Aus dem Amerikanischen von Simona Turini

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Brother

erschien 2015 im Verlag Gallery Books.

Copyright © 2015 by Ania Ahlborn

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Lektorat: Katrin Holle

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-604-5

www.Festa-Verlag.de

Erst lieben Kinder ihre Eltern;

wenn sie älter werden, verurteilen sie sie;

manchmal verzeihen sie ihnen.

– Oscar Wilde

1

Michael drehte sich im Bett herum. Die abgewetzte Decke, die er schon sein ganzes Leben lang hatte, war um seine Beine gewickelt. Draußen schrie eine Frau wie am Spieß.

Die Leute sagten das andauernd, wie am Spieß, obwohl sie vermutlich noch nie jemanden gehört hatten, der an einem Spieß steckte. Reb nannte das eine Analogie. Als Michael wissen wollte, was das sei, erklärte Reb, dass die Leute so was benutzten, wenn sie keine Ahnung hatten, wovon sie sprachen. Niemand in der Stadt hatte jemals jemanden am Spieß schreien gehört, zumindest nicht in Wirklichkeit, aber sie sagten es trotzdem immer wieder. Das Baby schreit sich die Lunge aus dem Hals, da, bei den Cornflakes, es schreit wie am Spieß. Reb sagte, wenn die wirklich hören wollten, wie ein Baby am Spieß schreit, bräuchten sie bloß mal zu fragen.

Michael reckte den Hals und blickte zum Schlafzimmerfenster. Die Scheibe war seit Jahren verdreckt von Schmutz und Regen, und das Verandalicht unterhalb seines Zimmers schien wie der Strahl einer Taschenlampe durch eine Staubwolke. Normalerweise waren die Frauen schnell wieder still, wenn sie sich heiser geschrien hatten. Das ist der Vorteil, wenn man in der Wildnis lebt, hatte Momma mal gesagt. Die schreien und schreien und niemand hört’s.

Michael starrte an die Decke seines Schlafzimmers, die alten Holzbretter hatten sich durch die zahlreichen Löcher im Dach des Farmhauses mit den Jahren verzogen. Er wartete darauf, dass der Frau die Stimme versagte. Die Schreie nervten ihn, doch das würde er nie zugeben. Obwohl er davon Albträume bekam, beschwerte er sich nicht. Er wünschte sich nur, Momma würde sie töten, solange die Sonne noch schien, statt bis zur Dunkelheit zu warten. Wenn es egal war, wie sehr sie schrien, dann verstand Michael den Unterschied nicht. Ob Tag oder Nacht, tot war tot. Nur dass er tagsüber nicht versuchte, zu schlafen.

Schließlich verstummte die Frau und Michael entspannte sich, Muskel für Muskel. Er stellte sich vor, an einem Strand zu liegen, von dem er nicht sicher war, ob es ihn wirklich gab. Er besaß eine Postkarte von einem Ort namens Honolulu. Er wusste nicht, wo das war, nur dass der Sand weiß und das Wasser unfassbar blau war. Auf der Postkarte lagen Leute unter bunten Sonnenschirmen und im Hintergrund stand ein Hotel, das so pink wie Zuckerwatte war. Er hatte sie in einem Rucksack gefunden, der einer von Mommas Frauen gehört hatte. Reb sagte, es sei kein Diebstahl, wenn sie nicht mehr lebten.

Die angenehme Stille hielt nicht lange an. Wieder durchdrang ein markerschütternder Schrei die noch dunkle Morgenstunde und holte Michael in die Gegenwart zurück. Unter seinem Fenster entstand ein Tumult. Auf der Schlafzimmerwand bewegten sich die Schatten von Leuten, die im Garten herumliefen. Michael rollte sich auf die Seite und stellte seine nackten Füße auf die rohen Bohlen des Bodens. Anschließend schob er den verschlissenen Fenstervorhang beiseite und fasste gleichzeitig mit der freien Hand sein Haar im Nacken zusammen. Es war ganz schön lang geworden, fiel gute acht Zentimeter unterhalb seiner Schultern über seinen Rücken. Seine Schwester, Misty Dawn, stand auf Typen wie Jim Morrison. Sie hatte ihm geraten, es wachsen zu lassen; Reb hatte sich darüber totgelacht.

Du weißt schon, warum Jim Morrison sich umgebracht hat, oder? Weil er keinen Bock mehr hatte, wie eine Tussi auszusehen.

Misty Dawn hatte Michael mit einem Seitenhieb auf Rebs hüfthohe Jeans und seine grüne Lederjacke verteidigt. Sie behauptete, er sei mindestens so attraktiv wie die Typen von einer ihrer Lieblingsbands – einer, die Reb auf den Tod nicht ausstehen konnte. Der Vergleich mit Benny Andersson und Björn Ulvaeus provozierte Reb normalerweise so sehr, dass er in seinen Delta 88 sprang und beim Wegfahren die Hauswand mit Kies bespritzte.

Die schreiende Frau stolperte durch den Garten.

Wie aufs Stichwort klangen die gedämpften Töne eines ABBA-Songs durch die Wand zwischen Michaels und Misty Dawns Zimmer. Auch Misty mochte die Schreie nicht, aber sie liebte schwedische Popmusik heiß und innig.

An den Knöcheln der Frau auf dem Rasen, direkt über den nackten Füßen, flatterten Streifen silbernen Klebebandes. Ihre Hände waren noch vor dem Körper an den Handgelenken zusammengebunden. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Mund formte Worte, die Michael nicht hören konnte. Es sah fast so aus, als wollte sie zu Mistys Musik mitsingen. Der fröhliche Beat stand in hartem Kontrast zum entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht.

Wade stand etwa drei Meter vor ihr und hatte die Hände tief in den Taschen seiner dreckigen Jeans vergraben. Er hob das Gesicht zu den Fenstern im oberen Stockwerk, wo Mistys Musik seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Durch das schmutzige Glas trafen sich Michaels und Wades Blicke. Sie sahen einander zwei Bass-Beats lang an, bevor sich Wade wieder der Frau zuwandte, die um ihr Leben flehte. Wade war bei der Army gewesen. Anfang der 60er als Freiwilliger in Vietnam, lange bevor College-Kids nach DC marschierten und dabei schlampig gemalte Protestschilder schwangen. Er wirkte wie so oft abwesend, als schickten ihn die Schreie der Frau zurück in die Reisfelder, zurück in den Kugelhagel und zum Wupp-wupp-wupp der Hubschrauberrotoren.

Rebel war auch unten im Garten. Er umkreiste die Frau wie ein hungriger Wolf und stieß sie mit einem langen Ast an, wie ein boshaftes Kind ein Insekt quälen würde. Reb hieß eigentlich Ray, aber Michael nannte ihn niemals so. Schon mit elf oder zwölf hatte Ray die Familie gebeten, ihn Rebel zu nennen, die anderen hatten nur gelacht und die Augen gerollt. Michael war als Einziger auf Rebs Bitte eingegangen, zum einen weil er seinem Bruder eine Freude machen wollte, aber auch weil er Angst davor hatte, was Reb mit ihm anstellen würde, wenn er es nicht tat.

Momma war ebenfalls draußen, doch von ihr sah Michael nur den langen Schatten, der vor der Veranda auf den Rasen fiel. In seiner Vorstellung strahlte das Verandalicht hinter ihr wie ein Heiligenschein und sie sah mit ihrer groß gewachsenen, hageren Gestalt aus wie eine Gottesanbeterin.

Nur Michael und Misty waren noch im Haus – Michael stand am Fenster und Misty wirbelte wahrscheinlich mit nackten Füßen in der Mitte ihres Zimmer umher, wobei der Rüschensaum ihres Nachthemdes in der Luft schwebte. Michael streifte das Gummiband, das er ums Handgelenk trug, über seine Haare und strich sich die widerspenstigen braunen Wellen aus dem Gesicht. Er wandte sich vom Fenster ab, glitt an der Wand herunter und griff nach seinen Stiefeln – in jedem steckte eine Socke. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Vielleicht noch ein paar Minuten, bevor das Geschrei in einem nassen Würgen erstarb. Dann war Michael dran. Zeit, an die Arbeit zu gehen.

Das Knacken der Dielen lenkte seine Aufmerksamkeit zur Tür. Als sie sanft nach innen schwang und Misty über die Schwelle schwebte, wurde die Musik lauter. Ihr Haar war ein weiches, rotblondes Gewirr in genau demselben Farbton wie die Haare von Reb und Momma. Wade hatte dieselbe Haarfarbe gehabt, ehe sie zu einem gedämpften Schatten ihres früheren Selbst verblasst war. Misty war 21 – zwei Jahre älter als Michael –, aber ihre Sanftmut verlieh ihr eine eigentümliche Jugendlichkeit. Wie sie jetzt in ihrem blassrosa Nachthemd dastand, die Wangen vom Tanzen gerötet, sah sie aus wie 15, höchstens 16. Sie zog eine Schulter ans Ohr und blickte ihn mit traurigen Augen an.

Misty mied Mommas »Hobby«, so gut es ging, aber das hielt sie nicht davon ab, sich an der Beute zu beteiligen. Sie hasste die Schreie und das viele Blut, doch sie liebte die glänzenden Sachen, die die Frauen hinterließen – Ringe und Armreifen, Halsketten und Ohrringe. In der obersten Schublade ihrer Kommode hortete sie den Schmuck. Michael schmuggelte ihn in Mistys Taschen, wenn Momma nicht hinsah. Im Gegenzug durfte er Mistys Plattenspieler benutzen, wann immer er wollte.

»Keine Sorge, ich vergesse es schon nicht«, sagte Michael. Er streifte sich die Socken über, schlüpfte in die Stiefel und zog die Schnürsenkel stramm – Bänder aus abgenutzten Baumwollschnüren, deren Schlaufen steif und schwarz waren.

»Danke«, erwiderte sie und schenkte ihm trotz der Schreie von draußen ein breites Lächeln. Sie wollte sich gerade auf den Fußballen umdrehen und zurück in ihr Zimmer huschen, hielt aber inne. Sie starrten sich an, als Mommas Stimme die frische Morgenluft durchschnitt.

»Michael!«

Sein Name dröhnte drängend durch die Wände und Fenster des Farmhauses, störte die fröhliche Melodie, die das Obergeschoss erfüllte. Momma war nicht besonders emotional, aber dieses Mal enthielt ihr Ruf einen Anflug von Panik.

Michael schoss hoch, richtete sich zu seiner vollen Größe von 1,88 auf und riss den Vorhang beiseite. Momma, die von Reb Claudine genannt wurde, war die Verandatreppe hinabgestiegen. Sie blickte vom Rasen aus ungeduldig zu Michaels Zimmerfenster. Dann bemerkte er, dass Reb quer durch den Garten zu den Bäumen rannte.

Michael brauchte eine halbe Sekunde, um zu verstehen, was geschah.

Noch schneller schloss er, dass sein Bruder die Frau niemals einholen würde.

Bevor Misty sich rühren konnte, eilte Michael aus dem Zimmer. Misty stolperte rückwärts und fing sich an der Wand im Flur ab, als er schon die Treppe runterstürmte. Er raste durch eine Küche, die nicht mehr enthielt als einen Ofen und einen zerkratzten Tisch. Dann sprang er von der überdachten hinteren Veranda. Ein riesiger Satz katapultierte ihn von den Stufen auf den Boden. Er hastete innerhalb von Sekunden an Reb vorbei.

Michael war schnell. Seine Größe gab ihm einen merklichen Vorteil gegenüber seinem Bruder, denn Rebel war nur 1,73. Reb hatte am Waldrand angehalten, entweder weil er außer Atem war oder weil er nicht vorhatte, die Jagd fortzusetzen. Rebel neigte nicht unbedingt dazu, sich Mühe zu geben, wenn Michael zur Stelle war, um die Arbeit zu erledigen.

Die Frau war eine gute Läuferin. Michael erhaschte einen Blick auf ihr schmutziges weißes T-Shirt, als sie sich durch die Bäume schlängelte. Sie hielt ihre gefesselten Arme vor sich. Ihre nackten Füße trampelten über den Waldboden, der von den Blättern des letzten Jahres bedeckt war. Sie drehte nach links ab. Michael trennte sich von ihr und lief stattdessen nach rechts. Er kannte diesen Wald so gut wie das Innere des Hauses; rechts war es kürzer als links. An Mistys Lieblingsplatz würde er sie abfangen – einem Hügel, der einen Überblick über das Great Appalachian Valley bot, mit Bäumen, so weit das Auge reichte. Michael stapfte durch einen kleinen Bach und wandte sich in die Richtung, von der er wusste, dass sie dort ebenfalls vorbeikommen würde. Links würde sie an eine steile Böschung kommen, die mit Birken und Espen gesäumt war. Rechts würde Michael um den Hügel herum zu einem flacheren Gefälle gelangen, sodass er sie überholen und auf dem Gipfel des Hanges auf sie warten konnte.

Als er den Gipfel erreichte, hörte er bereits ihren erstickten, angestrengten Atem. Weinend kletterte sie ihrer vermeintlichen Rettung entgegen und versuchte zu beten, während sie nach Luft schnappte. Sie murmelte etwas von »Gott« und »Hilfe«. Hinter den Stamm einer Eiche geduckt, sah er zu, wie sie den Hügel erklomm. Sie wirbelte herum und blickte in das Tal unter ihr, wo sie keinerlei Verfolger sehen konnte, aber auch keine Straßen, Häuser oder Hinweise, in welche Richtung sie rennen sollte. Doch das schien ihr egal zu sein. Das Grauen auf ihren Zügen wich der Hoffnung. Sie war ihren Angreifern entkommen; sie hatte sich gerettet. Bald würde sie ein Gesicht in den Nachrichten sein und Interviews darüber geben, wie sie ein scheinbar netter Typ in einem braunen Oldsmobile mitnahm, als sie an der State Road 10 getrampt hatte. Doch dann hatte der Typ sie am Hinterkopf gepackt und ihr Gesicht aufs Armaturenbrett geschmettert. Das Auto war ein 68er Coupé; das Armaturenbrett bestand aus solidem Stahl. Es grenzte an ein Wunder, dass Reb sie nicht umgebracht hatte.

Als sie im Beifahrersitz zurückgesunken war, ohnmächtig, war Michael überrascht gewesen, dass ihre Nase nicht geradewegs in ihr Gehirn getrieben worden war.

Michael hasste es, die einzufangen, denen die Flucht gelungen war. Er hasste es, den Funken hartnäckigen Optimismus auszulöschen, der in ihren Augen glomm. Er ertrug es nicht, wie sie ihn ansahen, als hätte er gerade einen intimen Moment gestört. Es ekelte ihn an, wie ihre Augen auf doppelte Größe anwuchsen und ihre Münder sich stumm bewegten, als kauten sie unsichtbares Essen. Es war ihm lieber, wenn sie im Garten starben, dann musste er sich nur mit einem starren Blick und einer zerfetzten Kehle auseinandersetzen. Der Umgang mit Menschen fiel ihm viel leichter, wenn sie tot waren.

Er biss die Zähne zusammen und trat hinter dem Baum hervor.

Die Frau sah ihn und ihre Reaktion war genau, wie er erwartet hatte – Grauen, Unglaube. Ihre Augen quollen ihr regelrecht aus dem Kopf, die Haut darunter bildete schon lilafarbene Bluterguss-Halbmonde. Als ihr Mund aufsprang, bemerkte Michael, dass Rebs kleines Manöver im Auto einen ihrer Schneidezähne in der Mitte gespalten hatte. Sie atmete hektisch ein, wich zurück, rang um Luft und streckte die gefesselten Hände nach vorne aus, um ihn abzuwehren.

Michael kniff die Augen zusammen und ging auf sie zu.

Früher hatte er sich eingeredet, dass es leichter werden würde, die Frauen zu jagen, dass er sich daran gewöhnen und diese Augenblicke ihm nicht mehr so zusetzen würden. Er wartete auf den Autopiloten, wartete darauf, dass er sich von seinen Emotionen abkoppelte, darauf, dass seine Augen glasig wurden wie die von Wade. Er war es leid, den Schock, die Angst, die Furcht zu sehen. Das ging jetzt schon Jahre so. Der Autopilot ließ auf sich warten.

Seine Lider flogen auf, als er hörte, dass sie wieder rannte. Aber anstatt hinter ihr herzueilen, fragte er sich, ob die Morrows ihn wirklich verstoßen würden, wenn er mit leeren Händen zurückkehrte. Für gute fünf Sekunden überlegte er, sie entkommen zu lassen. Die Frau torkelte von ihm weg, ihre bloßen Füße waren blutig, Blätter klebten wie improvisierte Schuhe an ihren Sohlen. Die sechste Sekunde brachte Klarheit. Wenn er sie entkommen ließ, besiegelte er sein eigenes Schicksal. Sie würde mit der Polizei zurückkommen. Die Bullen würden die Morrows verhaften, genau wie diese Typen, von denen Rebel in der Zeitung gelesen hatte und die er so sehr verehrte – Mr. Bundy und diesen Gacy-Typen, John Wayne.

Er lief los.

Sie schrie.

Er packte sie an der rechten Schulter und wirbelte sie mitten im Lauf herum, sodass ihre Beine unter ihr wegknickten. Sie fiel hart zu Boden und weinte vor Schmerzen. Doch sie gab nicht auf – sie trat um sich, um von ihm wegzukommen, ein armloser Krebsgang über den Waldboden. Michael wollte sie an den Handgelenken packen, aber sie kauerte sich zusammen und trat heftig gegen seine Brust. Die überraschende Wucht ihres Tritts ließ ihn taumeln. Er griff wieder nach ihr, sie vollzog dasselbe Manöver noch mal und schrie um Hilfe, von der sie beide wussten, dass sie nicht kommen würde. Michael war fassungslos.

»Lass mich in Ruhe!«, jammerte sie. »Hau ab, du beschissener Freak!«

Sie rollte sich auf die Seite und kam auf die Füße. Ihre Schmerzen mussten immens sein. Als sie stand, bemerkte Michael, dass ihr rechter Arm schlaff an ihrer Seite herabhing. Er schien gebrochen zu sein. Bei jedem Schritt ihres nur noch verzweifelten Joggens winselte sie, sodass sie wie ein Marathonläufer bei Kilometer 32 wirkte. Sie war erschöpft, aber entschlossen, weiterzumachen, angetrieben vom Versprechen der Ziellinie. Nur dass diese Ziellinie an der Treppe der hinteren Veranda der Morrows lag.

Michael folgte ihr ohne Probleme. Er ging hinter ihr her, als würden die beiden lediglich einen frühmorgendlichen Spaziergang machen. Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu, schaute wieder weg und begann zu schluchzen. Ihr leeres, hoffnungsloses Gejammer klang, als hätte man es aus der Brust einer wandelnden Toten gerissen.

Er wollte seine Hand auf ihre Schulter legen und ihr sagen, dass alles gut werden würde, dass Momma es normalerweise schnell erledigte. Allerdings bezweifelte er, dass die Frau diese Art von Versicherung wollte. Gedankenverloren bekam er kaum mit, wie sie langsamer wurde, achtete nicht darauf, dass er die Hälfte der Strecke zwischen ihnen überwunden hatte. Plötzlich wirbelte sie zu ihm herum, warf ihre gefesselten Hände über seinen Kopf und öffnete den Mund, so weit sie konnte, bereit, mit ihren Zähnen seine Kehle aufzureißen. Michael machte einen Satz nach hinten, riss sie mit sich. Anschließend packte er sie an den Ellbogen und versetzte ihr einen Stoß. Dabei spürte er, wie das Panzertape an seinem Nacken zog, ehe es riss. Die Frau fiel hin, starrte auf ihre nun befreiten Arme und begann ungeachtet ihrer ausgekugelten Schulter, erneut fortzukrabbeln. Michael sprang auf sie. Er hatte keine Lust mehr, die Dinge weiter in die Länge zu ziehen. Die Frau schrie abgehackt und schlug mit ihrem unverletzten Arm nach seinem Gesicht, die Finger zu einer Klaue gebogen. Sie zerkratzte seine Wange und trat unter ihm aus, so fest sie konnte. Michael schaffte es, die Arme der Frau auf den Boden zu pressen und sie hilflos zu machen. Es faszinierte ihn, wie viel Kampfgeist sie noch hatte.

So, wie sie um sich schlug, war es unmöglich, sie zurück zum Haus zu bringen. Mit den Knien presste er ihre Kampfhand in die feuchte Erde. Dann entdeckte er in seiner Reichweite einen Stein. Er griff danach, grub die Finger in den Boden und hob ein Drei-Pfund-Monster heraus, an dem sich Maden und Würmer im fahlblauen Licht des Morgens wanden.

In der Nähe rief jemand, aber über dem unaufhörlichen Jaulen der Frau konnte Michael keine Worte verstehen.

Als er den Stein über seinen Kopf hob, hörte sie auf, sich zu wehren, als hätte sie sich auf einmal mit ihrem Schicksal abgefunden. Ihre plötzliche Bewegungslosigkeit überraschte ihn. Ihr Gesicht war rot und aufgedunsen vom Weinen, die Ringe unter ihren Augen wirkten nun wie schreckliche schwarze Wunden, ihre Zähne waren blutbeschmiert. Trotzdem erschien sie ihm in diesem Moment auf gewisse Weise engelhaft – eine schöne Frau, die vermutlich so aussah wie Momma, als die jung gewesen war. Die Frau starrte Michael mit einem Ausdruck an, der ihn irritierte. Als würde sie Gott sehen.

»Warum tust du das?«, wimmerte sie.

Michaels Brust wurde eng. Seine Finger schlossen sich fester um den Stein. Er wollte ihr erklären, dass es nicht an ihm lag, dass er keine Wahl hatte. Aber alles, was er hervorbrachte, war: »Weil ich muss.«

Und dann schlug er den Stein auf ihren Kopf.

Wade und Rebel erklommen den Hügel, als der Stein aus Michaels Griff und auf den Boden rollte.

»Scheiße!«, spuckte Reb aus und rannte los.

»Was machst du da, bringst du sie um?« Ungehalten stieß er Michael von der Frau, beugte sich zu ihr hinunter und drückte ihr zwei Finger an den Hals, um ihren Puls zu fühlen. Einen Augenblick später warf er Michael einen gereizten Blick zu. »Du hast Glück gehabt«, murmelte er. »Denkst du, du hast sie weit genug laufen lassen?«

Wades Hand senkte sich auf Michaels Schulter. Der entrückte Blick lag immer noch in seinen Augen, aber drei Wörter rollten glatt von seiner Zunge: »Gut gemacht, Sohn.« Er tätschelte Michaels Schulter und wandte sich ab, um zurück zum Haus zu gehen.

Michael sah ihm nach, ehe er seinen Bruder anschaute. Als sich ihre Blicke trafen, rollte Reb hinter dem Rücken des alten Mannes die Augen.

»Verdammter Irrer«, stieß Reb aus. »Bring sie zurück.« Er entfernte sich von der bewusstlosen Frau. »Du solltest lieber hoffen, dass Claudine kein Problem damit hat, dass du sie halb tot zurückbringst. Meine Schuld ist das nicht!« Er ging leise schimpfend um Michael herum, um ihrem Vater zu folgen.

Michael betrachtete die Frau, die ausgestreckt auf dem Waldboden lag. Ihr Atem ging flach, aber regelmäßig. Er hatte sie ziemlich ausgeknockt, konnte nicht sagen, wie lange es so bleiben würde.

»Es tut mir leid«, sagte er zu ihr, dann legte er sie sich über die Schulter.

Das nächste Mal, wenn er mit ihr allein wäre, würde unten im Keller sein.

Das nächste Mal, wenn er sie sah, wäre sie definitiv tot.

2

Michael spritzte gerade den Kellerboden mit dem Gartenschlauch ab, als Reb am oberen Treppenabsatz auftauchte. Michael wandte seine Aufmerksamkeit von den Spiralen wässrigen Rots ab, die kreisend in einem rostigen Abfluss am Boden verschwanden, und blickte zu seinem älteren Bruder hinauf. Das enge Treppenhaus, das die durchhängenden hölzernen Stufen flankierte, warf Schatten auf Rebs harte, kantige Züge. Michael würde das nie laut sagen, aber Reb sah wie ein Vogel aus – einer von denen, die ihre gebogenen Schnäbel benutzten, um überfahrene Tiere auseinanderzureißen. Wie ein Aasgeier, besonders wenn er wütend guckte, was Reb häufig tat.

Rebel verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Haltung stank nach Ungeduld, als wollte er damit verdeutlichen, dass Michael viel zu viel Zeit mit dieser Frau verschwendete – erst bei der Verfolgungsjagd, jetzt bei der Entsorgung.

»Bist du fertig oder was?«, fragte er.

Michael spritzte noch ein letztes Mal den Boden ab und hängte dann den Schlauch an einen Metallhaken an der Wand, wobei das restliche Wasser aus dem Ende des Schlauchs auf den Zementboden tropfte.

»So gut wie«, antwortete Michael. »Was ist denn los?«

»Wir machen ’ne Tour«, erwiderte Reb. »Beeil dich!« Er bemühte sich, beiläufig zu klingen, aber Michael kannte diesen Tonfall. Sie hatten fast eine Woche lang keine Schnaps-Tour gemacht. Reb gingen die Vorräte aus.

»Gib mir eine Minute. Ich muss nur noch abschließen.« Michael wischte sich seine kalten, nassen Hände vorne an der Jeans ab und stampfte ein paarmal mit den Stiefeln auf, um etwas von dem Wasser loszuwerden, das das Leder tränkte. Reb verließ den Keller, ohne seine Hilfe anzubieten … etwas, das er bei niemandem tat. Manchmal hatte Michael das Gefühl, dass Reb nur deshalb Zeit mit ihm verbrachte, weil er schneller war als jeder einzelne Tankstellenangestellte in West Virginia. Denn dafür, dass es ihm um Freundschaft ging, hatte Michael seinen Bruder schon zu häufig dabei erwischt, wie der die Augen verdrehte, als wäre Michael der dümmste, nervigste Mensch auf der ganzen Welt. Misty bezeichnete das als Geschwisterrivalität. Obgleich Michael nicht genau wusste, was das sein sollte, gefiel es ihm trotzdem nicht, wie es sich anfühlte.

Michael erklomm die knarrende Holztreppe. Er musste die nassen Sachen wechseln. Unter seinen Stiefeln raschelten Blätter, als er die Sturmtüren löste, mit einem Knall zufallen ließ und den Riegel davorschob. Er befestigte ein Vorhängeschloss am Metallring des Riegels, um den Kellerraum darunter sicher zu verschließen, danach wandte er sich ab und wollte ins Haus gehen. Vom kalten Wasser aus dem Schlauch schmerzten seine Finger. Das Dröhnen einer Autohupe hielt ihn davon ab reinzugehen. Rebel lehnte sich aus dem Fenster des Oldsmobile Delta.

Sein linker Arm strich über die hässliche metallicbraune Lackierung, während seine rechte Hand das Lenkrad umklammerte. Reb hatte das Auto ein Jahr zuvor auf einem Schrottplatz bei Lewisburg entdeckt. Er und Michael hatten es direkt vom Parkplatz gestohlen. Sie hatten es mit Wades altem Pick-up abgeschleppt. Ein Wachhund hatte sie angebellt, um sie aufzuhalten, aber das alte Vieh hatte keine Anstalten gemacht, den Besitz seines Herrn wirklich zu beschützen. Der Hund war schlau gewesen. Er hatte sich nicht die Mühe machen wollen, ernsthaft etwas mehr als vier platte Reifen und einen Haufen Schrott zu verteidigen. Den Rest der Nacht hatten die Morrow-Jungs damit verbracht, mit Feilen und Schraubenziehern die Seriennummern von den Teilen zu entfernen. Obwohl der Delta damals in einem schlimmen Zustand gewesen war, fand Reb, dass es ein toller Fund war. Ein Juwel in all dem Müll. Man musste es nur ein wenig polieren, damit es wieder glänzte.

»Wo willst du hin?«, rief Rebel.

»Umziehen«, gab Michael zurück und deutete mit dem Daumen auf das Farmhaus hinter sich.

»Mann, du könntest dich nicht einmal schnell genug umziehen, wenn dein Leben davon abhinge. Lass uns fahren.«

Michael verzog das Gesicht, aber statt sich zu beschweren, dass seine Socken völlig durchnässt waren, drehte er um und ging zum Auto. Als er sich in den Beifahrersitz sinken ließ, seufzte er schwer. Sie mussten mindestens 20 Meilen fahren, bis sie einen Ort erreichten, an dem sie sicher zuschlagen konnten. Wie Rebel immer sagte: Man scheißt nicht, wo man schläft.

Auf dem Schild der Tankstelle, das über zwei einsamen Zapfsäulen hing, stand ›Moe’s‹. Ein weiteres gab an, dass eine Gallone Benzin 1,15 Dollar kosten und dass es EISGEKÜHLTE GETRÄNKE geben sollte. In Großbuchstaben, von denen einige schief hingen und runterzufallen drohten. Reb fuhr ein paarmal vorbei, ehe er neben dem Gebäude anhielt. Es war eine kleine Raststätte mitten im Nirgendwo, die am Tag vielleicht ein Dutzend Kunden hatte – müde, genervte Fremde, die eine eiskalte Cola Light und einen Cupcake wollten.

Michael stieg aus und nahm dabei einen alten Pullover vom Rücksitz mit. Er zog ihn an, schloss den Reißverschluss und steckte die Hände in die Taschen. Um Lässigkeit bemüht, ging er um die Ecke und an der Fensterfront des Ladens vorbei. Über ihm klingelte eine kleine Glocke, als er die Tür öffnete.

Der Kerl hinter der Kasse sah ihn gleichgültig an. Eine Wiederholung von Flash Gordon, die auf seinem alten Fernseher lief, lenkte ihn von dem höchstwahrscheinlich ersten Kunden des Tages ab. Der Kassierer wirkte, als wäre er etwa Ende 30, Anfang 40, aber das war unter dem buschigen Paul-Bunyan-Bart schwer zu erkennen. Auf seinem Hocker sitzend, ließ er seine breiten Schultern nach vorne fallen. Er starrte so gebannt auf den Fernseher, dass es schien, als würde er die Sendung zu Studienzwecken statt zum Spaß ansehen.

Michael mied den Augenkontakt, als er die mittlere Regalreihe entlangschlenderte. Rechts standen Chips und Brezeln. Links Dosen mit Motoröl und Ersatz-Keilriemen. Als er den wandfüllenden Kühlschrank am Ende des Ladens erreichte, wandte er sich nach rechts. Der harte Schnaps stand in einem Regal gegenüber von Pabst- und Schlitz-Bier. Es gab keine große Auswahl, aber Reb war es egal, was er trank, solange es ihn betrunken machte. In Saftläden wie diesem konnte man nicht wählerisch sein.

Michael warf dem Kassierer einen verstohlenen Blick zu und packte eine Flasche Jim Beam. Er drehte der Kasse den Rücken zu und tat so, als überlegte er, welches Bier er kaufen wollte, während er die Flasche in seinen weiten Pullover schob. Michael war spindeldürr; bei seiner Größe wog er weniger als 80 Kilo. Normalerweise funktionierte der Flasche-unterm-Pulli-Trick, weil das Kleidungsstück ihm mehr als genug Platz bot. Ein dickerer Kerl würde aussehen, als hätte er seit seinem Eintreten einen rechteckigen Bauchtumor entwickelt. Aber bei Michael sah es nur nach viel Stoff an einem langhaarigen Landei in einem Hinterwäldler-Laden aus.

Er ging wieder nach vorne. Obwohl er das schon Dutzende Male gemacht hatte, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Einmal hatte ihn ein alter Mann mit einer Waffe bedroht. Als Michael gerade abhauen wollte, hatte sich plötzlich der Doppellauf einer Schrotflinte auf seine Brust gerichtet. Er wusste immer noch nicht, wie er es lebendig dort hinausgeschafft hatte. Der Typ hätte ihm in den Rücken schießen können, als Michael über den Parkplatz gerannt war, Rebs Flasche Scotch fest umklammert. Aber der alte Mann hatte ihn verschont. Vielleicht weil er seinen Widerwillen bemerkt hatte, oder vielleicht, weil er an diesem Tag keine Lust hatte, sich um eine Leiche zu kümmern. Da Reb nur ein paar Meter vor der großen Schaufensterscheibe geparkt hatte, hatte er alles sehen können. Sobald Michael in den Wagen gesprungen war, hatte Reb das Gaspedal durchgetreten und sie waren den Highway entlanggeflogen. Eine gute halbe Meile waren sie beide stumm vor Entsetzen gewesen, dann war Reb in irres Gelächter ausgebrochen. Michael hatte sich nicht helfen können; er hatte eingestimmt, obwohl er kurz zuvor beinahe wegen einer Flasche Johnnie Walker Red sein Leben verloren hätte.

Der Kassierer blickte von Flash Gordon auf, straffte die Schultern und machte sich bereit abzukassieren, aber Michaels Hände waren leer. Michael verlangsamte seine Schritte und lächelte verhalten.

»Sorry«, sagte er. »Ihr habt nicht, was ich brauche.«

»Oh, nein?« Der Kassierer legte den Kopf zur Seite und wandte nur kurz den Blick ab, als der schokoladenbraune Olds langsam an einer der Zapfsäulen vorbeirollte. Rebs Kopf war um 90 Grad zur Seite gedreht, damit er sehen konnte, was drinnen vorging. Da flackerte Erkennen über das Gesicht des Kassierers.

Michael hätte in diesem Moment abhauen sollen, aber etwas ließ ihn zögern. Ihre Blicke trafen sich. Er gab sich alle Mühe, unschuldig auszusehen, als der Kassierer die verblasste Baumwolle seines Pullovers musterte.

»Is das nich ’n bisschen warm?«, fragte er.

»Kommt drauf an, wo man herkommt«, konterte Michael. Mitten im Sommer West Virginias einen dicken Pullover zu tragen war keine große Sache, wenn man in der Hölle lebte.

Der Kassierer neigte den Kopf zur anderen Seite, als würde ihn Michaels Antwort irritieren. Diese Millisekunde der Verwirrung bot Michael die Chance, auf die er gewartet hatte. Er stürzte zur Tür. Doch der Kassierer war schneller, als er aussah. Er katapultierte sich von seinem Hocker und raste um den Tresen herum, während Michael sich dem Ausgang näherte. Der Kassierer mochte schnell sein, aber sein stämmiger Körperbau stand ihm im Weg. Er rammte einen Ständer mit Plastik-Reisebechern – ein Dutzend davon fiel klappernd auf den Boden – und machte dann den Wile E. Coyote: Seine Beine knickten unter ihm ein wie in einem Cartoon, als er stolperte und versuchte, sich nicht den Hals zu brechen. Michael nutzte den kurzen Gleichgewichtsverlust des Mannes zu seinem Vorteil. Er rannte aus dem Gebäude, die Whiskeyflasche nun offen in der Hand.

Reb hatte den Wagen zum anderen Ende des Platzes rollen lassen und parkte neben der Straße, die sie vom Schauplatz des Verbrechens wegbringen würde. Michael hastete zum Auto, seine Arme ruderten. Der Pullover fühlte sich an, als wäre er aus Blei. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Flasche fing das Sonnenlicht ein und vermittelte die Illusion, als würde er eine kristallene Keule schwingen. Das Auto fuhr an, langsam, sodass er hineinspringen konnte wie in Ein Duke kommt selten allein. Nach so vielen Raubzügen hatte er die Technik perfektioniert. Er brauchte nur ein offenes Fenster. Rein und raus, schnell und sauber.

Als er etwa fünf Meter vor dem rettenden Auto war, entspannte er sich. Sein rasender Herzschlag beruhigte sich bereits, obwohl er noch mit vollem Tempo rannte. Der Kassierer verfolgte ihn, lag aber gut 15 Meter zurück. Zweifellos würde er mit erhobener Faust zurückbleiben, während die beiden elenden Diebe abhauten. Reb johlte und brüllte, den Kopf aus dem Fenster an der Fahrerseite gestreckt.

Nur dass der Delta immer schneller rollte, je näher Michael kam. Was eigentlich ein simpler Fünf-Meilen-pro-Stunde-Vorsprung sein sollte, verdoppelte sich plötzlich, verdreifachte sich dann. Noch in vollem Spurt sah er das Auto ohne ihn die Straße entlangrasen. Er blieb in einer Staubwolke zurück. Verdattert verlangsamte Michael seinen Lauf. Er vergaß, dass der Kassierer hinter ihm war, bis der Mann wie ein Footballspieler gegen seine Schulter prallte. Michael stolperte. Einen furchtbaren Moment lang hielt der Kassierer ihn am Ärmel gepackt. Michael riss seinen Arm aus dem Griff und schwang die Flasche Jim Beam gegen den Kiefer des Mannes. Dieser wich überrascht zurück. Er ließ Michaels Pullover los und strauchelte fast über seine eigenen Füße, während er eine Hand auf sein Gesicht presste, kurzzeitig vom Schmerz verwirrt. In diesem kurzen Augenblick der Freiheit drehte sich Michael um und eilte am Straßenrand entlang wie ein olympischer Langstreckenläufer. Er betete zu Gott, dass der Kerl nicht in seinen Wagen sprang und ihn verfolgte.

Michael rannte eine Viertelmeile, bevor er den Delta am Straßenrand erspähte. Die Parklichter leuchteten, der Auspuff ratterte im Takt des Motors. Keuchend warf Michael einen Blick hinter sich. Entweder hatte der Kassierer aufgegeben oder er holte sein Auto. Wie auch immer, er war außer Sicht und Michael fühlte sich sicher genug, langsamer zu laufen.

Je näher er dem Oldsmobile kam, desto wütender wurde er. Durch die Heckscheibe konnte er Rebel sehen, der locker wie immer auf dem Fahrersitz saß und eine Lucky Strike rauchte. Michael knirschte mit den Zähnen, als er das Auto umrundete, den Pullover abstreifte und die Beifahrertür öffnete. Er setzte sich. Noch bevor er den Mut aufbringen konnte, seinem Bruder wegen dem Scheiß, den er gerade abgezogen hatte, die Hölle heißzumachen, grinste Reb süffisant über seinen empörten Gesichtsausdruck.

»Sorry«, sagte er und atmete Rauch aus. »Schätze, ich bin mit dem Fuß abgerutscht.« Reb griff rüber, packte die Flasche am Hals und entwand sie Michaels Griff. »Aber gut gemacht.« Seine Augen wurden dunkel. »Sohn.«

Michael sah weg. Er starrte aus dem Fenster auf die Bäume, die den leeren Highway säumten. Er widerstand der Versuchung, wagte es nicht, Rebel die Befriedigung zu geben, sich zu beklagen. Das würde diesem nur noch mehr Munition liefern. Sie würden zu Hause ankommen und er würde sofort damit rausplatzen, wie Michael aufbegehrt hatte, dass der vergessen habe, wo sein Platz war. Michael würde tagelang nicht schlafen können vor lauter Angst, dass mitten in der Nacht seine Schlafzimmertür aufschwang und Rebel dort erschien, der verlangte, dass Michael aufstand, damit sie einen kleinen Ausflug in den Wald machen konnten.

»Oh, was ist denn?«, fragte Reb scharf. »Plötzlich verstehst du keinen Spaß mehr?«

Michael verweigerte die Antwort und wartete darauf, dass das Auto anfuhr. Er wollte sich darüber auslassen, dass sie noch immer standen, wollte erwähnen, dass der Typ von der Tankstelle jeden Moment auf den Highway und neben sie fahren konnte. Vielleicht würde er dann eine abgesägte Schrotflinte zücken und sie beide mit einem einzigen Schuss wegblasen. Aber auch das sagte Michael nicht. Er war zu abgelenkt von seiner eigenen Fantasie, von den schwarzen Gedanken, die ihn überschwemmten. Es wäre schön, wenigstens einmal einen Funken echter Emotion auf dem Gesicht seines Bruders zu sehen. Einen Funken Angst, der seine Augen erleuchtete, wäre etwas Neues – dieselbe Angst, die Michael so oft auf den Gesichtern all dieser namenlosen Mädchen sah. Vielleicht wäre es gar nicht so übel, den Kopf weggeblasen zu bekommen, wenn nur Rebel genauso tot wäre wie er.

»Wie auch immer«, murmelte Reb, legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch. Der Delta schlingerte auf den Asphalt. »Ist ja nicht so, dass Daddy deinen Arsch nicht auslösen würde, wenn du mal erwischt werden würdest.«

Michael biss sich auf die Unterlippe, um den Mund zu halten. Der Gedanke, dass Wade ihn aus dem Gefängnis holen würde, war befriedigend. Er wusste, wenn es Rebel wäre, würde Wade ihn wenigstens einen oder zwei Tage in dem Loch schmoren lassen. Michael hoffte, dass er wirklich Wades Liebling war, und sei es nur, um es Rebel heimzuzahlen, dass er so verdammt undankbar war.

Rebel zog die Handbremse an und packte Michaels Arm. Die Beifahrertür war bereits offen. Michael brauchte unbedingt etwas Platz. Aber Rebs Finger schlossen sich fest um sein Handgelenk und seine Augen verengten sich wieder zu diesem geierhaften Funkeln.

»Ich glaube nicht, dass ich dich daran erinnern muss«, sagte er, »aber ich mache es trotzdem, weil du so verdammt dumm bist. Wenn du was sagst, bist du tot.«

Michael entwand sein Handgelenk aus dem Griff seines Bruders, blieb dennoch im Auto, den Blick auf seine Hände gesenkt. Ob er nun Wades Liebling war oder nicht, Michael gehörte Rebel. Niemanden würde es auch nur im Geringsten kümmern, was Reb für Michaels Zukunft plante – oder deren Ausbleiben.

Reb schnaufte, als wäre er von Michaels mangelnder Reaktion beleidigt, dann schnappte er sich seine Flasche Jim Beam und stieg aus. Als Michael sich nicht rührte, steckte Reb seinen Kopf ins Wageninnere und sagte kurz: »Raus aus meiner Karre, Penner.«

Michael glitt vom Beifahrersitz, nahm seinen Pullover und ging zum Haus. Seine Füße waren kalt, seine Socken noch immer feucht von der Reinigung des Kellers. Er betastete einen goldenen Ring in seiner Tasche. Den hatte er völlig vergessen, bis er die Hände in die Taschen seiner Jeans geschoben hatte. Die Frau hatte nicht viel Schmuck gehabt, nur einen einzigen Ring am Mittelfinger ihrer rechten Hand.

Wade und Misty Dawn saßen am Küchentisch, während Momma auf dem Herd Fleisch briet. Sie alle wandten sich Michael kurz zu, als er das Haus betrat, kehrten dann zu ihren jeweiligen Aufgaben zurück. Mommas Küchenmesser schimmerten im dumpfen Licht. Wade hatte sie auf einem fleckigen Küchentuch in einer geraden Linie aufgereiht, sortiert vom größten zum kleinsten. Er zog eine der Klingen über den Wetzstein, den er in der rechten Hand hielt. Das Zischen von Metall gegen Stein vermischte sich mit dem Brutzeln des bratenden Essens. Misty arbeitete an einem neuen Makramee-Projekt. Sie war im Moment ganz wild darauf, Pflanzenhänger und Wanddekorationen zu basteln. Einen Gürtel für ihre verschiedenen Hippie-Röcke hatte sie bereits zusammengeknotet. Vor Kurzem sogar eine Hobo Bag mit so langen Troddeln, dass sie fast auf dem Boden schleiften, wenn sie damit rumlief. Michael ging zum Tisch, holte den Ring aus seiner Tasche und ließ ihn heimlich in Mistys Schoß fallen. Ihre Augen leuchteten auf, aber sie sagte nichts. Stattdessen legte sie ihre Handarbeit darüber und machte weiter.

Eine Minute später kam auch Rebel rein. Die Flasche Jim Beam hatte er schon geöffnet. Er nahm einen Schluck, ehe er ganz in die Küche trat, dann ließ er die Flasche über den Tisch gleiten und sank in seinen Stuhl. Er fläzte sich hin, streckte seine dreckigen Schuhe von sich und betrachtete amüsiert seine Familie. Er benahm sich wie ein König, der auf seine Gefolgschaft herabschaute und zusah, wie sie sich mit Alltagskram herumschlugen.

»Machst du noch einen hässlichen Gürtel?«, fragte er seine Schwester mit erhobenen Augenbrauen.

»Es wird ein Oberteil«, murmelte sie. »Es gibt übrigens keinen Grund, beleidigend zu werden.«

Michael blickte auf seine Füße. Er wollte den Raum verlassen und endlich seine durchnässten Stiefel loswerden. Aber er hielt inne, als Wade eine Frage stellte: »Bist du etwa so rausgegangen?«

Michael wandte sich den Morrows zu. Wade hörte sich an, als hätte er Reb angesprochen, doch überraschenderweise sah er stattdessen ihn an.

»Du hast Blut auf den Stiefeln«, sagte Wade. »Vermutlich bist du überall voller Blut. Trotzdem bist du rausgegangen? In die Stadt, oder?«

»Nicht in die Stadt«, fiel Rebel ein. Er klang defensiv. »Nur zu ’ner verdammten Tankstelle. Keine große Scheißsache.«

»Glaubst du, dass das klug ist, Michael?«, fragte Wade. Er ignorierte Rebs Einwurf.

Michaels Magen zog sich zusammen. Er hatte einen Fehler gemacht und Fehler wurden in diesem Haus nicht auf die leichte Schulter genommen. Er hätte sich gegen Rebel auflehnen sollen, hätte darauf bestehen müssen, sich umzuziehen, bevor sie irgendwohin fuhren. Es ging darum, nicht aufzufliegen oder geschnappt zu werden. Er hatte die ganze Familie in Gefahr gebracht.

»Wirst du mir antworten, oder wirst du da stehen bleiben und dumm gucken?«, hakte Wade nach.

Michaels Kiefer verkrampften sich.

Rebel verdrehte die Augen, ergriff die Flasche und führte sie an seine Lippen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Michael. Er hatte Angst, dem Blick seines Vaters zu begegnen.

Reb lachte und nahm noch einen Schluck.

Wades Bewegung kam überraschend. Er schob seinen Stuhl vom Tisch, ging durch die Küche und schlug die Flasche aus Rebs schmutziger Hand. Sie fiel auf den Hartholzboden und schlitterte durch den Raum, wobei sie kostbare bernsteinfarbene Flüssigkeit über die Bohlen verteilte. Reb wollte sie packen, ein verzweifelter, fast kindlicher Aufschrei entrang sich seiner Kehle, doch Wade schubste ihn zurück auf seinen Stuhl.

»Willst du etwa behaupten, es war Michaels Idee, zur Tankstelle zu fahren?«, fragte Wade. »Willst du mich etwa anlügen?«

Reb sah seinen Vater mit gebleckten Zähnen an und stieß ihn weg, dann hob er die Flasche auf. Er starrte sie wild an. Sie war nur noch zu einem Viertel gefüllt. »Verdammte Scheiße!« Rebel donnerte die Flasche auf den Tisch.

Der Krach ließ Michael zusammenzucken. Misty schrak auf, aber ihre Augen funkelten. Misty liebte Dramen. Neben ihren Schallplatten war das alles, was sie hatte. »Ich musste 40 Meilen hin- und zurückfahren, um das Zeug zu kriegen!«, knurrte Reb seinen Dad an.

»Könnte billiger sein, das Benzin zu sparen und in der Stadt dafür zu bezahlen, meinst du nicht?«, fragte Wade.

Misty kicherte leise, woraufhin Momma sich vom Herd abwandte und sie an den Haaren packte. Sie zog kräftig daran.

»Du bist besser ruhig, Mädchen«, zischte sie. »Das geht dich nichts an.« Ehe sie sie losließ, drückte Momma den Kopf ihrer Tochter in Richtung der Tischplatte, als wollte sie Mistys Gesicht auf das Holz schmettern.

Michael schluckte den Kloß in seinem Hals runter. Er presste sich flach an die Wand der Küche. Als die Morrows das letzte Mal gestritten hatten, hatte es Misty schlimm erwischt. Es erwischte sie immer schlimm, ob sie nun involviert war oder nicht. Momma richtete alle Aggression gegen ihre Tochter und fast nie gegen ihre Söhne.

»Du bist wirklich dumm, Ray«, sagte Wade. »Eines Tages wirst du uns teuer zu stehen kommen … du riskierst, dass wir alle auffliegen, nur um deinen Kummer ertränken zu können.«

»Du bist mein Kummer«, gab Rebel zurück. »Hast du je daran gedacht, alter Mann?«

»Sei nicht so streng mit ihm, Wade«, mischte sich Momma ein. »Das ist nur eine Phase. Das geht vorbei.«

Aber Rebel steckte schon in dieser Phase, solange Michael denken konnte. Als sie noch Kinder gewesen waren, war es leichter gewesen, Schnaps zu stehlen. Niemand verdächtigte einen Zehnjährigen, harten Alkohol aus der Ladentür zu schmuggeln. Jetzt wurde es immer knapper, die Kassierer brutaler. Michael wusste besser als jeder andere, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er es mal nicht aus einem dieser Läden schaffte, und Reb wusste es auch. Es war keine Phase; Reb war einfach so.

»Du willst ihn in Schutz nehmen? Warte nur, bis die Polizei wegen gestohlenem Schnaps vor der Tür steht«, sagte Wade. »Warte nur, bis sie anfangen sich umzusehen. Und dann kannst du ihn so richtig in Schutz nehmen. Sag denen, dass es nur eine Phase ist.«

Bei dem Gedanken wurde Michael blass. Das Fleisch war weg, aber die Knochen waren noch hier, vergraben neben dem Schuppen.

»Ich dulde diese Ausflüge nicht mehr, ist das klar?«, sagte Wade.

»Das ist nicht deine Entscheidung«, erwiderte Rebel spöttisch.

»Wade, lass ihn in Ruhe«, verlangte Momma. »Es ist doch nichts passiert. Niemand ist ihnen nach Hause gefolgt.«

»Wenn er geschnappt wird, wird er geschnappt«, sagte Reb zu seinem Vater und nickte in Michaels Richtung. »Ich werd einfach abhauen. Dann haben sie ihren Schuldigen.«

Es dauerte einen Moment, bis Michael die Aussage seines Bruders verstand: Der er in dieser Gleichung war Michael. Er blinzelte und öffnete den Mund, um zu protestieren.

Ich dachte, wir wären Freunde, wollte er sagen. Ich dachte, wir würden da gemeinsam drinstecken.

Misty Dawn richtete sich auf. »Du willst Michael zurücklassen? Wag es ja nicht …«

Momma unterbrach Misty, indem sie sie wieder an den Haaren packte, dieses Mal so brutal, dass es das Mädchen vom Stuhl hob. Ihre Makramee fiel zu Boden, als sie nach hinten stolperte. Momma schob sie zur Veranda.

»Was zur Hölle hab ich gesagt?!«, schrie Momma.

Rebel warf seiner Mutter und Schwester einen Blick hinterher, dann schnappte er sich die fast leere Flasche und stapfte wie ein aufsässiges Kind aus dem Zimmer.

Wade seufzte resigniert und setzte sich wieder auf seinen Platz. Er nahm das Messer, das er Minuten zuvor geschärft hatte, und machte sich erneut an die Arbeit.

Es ertönte das Klatschen von Leder auf Haut.

Irgendwo auf der Veranda kreischte Misty.

Michaels Mund füllte sich mit dem ätzenden Geschmack von Blut. Er wollte die Treppe hinaufrennen, sich in seinem Zimmer einsperren, aber er wagte es nicht, sich von der Wand wegzubewegen. Stattdessen wartete er darauf, dass Wade ihn bemerkte.

Als Wade schließlich aufblickte, flüsterte Michael: »Darf ich jetzt gehen?«

Wade nickte ernst und Michael ging zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf.