Ihr schrilles Kichern klang, als würde sie sich über irgendwas ins Fäustchen lachen.

»Was ist daran so lustig?« Ich zog eine Schnute, und mir wurde schwer ums Gemüt. Die Tür war zu, weil das alles nur ein Scherz gewesen war, und sie würde keine neue Geschichte mit mir zusammen erfinden. »Du hast es versprochen!«, rief ich noch einmal.

Da sagte Marjorie mit ihrer normalen Stimme, die nicht so mickymausquiekig klang wie ihr Lachen: »Okay, okay. Tretet ein, Miss Merry.«

Ich führte einen raschen kleinen Tanz auf, den ich bei SpongeBob gesehen hatte. »Yeah! Wuuh!« Schnell schob ich das Buch so zurecht, dass der obere Rand unter meinem Kinn klemmte und der Rest von meinen Ellbogen an meine Brust gedrückt wurde. Ich wollte das Buch nicht fallen lassen, das wäre ein schlechtes Omen für das Buch gewesen, aber ich brauchte beide Hände, um den Türknauf zu drehen. Schließlich schaffte ich es mit Mühe, in ihr Zimmer zu gelangen, indem ich mit der Schulter gegen die störrische monumentale Tür drückte.

Da ich fest davon überzeugt war, dass ich später genauso sein würde wie Marjorie, war das Betreten ihres Zimmers jedes Mal wie die Entdeckung einer lebenden, atmenden Landkarte meiner Zukunft – einer Karte mit sich permanent ändernder Geografie. Marjorie verstellte ständig ihr Bett, ihre Kommode, ihren Schreibtisch, diverse Bücherregale und die Holzkästen mit den aktuellen Accessoires ihres Lebens. Sie hängte sogar die Poster, den Kalender und die astronomischen Dekorationen an ihren Wänden um. Und bei jeder Veränderung gestaltete ich entsprechend das Innere meines Papphauses so um, dass es mit ihrem Zimmer übereinstimmte. Ich erzählte ihr nie davon.

An diesem Samstag stand ihr Bett ganz in der einen Ecke und unter dem einzigen Fenster. Die Vorhänge waren verschwunden und durch einen dünnen weißen Hauch aus Spitze ersetzt worden. Ihre Poster hingen schief, sich überlappend und wahllos zusammengeschart an der Wand gegenüber ihrem Bett. Die restlichen Wände waren kahl. Ihre Kommode und den Spiegel hatte sie in eine andere Ecke geschoben, und die Regale, der Nachttisch und die Schränkchen belegten die übrigen Ecken, sodass in der Mitte des Zimmers eine große freie Fläche war. Der Grundriss des Zimmers war ein X ohne die Überkreuzung in der Mitte.

Ich schlich mich auf Zehenspitzen hinein, um bloß keine unsichtbaren Stolperdrähte zu berühren, mit denen ich einen von Marjories zunehmend unberechenbaren Stimmungsumschwüngen auslösen könnte. Jeder vermeintliche Verstoß meinerseits konnte einen Streit provozieren, der damit endete, dass ich weinend in mein Papphaus floh oder dass Dad auf seine plumpe Art vermittelte (indem er selber am lautesten und am längsten schrie). In der nicht vorhandenen Mitte des X blieb ich stehen, und mein Herz rappelte wie eine Münze im Wäschetrockner. Ich genoss jede einzelne Sekunde davon.

Marjorie saß im Schneidersitz auf dem Bett, direkt vor dem Fenster, sodass man nur ihre Silhouette vor dem schwindenden Tageslicht sah. Sie trug ein weißes T-Shirt und ihre neue Fußball-Trainingshose, die halloweenorange war und auf einem Bein in großen schwarzen Buchstaben das Wort Panthers aufwies. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden.

Ein großes Buch lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß. Mit groß meine ich nicht dick wie ein Wörterbuch. Das Buch ragte über ihre überkreuzten Beine hinaus. Die Seiten waren in grellbunten Farben gestaltet, und sie waren hoch und breit, etwa so groß wie die Seiten in meinem Scarry-Buch, das ich noch immer an meine Brust gedrückt hielt wie einen Schutzschild.

»Wo hast du das her?«, fragte ich.

Ich brauchte eigentlich nicht zu fragen. Es war offensichtlich, dass Marjorie ein Kinderbuch auf ihrem Schoß liegen hatte, was bedeutete, dass es eins von meinen war.

Marjorie spürte wohl das verärgerte Knirschen der Zahnräder in meinem Kopf, denn sie begann mit 13.000 Stundenkilometern zu reden: »Bitte, bitte, bitte sei nicht sauer auf mich, Merry. Mir ist ganz plötzlich diese erstaunliche Geschichte eingefallen, und ich wusste, dass sie nicht so recht in dein Buch passen würde. Ich meine, wir haben doch schon eine Sirupgeschichte in deinem Buch, stimmt’s? Also, okay, ich habe gerade einen Teil der Geschichte verraten, nämlich dass es auch eine Sirupgeschichte ist, aber die hier ist ganz anders, Merry, du wirst schon sehen. Und überhaupt, ich dachte, dass das Scarry-Buch vielleicht schon voll ist und es Zeit ist, ein neues Buch anzufangen, also bin ich in dein Zimmer gegangen, und, Merry! Ich habe das perfekte Buch gefunden! Ich weiß, dass es nicht fair war, in dein Zimmer zu gehen, ohne dich zu fragen, weil ich ja weiß, wenn du das bei mir machen würdest, würde ich ja so sauer sein. Es tut mir wirklich, wirklich leid, kleine Merry, aber warte, bis du die Geschichte gehört hast und siehst, was ich gemalt habe.« Marjories Gesicht war ein einziges riesiges Lächeln – nur weiße Zähne und große Augen.

»Wann warst du in meinem Zimmer?« Ich wollte keinen Streit anfangen, aber ich musste wissen, wie sie es gemacht hatte. Jederzeit zu wissen, wo Marjorie sich in unserem Haus gerade aufhielt, gehörte zu meinen selbst auferlegten Aufgaben, und wenn ihre Tür geschlossen war, war immer ein Ohr wie eine Satellitenschüssel in Richtung ihres Zimmers gerichtet und lauschte auf das Knarren ihrer Tür.

»Ich habe mich reingeschlichen, als du in deinem Haus gespielt hast.«

»Nein, hast du nicht. Ich hätte dich gehört.«

Ihr Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. »Merry. Es war so einfach.«

Da keuchte ich in der übertrieben dramatischen Schauspielertheatralik auf, deren ich mich zu der Zeit gern bediente, ließ mein Buch fallen und ballte die Fäuste. »Das ist nicht wahr!«

»Ich hab gehört, wie du mit dir selbst und mit deinen Stofftieren geredet hast, also habe ich mich reingeschlichen, habe die Luft angehalten, um mich leichter zu machen, und mit meinen Fingern deine Bücher durchgeblättert, und danach habe ich sogar neben deinem Haus gestanden und in den Schornstein hineingeschaut. Du hast die ganze Zeit mit dir selber gesprochen, und ich war ein großer, schrecklicher Riese, der sich überlegt, ob er das Bauernhaus zerquetschen soll oder nicht. Aber ich war ein guter Riese. Uaaarr!«

Marjorie sprang vom Bett und stapfte durch das Zimmer. »Fi Fa Fo Ferry, ich rieche die Stinkefüße eines Mädchens namens Merry!«, skandierte sie dabei.

Ich schrie: »Du hast Stinkefüße!«, und dann lachte ich, stieß mein rechtschaffenes Gebrüll aus und huschte zwischen ihren zu langsamen Riesenarmen hindurch, pikste sie in die Seite und klatschte ihr auf den Hintern. Schließlich umschlang sie mich mit den Armen und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Ich krabbelte hinter sie und legte meine Arme um ihren Hals.

Sie langte nach hinten, bekam mich aber nicht zu fassen. »Du bist zu flutschig! Okay, okay, es reicht. Komm schon, Merry. Geschichtenzeit!«

Ich rief: »Yay!«, auch wenn ich mich ein bisschen übertölpelt fühlte. Sie kam viel zu leicht damit davon, dass sie in mein Zimmer geschlichen war und ein Buch geklaut hatte – und, noch schlimmer, dass sie gehört hatte, wie ich mit mir selber sprach.

Marjorie legte das Buch wieder auf ihren Schoß. Es war Um die ganze Welt. Auf jeder Seite gab es eine wimmelige Comiczeichnung einer echten Stadt oder eines fremden Landes. Ich hatte schon lange nicht mehr in das Buch hineingeschaut oder daran gedacht; es war nie eins meiner Lieblingsbücher gewesen.

Ich griff nach dem Buch, aber Marjorie schob meine Hände weg. »Bevor du siehst, was ich gemalt habe, musst du erst die Geschichte hören.«

»Okay. Erzähl sie mir!« Ich war ganz aufgeregt und zappelig.

»Erinnerst du dich, wie wir diesen Sommer in Boston im Aquarium und im North End waren?«

Natürlich erinnerte ich mich: Erst hatten wir das Aquarium besucht, wo Marjorie und ich unsere Gesichter an das Glas des drei Stockwerke hohen röhrenförmigen Beckens gepresst und darauf gewartet hatten, dass einer der großen, furchterregenden Haie mit seinen schiefen, zackigen Zähnen vorbeigeschwommen kam. Später, als Mom und Dad mir keinen Gummioktopus kaufen wollten, schmollte ich und wurde mitten im Souvenirshop zur Qualle, meine Arme und Beine ganz schlabberig und glitschig. Dann gingen wir zum North End und aßen in einem schicken Restaurant mit schwarzen Tischdecken und weißen Stoffservietten. Auf dem Weg zurück zum Parkhaus entdeckten wir diesen Dessertladen, der angeblich der beste in der Stadt sein sollte. Mom bestellte uns Cannoli, aber ich wollte keine. Ich sagte, sie sähen aus wie zerquetschte Raupen.

»Nun«, begann Marjorie, »diese Geschichte ereignete sich vor fast 100 Jahren im North End. Früher war es so, dass die Leute all ihren Sirup in riesigen Metalltanks aufbewahrten, die 15 Meter hoch und 30 Meter breit waren, so groß wie Häuser. Der Sirup wurde mit der Eisenbahn angeliefert, nicht mit Lastern wie in deinem Buch.« Marjorie hielt inne, um zu sehen, ob ich auch zuhörte. Das tat ich, obwohl ich gerne gefragt hätte, wozu die Leute diesen ganzen Sirup brauchten, zumal ich bisher nie irgendwo etwas davon gesehen hatte außer in dem Scarry-Buch. Aber ich fragte nicht nach. »Es war mitten im Winter, und seit mehr als einer Woche war es richtig, richtig superkalt, so kalt, dass die Atemwolken der Menschen gefroren und dann herunterfielen und auf dem Boden zersplitterten.«

»Cool.« Ich tat so, als würde ich eine solche Eiswolke ausatmen.

»Aber nach dieser Kälte hatte Boston einen dieser komischen warmen Wintertage, wie es sie manchmal gibt. Jeder im North End sagte: ›Oh, was für ein schöner Tag‹ und ›Ist das nicht der perfekteste, schönste Tag, den wir jemals erlebt haben?‹ Es war so warm und sonnig, dass viele Leute ohne ihre Mäntel und Hüte und Handschuhe aus dem Haus gingen – wie auch die kleine zehnjährige Maria Di Stasio, die nur ihren Lieblingspullover trug, den mit den Löchern an den Ellbogen. Sie spielte Himmel und Hölle, während ihre Brüder sie ärgerten, aber es war nur das übliche, alltägliche Ärgern, deshalb ignorierte sie sie.

Und dann kam da ein tiefes Grollen, das jeder in der Stadt hörte, aber niemand wusste, was es war, und die Nieten an den Seiten des Siruptanks schossen heraus wie Pistolenkugeln, und die Metallwände krempelten sich auf wie Geschenkpapier, und überall quoll der klebrige, süße Sirup heraus. Eine gigantische Sirupwelle schwappte durch das North End.«

»Boah.« Ich kicherte nervös. Die riesige Sirupwelle war auf jeden Fall aufregend, aber da gab es so vieles, was nicht stimmte mit dieser Geschichte. Marjorie ließ sie an einem ganz bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit spielen, und sie verwendete Menschen statt der dämlich aussehenden Tiere aus dem Scarry-Buch, Menschen, die nicht nach mir benannt waren. Außerdem war die Geschichte schon jetzt viel zu lang, ich würde das niemals alles in das Buch schreiben können. Wo sollte es reinpassen?

»Die Welle war fünf Meter hoch, und sie begrub auf ihrem Weg alles und jeden unter sich. Die Woge verbog die Stahlträger der Atlantic Avenue, warf Straßenbahnen um, riss Gebäude von ihren Fundamenten. Die Straßen waren hüfthoch mit Sirup bedeckt, Pferde und Menschen saßen fest, und je mehr sie sich abmühten und herumzappelten, um frei zu kommen, desto tiefer steckten sie fest.«

Um die ganze WeltBoston

Ich hätte Marjorie am liebsten geboxt, sie in ihr blödes, lächelndes Gesicht geschlagen. Sie machte sich über mich und mein albernes Buch mit seinen albernen Geschichten lustig. Aber ich konnte den Blick nicht von der Zeichnung abwenden. Sie war schrecklich und würde mir Albträume bescheren, und doch hatte sie etwas Wundervolles in ihrer Schrecklichkeit.

»Sieh mal. Da ist der Goldkäfer«, sagte Marjorie und zeigte auf eine kleine gelbe Gestalt mit durchge-x-ten Augen und streichholzdünnen Armen und Händen, die sich verzweifelt und Hilfe suchend aus der Sirupflut emporreckten.

Ich schlug das Buch zu, ohne etwas zu sagen. Marjorie legte es auf meinen Schoß, dann rieb sie meinen Rücken. »Es tut mir leid. Vielleicht hätte ich dir die Geschichte nicht erzählen sollen.«

Schnell, zu schnell, erwiderte ich: »Nein. Erzähl mir alles. Erzähl mir alle deine Geschichten. Aber morgen – kann ich da eine Geschichte so wie die alten bekommen? Eine Geschichte, die du dir ausgedacht hast?«

»Ja, Merry. Ich verspreche es.«

Ich ließ mich langsam vom Bett rutschen, wobei ich absichtlich von Marjorie weg und auf die Wand mit den Postern schaute. Als ich ins Zimmer gekommen war, war es mir nicht so richtig aufgefallen, aber sie hingen so, dass sie sich gegenseitig überdeckten. Nur Teile der diversen Sänger, Sportler und Filmstars waren zu sehen – körperlose Hände, Beine, Arme, Haare, ein Augenpaar. In der Mitte dieser Körperteil-Collage schien sich alles auf einen Mund zu fokussieren, der entweder lachte oder die Zähne fletschte.

»He, was hältst du von den Postern?«

Mir reichte es. Ich hielt beide Bücher in meinen Armen, und sie waren unglaublich schwer. »Lahm«, meinte ich in der Hoffnung, sie damit ein bisschen zu ärgern.

»Du darfst es nicht Mom oder Dad erzählen, denn sie würden durchdrehen, aber als ich aufgewacht bin, sah mein Zimmer so aus, wie es jetzt aussieht, ich schwöre es, und wenn du dir die Poster im Spiegel ansiehst …«

»Sei still! Das ist nicht lustig!« Ich rannte aus ihrem Zimmer, weil ich nicht wollte, dass sie sah, wie ich weinte.