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Mark Thompson

El Greco
und ich

Roman

Aus dem Englischen
von Katja Scholtz

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Dust
bei RedDoor Publishing, www.reddoorpublishing.com.

Copyright © 2016 Mark Thompson

© 2018 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Abbildung plainpicture / Tytia Habing aus der Kollektion Rauschen

Satz mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-346-0

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-279-1

www.mare.de

Für meine Mutter und meinen Vater –
die besten Eltern, die ein Kind sich nur
wünschen kann.

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Epilog

Dank

Prolog

Wenn man sich eines im Leben klarmachen muss, dann wohl die Tatsache, dass wir alle auf die Probe gestellt werden. Irgendwann. Vielleicht früher oder vielleicht später. Oder irgendwo dazwischen. Wer weiß schon, wann oder wo? Kennen Sie auch nur einen einzigen Menschen, der einfach so durchs Leben gerutscht ist, ohne eine einzige Prüfung? Und damit meine ich keine Schulprüfungen, Blinddarmoperationen oder Zahnarztbesuche, bei denen man es schafft, nicht schreiend vom Stuhl zu springen. Ich meine etwas, was größer und einschneidender ist als all das. Schauen Sie sich mal Old Man Taylor an zum Beispiel. Den hat’s ganz schön hart erwischt. Er hatte nicht damit gerechnet, aber der wurde schwer auf die Probe gestellt. Aber dazu komme ich noch …

Eins

Es war ein perfekter Sommertag. El Greco und ich lagen am Rand des Sportplatzes im piksenden Gras auf dem Rücken, draußen hinter den alten Umkleideräumen aus Backstein, und beobachteten die Formen, zu denen sich weiße Schäfchenwolken an einem tiefblauen Himmel auftürmten.

Ich sagte, dass ich den Mount Rushmore sehen könne, und so war es auch, wirklich.

Er zeigte auf den Wattebausch, der sich an den Rändern langsam auflöste, und sagte: »Stimmt, genauso sieht er aus. Da sind Jefferson, Lincoln und Washington, und wer ist der andere noch mal? Roosevelt.«

Ich staunte ein oder zwei Sekunden lang über sein Wissen. »Ach ja, den hatte ich vergessen«, sagte ich, als ob ich es gewusst hätte.

El Greco war der klügste Junge, dem ich je begegnet war. Er war weise.

Er war zehn Jahre alt.

Wir lagen eine gefühlte Ewigkeit so auf dem Rücken und versuchten, in den Wolken etwas zu erkennen, während die Sonne vom Himmel brannte und das lange, trockene Gras in einer sanften, zephirhaften Brise schimmerte. Das Wogen hauchzarter purpurfarbener Mohnblumen erinnerte an zum Abschied geschwenkte Taschentücher auf einem entfernten Bahnhof. Wir zogen an unseren Zigaretten und stießen Rauchkringel in die Luft. Wenn wir Zigaretten kauften, kauften wir Kents. Mein Vater rauchte Kents, genau wie El Grecos Mutter, so konnten wir, falls wir erwischt wurden, immer sagen, dass wir sie im Auto gefunden hatten und ihnen bringen wollten. Manchmal klauten wir ihnen auch welche.

»Wäre es nicht cool, wenn es die mit Bananengeschmack gäbe?«, sagte ich, während El Greco einen zunächst perfekten Rauchring beobachtete, der langsam nach oben stieg und dabei seine Form veränderte, bis er aussah wie der verbogene Reifen eines ausrangierten Fahrrads. Ruckartig setzte El Greco sich auf und stieß mit der Faust durch den Ring, sodass sein Handgelenk von Rauch umhüllt war. Kurz tat es mir um den Verlust des Kringels leid.

Er drehte sich zu mir um, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Er lächelte und nickte. Erst langsam, dann, mit zunehmender Begeisterung, immer schneller. »Da sagst du was.« Er nickte wieder. »Stell dir das mal vor. Schokoladen-Zigaretten. Wow.«

Ich fühlte mich bestärkt und kam in Fahrt. »Erdbeer und Vanille, Pistazie, Tuttifrutti!«, rief ich voller Begeisterung.

»Ich glaub, das ist eine richtig gute Idee«, sagte er versonnen, während er sich zurück ins trockene Gras fallen ließ.

Beide machten wir mit unseren Zigaretten klitzekleine Feuerchen und sahen gespannt zu, wie orangefarbene Finger schlangengleich an einem gelben Halm leckten, plötzlich auf dessen Nachbarn übersprangen und dann ebenso schnell auf den Nachbarn des Nachbarn, bis sich grauer und weißer Rauch entwickelte, sodass wir kurz darauf hektisch auf der harten und braunen Erde herumtrampelten. Der Geruch von Rauch war überall; Staub und Pollen erfüllten die Luft wie die Dieselabgase eines alten, gerade angelassenen Trucks, und wir husteten heftig, als diese beißende Mischung in unsere Lungen drang und sich in unserem Haar festsetzte.

»Wenn meine Mom den Rauch an mir riecht, krieg ich Höllenärger«, krächzte ich, während wir auf Dreck und Asche traten.

»Komm, holen wir uns eine Limo oder so, wir müssen sowieso bald nach Hause«, sagte El Greco und spuckte auf den verbrannten Boden. Wir tranken meistens Limo, wobei mein spezieller Favorit Rootbeer war, aber manchmal auch Kaffee, einfach, um anders als die anderen zu sein. Das machte uns besonders, und unsere Alten trieb es in den Wahnsinn. Das war Teil unseres Plans.

Wir steckten die Hände in die Jeanstaschen und rannten über das Feld. El Greco machte Bugs Bunny nach, was mich jedes Mal zum Kichern brachte, aber diesmal prustete ich richtig los, weil er sein Looney-Tunes-T-Shirt mit Bugs vorne drauf anhatte. »Is’ was, Doc?«, sagte ich, obwohl ich Bugs nicht so gut nachmachen konnte wie El Greco. Dafür aber hatte ich Micky Maus ziemlich gut drauf, wenn er »Pluto!« ruft, also machte ich genau das, und El Greco platzte fast vor Lachen. Gott, er machte mich wirklich froh, sagte immer das Richtige und immer im richtigen Moment. Für einen Zehnjährigen war er wirklich ein Mordskerl.

Am oberen Ende des Feldes hielten wir an, um uns einen Schwertkampf mit grünen Zweigen zu liefern, die wir von einer Weide gerupft hatten. Ich war König Artus, und er war Errol Flynn als Captain Kidd. Wir überquerten den Straßendamm zu Mister Jeb Doughtys Weizenfeld und gingen an der halb verfallenen Scheune vorbei, der weder Wind noch Regen etwas anhaben konnte; entschieden trotzte sie dem Zahn der Zeit und den unablässigen Angriffen der Jahreszeiten, dem hüfttiefen Schnee und der sengenden Sonne. Als wir gerade auf dem Weg zurück zu El Grecos Haus waren, hörten wir von ferne das Heulen von Sirenen. Neugierig gingen wir zurück zum Zaun.

Da waren sie und rasten die Anhöhe hoch.

Wir kletterten auf den Zaun, um besser sehen zu können. Zwei riesige rote Feuerwehrwagen kamen auf uns zugeschossen, mit gellenden Sirenen und flackerndem Blaulicht, das an den Autoscooter erinnerte, mit dem wir jedes Mal begeistert fuhren, wenn Jahrmarkt in der Stadt war.

Von der knochentrockenen Straße wurde Staub aufgewirbelt. Mit zusammengekniffenen Augen sahen wir den Wagen nach.

»Wo die wohl hinfahren?«

»Irgendwo muss es brennen, oder Fatty Conway steckt mal wieder im Geländer vom Amtsgericht fest.«

Als sich der rosafarbene Staub gelegt hatte, öffnete ich meine Augen und schaute nach Osten in Richtung der Feuerwehrwagen. Tatsächlich, da hinten brannte es. Und zwar so richtig. Rauch von der Farbe alten Männerhaars quoll am äußeren Rand des Feldes in den Himmel wie Sprühsahne.

El Greco sah, was ich sah, und ausnahmsweise musste er mir nichts erklären.

»Scheiße! Nichts wie weg hier!«

Wir waren vom Zaun runter, bevor ich meinen Satz zu Ende gesprochen hatte, und liefen, so schnell wir konnten, über das Feld. Wie alle zehnjährigen Jungs fluchten wir ziemlich viel, diesmal allerdings übertraf ich meinen eigenen Rekord, als ich im Laufen »Scheiße! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Scheiße!« keuchte. Die hohlen Grasstängel peitschten gegen unsere Beine und ließen die Haut brennen. Wir rannten, bis wir nicht mehr konnten und uns im Schatten einer Akazie auf den Boden fallen ließen. Ich traute mich fast nicht, zurück zum Sportplatz zu schauen, aber die Neugier war stärker, also drehte ich den Kopf. Der Himmel, der zuvor strahlend blau mit einigen Schäfchenwolken gewesen war, war nun grauweiß. Riesige, zuckende Zungen schossen in die Luft. In wenigen Minuten hatte sich ein Sportplatz in ein Kriegsgebiet verwandelt. Mein Herz stockte gleichzeitig mit meinem Atem, als ich ungläubig auf die Szene vor mir starrte. Dann dröhnte es so laut in meiner Brust, dass es sogar El Greco hören musste. Ich hielt die Luft an in der Hoffnung, meinen Puls verlangsamen zu können. Ich hatte einmal einen Film gesehen, in dem jemand Adrenalin oder Curare oder irgendwas in der Art gespritzt bekam, woraufhin sein Herz dermaßen zu rasen begann, dass er einen Infarkt bekam und tot auf einer Flughafenrolltreppe zusammenbrach. Alle hatten sich dadurch in die Irre führen lassen, bis auf mich und den Kriminalbeamten, der den Fall löste. Ich fühlte mich, als hätte ich auch so eine Spritze bekommen.

»Gütiger Gott! Das ist ja ein Wahnsinnsfeuer!« El Greco stieß einen Pfiff aus und klopfte auf den Grasboden, auf dem wir lagen. Wenn eine Krise drohte, klang er oft wie ein alter Mann, der schon alles im Leben gesehen hatte.

»Lass uns verdammt noch mal abhauen«, sagte ich leise.

»Okay, gehen wir, die Bullen sind auch gerade gekommen.«

Selbst El Grecos Gelassenheit konnte nichts gegen die Panikwellen ausrichten, die inzwischen zu regelrechten Brechern angewachsen waren. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, schrak zusammen wie eine Rennmaus, drehte mich um und sah El Greco, der mich angrinste. »Na los«, sagte er voller Zuversicht, »niemand weiß, dass wir das waren, und außerdem war es ein Unfall.«

Seine Gemütsruhe floss durch seine Fingerspitzen und meine Schulter hinab bis in meinen Arm. Ich spürte, wie meine Angst kurz abflaute, aber als er seine Hand wegnahm und in gebückter Haltung loslief, um nicht gesehen zu werden, kehrte sie zurück und floss wieder durch mich hindurch. Diesmal waren wir fällig. Wir hatten so viele verrückte Sachen angestellt und waren nie erwischt worden, aber das hier war etwas anderes – das hier war ein Verbrechen, und die Polizei war hier, nicht zu übersehen in ihrem schwarz-weißen Dodge mit den verbeulten Schutzblechen und den Goldplaketten auf den Türen.

Ich flehte zu Gott, an den ich nicht richtig glaubte, und bat ihn um eine letzte Chance. Ich schwor, dass ich für immer brav sein würde, wenn er die Zeit nur ein paar Stunden zurückdrehte, sodass ich das Heftchen mit den Streichhölzern zurück in den Grilleimer legen konnte, in dem ich es gefunden hatte.

Nichts geschah. Ich schaute zu der spiralförmigen Rauchwolke hinauf und murmelte: »Na, schönen Dank auch.«

El Greco lief weiterhin geduckt voraus, also beeilte ich mich, um ihn einzuholen. Falls die Cops mich entdeckten, wollte ich auf keinen Fall alleine sein.

Ich warf das Streichholzheft in den Horse River, der fast ausgetrocknet war bis auf ein träges Rinnsal, das ihm gerade noch seinen Platz auf der Landkarte sicherte. Es hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr geregnet. Als ich El Greco erreichte, versuchte ich, möglichst cool zu wirken. Sobald er mich bemerkte, richtete er sich auf, riss ein Stückchen von einem Weizenhalm ab, steckte es sich zwischen die Zähne und kaute darauf herum, als ob er sich einen Dreck um alles scheren würde, und für eine Millisekunde war mir ebenfalls alles egal.

Ich seufzte und sagte: »War ja nur ein Haufen trockenes altes Gras. Das hätte sowieso jederzeit in Brand geraten können. Weißt du noch, was mein alter Herr über den brennenden Dornbusch erzählt hat und wie Gott mitten in der Wüste einen heiligen Geist in diesen Busch gesetzt und der Busch von allein in Flammen aufgegangen ist? Ich wette, genau das ist hier auch passiert!«

Keine Frage, ich war sauer auf Gott, weil er die Zeit nicht um ein paar Stunden zurückgedreht hatte, damit ich die bekloppten Streichhölzer zurücklegen konnte. Geschah ihm recht. Würde er mich jemals um einen Gefallen bitten, dann könnte er sich zum Teufel scheren, basta. Vergebung war nicht gerade meine Stärke. Falls es einen Gott gab, was ich ernsthaft bezweifelte, dann hätte er jetzt die einmalige Gelegenheit gehabt, mir einen Riesengefallen zu tun, aber er hatte es vermasselt.

Ich hatte auch kaum noch ein schlechtes Gewissen wegen der kleinen Umschläge, die mein Vater mir für die Sonntagsschule mitgab und aus denen ich jeweils einen aus meiner Sicht angemessenen Anteil herausnahm, den ich anschließend mit El Greco für Süßigkeiten und Zigaretten ausgab.

Natürlich verkaufte Mister Schwartz mir keine Zigaretten. Er verkaufte mir nur Süßigkeiten, und wenn ich an Zigaretten kommen wollte, musste ich Münzen in den Automaten draußen neben seinem Laden stecken. Die Schachtel stopfte ich mir anschließend in meine Unterhose, um sie vor den Blicken meines frommen und superaufmerksamen Bruders Adolf zu schützen.

Natürlich hieß er in Wirklichkeit nicht Adolf. Er hieß Cecil. Meine Mutter hatte ihn nach Cecil B. DeMille benannt. Ich versuchte, ihn zu mögen. Das war keine leichte Aufgabe, aber ich gab nicht auf. Manchmal konnte er fast nett sein, doch die meiste Zeit war er mir ein Dorn im Auge und außerdem unmöglich zu meiner Mutter. Mein Vater verwöhnte ihn, weil er ihn für einen zukünftigen Footballstar hielt. Die beiden waren komplette Sportfanatiker. Mein Großvater hatte während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich gekämpft, und seiner Meinung nach wäre der Krieg vier Jahre früher zu Ende gewesen, wenn es Cecil schon gegeben hätte. Tausende Leben hätten gerettet werden können, sagte er – oder ganz Europa würde jetzt Deutsch sprechen und Volkswagen fahren, je nachdem, auf welcher Seite Cecil gestanden hätte.

Durch das erneute Aufjaulen der Polizeisirene wurde ich schlagartig aus meinen Gedanken über Gott und Schuld gerissen. Das Feuer, das durch den auffrischenden Wind um sich griff, bewegte sich nun unaufhaltsam auf die hundert Bungalows des Green-Valleys-Altenheims zu, die um einen flachen Teich herumgebaut waren, den die Stadtplaner Community Lake getauft hatten. In Wirklichkeit war dieser See knapp zwanzig mal dreißig Meter groß und fünfzehn Zentimeter tief – so konnten die Alzheimerleute nicht ertrinken, wenn sie gegen imaginäre Piraten kämpften, die von Schiffen mit purpurnen Segeln zum Angriff übergingen. Das Wasser war tiefblau gefärbt, ein Farbton, den man sonst nur aus Katalogen für Mexikoreisen kannte oder von Klosteinen der Marke »Meeresbrise«.

»Runter mit dir!«, zischte El Greco und legte sich flach in das Stoppelfeld, während ein weiteres Polizeiauto durch herumwirbelnde Rauchschwaden raste.

Ich ließ mich auf den Bauch fallen und drückte mein Gesicht auf die spitzen Halme des gemähten Weizens, was sich anfühlte, als würden sich Trinkhalme in meine Haut bohren. Ich fluchte.

»Himmelherrgott, J. J., halt die Klappe, musst du denn so einen Scheißlärm machen?«

Wenn es drauf ankam, konnte El Greco ziemlich saftig fluchen.

»Ich kann nichts dafür, Tony. Dieses Zeug sticht mir die Augen aus«, sagte ich in der Hoffnung, dass ich durch die Übertreibung Verständnis und Mitleid wecken würde.

»Erzähl das bitte dem Wärter, wenn du auf Rikers Island landest.«

Seine Worte machten mir Angst, und ich spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte. In meinem Hals steckte ein Kloß von der Größe einer Billardkugel.

»Kleiner Scherz«, sagte er grinsend, »wir müssen uns keine Sorgen machen, die Cops sind rüber zum Green Valleys.«

Ich wagte es, meinen Kopf ein paar Zentimeter anzuheben, und sah, wie sich die blauen und roten Warnlichter von uns fort und in Richtung Green Valleys bewegten.

»Komm, nichts wie weg, solange wir unsere Haut noch retten können«, sagte ich mit einem Seufzer der Erleichterung und von einer plötzlichen und unerwarteten Müdigkeit gepackt.

»Okay, gehen wir«, sagte El Greco mit der zartesten Andeutung eines leisen Aufatmens.

Wir hielten uns an einen zugewachsenen Feldweg, um der Flut von aufgeregten Kindern auszuweichen, die auf die mittlerweile gigantische Wolke aus weißem Rauch zu rannten. Das Bild erinnerte mich an den Monat Februar in unserem Küchenkalender: Blick vom beschaulichen Bishop, Kalifornien, auf die Sierra Nevada und das Skigebiet Mammoth Lakes.

»Sieh dir all diese Kids an! O Gott, ich glaub, wir sind geliefert. Irgendjemand wird draufkommen, dass wir das waren, das weiß ich einfach«, sagte ich düster und dachte an Cecil und seine Unterstellung, dass ohnehin jede Missetat in unserer kleinen Stadt von mir begangen wurde.

»Okay, dann gesellen wir uns mal zu denen und schauen uns das Ganze an«, sagte El Greco aufgeregt.

»Um Himmels willen, wozu?«

»Weil außer uns weit und breit alle Kinder unten am Feld sind, und selbst jemand, der nicht allzu viel in der Birne hat, könnte das ein bisschen verdächtig finden, meinst du nicht?«

Er hatte recht. Er hatte immer recht.

Wir reihten uns hinter einer Gruppe von drei Kindern aus dem Waisenhaus ein. Man erkannte die Waisenkinder sofort: Ihre Klamotten waren immer mindestens seit acht Jahren aus der Mode, als ob sie irgendwelchen Filmaufnahmen aus der Zeit kurz nach meiner Geburt entsprungen wären.

Man konnte die Waisenkinder auch daran erkennen, dass sie aneinander klebten wie kleine Fuchswelpen, die ihrer Mutter überallhin folgen; man sah immer zwei oder drei kleinere Kinder zusammen mit einem älteren. Einmal erwischte meine Mutter mich, wie ich mich vor ein paar Freunden über sie lustig machte. Auch ohne dass Mom mich darauf hinwies, wusste ich, dass sich das nicht gehörte, aber ich machte es trotzdem. Ich musste eben immer den Clown spielen. Meine Kumpel kicherten wie Mädchen, als ich meine Schultern nach unten sacken ließ, leicht die Knie beugte und meinen Kopf schlaff von einer Seite zur anderen baumeln ließ, während ich gleichzeitig alberne Geräusche von mir gab, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Der Einzige, der nicht lachte, war Bobby Stockton. Er wusste, wie unrecht das war, was ich tat, aber er sagte nichts. Sein Blick sagte genug. Bobby glaubte an Gott und die Hölle, und nicht selten hielt er mich von Dingen ab, die ich besser nicht machen sollte. Wäre El Greco in der Nähe gewesen, hätte er mir auch gesagt, dass ich verdammt noch mal die Klappe halten soll.

»Diese Kinder gehen mit hängendem Kopf durchs Leben, weil sie die Last der Welt auf ihren Schultern tragen, weil sie keinen Vater und keine Mutter haben, die sie lieben und sich um sie kümmern, wenn sie krank sind, und weil sie wissen, dass ihr alle wisst, dass sie die Sachen von anderen Kindern auftragen. Lass dich bloß nie wieder dabei erwischen, wie du dich über diese armen Kinder lustig machst, J. J. Walsh.«

Ihre Worte stachen wie Eisregen, den mir ein scharfer Wind ins Gesicht peitschte. Ich hatte noch nie eine so brennende Scham empfunden, es war, als würde sich jeden Moment der Boden unter mir auftun, mich verschlucken und durch einen riesigen schwarzen Spalt hinunter in die tiefsten Tiefen der glühend heißen Hölle im Inneren der Erde ziehen. Ich versuchte ein albernes Grinsen, um den Jungs zu zeigen, dass meine Mutter mir nichts konnte, aber sie alle sahen genauso geknickt aus, wie ich mich fühlte. Ich war auf verlorenem Posten und wandte mich zu meiner Mutter um. Als ich ihr sagte, dass es mir wirklich leidtat und dass ich so etwas nie wieder machen würde, war sie von meiner Ehrlichkeit gerührt. Sie schien zu spüren, dass ich es ernst meinte, und legte ihre Hand so sanft auf meinen Kopf, dass ich weinen musste. Ich vergrub mein Gesicht in der weichen Baumwolle ihres Sommerkleids, um meine Tränen vor den anderen zu verbergen. Ich machte mich nie wieder über die Waisenkinder lustig.

El Greco machte sich ohnehin nie lustig über sie. Ich vermute mal, bei dem Vater war er selbst nicht sehr weit von ihrem Elend entfernt.

Wir trotteten also hinter den Waisenkindern her, durch das struppige Gras und quer über die glänzende Straße bis zum oberen Sportplatz. Als ich an den Tag dachte, an dem meine Mutter mir den Kopf gewaschen hatte, fühlte ich mich elend, aber jetzt war ich doppelt niedergeschlagen, erstens, weil wir den größten Grasbrand in der Geschichte von Cranford County verschuldet hatten, zweitens, weil ich todsicher war, dass man uns erwischen und bestrafen und vor den Augen der gesamten Stadt an den Pranger stellen würde. Ich sah bereits den verhassten Mister Barr vor mir, wie er nach dem Morgengebet und dem mit Inbrunst geleisteten Treuegelöbnis gegenüber der amerikanischen Flagge allen Schülern erzählte, dass sich zwei ihrer Altersgenossen, J. J. Walsh und Tony Papadakis, der mutwilligen Brandstiftung schuldig gemacht hatten und nun ihr wie auch immer geartetes Schicksal erwarteten. Ich sah den Zorn in seinen Schweinsäuglein und die kleinen blauen Äderchen in dem rot glänzenden, allzu glatt rasierten Gesicht vor mir. Ich fürchtete und hasste diesen Mann auf eine Art und Weise, die er nie verstanden hätte.

Dann fiel mir ein, dass wir auf dem elektrischen Stuhl landen könnten. Bisher kannte ich den Stuhl nur aus Filmen, in denen Mörder unaussprechlich grausame Verbrechen begangen hatten, und mir war nicht bekannt, dass man jemals jemanden wegen Brandstiftung hingerichtet hatte, nicht einmal wegen eines so großen Feuers wie diesem, und trotzdem zitterte ich bei der Vorstellung.

Ich nahm einen Anflug von versengter Haut und verkohltem Fleisch wahr und schreckte mit einem erstickten Schrei aus meinem Tagtraum hoch. »Nicht den elektrischen Stuhl!«, schrie ich, woraufhin El Greco vor Schreck einen Satz machte und die Waisenkinder sich umdrehten und mich anstarrten. Peinlich berührt blickte ich El Greco an. Als hätte er meine Gedanken erraten, knuffte er spielerisch meinen Arm, und mit Erleichterung stellte ich fest, dass der Geruch nicht von meiner brennenden Haut, sondern von einem ausrangierten Autoreifen stammte, von dem beißender schwarzer Rauch aufstieg.

Wir standen inmitten einer Schar von gaffenden Kindern neben einem Feuerwehrauto und schauten zu, wie die Feuerwehrmänner literweise zischendes Wasser auf die Flammen spritzten. Für mich sah es so aus, als würden sie einen bereits verlorenen Kampf kämpfen, denn so schnell sie sich auch in das orangefarbene Chaos vorarbeiteten, so schnell fachte der Wind am anderen Ende des Feldes die Flammen an, und diese Flammen bewegten sich weiter und weiter auf die hübschen kleinen Häuser des Green-Valleys-Parks zu.

»Wenn das Altenheim abbrennt, landen wir auf dem elektrischen Stuhl«, flüsterte ich El Greco hastig zu.

»Zehnjährige Kinder werden nicht hingerichtet, und sie kommen auch nicht nach Rikers. Und außerdem – wenn du jetzt cool bleibst, dann weiß außer dir und mir niemand Bescheid«, flüsterte er leise.

Er hatte recht. Carl Newton Mahan war sechs Jahre alt gewesen, als er am 18. Mai 1929 im Osten von Kentucky seinen achtjährigen Freund Cecil Van Hoose wegen eines Stückchens Altmetall umgebracht hatte. Er hatte die Schrotflinte seines Vaters genommen und seinen kleinen Freund erschossen, und selbst er war nicht hingerichtet worden. Das hatten wir im Guinnessbuch der Rekorde gelesen. Weil wir erst zehn waren, ging immer jeder davon aus, dass wir einfach lieb und nett waren und Kinderspiele spielten, aber in Wahrheit rauchten und fluchten wir und stellten jede Menge Mist an. Erschossen hatten wir allerdings noch niemanden.

»Was, wenn Adolf es rausfindet?« Bei dem Gedanken, dass mein zwölfjähriger Sadist von einem Bruder irgendwie Wind davon bekam, was ich getan hatte, geriet ich erneut in Panik. Er besaß die beunruhigende Gabe, meine dunkelsten Geheimnisse zu lüften. Mit Vorliebe rieb er sie mir ausgerechnet dann unter die Nase, wenn viele andere Leute in Hörweite waren, woraufhin ich regelmäßig rot wurde wie eine Homecoming-Queen, als stünden mir allen gequälten Unschuldsbekundungen zum Trotz die Buchstaben »S-C-H-U-L-D-I-G« mit greller Neonschrift quer auf die Stirn geschrieben. Sollte ich einem Staatsanwalt vorgeführt werden, würde ich zusammenfallen wie ein Kartenhaus, so viel stand fest.

Ich starrte wie gelähmt in die Flammen, die gierig das trockene Gras fraßen und mich an eine im Zeitraffer dargestellte Szene erinnerten, die ich einmal in einem Farbfilm gesehen hatte und in der ein Abenteurer auf der Suche nach einem verlorenen Inkaschatz in einen Sumpf fiel und von Piranhas gefressen wurde. Das Wasser färbte sich rot von seinem Blut, und sein letzter, entsetzlicher Schrei hallte noch in meinem Kopf, als ich den Feuerwehrchef Befehle in sein knisterndes Funkgerät bellen hörte. Zwei Feuerwehrwagen fuhren mit heulenden Sirenen und scheppernden Glocken auf die Straße zurück. Angestrengt versuchten die Fahrer, die schweren, schlingernden Fahrzeuge unter Kontrolle zu bekommen. Dann nahmen sie Fahrt auf und schossen die normalerweise eher ruhige Straße zum Altenheim hinunter. Hartriegelbäume und sich sanft im Wind wiegende Pappeln verdeckten zwischendurch den Blick auf die Wagen, dann wurden sie gänzlich von dicken Rauchwolken verschluckt, bis sie schließlich voller Entschlossenheit wiederauftauchten, losgelassene, riesige rote Windhunde auf der Jagd nach einem brennenden Hasen.

Als die Flammen aufhörten, sich weiter auf das Altenheim zuzubewegen, ging mein Atem allmählich leichter. Wir konnten die Feuerwehrleute in dem Qualm nicht sehen, aber offenbar hatten sie den Brand nun im Griff. Helden waren das, wahre Helden. Vor meinem geistigen Auge sah ich Dutzende von alten Leuten in karierten Golfhosen und Turnschuhen, in Morgenmänteln und mit Lockenwicklern, die um ihr Leben rannten und sich mit einem verzweifelten Sprung in den Fünfzehnzentimeterteich retteten. Ich stellte mir vor, wie sie allesamt bäuchlings im See lagen und ihre Hintern aus dem Wasser ragten – wie Spiegeleier in einer riesigen blauen Pfanne. Diese bizarre Vorstellung ließ mich laut auflachen. Ich vermute, es lag an der Erleichterung darüber, dass sich dieser Albtraum seinem Ende näherte und die Wahrscheinlichkeit, auf dem elektrischen Stuhl zu landen, geringer wurde, aber ich hatte mich plötzlich nicht mehr im Griff. Ich stand neben dem Feuerwehrauto und schüttelte mich vor Lachen. Ich schlang die Arme um den Bauch in dem Versuch, mich zu beherrschen. Ich beugte mich nach vorn und stemmte die Hände auf die Knie, aber es half alles nichts. Tränen liefen mein Gesicht hinunter, bahnten sich eine Rinne durch die feine Rußschicht auf meinem sonnengebräunten Gesicht.

El Greco legte seinen Arm um meine Schultern und klopfte mir auf den Rücken. Er murmelte irgendetwas, das ich wegen des Motorenlärms nicht hören konnte. Ich richtete mich auf und drehte ihm mein tränenüberströmtes Gesicht zu. Als er bemerkte, dass ich lachte, verwandelte sich sein erschrockener Blick in ein breites Grinsen. Seine Zähne strahlten blendend hell in seinem gebräunten Gesicht, und er klopfte mir noch mal auf den Rücken und wuschelte mir mit der Hand durchs Haar, ziemlich genau wie mein Vater es nach meinem ersten Home Run beim Baseball gemacht hatte. »Lass uns gehen, wir müssen uns keine Sorgen mehr machen«, sagte er leise und sah sich langsam um, ob jemand uns beobachtete, aber niemand guckte. Das Feuer wurde kleiner, ähnlich wie eine Spirituspfütze, die von außen nach innen verbrennt und dabei einen Kreis zurücklässt, der ihre ursprüngliche Größe verrät. Ein paar Jugendliche schlenderten davon. Sie taten so, als hätten sie das Ganze weniger aufregend gefunden als die kleineren Kinder, aber das stimmte nicht. Sie wollten es sich nur nicht anmerken lassen.

Mit Kindern ist es so eine Sache. Wenn sie kleiner sind, finden sie alles um sie herum aufregend, und wenn sie größer werden, zwölf oder dreizehn, werden sie sich ihrer selbst und ihres Aussehens bewusst, und dann interessiert sie alles andere einen Dreck.

»Schau sie dir an«, sagte ich leicht abfällig, »die haben doch keine Ahnung, was ein gutes Feuer ist!«

El Greco schüttelte den Kopf, dann nickte er zustimmend. »Aber echt, die wollen einfach nur cool sein, und dabei verpassen sie den Rest.«

»Welchen Rest?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen und übertrieben gespielter Verwirrtheit.

»Na ja, die Cops werden sicher gleich anfangen, Fragen zu stellen.«

Er sah mir direkt in die Augen, und ich schluckte schwer, als müsste ich einen Pfirsichstein durch einen Strohhalm zwängen.

»Ach du Schande«, sagte ich leise.

»Ich sag dir, was wir machen. Wir gehen runter zu den Cops und erzählen denen, wir hätten zwei Kinder in unserem Alter gesehen, von denen eins ein Bugs-Bunny-T-Shirt anhatte, und dass die beiden ein Feuer gemacht haben und dann weggelaufen sind und dabei gerufen haben, dass es ihnen furzegal ist, wenn die Alten gegrillt werden wie die Brathähnchen. Damit sollten wir dann eigentlich aus dem Schneider sein.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund und dem Ausdruck eines toten Kabeljaus vom Fulton-Fischmarkt an. El Greco streckte mir die Zunge raus und verdrehte lachend die Augen. Dann sah er die Anspannung in meinem Gesicht, die geballten Fäuste und meine weiß bis bläulich verfärbten, in die Handflächen gekrallten Finger.

»Okay, du Teufelskerl«, sagte er, »gehen wir, aber diesmal wirklich. Wir sind sowieso schon spät dran.«

Wir reihten uns in den mäandernden Strom von rußverschmutzten Kindern ein und gingen zurück zu El Grecos Haus. Ich hatte noch den Geruch von Rauch in der Nase, und mein T-Shirt roch nach meinem Vater, wenn er im Spätherbst ganz hinten in unserem Hof das Laub der Ahornbäume verbrannte.

Ich versuchte, näher an den Jungen vor mir heranzukommen, um an seinem Shirt zu riechen. Dabei stolperte ich über eine Baumwurzel, fiel auf ihn drauf und schlug mir dabei die Nase blutig. Er drehte sich um und schubste mich. »Hey! Geht’s noch?« Seine Stimme klang scharf, abgehackt, näselnd – die Stimme eines Boxers. Er kam von außerhalb, und, Himmel, sah er fies aus. Er war wahrscheinlich drei Jahre älter als ich und sehr viel kräftiger, und ich wollte mich nicht mit ihm anlegen, unter keinen Umständen. Ich wollte mich mit niemandem anlegen. Ausnahmsweise wünschte ich mir, Adolf wäre hier. Er hätte den Typen zu Kleinholz verarbeitet, wenn er ihm quergekommen wäre. Cecil hatte schnelle Fäuste, die er auch gerne zum Einsatz brachte. Normalerweise bei mir.

El Greco eilte mir zu Hilfe. »Er ist nur gestolpert, mehr nicht; er ist blind auf einem Auge, deshalb sieht er nicht richtig. Er stolpert andauernd über irgendwas. Es tut ihm total leid, nicht wahr, J. J.?«

Dieser Junge kam wahrscheinlich aus Washington Heights oder aus der Bronx und lieferte sich an einem Tag mehr Prügeleien als ich mir in meinem ganzen Leben. Ich würde gern denken, dass er nicht zuschlug, weil ich kleiner war, aber so oder so – El Grecos Lüge funktionierte. Ein blindes Kind hätte wohl selbst ein harter Kerl aus der Bronx nicht verprügelt.

Ich seufzte tief und hielt mir meine pochende Nase, während der Typ leicht großtuerisch davondampfte und all die anderen Kinder wissen ließ, dass er einen Sieg errungen hatte, ohne auch nur ein Mal zuzuschlagen. »Dämliches Arschloch«, murmelte ich, nachdem ich mich aufgerappelt und gründlich vergewissert hatte, dass er außer Hörweite war.

»Warum um alles in der Welt hast du das gemacht? Ich war sicher, das überlebst du nicht!«

»Wollte nur schon mal für nächsten Samstag trainieren, wenn ich gegen Cassius Clay antrete«, sagte ich bitter, während ich Blut von meiner Nase tupfte.

Clay hatte Sonny Liston zweimal geschlagen, einmal 1964, als er Liston in sieben Runden den Titel wegnahm, und dann noch mal 1965 in zwei Minuten und zwölf Sekunden. Ich konnte mich an beide Kämpfe lebhaft erinnern, vor allem daran, wie die Fans »Betrug! Betrug! Betrug!« riefen, als Liston bei diesem zweiten Kampf in der ersten Runde zu Boden ging.

Niemand hätte »Betrug!« gerufen, wenn der Junge aus der Bronx mich auf die Bretter geschickt hätte. Das hätte schlicht niemanden gewundert.

El Greco sagte nichts mehr. Er hatte meine Haut gerettet, und ich war ihm blöd gekommen.

»Ich wollte rausfinden, ob sein Shirt genauso nach Rauch riecht, und dabei bin ich gestolpert«, sagte ich leise, um mich zu entschuldigen.

»Klar, und um ein Haar wärst du bei Doktor Kesh gelandet«, sagte er kichernd. Er konnte mir nie lange böse sein, also lachte ich auch. Doktor Kesh war Armenier und hieß eigentlich Keshishyan, aber das konnte ja kein Mensch aussprechen.

Wir erreichten El Grecos Haus, nachdem wir über das Feld von Mister Jeb Doughty zurückgelaufen waren und dabei Jay Baglia gesehen hatten, der verstohlen aus der alten Scheune hervorlugte, bis er schließlich grinste und winkte. Wir wussten, dass er in der Scheune Marihuana anbaute, denn wir hatten uns oft dort versteckt und in einer Ecke, wo das Dach heruntergekommen war, seltsame Pflanzen zwischen dem Unkraut gesehen. El Greco hatte gewusst, worum es sich bei den höheren Pflanzen handelte, aber wir sagten kein Sterbenswörtchen. Niemandem außer Bobby, der einmal mitgekommen war, um es sich anzusehen.

Wir gingen hinten ums Haus herum und durch die Küchentür. Niemand unter einundzwanzig Jahren durfte den Vordereingang benutzen. Das war eine ungeschriebene Regel, die ich niemals brach; selbst wenn es in Strömen regnete, nahm ich immer den weiteren Weg ums Haus herum. Der Geruch von glühender Holzkohle und rauchenden Hickoryholzspänen zog durch den Garten. Ein einladender, gemütlicher Duft, der an entspannte und gleichzeitig aufregende Sommerabende erinnerte, an bellende Hunde, die Fangen spielenden Kindern hinterherliefen. An jedem anderen Tag hätte ich den Duft tief eingeatmet, ihn förmlich ausgekostet, aber irgendwie ertrug ich schon den Anblick des Rauchs nicht, der über dem alten Steingrill aufstieg.

»Spät wie immer«, sagte El Grecos Mutter.

Sie war hübsch. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Ich hatte noch nie eine Frau gesehen, die so mühelos hin- und herwechseln konnte zwischen ihrer Rolle als angestrengter Mutter und der als Sexsirene. Sie konnte einen anlächeln, als würde sie die innersten Gedanken ihres Gegenübers lesen und indirekt darauf antworten. Immer wenn sie dieses wissende Lächeln lächelte, wurde ich rot wie eine Leuchtrakete, und manchmal war ich kurz davor, laut »Das habe ich nicht gedacht!« zu rufen, weil ich mich dermaßen ertappt fühlte. Obwohl ich nicht wirklich glaubte, dass sie meine Gedanken lesen konnte, befürchtete ich in meinem tiefsten Innern trotzdem genau das. Offenbar lasteten zu viel Religion und die Aussicht auf ewige Verdammnis auf mir, und genau wie die meisten anderen, die es versuchten, schaffte ich es nicht, diese Ketten von mir abzuschütteln.

Auf Missus Papadakis’ ärmellosem, eiscremeweißem Strandkleid leuchteten Sommer- und Mohnblumen in Scharlachrot, Grün und Gelb. Die Schlaufen für den passenden Gürtel, der ihre Taille hätte betonen sollen, waren leer. Sie brauchte ihn auch nicht. Ihre Figur blieb immer dieselbe, aber manchmal sah sie aus wie neunzehn und manchmal schlicht steinalt. Ich vermute, dass sie jeweils so aussah, wie sie sich fühlte. An manchen Tagen wirkte sie, als hätten die Mühen des Lebens ihr die Seele aus dem Leib gesaugt; einen Augenblick später versprühte sie so viel Sex-Appeal, dass ich sie vor lauter Verlegenheit kaum ansehen konnte – was ich aber trotzdem tat, wenn sie es gerade nicht merkte.

Einmal sah ich sie fast nackt. Am Tag zuvor, einem heißen Julitag, hatten El Greco und ich ihre Versandkataloge durchgeblättert. Wir hatten sie in der Schreibtischschublade gefunden, als seine Eltern aus dem Haus und wir auf der Suche nach Zigaretten waren. Wir schauten uns zunächst die Gitarren und Fahrräder an, dann kamen wir zu den Dessous. Seiten über Seiten mit Frauen in Unterwäsche. In einigen Einstellungen konnten wir unter dem fast durchsichtigen Material sogar die Umrisse von dunklen Brustwarzen und Schambehaarung erkennen; elektrisiert starrten wir auf die Bilder. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifuhr oder irgendwo eine Tür zu hören war, schlugen wir die Kataloge zu und stopften sie zurück in die Schublade, unsere Köpfe knallrot vor Erregung und schlechtem Gewissen. Von diesem Tag an verbrachten wir Stunden um Stunden mit dem Betrachten der Fotos, wann immer sich eine Gelegenheit bot und niemand im Haus war. Üppige Frauen in Korsagen und French Knickers und Strümpfen und Seidenpyjamas. So echt, dass wir fast das Gefühl hatten, sie anfassen zu können, und tief in unserem Innersten in Aufruhr gerieten. Am Tag nach der Entdeckung dieser Bilder war ich schon früh bei El Greco. Nachdem seine Mutter uns Pancakes mit Ahornsirup zum Frühstück gemacht hatte, ging ich hoch ins Badezimmer, und durch die halb geöffnete Tür zu ihrem Schlafzimmer erblickte ich sie seitlich in einem Spiegel, der auf ihrer Frisierkommode stand, mit nackten Brüsten; ich sah, wie sie einen Seidenstrumpf ihr schlankes, gebräuntes Bein bis zu dem blasseren Oberschenkel hinaufrollte und ihn dort an einem schwarzen Strumpfhalter befestigte, der sich deutlich von ihrer milchigen Haut abhob. Ich erstarrte, fasziniert und mit glänzenden Augen, die mir fast aus dem Kopf fielen. Sie drehte sich etwas herum und entdeckte mich. Sie war nicht sauer, sondern lächelte nur. »Die Show ist vorbei, J. J.«, sagte sie und stupste, immer noch lächelnd, mit ihrem Fuß die Tür zu. Mit glühendem Gesicht rannte ich nach unten und setzte mich wieder an den Tisch, ängstlich, dass man mir etwas anmerken könnte. Missus Papadakis kam ein paar Minuten später nach unten und benahm sich, als sei überhaupt nichts gewesen.

Ich habe El Greco nie davon erzählt. Es kam mir irgendwie nicht richtig vor. Sie selbst erwähnte den Vorfall auch nie wieder, aber wann immer sie meine verstohlenen Blicke bemerkte, lächelte sie ihr wissendes Lächeln, woraufhin ich meistens hustete und ihr eine sinnlose Frage stellte oder unschuldig vor mich hin pfeifend in den Garten schlenderte.