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Ulrich H. J. Körtner
Grundkurs Pflegeethik

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Ulrich H. J. Körtner

GRUNDKURS PFLEGEETHIK

3., aktualisierte Auflage

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr,
eine Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen.


3. Auflage 2017
Copyright UTB: 2004 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas Universitätsverlag, 1050 Wien, Österreich
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung
sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
Umschlagbild: Randy Faris, Corbis
Satz: Florian Spielauer, Wien
Druck: finidr Printed in the E. U.
ISBN 978-3-7089-1486-2 print
ISBN 978-3-99030-693-2 epub

INHALT

Vorwort
1 Ethik, Ethos und Moral
1.1 Ethik und Moral im Alltag
1.2 Begriffsbestimmungen
1.3 Grunddimensionen der Ethik
1.4 Typen der Ethik
1.4.1 Normative und deskriptive Ethik
1.4.2 Deontologische und teleologische Ethik
1.4.3 Pflichtenlehre, Tugendlehre und Güterlehre
1.4.4 Verantwortungsethik und Diskursethik
1.5 Theoretische Ethik, angewandte Ethik und Bereichsethik
1.6 Zusammenfassung
1.7 Vertiefende Literatur
2 Gesundheitsethik, Medizinethik, Pflegeethik
2.1 Ethik des Gesundheitswesens
2.2 Gegenstand und Aufgabe medizinischer Ethik
2.3 Ethik des Heilens und „therapeutischer Imperativ”
2.4 Gegenstand und Aufgabe von Pflegeethik
2.5 Medizinethik und Pflegeethik
2.6 Zusammenfassung
2.7 Vertiefende Literatur
3 Ethik und Recht in der Pflege
3.1 Medizinrecht
3.2 Rechtliche Bestimmungen für den gehobenen Pflegedienst und die Pflegeassistenz
3.3 Patientenrechte
3.3.1 Menschenrechte und Grundrechte
3.3.2 Spezielle Patientenrechte
3.4 Zusammenfassung
3.5 Vertiefende Literatur
4 Ethik und Anthropologie
4.1 Pflegeethik, Medizinethik und Menschenbild
4.2 Der Begriff der Person
4.3 Menschenwürde und Autonomie
4.4 Relationale Autonomie
4.5 Das Subjekt der Pflege und der Medizin
4.6 Zusammenfassung
4.7 Vertiefende Literatur
5 Grundlagen und Probleme der Pflegeethik
5.1 „Professional attitudes” in der Pflege
5.2 Strukturprobleme des Pflegeberufs
5.3 Pflegeethik, Care-Ethik und Ethik des Helfens
5.3.1 Ethik des Helfens
5.3.2 Macht und Ohnmacht in der Pflege
5.3.3 Gewalt in der Pflege
5.3.4 Care-Ethik
5.4 Der Begriff Verantwortung
5.4.1 Begriffsgeschichte
5.4.2 Verantwortung als Begriff der Moral
5.4.3 Pflichtenlehre, Güterlehre und Tugendlehre aus verantwortungsethischer Sicht
5.5 Ethosforschung und Geschichte der Pflege
5.6 Interkulturelle und transkulturelle Pflege
5.6.1 Pflege in einer multikulturellen Gesellschaft
5.6.2 Transkulturelle Pflege, Naturrecht und Menschenrechte
5.7 Zusammenfassung
5.8 Vertiefende Literatur
6 Ethische Prinzipien und pflegeethische Kompetenz
6.1 Ebenen pflege- und medizinethischer Probleme
6.2 Prinzipien und Grundregeln der Pflegeethik und der Medizinethik
6.2.1 Kulturelle Normen und Werte
6.2.2 Vier Prinzipien der Pflegeethik und der Medizinethik
6.2.3 Gerechtigkeit in Pflege und Medizin
6.2.4 Weitere ethische Regeln
6.3 Stufen zur Ethikkompetenz
6.3.1 Benners Stufenmodell der Pflegekompetenz
6.3.2 Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklung
6.3.3 Pflegekompetenz und Ethikkompetenz
6.3.4 Stufenmodell der pflegeethischen Kompetenz
6.4 Ethikkommissionen und Ethikkomitees
6.5 Zusammenfassung
6.6 Vertiefende Literatur
7 Menschenrechte und Ethikkodizes
7.1 Dokumente zur Medizinethik und zur Pflegeethik
7.2 Kodifizierungen der Menschenrechte
7.3 ICN-Ethikkodex für Pflegende
7.4 Auszüge aus der Rahmen-Berufsordnung des Deutschen Pflegerates (DPR)
7.5 Ethik in der Pflegepraxis – Leitfaden des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK)
7.6 Ethikkodex für die Altenpflege
7.7 Helsinki-Tokyo-Deklaration
7.8 Zusammenfassung
7.9 Vertiefende Literatur
8 Schritte ethischer Urteilsbildung
8.1 Methoden der Ethik und ihre Grenzen
8.2 Modell der ethischen Urteilsbildung nach D. Lange
8.3 Einzelfallgerechtigkeit
8.4 Zusammenfassung
8.5 Vertiefende Literatur
9 Arbeits- und Funktionsweise Klinischer Ethikkomitees
9.1 Ethik im Krankenhaus
9.2 Arbeitsweise Klinischer Ethikkomitees
9.3 Zusammensetzung eines Klinischen Ethikkomitees
9.4 Zusammenfassung
9.5 Vertiefende Literatur
10 Ethik in der Pflegeforschung
10.1 Pflegewissenschaft und Pflegeforschung
10.2 Ethische Grundsätze der Pflegeforschung
10.3 Eigennützige und fremdnützige Forschung
10.4 Internationale Instrumente der Forschungsethik
10.5 Ethik und Recht in der Forschung
10.6 Zusammenfassung
10.7 Vertiefende Literatur
11 Menschenwürdig sterben
11.1 Das medizinisch begleitete Sterben
11.2 Die Einsamkeit der Sterbenden
11.3 Autonomie am Lebensende
11.4 Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit von Leiden
11.5 Tun und Lassen
11.6 Zusammenfassung
11.7 Vertiefende Literatur
12 Behandlungsabbruch und Sterbehilfe
12.1 Palliative Care
12.2 Begriff und Formen der Sterbehilfe
12.3 Passive und indirekte Euthanasie
12.4 Tötung auf Verlangen und medizinisch assistierter Suizid
12.4.1 Euthanasie
12.4.2 Medizinisch assistierter Suizid
12.5 Leitsätze zum Verständnis von Menschsein und Menschlichkeit im Blick auf das Euthanasieproblem
12.6 Zusammenfassung
12.7 Vertiefende Literatur
13 Intensivmedizin und Transplantationsmedizin
13.1 Hirntod
13.2 Zur Ethik der Transplantationsmedizin
13.3 Gesetzliche Regelungen
13.4 Ethische Probleme der Transplantationsmedizin
13.5 Organaustausch und Allokation
13.6 Zusammenfassung
13.7 Vertiefende Literatur
14 Fallbeispiele
14.1 Aufgabenstellung
14.2 1. Fall: Lebensverlängernde Maßnahmen
14.3 2. Fall: Darf man, soll man die Wahrheit verschweigen?
14.4 3. Fall: Nahrungsverweigerung bei einer Demenzkranken
14.5 4. Fall: Nahrungsverweigerung bei einer MS-Patientin
14.6 5. Fall: Heimunterbringung eines MS-Patienten
14.7 6. Fall: Eingetretene und drohende Veränderung der Lebensumstände
14.8 7. Fall: Inkontinenz
14.9 8. Fall: Verhütung bei einer Minderjährigen in der Jugendpsychiatrie.
14.10 Zusammenfassung
14.11 Vertiefende Literatur
Glossar
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Der Autor

VORWORT

Während es inzwischen eine Reihe von Lehrbüchern der Medizinethik gibt, ist die Zahl der Lehrbücher der Pflegeethik im deutschsprachigen Raum noch gering. Hier besteht jedenfalls – auch innerhalb der noch jungen Disziplin der Pflegewissenschaften – auf dem Gebiet der Pflegeethik ein gewisser Nachholbedarf. Das hat theoretische und praktische Gründe.

Zum einen ist der theoretische Status der Pflegeethik klärungsbedürftig. Viele ethische Probleme, die in der Pflege auftreten, sind keine Probleme der Pflege allein, sondern stellen sich auch dem behandelnden Arzt oder der Ärztin, die die Letztverantwortung trägt, den Angehörigen und dem Patienten oder der Patientin selbst. Zwischen allgemein medizinethischen und pflegeethischen Fragen besteht eine weitgehende Überschneidung. Allerdings haben die Pflegenden nicht nur täglich mehr Kontakt zu den Patienten und Patientinnen als die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, sondern neben dem mitverantwortlichen auch einen eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich, der allerdings die Durchführung medizinisch-diagnostischer und medizinisch-therapeutischer Maßnahmen und Tätigkeiten nach ärztlicher Anordnung einschließt. Das österreichische Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) stellt in seiner Novelle von 2016 klar, dass die pflegerischen Kernkompetenzen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege – darunter die Gesamtverantwortung für den Pflegeprozess sowie „ethisches, evidenz- und forschungsbasiertes Handeln einschließlich Wissensmanagement” – ausschließlich in der Eigenverantwortung der Profession der Pflege liegen (GuKG 2016, § 14 [2]). Auch sind die Ziele der Medizin von denen der Pflege zum Teil durchaus verschieden. Eben darum ist eine spezifische Pflegeethik vonnöten, die als Teil einer allgemeinen Ethik des Gesundheitswesens zu konzipieren ist. Schließlich lautet die offizielle Berufsbezeichnung des gehobenen Pflegedienstes in Österreich und seit 1.1.2004 auch in Deutschland „Gesundheits- und Krankenpflegeschwester bzw. -pfleger” (in der Schweiz: Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann). Das ist der Ansatzpunkt für das Verständnis von Pflegeethik, wie es in dem vorliegenden Lehrbuch entwickelt wird, wobei betont sei, dass sich dieses Buch nicht nur an den gehobenen Pflegedienst, sondern auch an die Berufsgruppen der Pflegeassistenz und der Altenpflege wendet.

Wie auf der Theorieebene ist der Status der Pflegeethik auch in der Ausbildung und in der Fort- und Weiterbildung zu klären. Zwar gehört das Fach „Ethik” heute erfreulicherweise zum verpflichtenden Curriculum der Ausbildung zum Pflegeberuf, und zwar mit einem höheren Stundenausmaß als z. B. in manchen neuen Curricula für das Medizinstudium. In der Regel bilden Berufsethik und Berufskunde einschließlich der Geschichte der Pflege ein gemeinsames Unterrichtsfach. Überschneidungen bestehen ferner zu den Bereichen Kommunikation, Psychologie, Soziologie und Pflegepädagogik. Nun hängen ethische Fragen mit solchen der Kommunikation und der Pädagogik eng zusammen. Nicht selten entpuppen sich als ethisch bezeichnete Konflikte in der Medizin und in der Pflege als Kommunikationsprobleme. Zwischen Kommunikation und Ethik im strikten Sinne des Wortes ist aber zu unterscheiden, so gewiss die ethische Urteilsbildung und konkrete Entscheidungsfindung in Medizin und Pflege diskursiv und prozesshaft erfolgen sollte. Es muss daher betont werden, dass Ethik eine wissenschaftliche Disziplin der Philosophie (und der Theologie) ist, die einen eigenen Gegenstand und eigenständige Methoden hat. Dem sollten die Curricula für die medizinische und die pflegerische Ausbildung, aber auch in Fort- und Weiterbildung, in ausreichendem Maße Rechnung tragen.

Das vorliegende Studienbuch ist als Grundkurs für die Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Pflege, für das Studium der Pflegewissenschaften und für Studiengänge an Fachhochschulen konzipiert. Es befasst sich mit Grundfragen und theoretischen Grundlagen der Pflegeethik. Neben dem klinischen Bereich sind hierbei die Bereiche der Langzeit- und Altenpflege sowie der extramuralen (häuslichen) Pflege zu berücksichtigen. Außerdem hat sich in den USA neben der allgemeinen Medizinethik und Pflegeethik seit geraumer Zeit als eigenständiger Bereich die Klinische Ethik (clinical ethics) etabliert. Sie bearbeitet interdisziplinär die gemeinsamen ethischen Probleme von Ärzten, Ärztinnen und Pflegenden im Krankenhaus. Als praktisches Instrument Klinischer Ethik fungieren sogenannte Klinische Ethikkomitees, die in Österreich bisher kaum bekannt sind. In Deutschland dagegen haben die konfessionellen Krankenhausverbände damit begonnen, solche Gremien flächendeckend zu etablieren. Hiervon lässt sich lernen.

Die Kapitel 1 bis 7 bieten eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Pflegeethik. Im Kapitel 8 wird ein konkretes Modell der ethischen Urteilsbildung vorgestellt. Kapitel 9 informiert über die Aufgaben und die Arbeitsweise Klinischer Ethikkomitees. Materialethische Fragen der Pflegeethik werden in Kapitel 10 bis 13 exemplarisch anhand ethischer Probleme in der Pflegeforschung, am Lebensende, in der Intensivmedizin und in der Transplantationsmedizin dargestellt. Kapitel 14 bietet eine Reihe von Fallbeispielen, an welchen die zuvor vorgestellten Prinzipien und Regeln der pflegeethischen Urteilsbildung erprobt werden können. Vertiefende Literatur findet sich am Ende jedes Kapitels sowie am Ende des Buches.

Der vorliegende Grundkurs ist aus meiner Lehrtätigkeit in Fort- und Weiterbildungen sowie in Sonderausbildungen für Gesundheits- und Krankenschwestern und -pfleger entstanden, u. a. an der Akademie für Fortbildungen und Sonderausbildungen am Allgemeinen Krankenhaus Wien sowie im Rahmen des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien. Die Anregung zu diesem Buch kam von meiner Frau Martina Körtner, die seit mehreren Jahren in der teilstationären (transmuralen) Pflege und als Praxisanleiterin im MS-Tageszentrum der Caritas Socialis (Wien) tätig ist. Ihr danke ich für unsere intensiven Gespräche über das Gesamtkonzept und die Einzelthemen des Buches sowie für zahlreiche Hinweise und Verbesserungsvorschläge. Mein Dank gilt auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der ersten zweijährigen Weiterbildung „Pflegeberatung” am Rudolfinerhaus Wien, mit denen ich in einem für mich äußerst lehrreichen Intensivkurs eine erste Fassung dieses Buches erproben und diskutieren durfte, ferner Frau Generaloberin Ch. Staudinger vom Wiener Krankenanstaltsverband, Frau Lehrschwester Betty Hochegger und Frau Dr. Hanna Mayer, Lektorin für Pflegewissenschaft an der Universität Wien, für weitere Anregungen und Hilfestellungen. Danken möchte ich auch Herrn Mag. theol. Martin Fischer und Frau Irmtraud Aigner, die mir bei der Literaturrecherche und den Korrekturen behilflich waren, sowie Frau Mag. Sabine Schlüter vom Facultas Verlag und Frau Barbara Köszegi für alle Unterstützung, das Buch in eine lesbare und hoffentlich leser- und leserinnenfreundliche Form zu bringen.

Wien, im August 2003 Ulrich H. J. Körtner

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage hat es auf dem Gebiet der Pflegeethik im deutschsprachigen Raum einige Fortschritte gegeben. Auch die Zahl der Lehrbücher ist erfreulicherweise gestiegen. Um der Entwicklung und dem Stand der Forschung Rechnung zu tragen, wurde das vorliegende Lehrbuch gründlich überarbeitet und in manchen Abschnitten erweitert. Dabei habe ich mich bemüht, die Literaturangaben in den für einen Grundkurs vertretbaren Grenzen zu halten. Wie schon bei der ersten Auflage war mir auch bei der zweiten Auflage meine Frau Martina Körtner eine wichtige Gesprächspartnerin. Ohne ihre wertvollen Anregungen und unseren beständigen Austausch über pflegeethische Fragen wäre dieses Buch nicht entstanden. Danken möchte ich aber auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien, besonders Herrn Dr. Lukas Kaelin und Frau Carina Hauser, MA, die mir bei den Korrekturen geholfen haben sowie Frau Mag. Cornelia Posch vom Facultas Verlag für die gute Zusammenarbeit.

Wien, im August 2011 Ulrich H. J. Körtner

VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE

Abgesehen von notwendigen Aktualisierungen und kleineren Ergänzungen ist das vorliegende Lehrbuch weitgehend unverändert geblieben. Größere inhaltliche Erweiterungen gibt es in Kapitel 4 und 10. Neu hinzugekommen sind die Abschnitte zu Menschenwürde und Autonomie (4.3) sowie zum Begriff der relationalen Autonomie (4.4). Deutlich erweitert wurde auch Kapitel 10 zur Pflegeforschung. Frau Mag. Ulrike Swoboda und Herr Mag. Marcus Hütter waren mir bei den Korrekturen behilflich. Dafür danke ich ihnen ebenso herzlich wie Frau Mag. Cornelia Russ für die gute verlegerische Betreuung und unkomplizierte Zusammenarbeit, die sich ein weiteres Mal bewährt hat.

Wien, im Oktober 2016 Ulrich H. J. Körtner

1 ETHIK, ETHOS UND MORAL

Moral und Ethik haben es mit der Grundorientierung menschlichen Handelns und menschlicher Lebensführung zu tun. Wir fragen nicht nur, wie wir leben wollen, sondern auch, wie wir leben können und sollen. Ethik und Moral sind zu unterscheiden. In der Alltagssprache werden beide Begriffe allerdings häufig synonym verwendet. Dieses Kapitel informiert über die wissenschaftliche Disziplin und die Haupttypen der Ethik sowie über ethische Grundbegriffe.

1.1 Ethik und Moral im Alltag

„Kann mir jemand sagen, wo ich hin will?” Diese paradox anmutende Frage stellt Karl Valentin (1882–1948), der berühmte Münchener Kabarettist, in einem seiner Sketche. Genau mit dieser Frage hat es die Ethik zu tun. Nicht nur über die Ziele unseres konkreten Handelns und Verhaltens im Einzelfall, sondern auch über die langfristigen Ziele unserer Lebensführung müssen wir beständig nachdenken. Wie will ich leben, wie wollen wir gemeinsam leben? Wir fragen aber nicht nur, wie wir leben und handeln wollen, sondern auch, wie wir es sollen. Denn von klein auf sehen wir uns mit einer Fülle von Forderungen, Erwartungen und Anforderungen konfrontiert. In der Pflege ist das nicht anders. Es sind nicht nur Bitten und Ratschläge, sondern manchmal auch strikte Anordnungen, die uns erteilt werden. Nicht nur in konkreten Fragen der zu erledigenden Arbeit, sondern auch in Fragen der persönlichen Lebensführung versucht man uns immer wieder vorzuschreiben, was wir angeblich zu tun und zu lassen haben. „Man tut das” bzw. „Man tut das nicht”, wird schon Kindern vorgehalten.

Karl Valentins paradoxe Frage bringt es auf den Punkt: Einerseits müssen wir uns fragen, was wir tun und wie wir leben wollen, andererseits suchen wir nach Orientierung, d. h. aber nach Rat, wie wir handeln und leben sollen. Wir wollen uns unser Handeln und Leben zwar nicht vorschreiben lassen und wehren uns gegen autoritäre Strukturen. Aber Entlastung vom ständigen Entscheidungsdruck eines selbstverantwortlichen Lebens suchen wir sehr wohl.

Einen Orientierungsrahmen bilden grundlegende Normen und Werte, die zum Traditionsbestand einer Gesellschaft gehören. Dazu gehören auch die Normen und Gebote der religiösen Tradition, z. B. die Zehn Gebote (Dekalog) als grundlegende Richtschnur des Handelns und Lebens für das Judentum und das Christentum. Befragungen zeigen, dass viele Menschen nach wie vor in den Zehn Geboten eine Orientierungshilfe sehen, auch wenn sie sich nicht für besonders gläubig halten. Vor allem das Tötungsverbot (5. Gebot) wird allgemein für das wichtigste unter den biblischen Geboten gehalten. Ebenso wichtig ist in der biblischen Tradition das Gebot der Nächstenliebe: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.” Die meisten Kulturen kennen auch die Goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu.”

Nur weil andere mir sagen, was ich tun oder lassen soll, heißt dies freilich noch lange nicht, dass es richtig wäre, ihren Ratschlägen oder Vorschriften zu folgen. Wenn mir jemand sagt, ich solle in den Brunnen springen, muss ich es doch nicht tun. Und die Behauptung, dass ein moralisches Gebot oder Verbot auf eine göttliche Offenbarung zurückzuführen sei, ist für uns zunächst eine bloße Behauptung von Menschen, selbst wenn sie in der Bibel oder im Koran steht. Ob ich ihnen Glauben schenke oder nicht, ist meine ureigenste Entscheidung bzw. eine Frage des Glaubens.

Gegenüber Moral bestehen in der modernen und pluralistischen Gesellschaft einige Vorbehalte. Wir kennen die Moralapostel, die alles und jeden kritisieren, die Wasser predigen und selbst Wein trinken. Moralpredigten und moralingesäuertes Gutmenschentum lösen verständliche Aversionen aus. Bei Moral denken manche vielleicht auch einseitig an kirchliche oder sonstige religiöse Moral, sodass der Irrtum entstehen kann, Religion und Moral seien identisch, Moral also nur eine Angelegenheit religiös veranlagter Menschen. Doch die Grundfrage, wie ich leben will und soll, besteht auch dann fort, wenn ich mich nicht als religiösen Menschen verstehe.

Allerdings: Wir verstehen uns als freie Wesen. Wer sich in seinem Tun und Lassen nicht einseitig vom Willen anderer abhängig machen will, kann deshalb sehr wohl um Rat fragen und nach Orientierung suchen, aber er will zumindest einsehen können, warum er etwas besser tun oder lassen sollte. Unsere Freiheit verlangt, dass das Wollen und das Sollen unseres Handelns zur Übereinstimmung gebracht werden bzw. dass unsere Moral nicht fremdbestimmt (heteronom), sondern selbstbestimmt (autonom) ist. Zwischen Selbstbestimmung und religiöser Bindung muss allerdings kein Gegensatz bestehen. In diesem Fall spricht man von theonomer Moral.

Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Sittliche Autonomie unterscheidet sich daher von der Willkür. In meinem Tun und Lassen habe ich stets den Mitmenschen und sein Wohlergehen mitzubedenken.

Die ethische Grundfrage lautet nach dem Philosophen Immanuel Kant: „Was soll ich tun?” Genauer müsste man frei nach Karl Valentin sagen, sie laute: „Was soll ich wollen?” Wie im Leben überhaupt stellt sich diese Frage auch im Pflegealltag ständig. Um sie kreist das vorliegende Buch. Es möchte die Grundlagen von Moral und Ethik in der Pflege klären und Wege aufzeigen, wie man moralische Probleme im Berufsalltag lösen kann. Das gelingt in vielen Fällen nicht allein, sondern bestenfalls nur gemeinsam mit anderen. Eben darum ist die Verständigung über unsere Moralvorstellungen und unsere Normen und Werte für den Berufsalltag so wichtig.

► Fragen Sie sich selbst und diskutieren Sie gemeinsam:
Was ist mein Verständnis von Moral? Welche Normen und Werte halte ich für besonders wichtig?

1.2 Begriffsbestimmungen

In unserer Alltagssprache werden die Begriffe „Ethik” und „Moral” häufig synonym verwendet. Firmen und Banken beklagen die schlechte „Zahlungsmoral” ihrer Kunden. Militärische Vorgesetzte kritisieren die „schlechte Moral” ihrer Truppe. Trainer und Fans sind von der „Spielermoral” ihres Vereins enttäuscht. Ein „unmoralisches Angebot” kann aber ebenso gut als „unethisch” zurückgewiesen werden. Gesundheits- und umweltbewusste Kunden oder auch Menschen mit einer Sensibilität für die Probleme der Dritten Welt verlangen nach „ethischen Produkten”.

Die Wörter „Moral” und „Ethik” stehen in den genannten Beispielen für Einsatzbereitschaft, Ehrlichkeit und Fairness, für Umweltbewusstsein und Gerechtigkeitssinn. Mit alldem haben es Moral und Ethik auch tatsächlich zu tun. Wir müssen aber begrifflich zwischen Moral und Ethik unterscheiden.

Ethik ist die selbstreflexive Theorie der Moral, d. h. die Reflexion, welche das menschliche Handeln und Verhalten sowie die beidem zugrundeliegenden Einstellungen und Haltungen anhand der Beurteilungsalternativen von Gut und Böse bzw. Gut und Schlecht auf seine Sittlichkeit hin überprüft.

Was jeweils unter dem moralisch Guten oder Schlechten zu verstehen ist, lässt sich nicht allgemein gültig sagen. Man kann aber eine formale Antwort geben, wonach unter dem moralisch Guten das nicht nur in einer bestimmten (z. B. technischen) Hinsicht oder in mehrfacher Hinsicht (z. B. technisch optimal und ökonomisch effizient), sondern das in jeder Hinsicht Gute zu verstehen ist. Umstritten ist allerdings, ob es an sich, d. h. situationsunabhängig, gute oder schlechte Handlungen gibt.

Im Unterschied zur Ethik (der Begriff stammt von Aristoteles [384–322 v.Chr.]) bezeichnet der Begriff des Ethos (griechisch) bzw. der Moral (lateinisch) die Verhaltensnormen der gesamten Gesellschaft oder einer Gruppe, die aufgrund von Tradition akzeptiert und stabilisiert werden. Manchmal wird zwischen Ethos und Moral unterschieden. Während der Begriff der Moral vor allem auf sittliche Regeln für menschliches Handeln und Verhalten zielt, hat der Begriff des Ethos stärker die Person des Handelnden, seine grundlegenden Einstellungen und Haltungen im Blick.

► Beispiele
Jede Berufsgruppe hat ihr Ethos, im medizinischen Bereich gibt es etwa das ärztliche Standesethos, das Berufsethos der Pflegeberufe und der sonstigen heilenden und helfenden Berufe. Das Ethos erstreckt sich nicht nur auf Regeln für das Handeln, sondern auch auf Haltungen.

Als selbstreflexive Theorie der Moral ist auch die Ethik moralhaltig, d. h. auch sie operiert normativ mit der Unterscheidung „gut/böse” bzw. „gut/schlecht”.

Ethik ist eine wissenschaftliche Disziplin der Philosophie, aber auch der Theologie. Während die Philosophie keinem religiösen oder weltanschaulichen Standpunkt verpflichtet ist, bezieht sich theologische Ethik (in der katholischen Theorie auch Moraltheologie genannt) ausdrücklich auf das gelebte Ethos einer konkreten Religion, z. B. des Christentums.

Theologische Ethik macht also die religiöse Dimension von Moral und Ethik zum wissenschaftlichen Thema. Daraus wird bisweilen gefolgert, dass theologische Ethik in moralischen Fragen lediglich einen partikularen Standpunkt vertrete, während die Ethik in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft von allen religiösen und weltanschaulichen Prämissen freizuhalten sei. Diese Position vertreten z. B. der Philosoph John Rawls (1921–2002) oder die Wiener Philosophin Herlinde Pauer-Studer. Dazu ist aber zweierlei anzumerken: Zum einen verwendet die theologische Ethik keine anderen Verfahren der Urteilsbildung als die philosophische Ethik. Zum anderen lassen sich explizit religiöse Argumente möglicherweise aus der moralischen Urteilsbildung ausschließen, doch sollte der Einfluss religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen auf das gelebte Ethos und die viel elementarere Ebene unserer moralischen Intuitionen nicht unterschätzt werden. „Hier hat jemand, der in der christlichen Tradition steht, möglicherweise andere moralische Intuitionen als jemand, der von einem anderen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund herkommt” (Fischer 2002, S. 65). Der Beitrag der theologischen Ethik zum interdisziplinären Ethikdiskurs in der pluralistischen Gesellschaft besteht also gerade nicht in dem Versuch, apodiktische (unumstößliche), dogmatisch festgelegte Geltungsansprüche durchzusetzen, sondern sich an der gemeinsamen Suche nach lebensdienlichen Lösungen unter Einschluss der religiösen Dimension der Betroffenen und des religiösen Hintergrundes elementarer Grundwerte, die in der Gesellschaft akzeptiert sind, zu beteiligen.

Jeder Begriff von Moral und von Ethik setzt voraus, dass es moralische bzw. zur Moral fähige Subjekte gibt. Im Unterschied zu einer funktionalen oder technischen Betrachtungsweise menschlicher Handlungen nehmen Moral und Ethik die handelnden Menschen als Person und nicht nur als Funktionsträger in den Blick. Maßstab für die moralische bzw. die ethische Urteilsbildung ist, ob eine bestimmte Handlungsweise die personale Integrität der an ihr beteiligten oder von ihnen betroffenen Handlungssubjekte achtet und fördert oder aber missachtet und verletzt.

Die Instanz, durch die wir unserer personalen Integrität oder auch ihrer Verletzung bewusst werden, nennen wir Gewissen. Moralisch handeln heißt, seinem Gewissen zu folgen, das freilich irren kann, weshalb alle Moral zweideutig bleibt.

Gewissen und Moral haben zur Voraussetzung, dass der Mensch mit sich selbst immer schon nicht identisch ist, dass er in einem Zustand der Entfremdung existiert, den er zu überwinden versucht. Gewissen und Moral basieren auf der Kluft zwischen Sein und Sollen. Die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, setzt die Existenz des Bösen voraus.

Der Zusammenhang zwischen Personsein und Gewissen ist so eng, dass man besser sagen sollte: Der Mensch ist Gewissen, statt: Der Mensch hat Gewissen. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) hat das Gewissen folgendermaßen bestimmt: „Das Gewissen ist der aus einer Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst. Es erscheint als Anklage gegen die verlorene Einheit und als Warnung vor dem sich selbst Verlieren. Es ist primär nicht auf ein bestimmtes Tun, sondern auf ein bestimmtes Sein gerichtet. Es protestiert gegen ein Tun, das dieses Sein in der Einheit mit sich selbst gefährdet” (Bonhoeffer 1998, S. 276I).

Als Grundregel moralischen Handelns kann gelten: Habe den Mut, deinem Gewissen zu folgen! Neben dem Gewissen gibt es für unser Handeln und Verhalten Gründe des Verstandes. Darum gilt zugleich die zweite Regel: Habe den Mut, dich deines eigenen (!) Verstandes zu bedienen.

(Immanuel Kant)

Wie mich selbst soll ich auch die anderen Menschen als Personen achten. Unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, ihrem körperlichen oder geistigen Zustand, unabhängig von ihrer Herkunft oder Nationalität, ihrem Geschlecht, ihrem Glauben und ihrer Kultur sind alle Menschen in gleicher Weise zu achten. Als Person ist jeder Mensch ein Selbstzweck, der nicht zum bloßen Objekt fremder Interessen degradiert werden darf. Darin besteht der Kern der Menschenwürde, die religiös als Gottebenbildlichkeit des Menschen gedeutet wird. Moral und Ethik beurteilen Handlungen danach, inwiefern sie die Menschenwürde und die daraus abgeleiteten Menschenrechte achten oder missachten.

1.3 Grunddimensionen der Ethik

Der Gegenstandsbereich der Ethik lässt sich (nach Rich 1984) in vier Gebiete bzw. einander überschneidende Dimensionen untergliedern:

Beispiele
Individualethische Fragen sind beispielsweise: Wie gehe ich mit meiner Gesundheit um? Weshalb möchte ich Krankenschwester oder Altenpfleger werden?
Ein Beispiel für personalethische Fragen ist, ob ich zum vierten Mal nach einem Patienten schauen soll, der schon dreimal vorher wegen Nichtigkeiten geläutet hat. Sozialethische Fragen stellen sich, wenn wir z. B. über die Finanzierung der Pflege diskutieren, über unterschiedliche Formen der Pflegeversicherung und Versicherungsleistungen (Geldleistungen, Sachleistungen) sowie über das Verhältnis von Solidarversicherung und Eigenleistungen, über den künftigen Pflegebedarf und den Bedarf an qualifizierten Pflegekräften in einer alternden Gesellschaft, über Pflegekonzepte (mobile Pflege, Pflegeheimplätze), über die Lebensqualität in Pflegeheimen und die Zimmergröße (Einbettzimmer, Mehrbettzimmer).
Umweltethische Fragen stellen sich z. B., wenn es um Tierversuche geht. Sollen Tiere im Dienst des medizinischen Fortschritts für den Menschen leiden? Ist es ethisch vertretbar, mithilfe von Gentechnik „Krebsmäuse” für die Krebsforschung zu züchten? Oder auch: Wie gehen wir mit Kunststoffprodukten und Verbandsmaterial in der Pflege um? Ist eine Wegwerfmentalität gegenüber der Umwelt zu rechtfertigen?

1.4 Typen der Ethik

1.4.1 Normative und deskriptive Ethik

Allgemein lassen sich zwei Grundtypen der Ethik unterscheiden:

► normative Ethik
► deskriptive Ethik

Jede Ethik hat es mit Sollensbestimmungen zu tun. Während jedoch eine deskriptive Ethik vor allem beschreibt, worin das ethische Sollen im Kontext eines bestimmten Ethos besteht, formuliert eine normative Ethik auch auf der Theorieebene Sollensurteile.

Immanuel Kants kategorischer Imperativ
Kant (1724–1804) unterscheidet zwischen hypothetischen und kategorischen Sollenssätzen. Während hypothetische Imperative nur eine eingeschränkte Geltung haben – ein Standes- oder Berufsethos gilt nur für die Angehörigen einer bestimmten Gruppe -,formuliert der kategorische Imperativ ein allgemeines Sittengesetz, das für jeden Menschen zu allen Zeiten und überall Geltung beansprucht. Der kategorische Imperativ hat mehrere Fassungen.

1: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.”

2: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.”

3: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.”

I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, 2 1786

1.4.2 Deontologische und teleologische Ethik

Man kann auch folgendermaßen zwischen zwei Grundtypen von Ethik unterscheiden:

► deontologische Ethik
► teleologische Ethik

Deontologisch sind eine Pflichtenethik (Beispiel: I. Kant) oder auch eine religiöse Gebotsethik, teleologisch ist eine Strebensethik, die im guten Leben das Ziel aller Ethik sieht und unter Ethik die Theorie menschlicher Lebensführung versteht (Beispiele: Platon, Aristoteles). Während also im Zentrum einer deontologischen Ethik der Begriff des Sollens steht, reflektiert eine teleologische Ethik das menschliche Streben oder Wollen.

Weder lassen sich Sollen und Wollen aus einem moralischen Grundprinzip ableiten, noch das Sollen aus dem Wollen oder umgekehrt. Moralisches Sollen und Wollen verhalten sich vielmehr komplementär zueinander. Ihre Komplementarität führt zum Konzept einer integrativen Ethik, wie sie der Philosoph Hans Krämer vertritt. Für ethische Diskurse und Urteilsbildungen bedeutet dies, dass sie mehrdimensional angelegt werden müssen.

1.4.3 Pflichtenlehre, Tugendlehre und Güterlehre

Moralisches Handeln ist gesollt und wird zugleich vom moralischen Subjekt aus freien Stücken gewollt. Moral und Ethik haben zur Bedingung das Phänomen menschlicher Freiheit. Das Ziel moralischen Handelns besteht in dem Guten bzw. in Gütern. Um es zu erreichen, bedarf der Mensch gewisser moralischer Fähigkeiten, welche die Tradition als Tugenden bezeichnet. Dementsprechend lassen sich unterscheiden:

► Pflichtenlehre
► Tugendlehre
► Güterlehre

In der Ethik I. Kants liegt das Gewicht auf der Pflichtenlehre. Ein aktuelles Beispiel für eine Pflichtenethik ist die von dem katholischen Theologen Hans Küng u. a. in Analogie zu den universalen Menschenrechten propagierte Idee universaler Menschenpflichten (Schmidt 1998).

Auf der Tugendlehre liegt das Gewicht in der Ethik des Aristoteles. Aristoteles versteht unter einer Tugend das Mittelmaß zwischen zwei Extremen (z. B. Tapferkeit als Mitte zwischen Feigheit und Übermut). Die abendländische Tradition kennt vier philosophische Kardinaltugenden: Tapferkeit, Klugheit, Mäßigung (d. h. Maß halten können) und Gerechtigkeit. Grundregel einer ausgesprochenen Klugheitsethik ist die in allen Kulturen bekannte Goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu” (bzw. positiv formuliert: „Was du willst, das man dir tun soll, das tue auch anderen”). Die christliche Tradition (z. B. Thomas v. Aquin [1225–1274]) unterscheidet davon Glaube, Hoffnung und Liebe (caritas) als theologische Tugenden. Das Thema der Tugenden spielt auch im Kommunitarismus, einer zeitgenössischen Richtung der Philosophie, eine wesentliche Rolle (z. B. bei A. MacIntyre).

In die Tradition einer Güterlehre (bzw. einer Strebensethik) gehört neben Platon z. B. die materiale Wertethik (Max Scheler [1874–1928] und Nikolai Hartmann [1882–1950]). Im Anschluss an Platons Ideenlehre nimmt die materiale Wertethik eine überzeitliche Wertordnung an, die an intuitiven Werterfahrungen Anhalt findet und in einem „Wertapriori” gründet. Tatsächlich handelt es sich bei der materialen Wertethik aber um eine Reaktion auf die massive Infragestellung abendländischer Ethiktraditionen durch die gesellschaftlichen Umbrüche im Zeitalter der Industrialisierung, die besonders klarsichtig in Friedrich Nietzsches (1844–1900) philosophischem Nihilismus und seiner Idee von der „Umwertung aller Werte” reflektiert worden sind. Bereits Nietzsche hat klar ausgesprochen, dass alle Werte, auch solche der Moral, gesetzt werden und konvertierbar sind. Sie sind eine Sache der persönlichen Wahl oder auch der gesellschaftlichen Konvention. Werte werden tradiert, aber nicht durch apriorische Wesensschau erkannt. Die Idee einer vermeintlich objektiven Hierarchie von Werten kann nicht über den faktisch vorhandenen, beständigen Wertekonflikt in der modernen pluralistischen Gesellschaft hinwegtäuschen. So entpuppt sich selbst noch die Idee eines metaphysischen Wertekosmos als eine bloße Setzung.

Eine Variante der Güterlehre bzw. eine Form der teleologischen Ethik ist der Utilitarismus. Der Begriff ist abgeleitet vom lateinischen utilitas (= Nützlichkeit, Vorteil, Wohl, Glück) und bezeichnet eine vor allem innerhalb der angelsächsischen Philosophie einflussreiche Denkrichtung. Als Utilitarismus werden ethische Ansätze bezeichnet, welche den Selbsterhaltungstrieb bzw. Eigennutz als entscheidende Triebfeder allen Handelns und Verhaltens betrachten und die Rücksichtnahme auf andere, Menschen wie leidensfähige Tiere, im wohlverstandenen Eigeninteresse des moralischen Subjektes sehen. Die regulative Idee des klassischen Utilitarismus ist das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl. Ihr entspricht das sogenannte Schädigungsprinzip, wonach Eingriffe in die Interessen und Rechte anderer dann - und nur dann – erlaubt sind, wenn sie dazu dienen, die Schädigung anderer zu verhüten. Nach utilitaristischer Ansicht gibt es keine moralisch bedeutsamen Werte, die sich unabhängig vom Wohl bzw. von Lust, Nutzen und Glück begründen ließen. Hauptvertreter des klassischen Utilitarismus sind Jeremy Bentham (1748–1832), John Stuart Mill (1806–1873) und Henry Sidgwick (1838–1900). Inzwischen werden zahlreiche Varianten von Utilitarismus vertreten (z. B. Handlungsutilitarismus, Regelutilitarismus, Präferenzutilitarismus). Vor allem in der angelsächsischen Bio- und Medizinethik spielt der Utilitarismus eine wichtige Rolle (z. B. der australische Philosoph Peter Singer).

Allgemein gilt, dass im Sinne einer Güterlehre das Gute Gegenstand einer Vorzugswahl ist. Rein formal gesprochen ist das Gute das Vorzugswürdige bzw. das Vorzügliche. So macht eine Güterlehre das Gute zum Gegenstand einer Güterabwägung bzw. einer Übelabwägung, wobei jeweils zu fragen ist, welche Güter ethisch legitimerweise gegeneinander abgewogen werden dürfen.

1.4.4 Verantwortungsethik und Diskursethik

Der innere Zusammenhang von Pflichtenlehre, Tugendlehre und Güterlehre wird in der neueren Ethik auch durch den Begriff der Verantwortung zum Ausdruck gebracht. Das geschieht in den verschiedenen Ansätzen einer Verantwortungsethik. Der Begriff geht auf Max Weber (1864–1920) zurück, der zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik unterschieden hat (1919). Während eine Gesinnungsethik mit einer Neigung zum Rigorismus Handlungen in erster Linie nach ihren Motiven und Maximen beurteilt, reflektiert eine Verantwortungsethik nach Weber vor allem auf die tatsächlichen Folgen einer Handlung. Im Unterschied zu traditionellen Typen der Ethik sucht der Ansatz einer Verantwortungsethik den permanenten Umbrüchen und Krisen der modernen Welt Rechnung zu tragen. Auf die Folgen des Handelns bedacht, orientiert sich eine Verantwortungsethik an der Zeitdimension der Zukunft (Hans Jonas [1903–1993]) und an der Sozialdimension der Gesellschaft. Verantwortungsethik lässt sich auch als integrative Ethik (s. o.) konzipieren, welche von der Komplementarität von moralischem Sollen und menschlichem Streben (Wollen) ausgeht.

Neben dezidiert untheologischen oder areligiösen Ansätzen (z. B. M. Weber) finden sich erklärtermaßen theologische Ansätze einer Verantwortungsethik (z. B. Dietrich Bonhoeffer [1906–1945], Robert Spaemann, U. Körtner 2012), welche die Verantwortlichkeit des Menschen in seiner Gottesrelation begründet sehen. Theologisch betrachtet besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Verantwortung und Rechtfertigung (Georg Picht). Infolge der durch H. Jonas ausgelösten Debatte haben verantwortungsethische Argumente auch in Konzepte utilitaristischer Ethik (Dieter Birnbacher) oder einer Diskursethik (Karl-Otto Apel) Eingang gefunden.

Als Diskursethik oder kommunikative Ethik lassen sich verschiedene konkurrierende Modelle bezeichnen, welche die Absicht verfolgen, das Erbe der klassischen deutschen Philosophie (I. Kant, deutscher Idealismus) zu bewahren und mit den neueren Erkenntnissen von Hermeneutik, sprachanalytischer Philosophie und Wissenschaftstheorie zu verbinden. Die Verbindlichkeit ethischer Normen soll sich im intersubjektiven, herrschaftsfreien Diskurs erweisen. Auch die ethische Urteilsbildung soll nach dem Modell der diskursiven Konsenssuche erfolgen. Hauptvertreter einer Diskursethik sind Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas.

► Beispiele
Der Aspekt der Pflichtenlehre begegnet einem z. B. in der Formulierung von Berufspflichten (für Pflegende: Allgemeine Berufspflichten, Pflegedokumentation, Verschwiegenheitspflicht, Anzeigepflicht, Meldepflicht, Auskunftspflicht; vgl. §§ 4 bis 9 des Gesundheits- und Krankenpflegegesetz [GuKG]) und Selbstverpflichtungen im Sinne des Berufsethos.
In den Bereich der Tugendlehre gehört die Diskussion über „professional attitudes” und über die Grundlagen einer Ethik der Fürsorge bzw. der Fürsorglichkeit (Care-Ethik). Zur Güterlehre gehören die Bestimmung der Gesundheit oder des Lebens überhaupt als Gut sowie Komfort als Ziel von Pflege und Therapie. Fragen der Güterlehre werden allgemein dort angesprochen, wo es um Qualität und Qualitätsmanagement in Medizin und Pflege geht.
In die verantwortungsethische Perspektive gehören die Bestimmungen der Eigenverantwortung und der Durchführungsverantwortung in der Pflege. Diskursethische Fragen stellen sich bei allen prozesshaften Verfahren der ethischen Entscheidung im Team oder in einem Gremium (Ethikkommission, Ethikkomitee).

1.5 Theoretische Ethik, angewandte Ethik und Bereichsethik

Begriff und Gegenstand einer Pflegeethik (engl. nursing ethics) gehören in das Gebiet der Angewandten Ethik, die in den letzten Jahren einen starken Aufschwung genommen hat. Fragen der Lebensführung und des ethisch verantwortlichen Handelns sind in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft derart komplex geworden, dass in den zurückliegenden Jahrzehnten eine ganze Reihe verschiedener Bereichsethiken entstanden ist. Beispielhaft seien Wirtschaftsethik, Umweltethik, Wissenschaftsethik, Technikethik, Rechtsethik, politische Ethik, Medienethik oder Medizinethik aufgeführt. Es entspricht dieser allgemeinen Entwicklung, wenn auch für die Pflege eine eigene Form der Bereichsethik entwickelt wird.

Um den allgemeinen Charakter einer Pflegeethik näher zu bestimmen, sind zunächst die Begriffe „Bereichsethik” und „Angewandte Ethik” zu klären. Bisweilen werden sie synonym verwendet, doch besteht zwischen beiden ein Unterschied. Der Begriff der Angewandten Ethik – im Englischen „applied ethics” -suggeriert die Vorstellung einer allgemeinen ethischen Theorie oder allgemeiner ethischer Prinzipien und Kriterien, die jeweils auf konkrete Handlungsfelder oder einzelne Handlungssituationen „angewandt” werden. In diesem Sinne wäre dann streng genommen nicht von „Pflegeethik”, sondern von „Ethik in der Pflege” zu sprechen (analog von „Ethik in der Medizin” statt von „Medizinethik”).

Sofern nicht nur die kasuistische (d. h. Einzelfall-)Anwendung ethischer Prinzipien, sondern die umfassende ethische Reflexion von Therapie- und Pflegeprozessen einschließlich der sozialethischen Analyse von Organisationsformen in Medizin und Gesundheitswesen gemeint sein soll, erscheint der Begriff der „Anwendung” äußerst vieldeutig und unklar (vgl. auch Pöltner 2006, S. 21). Wer oder was wird hier von wem worauf angewendet? Wer ist das Subjekt der Anwendung? Wer sind die Adressaten? Ärztinnen und Ärzte oder Pflegende? Die Patientinnen und Patienten? Die allgemeine Öffentlichkeit? Und bedeutet „Angewandte Ethik”, dass die ethische Reflexion vor dem Handeln steht, oder meint sie die nachträgliche Rechenschaft, z. B. für konkretes Handeln in einem Krankenhaus oder auf einer Station?

Unklar ist auch, was eigentlich in der sogenannten Angewandten Ethik zur Anwendung kommt: Prinzipien, Kriterien und Normen oder Modelle, Paradigmen, Beispiele und Erfahrungen, also das, was man gemeinhin „Topik” nennt? Wenn man Angewandte Ethik im Sinne der Topik versteht, kann jedoch nicht von der Anwendung einer ethischen Theorie gesprochen werden. Zwischen theoretischer und angewandter Ethik besteht nämlich eine Diskrepanz, wie Julian Nida-Rümelin mit Recht feststellt.

Die Vorstellung, alle ethische Urteilsbildung in praktischen Fragen lasse sich auf ein Grundprinzip zurückführen, scheitert nicht nur an der Komplexität der Wirklichkeit, sondern auch an der Vielzahl konkurrierender Ethikansätze. Die klassische Topik aber „beschränkt sich auf ein gewisses Maß an Systematisierung unserer moralischen Alltagsüberzeugungen, ohne den reduktionistischen Ansprüchen der ,reinen' Theorie nachzugeben” (Nida-Rümelin 2005, S. 42).

Unklar ist ferner, auf welche Art und Weise die vermeintliche Anwendung geschehen soll. Heißt „anwenden” soviel wie Ableitung von einer allgemeinen Norm, d. h. ein Urteilsentscheid, der strikt zu befolgen ist, oder ist nondirektive Beratung oder praktische Lebenshilfe gemeint? Ganz konkret wird dieses Problem, wenn es beispielsweise um die Zusammensetzung und die Arbeitsweise von Ethikkommissionen oder klinischen Ethikkomitees geht.

Treffender als durch den Begriff der Angewandten Ethik werden Aufgaben und Gegenstand einer Pflegeethik durch den von J. Nida-Rümelin eingeführten Begriff der „Bereichsethik” charakterisiert. Dieser setzt voraus, dass uns unterschiedliche Praxisfelder „mit unterschiedlichen Arten von Problemen konfrontieren, die unterschiedliche Arten der ethischen Reflexion erfordern” (Fischer 2002, S. 34).

Der Begriff „Bereichsethik” trägt außerdem der Dynamik der Entwicklung auf den jeweiligen Handlungsfeldern besser Rechnung als der Begriff der Angewandten Ethik. Wie der Sachstand der Probleme, so ist auch die Moral einem geschichtlichen Wandel unterworfen, was aber nicht bedeutet, dass es keine moralischen Grundüberzeugungen gibt, die über lange Zeiträume Bestand haben.

So wenig es darum gehen kann, die Moral bzw. das Ethos den vermeintlichen „Sachzwängen” der unterschiedlichen Praxisbereiche anzupassen, so wenig kann das Ziel ethischer Reflexion darin bestehen, „den moralischen Status quo festzuschreiben und zu fixieren. Vielmehr ist sie genötigt, moralische Standards des tradierten Ethos ständig kritisch zu überprüfen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche und individuelle Praxis zu untersuchen” (Honecker 1999, S. 272).

1.6 Zusammenfassung

Moral und Ethik sind zu unterscheiden. Unter Moral bzw. Ethos versteht man die Verhaltensnormen einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe, die aufgrund von Tradition akzeptiert und stabilisiert werden. Ethik ist dagegen die selbstreflexive Theorie der Moral und eine wissenschaftliche Disziplin der Philosophie sowie der Theologie. Sie untersucht die sittlichen Prinzipien und Normen menschlichen Handelns und entwickelt Methoden der moralischen Urteilsbildung. Jeder Begriff von Moral und von Ethik setzt voraus, dass es zur Moral bzw. zu moralischem Handeln fähige Menschen gibt. Moral und Ethik nehmen die Menschen in ihrem Tun und Lassen nicht allein als Träger beruflicher Funktionen oder gesellschaftlicher Rollen, sondern als Personen in den Blick, die eine unantastbare Würde und unveräußerliche Menschenrechte haben.

Individualethik, Personalethik, Sozialethik und Umweltethik sind die vier Grunddimensionen jeder Ethik. Normative und deskriptive Ethik bzw. deontologische und teleologische Ethik sind die Haupttypen der Ethik. Außerdem unterscheidet man zwischen Pflichtenlehre, Tugendlehre und Güterlehre, ferner zwischen prinzipieller Ethik und angewandter Ethik oder Bereichsethiken. Beispiel für eine Bereichsethik ist die Pflegeethik.

1.7 Vertiefende Literatur

Nida-Rümelin, J. (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Kröner, Stuttgart 2 2005

Pauer-Studer, H.: Einführung in die Ethik (UTB 2350). Facultas, Wien 2 2010

Pieper, A. (Hg.): Geschichte der neueren Ethik, 2 Bde. (UTB 1701/1702). Francke Verlag, Tübingen 1992

Pieper, A.: Einführung in die Ethik (UTB 1637). Francke Verlag, Tübingen 6 2007

Quante, M.: Einführung in die Allgemeine Ethik. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 5 2013

2 GESUNDHEITSETHIK, MEDIZINETHIK, PFLEGEETHIK