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Vorwort

Mit der Entstehung spezialisierter Behandlungseinrichtungen, Fachkrankenhäuser und Forschungsinstitute hat sich die Neurorehabilitation vom multiprofessionellen Therapiefeld zur eigenständigen Fachrichtung innerhalb der modernen Neurowissenschaften entwickelt. Insbesondere die neurologische Frührehabilitation nach Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems erlangt zunehmende Bedeutung. Die Ausweisung spezifischer DRG-Gruppen unterstreicht auch die wachsende Anerkennung dieses Fachs im deutschen Gesundheitssystem. Bisher erschienene Fachbücher der Rehabilitation und Neurorehabilitation legen entweder großes Augenmerk auf eine fast enzyklopädische Vollständigkeit der behandelten Themen oder fokussieren sich auf einzelne Aspekte.

Dieses praxisorientierte Werk fasst den gesammelten Erfahrungs- und Praxisschatz gegenwärtiger und ehemaliger Mitarbeiter der Schön Klinik Bad Aibling als einer der großen Rehabilitationseinrichtungen in Europa zusammen. Ziel der Herausgeber und Autoren ist es, dem praktisch Tätigen aus allen Berufsgruppen wesentliches Rüstzeug für Therapieentscheidungen bei im Alltag auftauchenden Fragen an die Hand zu geben. Rehabilitierbare neurologische Syndrome mit ihren Besonderheiten werden ebenso beschrieben wie Therapieverfahren, Reha-Besonderheiten und wichtige sozialmedizinische Aspekte. Dabei nehmen die Herausgeber bewusst in Kauf, nicht alle Situationen und Krankheitsbilder abzubilden, um das Buch durch seine Größe nicht unhandlich zu machen.

In der Neurorehabilitation ist eine intensive Zusammenarbeit von Pflegekräften, Ärzten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sprachtherapeuten, Schlucktherapeuten und Neuropsychologen neben vielen anderen Berufsgruppen essenziell. Die Bearbeitung der Themen in unserem Buch liegt dabei in der Hand der jeweiligen Spezialisten. Wenn es dadurch zu gewissen Unterschieden in Herangehensweise, Stil und Theoriebasierung kommt, so drückt sich darin doch auch die den einzelnen Berufsfeldern eigene Denkweise aus. Die Herausgeber haben versucht, eine gewisse Anpassung zwischen den verschiedenen Berufsgruppen zu vermitteln bzw. allgemein akzeptierte Nomenklaturen zu verwenden, ohne jedoch die berufsspezifischen Zielsetzungen, Methoden und Herangehensweisen zu verwischen. Eines der wichtigsten Ziele des vorliegenden Werkes ist es, mit den Beiträgen das interdisziplinäre Verständnis im Behandlungsteam zu fördern. Es kann – auch in unserem Werk – nicht verborgen bleiben, dass zwischen den Disziplinen noch erhebliche Unterschiede in der Gründung auf evidenzbasierten Methoden bestehen. Die Praxisorientierung dieses Buchs drückt sich darin aus, trotzdem handlungsleitende Empfehlungen für die Alltagspraxis zu benennen. Wie überall in der Medizin bleibt dem Leser die Verantwortung, sich selbst immer über den letzten Stand des Wissens zu vergewissern.

Ein bemerkenswerter Anteil an der Entwicklung der Schön Klinik Bad Aibling von der Gründung im Jahre 1994 bis heute zu einem der einflussreichsten Neurorehabilitationszentren in Deutschland verbindet sich mit dem ärztlichen Gründungsdirektor und langjährigen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR), Herrn Prof. Dr. Eberhard Koenig. Er hat durch seine Persönlichkeit, seine fachliche Expertise und sein wohlwollendes Fördern und Fordern nicht nur die Herausgeber, sondern weitgehend alle Autoren dieses Werkes auf wichtigen Etappen ihrer beruflichen Laufbahn begleitet – sei es als Gesprächspartner, Kollege oder Vorgesetzter. Ihm gebührt deshalb unserer besonderer Dank und unsere Anerkennung. Ihm sei diese 1. Auflage der »Praktischen Neurorehabilitation« gewidmet.

Friedemann Müller,

Ernst Walther, Jürgen Herzog

Bad Aibling, Hamburg, München,

im März 2014

Geleitwort

Zwanzig Jahre Klinik Bad Aibling bedeutet auch fast 25 Jahre von einer Vision zu einer zukunftweisenden Institution für neurologische Rehabilitation. So umfassend und qualitätsbewusst ist diese große interdisziplinäre Einrichtung gewachsen, dass die Herausgeber Friedemann Müller, Ernst Walther und Jürgen Herzog mit ihren Mitarbeitern das gesamte Spektrum der Rehabilitation von der Intensivstation bis zur poststationären Versorgung und beruflichen Wiedereingliederung in dem hier vorgelegten Handbuch vorbildlich abdecken. Dies ist nicht selbstverständlich, denn die neurologische Rehabilitation umfasst nicht nur die motorischen, sondern auch die sensorischen, kognitiven und vegetativen Funktionen, das heißt die Kooperation von Neurologen, Internisten, Schmerztherapeuten, Intensivmedizinern, Psychologen und vielen spezialisierten Therapeuten zur Wiederherstellung von Gang und Stand, Handmotorik, Schlucken, Sprechen und nicht zuletzt zur Überwindung von Depression und auswegloser Hoffnungslosigkeit. Neue Technologien wurden entwickelt, wie robotergestützte Verfahren und die transkranielle Elektrostimulation.

Zwanzig Jahre Klinik Bad Aibling bedeutet auch 20 Jahre weitsichtigen zielorientierten Aufbau durch einen stets klar handelnden, klug abwägenden, sozialverantwortlich und gerecht entscheidenden ärztlichen Leiter, Eberhard Koenig. Er verstand es, die Ausbildung und das Qualitätsbewusstsein junger Mitarbeiter zu fördern und gleichzeitig eine akademische Neurorehabilitation durch aktive Mitarbeit in den Forschungsverbünden zu ermöglichen. Er selbst übernahm in verschiedenen Funktionen leitende Verantwortung in Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation oder dem Berufsverband Neurorehabilitation. Die Schön Klinik Bad Aibling hätte sich keinen besseren Architekten und verantwortlichen Arzt wünschen können. Eberhard Koenig hat stets seine Eigendarstellung der Verantwortung für seine Patienten untergeordnet. Vielleicht auch deshalb entstand der Wunsch seiner Schüler und Herausgeber, ihm dieses gelungene, kompetente Werk mit Dank zu widmen. Eberhard Koenig sollte dies mit Stolz als Anerkennung seines Lebenswerks ansehen.

Thomas Brandt

München, März 2014

1 Rahmenbedingungen der neurologischen Rehabilitation

Jürgen Herzog

1.1 Organisation und Strukturen

Die gesundheits- und gesellschaftspolitische Bedeutung der neurologischen Rehabilitation (NR) in Deutschland spiegelt sich u. a. in einer – auch im internationalen Vergleich – hohen Dichte professioneller Versorgungsstrukturen wider. Dieser erfreulichen Tatsache steht eine Reihe potenziell konfliktträchtiger Schnittstellenprobleme gegenüber, die durch die Komplexität in Aufbau, Finanzierung und sozialrechtlicher Zuordnung des Neurorehabilitationssystems bedingt sind. Für eine optimale Patientenversorgung sind deshalb Grundkenntnisse dieser Strukturen unerlässlich.

1.1.1 Einrichtungen

Historisch entwickelten sich zunächst indikationsspezifische Rehabilitationseinrichtungen außerhalb des Krankenhaussektors. Insbesondere mit dem Ausbau der akuten Schlaganfallbehandlung in Stroke Units erfolgte jedoch eine Verlagerung in Frührehabilitationskliniken mit dem Status von Akutkrankenhäusern. Diese Tradition rein stationärer Maßnahmen wurde seit den 1980er Jahren durch eine zunächst wachsende, nach Mittelkürzungen zuletzt wieder rückläufige Zahl teilstationärer Einrichtungen (Neurorehabilitative Tagesklinik) ergänzt. Als dritte Behandlungsoption stehen ambulante Therapieverfahren zur Verfügung. In der Regel handelt es sich dabei um Einzelleistungen selbstständiger Funktionstherapeuten. Zunehmend finden sich auch Rehabilitationszentren, in denen unterschiedliche therapeutische Professionen verschiedene ambulante Leistungen unter einem Dach anbieten.

1.1.2 Personelle Ausstattung

Neurologische Erkrankungen verursachen in der Regel Schädigungen mit Auswirkungen auf verschiedenartige Funktionsbereiche. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist ein Charakteristikum der Neurorehabilitation der multiprofessionelle Behandlungsansatz. Folgende Berufsgruppen sind (in alphabetischer Reihenfolge) typischerweise in den therapeutischen Prozess involviert:

Weiterhin ist eine Vielzahl anderer Professionen beteiligt. Im stationären Bereich sollen hier exemplarisch Sozialpädagogen, Orthopädiemechaniker, Diätassistenten, Atmungs- und Urotherapeuten genannt werden. Im nachstationären Bereich kommt darüber hinaus Berufsberatern, rechtlichen Betreuern und den weiterbetreuenden Haus- und Fachärzten eine besondere Rolle zu.

1.1.3 Phasenmodell der Neurorehabilitation

Entlang des sich oft über viele Monate entwickelnden Rehabilitationsverlaufs ändern sich die Bedürfnisse und Fähigkeiten neurologisch Kranker zum Teil gravierend. Es lag deshalb nahe, den Verlauf in unterschiedliche Phasen einzuteilen, der die allmähliche Steigerung der Anforderungen an alle Patientengruppen abbildet. Im klinischen Versorgungsalltag hat sich seit Jahren das von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) vorgeschlagene Modell mit folgender Einteilung bewährt (BAR 1995, S. 5):

Insbesondere für die Phasen B und C hat die BAR medizinische Parameter bzw. Patientencharakteristika als Eingangskriterien definiert, auf die an dieser Stelle aus Platzgründen verwiesen wird (BAR 1995, S. 9 und 12). Wiederholter Diskussionsgegenstand sind die Ein- bzw. Ausgangskriterien für diese Phasen, insbesondere in der Abgrenzung zwischen der Phase B und C. Erschwerend kommt hinzu, dass sich neurologische Verläufe oft nicht in allen relevanten Dimensionen gleichzeitig bessern, sodass bei einem Patienten gleichzeitig Ein- und Ausschlusskriterien für eine Phase vorliegen können (Platz et al. 2011). Gut operationalisierbare Kriterien (s. u.) liegen nicht für alle Patientengruppen gleichermaßen vor bzw. werden je nach Bundesland unterschiedlich bewertet.

1.1.4 Abgrenzung verschiedener Frührehabilitationsleistungen

Die gegenwärtige Versorgungslandschaft neurologisch Erkrankter in Deutschland und die soziodemografische Entwicklung bringen es mit sich, dass in der Rehabilitation Überlappungen mit verwandten Fachrichtungen bestehen, namentlich v. a. der Geriatrie und der Physikalischen Medizin. Diese Aspekte finden sich im Leistungskatalog des DRG-basierten Vergütungssystems in vier OPS-Ziffern wieder:

Leider sind die Eingangskriterien im OPS-Katalog nicht oder nur unzureichend differenziert, sodass zwischen Kostenträgern, Zuweisern und Rehabilitationsmedizinern z. T. gravierend unterschiedliche Auslegungen bei der Zuordnung von Patienten zur jeweils adäquaten Rehabilitationseinrichtung bestehen. Im klinischen Alltag wird z. B. älteren Patienten zunehmend eine neurologische Rehabilitation vorenthalten und stattdessen eine geriatrische Rehabilitation bewilligt. Da aber hinsichtlich Zielausrichtung, Therapiedichte, fachlicher Qualifikation und medizinischer Ergebnisqualität relevante Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Facheinrichtungen bestehen, ist eine Klärung der Verantwortlichkeiten dringend erforderlich. Aus neurowissenschaftlicher Sicht stellt die indikationsspezifische Rehabilitation dabei das eindeutigste Differenzierungsmerkmal dar (s. u.).

1.2 Medizinische Voraussetzungen

1.2.1 Indikationen

Nach dem Prinzip der Indikationsspezifität stellen alle rehabilitationspflichtigen Erkrankungen, Verletzungen und vorausgegangene Operationen des zentralen und peripheren Nervensystems, neuromuskuläre Krankheiten und Myopathien primär eine Indikation zur NR dar. Die häufigsten Indikationsgruppen sind dabei:

Unabhängig von der zugrunde liegenden neurologischen Erkrankung sollte die Rehabilitationsprognose positiv sein, d. h. die NR sollte die Erreichung medizinischer, pflegerischer oder sozialer Ziele ermöglichen. Die prognostische Einschätzung ist multidimensional und wird u. a. beeinflusst von

In der neurologischen Frührehabilitation rechtfertigt nicht selten die Prognoseabschätzung schwerst Betroffener den stationären Aufenthalt per se. Es ist offensichtlich (und auch volkswirtschaftlich relevant), dass jede Überlegung zur NR eine Einzelfallentscheidung ist.

1.2.2 Kontraindikationen

Auch die Kontraindikationen (KI) zur NR ergeben sich aus der Prüfung des Einzelfalls. Absolute KI bestehen nach Ansicht des Autors lediglich bei Krankheitsbildern mit offensichtlich infauster Prognose (z. B. nach transtentorieller Herniation und Infarzierung großer Hirnareale, diffuse Metastasierung maligner Tumoren) sowie bei nachweislicher Erfüllung einer in der Patientenverfügung umschriebenen Konstellation, welche die Aufrechterhaltung medizinischer Maßnahmen verbietet. Relative KI im klinischen Alltag sind häufig u. a.:

Für hochbetagte Patienten, bei denen eine »geriatrietypische Multimorbidität« vor der neurologischen Erkrankung die NR pauschal erschwert, sollten explizit individualisierte Behandlungsziele geprüft werden.

1.3 Sozialrechtliche Voraussetzungen

1.3.1 Leistungsansprüche

Zwischen 2001 und 2007 wurden sämtliche ambulanten und stationären Rehabilitationsleistungen zu Pflichtleistungen der Kostenträger. Aus der Sicht des Sozialversicherten ist dies formal mit einem »Anrecht auf Rehabilitation« gleichzusetzen, die in Deutschland ihren Ausdruck in einer starken sozialgesetzlichen Verankerung findet (SGB I § 4, SGB V–VIII, § 1 SGB IX). Seit dem 01.01.2008 besteht zudem der Rechtsanspruch auf ein »Persönliches Budget«, das mittels Geld- oder Gutscheinleistungen chronisch Kranken und Behinderten »direkten Zugriff« auf rehabilitative Teilhabeleistungen gewähren soll. Im Alltag genießt dieses System jedoch bislang weder bei den Versicherten noch bei Behörden die nötige Akzeptanz.

Während die NR der Phasen C und D leistungsrechtlich mit Verträgen nach SGB V § 111 und SGB V § 40 geregelt werden, ist die leistungsrechtliche Zuordnung der Phase B nicht bundeseinheitlich umgesetzt. Oftmals erfolgt die Frührehabilitation aufgrund der Erkrankungsschwere als Krankenhausbehandlung (SGB V § 39) und wird in Krankenhäusern mit Versorgungsverträgen nach SGB V §§ 108 und 109 erbracht. Gelegentlich erbringen Rehabilitationseinrichtungen Leistungen der Phase B auch mit Verträgen nach SGB V § 111. Eine bundesweit einheitliche Regelung existiert nicht (Platz et al. 2011).

1.3.2 Kostenträger

Die wichtigsten Kostenträger in der NR sind:

Typischerweise umfassen die Kostenzusagen für stationäre NR initial 14–28 Tage.

1.3.3 Pragmatische Vorgehensweise bei der Beantragung stationärer Rehabilitationsleistungen

Aufgrund des Umstandes, dass die Frührehabilitation der Phase B Kriterien der Krankenhausbehandlung unterliegt, ist bei Versicherten der GKV in der Regel keine vorausgehende Klärung der Kostenübernahme nötig. Alle übrigen Kostenträger (s.o.) setzen dagegen vor Beginn einer Frührehabilitation eine schriftliche Kostenübernahme voraus. Die Verlegung der Patienten aus dem erstversorgenden Akutkrankenhaus erfolgt meist übergangslos und wird über den Sozialdienst, Case Manager oder direkten ärztlichen Kontakt organisiert. Klinikspezifische Anmeldeformulare mit Angaben zur Art der Erkrankung, Komplikationen und Pflegebedürftigkeit erleichtern den Informationsfluss.

NR der Phasen C und D ist bei allen Kostenträgern genehmigungspflichtig. Versicherte der PKV sind oft schlechter gestellt, da die Unterschiedung zur Kur von der PKV nicht getroffen wird. Spezifische Antragsformulare stehen meist online zum Herunterladen beim Kostenträger zur Verfügung. Bei Anschlussheilbehandlungen (AHB) übernimmt i. d. R. der Sozialdienst des vorbehandelnden Krankenhauses die Anmeldung, bei ambulant zugewiesenen Patienten können dies auch niedergelassene Vertragsärzte. Seit dem 1.4.2007 müssen Ärzte über eine von den Landesärztekammern bescheinigte »Rehabilitationsmedizinische Qualifikation« verfügen, um stationäre (und ambulante) Rehabilitationsleistungen zu verordnen.

In der Rehabilitationseinrichtung werden für die oft mehrmonatige Behandlung den Kostenträgern regelmäßig schriftliche Verlängerungsanträge unter Darlegung des Rehabilitationsverlaufs, objektivierbarer Fortschritte (z. B. Zugewinne im Barthel-Index, Frührehabilitations-Index nach Schönle oder im functional independence measure FIM) sowie dokumentierter Komplikationen/Verzögerungen zugesandt. Diese dienen gleichzeitig als Argumentationsbasis, inwieweit sich für die Patienten im avisierten Behandlungszeitraum alltagsrelevante Rehabilitationsziele formulieren lassen. Zunehmende Bedeutung bei der Zielformulierung, -dokumentation und -überprüfung erlangt in der NR hierbei die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF; WHO 2013).

Literatur

BAR (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation) (1995) Zur Neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C. Frankfurt.

Platz T, Witte OW, Liepert J, Siebler M, Audebert H, Koenig E (2011) Neurorehabilitation nach Schlaganfall – ein Positionspapier aus dem Kompetenznetzwerk Schlaganfall. Akt Neurol 38:150–156.

Sozialgesetzbuch: Bücher I–XII (2013) München: Beck Texte im dtv.

WHO (World Health Organization) (2013) International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). (http://www.who.int/classifications/icf/en/, Zugriff am 10.02.2013).

2 Grundlagen der Erholung nach Schädigung des Nervensystems

Jan Simon Gerdes und Ernst Walther

2.1 Mechanismen der Funktionsrestitution

Strukturelle und funktionelle Anpassungen des Gehirns auf Veränderungen der Umwelt, aber auch nach Verletzungen werden als neuronale Plastizität bezeichnet. Donald O. Hebb hat 1949 postuliert, dass Verbindungen zwischen Neuronen durch Erfahrung gestärkt und modelliert werden. In den letzten Dekaden konnten zahlreiche Studien demonstrieren, dass eine funktionelle und strukturelle Adaption des Gehirns bei erwachsenen Menschen und Tieren durch Verhaltensänderung, Training und Lernen lebenslang möglich ist (Draganski et al. 2004; Scholz et al. 2009). In der Folge wurde untersucht, ob sich Mechanismen der zerebralen Reorganisation auch nach Hirnschädigungen beobachten lassen. Dabei zeigten sich, je nach Größe und Lokalisation der Läsion, unterschiedliche Reaktionen neuronaler Plastizität. Oft können funktionelle Ausfälle durch diese Mechanismen teilweise kompensiert werden, aber nur selten wird dadurch eine vollständige Funktionsrestitution erreicht. Bisweilen kommt es durch neue, fehlerhafte strukturelle Verknüpfungen sogar zu Dysfunktionen.

2.1.1 Spontanerholung

Werden Neurone durch eine Noxe, beispielsweise bei Ischämie, über ihre Toleranzgrenze geschädigt, kommt es zum Zelluntergang mit Verlust der neuronalen Funktion. Auch intakte Regionen, die außerhalb eines ischämischen Kerns liegen, aber mit diesem funktional verbunden waren, zeigen häufig einen reduzierten Blutfluss und einen Metabolismus mit verminderter Funktion. Dieses Phänomen bezeichnet man als Diaschisis (griech. δια, diá = durch, σχιζω, skízo = schneiden). Dieser Prozess ist jedoch innerhalb von Tagen und Wochen reversibel. Man nimmt daher an, dass einer frühen Erholung u. a. Diaschisis zugrunde liegt.

2.1.2 Neuronale Plastizität

2.1.2.1 Veränderung der synaptischen Erregungsleitung

Die beiden wichtigsten Neurotransmitter, welche die Effektivität der Synapse modulieren, sind Glutamat und γ-Aminobuttersäure (GABA). Glutamat wirkt erregend und kann exzitatorische postsynaptische Potenziale (EPSP) am postsynaptischen Neuron generieren, während GABA dort über inhibitorische postsynaptische Potenziale (IPSP) hemmend wirkt. Ein EPSP steigert, ein IPSP verringert die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aktionspotenzial am postsynaptischen Neuron generiert wird. Long-term potentation (LTP) und long-term depression (LTD) sind weitere Mechanismen, welche die Effektivität der synaptischen Übertragung beeinflussen und Gedächtnisfunktionen und kortikaler Plastizität zugrunde liegen. LTP ist ein klassischer Mechanismus, um die synaptische Effektivität zu erhöhen (Hebb, 1949). Über GABA-Rezeptoren hemmende Substanzen (z. B. Benzodiazepine) beeinträchtigen die neuronale Plastizität und sollten daher in der neurologischen Frührehabilitation vermieden werden (► Kap. 5.17.1).

2.1.2.2 Demaskierung ungenutzter Synapsen

Nach Teilinfarzierung der primär-sensorischen und -motorischen Rinde bei Menschen wurde eine erhöhte neuronale Aktivität im Randbereich der Schädigung gezeigt (Cao et al. 1998). Diese Ergebnisse legen nahe, dass bereits bestehende, vorher inhibierte Synapsen und vorher nicht beteiligte redundante Netzwerke zunehmend aktiviert werden. Diese Anpassung wird als Demaskierung bezeichnet und ist möglicherweise die Folge einer verminderten intrakortikalen Hemmung.

2.1.2.3 Erhöhte Erregbarkeit durch Denervierungshypersensitivität

Eine rasche plastische Anpassung des Kortex auf eine periphere Schädigung ist die Verstärkung zuvor unterschwelliger Signale an der Synapse. Normalerweise werden Input-Signale afferenter Fasern zum Kortex GABAA-Rezeptor-vermittelt durch Interneurone inhibiert. Diese GABAA-Rezeptor-vermittelte Inhibition ist bei Affen innerhalb von Stunden reduziert, wenn ein peripherer Nerv geschädigt wird. Die Folge ist eine Denervierungshypersensitivität, die auch längerfristig persistieren kann (Wellman et al. 2002).

2.1.2.4 Axonale und dendritische Regeneration

Die neuroplastischen strukturellen Veränderungen beschränken sich nicht nur auf den Randbereich der Läsion. Auch weiter entfernte Neuronen, die mit dem geschädigten Areal verbunden waren, beteiligen sich an der Reorganisation. Ein Beispiel hierfür ist die strukturelle Verknüpfung der primär-motorischen Rinde (M1) mit der ventralen prämotorischen Rinde (PMv). Dancause et al. (2005) setzten Totenkopfaffen eine Läsion im Handareal M1. Nachdem die Hand dadurch zunehmend im PMv repräsentiert wurde, wuchsen innerhalb einiger Monate Axone vom neuen Repräsentationsareal im PMv in Richtung der Läsion, wichen dieser aus und erreichten schließlich das Handareal des somatosensorischen Kortex (S1). Auch neue kortikospinale Verbindungen wurden im Tierexperiment nachgewiesen: Nach einer Schädigung in M1 und dem Brodmann-Areal 6 sprossen Axone aus der ipsilateralen supplementär-motorischen Rinde (SMA) bis zum kontralateralen Rückenmark (McNeal et al. 2010). Diese neuen Axonverbindungen waren mit einer Funktionserholung korreliert. Wenn man die SMA sekundär schädigte, war der ursprüngliche Funktionsverlust nach Schädigung von M1 wieder vorhanden. Bei einem Patienten, der nach 19 Jahren im minimally conscious state wieder zu sprechen begann und danach mittels serieller Diffusionstensor-Bildgebung (DTI) untersucht wurde, zeigten sich Hinweise auf eine deutliche axonale Neuverknüpfung (Voss et al. 2006). Auch kurzfristige, trainingsinduzierte plastische Veränderungen der weißen Substanz konnten bereits mittels DTI demonstriert werden (Scholz et al. 2009). Die Aussprossung von Dendriten ist eine Form der kortikalen Reorganisation, die über Glutamat und NMDA-Rezeptoren gesteuert wird. Werden NMDA-Rezeptoren geblockt, so beeinflusst dies nicht die Demaskierung vorher ungenutzter Synapsen, wohl aber die langfristige Reorganisation des Kortex.

2.1.2.5 Remyelinisierung

Eine intakte Myelinisierung ist für die Integrität und Funktion axonaler Strukturen von wesentlicher Bedeutung. Im peripheren Nervensystem sorgen myelinisierende Schwann-Zellen für die Umhüllung der Axone mit Myelin. Das Äquivalent der Schwann-Zelle im zentralen Nervensystem ist der Oligodendrozyt. Oligodendrozyten entspringen einer großen Population von Oligondendrozyten-Vorläuferzellen, die – anders als Stammzellen – bereits morphologisch komplex sind. Diese Vorläuferzellen teilen sich, sobald eine Demyelinisierung eintritt, und entstehende Oligodendrozyten beginnen mit der Remyelinisierung. Dieser Reparaturmechanismus ist experimentell gut reproduzierbar und bedarf aufwendiger Maßnahmen, um unterdrückt zu werden. Deswegen ist es erstaunlich, dass diese Reparatur im Kontext demyelinisierender Erkrankungen nicht geschieht. Postmortem-Studien haben gezeigt, dass die fehlende Remyelinisierung bei chronischer Multiple Sklerose häufig mit dem Ausbleiben der Reifung von Oligodendrozyten-Vorläuferzellen assoziiert ist. Therapieansätze, welche an der Ausreifung der Vorläuferzellen ansetzen, sind Gegenstand der aktuellen Forschung (Kotter et al. 2011).

2.2 Netzwerk-Plastizität

2.2.1 Expansion neuronaler Projektionen

Die Repräsentation eines Körperteils in der motorischen und somatosensorischen Rinde ist nicht unveränderlich, sondern kann abhängig von Training oder Schädigung expandieren, schrumpfen oder in benachbarte Rindenareale verschoben werden. Erhielten Eulenaffen mit einer umschriebenen ischämischen Läsion im Handareal gezieltes Training, wurde die Hand nach dem Training annähernd im ursprünglichen Areal und darüber hinaus repräsentiert, während Affen mit spontaner Erholung eine Verkleinerung des ursprünglich repräsentierenden Handareals aufwiesen (Nudo et al. 1996). Mit diesen neuroplastischen Veränderungen ging eine Funktionsrestitution der paretischen Hand einher. Die neurophysiologischen Grundlagen neurorehabilitativer Physiotherapie konnten u. a. durch diese Studien gestützt werden. Auch in der somatosensorischen Rinde werden Repräsentationsareale abhängig von taktiler Stimulation, Schmerzen und Unterbrechung peripherer Afferenzen reorganisiert.

2.2.2 Rekrutierung paralleler oder funktionell ähnlicher Bahnsysteme

Wenn die Funktion eines geschädigten Hirnareals durch ein anderes Hirnareal übernommen wird, spricht man von Vikariation (lat. vice = an Stelle von). Ein Kennzeichen der Vikariation ist, dass die kompensierende Hirnregion meist eine ähnliche Mikrostruktur wie die Region aufweist, deren Funktionsausfall sie kompensiert. Häufig beobachtet man, dass die homologe Struktur der gesunden Hemisphäre an der Kompensation des Funktionsverlustes beteiligt ist. Bei Patienten mit mesialer Temporallappenepilepsie (mTLE) der sprachdominanten Hemisphäre ist das Wernicke-Zentrum mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit in die nichtdominante Hemisphäre ausgelagert, insbesondere, wenn die mTLE vor dem 5. Lebensjahr begann (Pataraia et al. 2004). Bei Sprachaufgaben aktivieren aphasische Patienten beide Hemisphären. Die Rolle der nichtbetroffenen Hemisphäre ist dabei – wie auch bei der Restitution anderer Funktionsausfälle – nicht ganz geklärt. Wahrscheinlich wirken einige Regionen der rechten Hemisphäre unterstützend bei der Reorganisation der Sprachfunktion, andere jedoch störend. Weitere Beispiele für Beteiligung der nichtbetroffenen Hemisphäre an der funktionellen Erholung fanden sich bei Schäden im Parietallappen (Zacks et al. 2004), in der supplementär-motorischen Rinde (Krainik et al. 2004) und beim Schluckvorgang (Hamdy et al. 1998). Interessanterweise ließ sich bei einseitiger Schädigung des auditorischen Kortex keine kompensierende Aktivität der nichtbetroffenen Hemisphäre nachweisen (Sörös et al. 2006). Ein Beispiel für die gesteigerte Aktivität der nichtbetroffenen Hemisphäre bei Bewegung der Hand nach Schlaganfall zeigt ► Abb. 2.1.

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Abb. 2.1: Aktivität der nichtbetroffenen Hemisphäre nach Schlaganfall: Die Bewegung der betroffenen Hand führt zu einer stärkeren bilateralen kortikalen Aktivität (B) als bei Bewegungen der nichtbetroffenen Hand (A) (nach Johansen-Berg et al. 2002)

2.3 Neubildung von Neuronen

Cogle et al. (2004) konnten eindrucksvoll zeigen, dass nach Knochenmarktransplantation Knochenmarkzellen ins Gehirn migrieren und sich in Neurone, Astrozyten und Mikroglia differenzieren können. Dieses Ergebnis eröffnet die Perspektive für den möglichen Einsatz von Knochenmarkzellen zur Reparatur zerstörten Hirngewebes. Die Anwendung von Stammzellen zur Behandlung von Schlaganfällen wird weiterhin erforscht.

Literatur

Cao Y, D’ Olhaberriague L, Vikingstad EM, Levine SR, Welch KM (1998) Pilot study of functional MRI to assess cerebral activation of motor function after poststroke hemiparesis. Stroke 29:112–122.

Cogle CR, Yachnis AT, Laywell ED, Zander DS, Wingard JR, Steindler DA, Scott EW (2004) Bone marrow transdifferentiation in brain after transplantation: a retrospective study. Lancet 363:1432–1437.

Dancause N, Barbay S, Frost SB, Plautz EJ, Chen D, Zoubina EV, Stowe AM, Nudo RJ (2005) Extensive cortical rewiring after brain injury. J Neurosci 25:10167–10179.

Draganski B, Gaser C, Busch V, Schuierer G, Bogdahn U, May A (2004) Neuroplasticity: changes in grey matter induced by training. Nature 427:311–312.

Hamdy S, Aziz Q, Rothwell JC, Power M, Singh KD, Nicholson DA, Tallis RC, Thompson DG (1998) Recovery of swallowing after dysphagic stroke relates to functional reorganization in the intact motor cortex. Gastroenterology 115:1104–1112.

Hebb DO (1949) The organization of behaviour. A neurophysiological theory. New York: John Wiley.

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Krainik A, Duffau H, Capelle L, Cornu P, Boch AL, Mangin JF, Le BD, Marsault C, Chiras J, Lehericy S (2004) Role of the healthy hemisphere in recovery after resection of the supplementary motor area. Neurology 62:1323–1332.

McNeal DW, Darling WG, Ge J, Stilwell-Morecraft KS, Solon KM, Hynes SM, Pizzimenti MA, Rotella DL, Vanadurongvan T, Morecraft RJ (2010) Selective long-term reorganization of the corticospinal projection from the supplementary motor cortex following recovery from lateral motor cortex injury. J Comp Neurol 518:586–621.

Nudo RJ, Wise BM, SiFuentes F, Milliken GW (1996) Neural substrates for the effects of rehabilitative training on motor recovery after ischemic infarct. Science 272:1791–1794.

Pataraia E, Simos PG, Castillo EM, Billingsley-Marshall RL, McGregor AL, Breier JI, Sarkari S, Papanicolaou AC (2004) Reorganization of language-specific cortex in patients with lesions or mesial temporal epilepsy. Neurology 63:1825–1832.

Scholz J, Klein MC, Behrens TE, Johansen-Berg H (2009) Training induces changes in white-matter architecture. Nat Neurosci 12:1370–1371.

Sörös P, Dziewas R, Manemann E, Teismann IK, Lutkenhoner B (2006) No indication of brain reorganization after unilateral ischemic lesions of the auditory cortex. Neurology 67:1059–1061.

Voss HU, Uluc AM, Dyke JP, Watts R, Kobylarz EJ, McCandliss BD, Heier LA, Beattie BJ, Hamacher KA, Vallabhajosula S, Goldsmith SJ, Ballon D, Giacino JT, Schiff ND (2006) Possible axonal regrowth in late recovery from the minimally conscious state. J Clin Invest 116:2005–2011.

Wellman CL, Arnold LL, Garman EE, Garraghty PE (2002) Acute reductions in GABAA receptor binding in layer IV of adult primate somatosensory cortex after peripheral nerve injury. Brain Res 954:68–72.

Zacks JM, Michelon P, Vettel JM, Ojemann JG (2004) Functional reorganization of spatial transformations after a parietal lesion. Neurology 63:287–292.

3 Spezifische Störungsbilder in der Neurorehabilitation

3.1 Vaskuläre zerebrale Erkrankungen

Peter Bader

3.1.1 Zerebrale Ischämien

Trotz verbesserter Schlaganfallversorgung mit Einführung zertifizierter Stroke-Units, Erweiterung des Zeitfensters der systemischen Thrombolyse auf bis zu 4,5 Stunden (Hacke et al. 2008, S. 1317), Implementierung neuroradiologisch interventioneller Verfahren zur Gefäßrekanalisation, Optimierung der Schnittstelle Präklinik – Stroke-Unit und ersten Ansätzen einer präklinischen Lyse im Setting einer mobilen Stroke-Unit (Walter 2012, S. 397) steht der Schlaganfall an dritter Stelle der Mortalitätsstatistik. Er ist die häufigste Ursache einer bleibenden Behinderung und die häufigste Indikation für eine neurologische Rehabilitation. Jährlich erleiden ca. 250.000 Menschen einen Schlaganfall, die Inzidenz beträgt ca. 200 auf 100.000 Einwohner/Jahr mit demografisch bedingt steigender Tendenz. Für die Neurorehabilitation sind vorwiegend funktionelle Schädigungsmuster relevant, weniger Pathophysiologie und Ätiologie des Schlaganfalls (► Tab. 3.1).

Sensomotorische Defizite sind mit einer Inzidenz von 80 % am häufigsten. Bei 60 % der Betroffenen besteht mindestens eine mittelschwere Hemiparese, bei 20 % eine funktionelle Hemiplegie. Paraparesen oder Tetraparesen bei bilateraler, pontiner oder spinaler Infarkttopik sind weniger häufig (Herman et al. 1982, S. 629). Patienten sind für eine motorische Rehabilitation in der Regel gut motiviert und bevorzugen in der Physiotherapie aufgabenorientierte Übungen gegenüber tonusregulierenden Maßnahmen (Feys et al. 2004, S. 924). Der Verlauf der motorischen Rehabilitation hängt bei initial schwerer Hemiparese von Infarktgröße und -lokalisation ab. Kapselnahe Lakunen, welche initial nicht selten eine progrediente Hemiparese im Sinne eines »pure motor strokes« hervorrufen, haben in ca. 70 % eine gute Prognose mit völliger Restitution oder geringer motorischer Alltagsbeeinträchtigung (Libman et al. 1992 S. 1713), während ausgedehnte Hemisphärenläsionen nur eine inkomplette motorische Besserung, insbesondere von Armparesen erwarten lassen. Ungünstige Prädiktoren sind

Insgesamt sind ca. 70 % aller anfangs hemiparetischen Schlaganfallpatienten nach Abschluss der Rehabilitation wieder mit oder ohne Hilfe gehfähig, während nur ca. 5 % der Patienten eine uneingeschränkte Handfunktion erzielen und bei 20 % eine funktionelle Plegie der Arm- und Handfunktion persistiert.

Schluckstörungen treten bei ca. 50 % der Betroffenen in der Akutphase des Schlaganfalls auf und persistieren bei ca. 25 % (Bath et al. 2002, S. 67). Neben dem Pneumonierisiko, das mit ca. 10 % aller Schlaganfallpatienten/Jahr angegeben wird (Prosiegel 2002, S. 364), sind Malnutrition und Dehydratation mögliche Komplikationen einer neurogenen Dysphagie. Hamdy und Kollegen fanden Hinweise für ein bilateral repräsentiertes Schluckzentrum im pharyngolaryngealen Anteil des primär motorischen Kortex (Inselregion, vorderes Operculum), das asymmetrisch ausgeprägt ist (Hamdy et al. 1997, S. 686). Meist findet sich auf der nicht schluckdominanten Seite eine schwächere Repräsentation, welche die Funktion der geschädigten dominanten Seite im Verlauf in ca. 50 % kompensieren kann. Bilaterale Läsionen kortikaler Schluckrepräsentationszentren, z. B. im Bereich der vorderen Opercula führen zu einer schweren Dysphagie mit facio-pharyngo-lingualer Diplegie. Schwere Einschluckstörungen resultieren bei Infarkten oder Blutungen im hinteren Kreislauf mit Einbezug motorischer und/oder sensibler vagaler Kerngebiete (Kwon et al. 2005, S. 714), insbesondere der (dorso)lateralen Medulla oblongata (Wallenberg-Syndrom). Bei bilateralen, häufig mikroangiopathischen Läsion kortikobulbärer Bahnen resultiert das Syndrom einer Pseudobulbärparalyse.

Sprachstörungen resultieren aus Läsionen im Bereich der sprachdominanten Hemisphäre. Vordere Mediateilinfarkte führen zu einer Broca-Aphasie, hintere Mediateilinfarkte bedingen eine Wernicke-Aphasie, globale Aphasien werden bei Territorialinfarkten im Mediahauptstammbereich (M1) oder ausgedehnten kortikalen Läsionen im M2-Bereich gesehen. Aphasische Syndrome vom Typ der transkortikal motorischen Aphasie werden bei einer Infarkttopik im Gyrus praecentralis und im Bereich der vorderen Grenzzone beschrieben, transkortikal sensorische Aphasien finden sich bei Läsionen des Gyrus angularis Läsionen und der hinteren Grenzzone. In der akuten Phase nach zerebraler Ischämie kommt es in 1/3 der Fälle zu globalen Aphasien, in 12 % zu Broca-Aphasien, in 16 % zu Wernicke-Aphasien und in < 10 % der Fälle zu transkortikalen Aphasien (Pedersen et al. 2003, S. 35). Die allgemeine Inzidenz von Aphasien nach ischämischem Schlaganfall wird mit 21–38 % angegeben. Das Risiko steigt mit dem Alter an. Die Mortalität der aphasischen Patienten ist gegenüber der Gruppe ohne sprachliche Ausfälle signifikant erhöht (Entgelter 2006, S. 489).

40 % der aphasischen Patienten erreichen eine weitgehende Erholung der Sprachfunktion. Bei jüngeren Schlaganfallpatienten sind nonfluente Aphasien vom Broca-Typ häufiger und prognostisch in Bezug auf die Besserung der Sprachfunktion günstiger einzuschätzen.

Neuropsychologische Defizite betreffen die Bereiche Aufmerksamkeit, Konzentration, zentrale Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gedächtnis. Die Evaluation in der Akutphase ist durch überlagerte sensomotorische Defizite, Wahrnehmungsprobleme oder mangelnde Mitarbeitsfähigkeit (Vigilanz, Antrieb, Motivation) erschwert. Gedächtnisprobleme können bei oft relativ gut erhaltenem Langzeitgedächtnis eher mild ausgeprägt und von geringer Alltagsrelevanz sein. Erst die Summe mehrerer Infarkte führt zur vaskulären Demenz. Multiple subkortikale Infarkte führen zu einer subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie (SAE), bei der – im Gegensatz zur Demenz vom Alzheimer-Typ mit anfangs isolierter Gedächtnisstörung – die Verlangsamung aller psychischen und kognitiven Funktionen (bei begleitender Gang- und Blasenstörung) im Vordergrund steht. Seltener führen »strategische«, insbesondere bilaterale Infarktlokalisationen (Hippocampus, Mammillarkörper, Fornix, paramediane oder polare Thalamusregionen) zu schweren mnestischen Dauerdefiziten. Neuropsychologisch umschriebene Defizite zeigen sich beispielsweise in

Der Verlust der realistischen Selbsteinschätzung der Defizite kann zu Selbstgefährdung z. B. durch vorschnelles Handeln und Stürze führen. Bei vermindertem Störungserleben kann die Motivation zu Veränderungen eingeschränkt sein. Häufig sind Störungen der Planungs- und Handlungsfähigkeit (einschließlich der Apraxien). Auffälligkeiten in den Bereichen Antrieb, Psychomotorik, Affekt und psychovegetative Störungen erfüllen oft die Diagnosekriterien von Depressionen oder Angststörungen. Delirante Zustandsbilder (häufig nach parietalen Läsionen) oder antriebsarme Syndrome sind häufig einer Pharmakotherapie gut zugänglich.

Tab. 3.1: Zusammenhang Schlaganfalltopik und neurologisches Syndrom (HP = Hemiparese, DH = dominante Hemisphäre, NDH = nichtdominante Hemisphäre, ACA = Arteria cerebri anterior, ACM = Arteria cerebri media, ACP = Arteria cerebri posterior, AChA = Arteria choroidea anterior, AICA = Arteria cerebella inferior anterior, PICA = Arteria cerebella inferior posterior, SUCA = Arteria cerebelli superior, HN = Hirnnerven)

Gefäßterritorium

Motorik

Sensibilität

Sprache/Sprechen

Neuropsychologie, sonstige Defizite

ACA

beinbetonte HP 87 %, isolierte Beinparese 7 %

gering betroffen

imperative Miktion

ACA: A. recurrentis Heubneri

brachiofacial betonte HP

ACA: bilaterale Gyrus-cinguli-Läsion

Tetraparese

Mutismus

akinetischer Mutismus, abule Syndrome

ACA: Balkenläsion

ideomotorische Apraxie, visuomotorische Apraxie (»alien hand«)

ACM: vorderer Teilinfarkt

brachiofacial betonte HP

gering betroffen

Broca-Aphasie (DH)

buccofaciale, linguale und laryngeale Apraxie

ACM: hinterer Teilinfarkt

gering betroffen

Hemihypästhesie

Wernicke-Aphasie (DH)

Hemi- oder Quadrantenanopsie, Neglect, Anosognosie (NDH)

ACM: Gyrus praecentralis

kortikale brachiofaciale HP

nicht betroffen

transkortikal motorische Aphasie

ACM: Gyrus postcentralis

gering betroffen

Hemihypästhesie, Lagesinnstörung, zentraler Schmerz

ACM: Gyrus angularis

gering betroffen

gering betroffen

transkortikal sensorische Aphasie (DH), Alexie (DH)

Gerstmann-Syndrom (visuelle Orientierungsstörung, Fingeragnosie, Dysgrafie, Dyskalkulie) (DH)

ACM: striatocapsulärer Infarkt

brachiofaciale HP, keine Monoparese, selten Dystonie, Hemiballismus

brachiofaciale Hemihypästhesie in leichter Ausprägung

Dysarthrie

A. choroidea anterior AChA

HP

Hemihypästhesie

Neglect, Anosognosie

bilaterale AChA

Tetraparese, Pseudobulbärparese

Mutismus, abules Syndrom

Thalamusinfarkt, lateral

geringe HP

schwere Hemihypästhesie, Lagesinnstörung, zentrales Schmerzsyndrom

Thalamusinfarkt, polar

Antriebsstörung, mnestische Defizite

Thalamusinfarkt, paramedian

vertikale Blickparese, Tetraparese

mutistisches Syndrom

Bewusstseins- und Antriebsstörung

ACP

leichte bis mittelgradige HP

leichte bis mittelgradige Hemihypästhesie

homonyme Quadranten- oder Hemianopsie, visuelle Agnosie (DH), mnestische Defizite

ACP bilateral

kortikale Amaurose

PICA, dorsolaterale Medulla oblongata

ipsilaterale HN-Ausfälle VII, IX, X, XII, Okulo

dissoziierte Sensibilitätsstörung contralateral

Dysarthrie

Dysphagie

»Wallenberg-Syndrom«

motorikstörung, Hemiataxie, Dysphagie

AICA

Hemiataxie, Rumpfataxie, gerichteter Schwindel

Hörstörung

SUCA

Hemiataxie, Rumpfataxie, Okulomotorikstörung

Dysarthrie

Top-of-thebasilar-artery-Syndrom

Okulomotorikstörung, v. a. vertikale Blickparese

Vigilanzminderung, -schwankungen, kortikale Amaurose

Pons anteromedial, basilar branch

brachiofaziale HP

leicht- bis mittelgradige Hemihypästhesie

Dysarthrie

Pons bilateral, Basilarisstamm

Locked-in-Syndrom, horizontale Blickparese, basale HN-Ausfälle, Tetraparese

sensible Tetraparese

schwere Dysphagie

Grenzzone, vordere

brachiofazial betonte HP

brachiofazial betonte sensible HP

transkortikal motorische Aphasie (DH)

Grenzzone, hintere

transkortikal sensorische Aphasie (DH)

homonyme Quadranten- oder Hemianopsie, visuelle Agnosie, mnestische Defizite

Grenzzone, hintere beidseits

kortikale Amaurose, Balint-Syndrom

lacunär pure motor stroke

rein motorische HP

lacunär pure sensory stroke

rein sensible HP

lacunär, dysarthria clumsy hand

motorische HP

Dysarthrie

lacunär, Hyperkinesen

Chorea, Hemiballismus

3.1.2 Intrazerebrale Blutungen (ICB)

Tab. 3.2