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Berta Schrems
Verstehende Pflegediagnostik

Berta Schrems

Verstehende Pflegediagnostik

Grundlagen zum angemessenen Pflegehandeln

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

facultas

Berta Schrems

Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung, Studium der Soziologie (Mag. Dr. rer. soc. oec) und der Philosophie (M.A.), Habilitation in der Pflegewissenschaft (Priv. Doz. der Universität Wien), Weiterbildungen in Personal- und Organisationsentwicklung sowie Qualitäts- und Projektmanagement. Freiberuflich tätig in Lehre, Beratung und Forschung.

www.berta-schrems.at

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2. Auflage 2018
Copyright © 2008 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas Universitätsverlag, 1050 Wien, Österreich
Umschlagfoto: © anson tsui, www.fotolia.com
Satz: Wandl Multimedia-Agentur
Korrektorat: Katharina Stadler, Wien
Druck: finidr
Printed in Austria
ISBN 978-3-7089-1688-0
e-ISBN 978-3-99030-707-6

Anstelle eines Vorworts

“If we continue to refuse to trust the subject, the subject will have no reason to trust us.”

(Jack & Roepstorff 2003)

Dank gebührt …

… den Leserinnen und Lesern, die eine zweite Auflage des Buches ermöglicht haben und

… den Studierenden diverser Aus-, Fort- und Weiterbildungen, die mit ihren kritischen Fragen wesentliche Grundlagen zur Aktualisierung, Ergänzung und Überarbeitung der ersten Auflage beigetragen haben.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Verstehende Pflegediagnostik

1 Grundlagen der Verstehenden Pflegediagnostik
1.1 Verstehen ist Auslegen
1.2 Pflegediagnostik als Kunst der differenzierten Unterscheidung
1.3 Erkenntnis, Wissensformen und Beschreibungsebenen

2 Das Modell der Verstehenden Pflegediagnostik
2.1 Subjektives Erleben und andere Beschreibungen der ersten Person
2.2 Wissenschaftliche Erkenntnisse und andere Beschreibungen der dritten Perso
2.3 Verstehen und andere Beschreibungen der zweiten Person
2.4 Angemessenes Pflegehandeln als Qualitätskriterium der Verstehenden Pflegediagnostik
2.4.1 Gesundheitskompetenz
2.4.2 Coping und Adhärenz als Messgrößen für situativ angemessenes Handeln zur Förderung der Gesundheitskompetenz

II Subjektives Erleben und andere Beschreibungen der ersten Person

3 Erlebnis und Erleben
3.1 Das Erleben erleben: Qualia und gelebte Erfahrung
3.2 Erleben und Erlebnis als bedeutungsvolles Geschehen
3.2.1 Erleben als reflexiver Bewusstseinsakt
3.2.2 Sinnzuschreibung durch Selbstauslegung von Erlebnissen
3.2.3 Erleben als Lebensvollzug
3.3 Die erkenntnistheoretische Funktion des Erlebens für die Verstehende Pflegediagnostik

4 Erinnerung und Gedächtnis
4.1 Physiologische Grundlagen der Erinnerung und des Gedächtnisses
4.2 Die erkenntnistheoretische Funktion von Erinnerung und Gedächtnis für die Verstehende Pflegediagnostik

5 Erfahrung
5.1 Erfahrung als spezielle Wissensform
5.2 Erfahrung als Kompetenz, gekennzeichnet durch das Phänomen der Wiederholung
5.3 Innere und äußere Erfahrung als Formen des Bewusstseins
5.4 Erfahrung und Erfahrungshorizont
5.5 Erfahrung und Gesundheitskompetenz
5.6 Die erkenntnistheoretische Funktion der Erfahrung für die Verstehende Pflegediagnostik

6 Eckdaten zur Entwicklungsgeschichte der Introspektionn
6.1 Eckdaten zur Entwicklungsgeschichte der Introspektion
6.2 Möglichkeiten und Grenzen der Introspektionn als Zugang zum Bewusstsein
6.3 Introspektionn als Methode der Verstehenden Pflegediagnostik
6.3.1 Formen und Phasen der Introspektion
6.3.2 Introspektion anleiten und begleiten
6.4 Krankengeschichten der anderen Art
6.5 Die BATHE-Methode: Eine strukturierte Kurzversion zur Erfassung der Bedeutung der aktuellen Situation
6.6 Laut denken: Zeitgleiche Introspektion zur Erfassung des unmittelbaren Erlebens und des Bewältigungspotenzials

7 Deutung von Erleben
7.1 Die Deutung von herausfordernden Verhaltensweisen bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen

III Wissenschaftliche Erkenntnisse und andere Beschreibungen der dritten Person

8 Das Wissen der Wissenschaft
8.1 Evidenz und das Wissen der Wissenschaft
8.1.1 Evidenz im klinischen Kontext
8.1.2 Der phänomenologische Evidenzbegriff
8.2 Hierarchie und Ordnung von wissenschaftlichen Evidenzen
8.2.1 Ursache–Wirkung und Fragen der Effektivität
8.2.2 Qualitativ-beschreibende Forschung und Fragen zur Bedeutung
8.3 Kenntnis der Bedeutung als Voraussetzung für Effektivität
8.4 Assessmentinstrumente und Pflegediagnosen als Beschreibungen der dritten Person
8.5 Zugang zur Evidenz: Formen der evidenzgestützten Pflegepraxis

9 Institutionelles Erfahrungswissen
9.1 Wissensmanagement und Vergemeinschaftung individuellen Erfahrungswissens
9.2 Institutionelles Wissen durch Evaluation

10 Phänomenologie – Die Schaffung von Evidenzen der Lebenswelt
10.1 Entwicklung und Kernelemente der traditionellen Phänomenologie
10.1.1 Das Wesen eines Phänomens
10.1.2 Subjektivität und Gegebenheit
10.1.3 Lebenswelt: Sein, Dasein und Mitsein
10.1.4 Deskriptive Reflexion und Reduktion
10.2 Neuere phänomenologische Strömungen im pflegespezifischen Kontext

IV Verstehen und andere Beschreibungen der zweiten Person

11 Die Kunst des Verstehens
11.1 Das Kontinuum des Verstehens
11.1.1 Die erkenntnistheoretische Funktion von Wissen und Erklären für Verstehen
11.1.2 Verstehen als Erleben des Erlebens

12 Bedeutung – Grundlagen zur Verständigung und zum Verstehen
12.1 Theoretische Grundlagen zum Konzept der Bedeutung
12.1.1 Bedeutung, Wichtigkeit und Relevanz
12.1.2 Bedeutung und Wortbedeutung
12.1.3 Bedeutung und Sinn
12.1.4 Bedeutung als Sinndeutung
12.2 Bedeutung im Rahmen der Verstehenden Pflegediagnostik: Konzeptionelle Grundlagen zur Vermittlung von Beschreibungen der ersten und dritten Person

13 Hermeneutik – Die Kunst und Wissenschaft der Auslegung
13.1 Hermeneutik: Von der Textauslegung zur Auslegung von Lebensäußerungen
13.1.1 Erleben – Ausdruck – Verstehen
13.1.2 Vorurteil und Vorverständnis
13.1.3 Der hermeneutische Zirkel
13.1.4 Objektive Hermeneutik und Arbeit am Einzelfall
13.2 Fallarbeit als Rahmen zur Vermittlung von Beschreibungen der ersten und dritten Person
13.2.1 Konzepte der Fallarbeit
13.2.2 Fallklärung: Wann ist ein Fall ein Fall?
13.2.3 Prozess und Methoden der Auslegung

V Angemessenheit als Ziel der Verstehenden Pflegediagnostik

14 Konzepte der maßgeschneiderten Gesundheitsversorgung
14.1 Personalisierte Gesundheitsversorgung und Pflege
14.2 Personen- und Patientenzentrierte Gesundheitsversorgung und Pflege

15 Konzepte zur Angemessenheit
15.1 Angemessenheit als Ergebnis des Messens
15.2 Angemessenheit der Leistung – Effektivität
15.3 Angemessenheit des Settings – Effizienz
15.4 Angemessenheit des Handelns – Logik der Angemessenheit
15.5 Situative Angemessenheit – der hermeneutische Zugang

Literatur

Einleitung

Pflege hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einen sicheren Platz in den Reihen der wissenschaftlichen Disziplinen erobert. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Absicherung pflegerischen Handelns steht im Zusammenhang mit der demografischen und epidemiologischen Entwicklung und wird in dieser Hinsicht weiter steigen, denn nur mit Erkenntnissen zur Wirksamkeit der Pflege kann dem zukünftigen Pflegebedarf, den steigenden Qualitätsansprüchen und den knappen Ressourcen begegnet werden. Hinzu kommt, dass kranken und der Pflege bedürftigen Menschen immer mehr Selbstverantwortung abverlangt wird. Um die Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen zu können, ist Gesundheitskompetenz nötig. Die Förderung der Gesundheitskompetenz, d. h. des Verstehens, Beurteilens und Anwendens von Informationen zur Krankheitsprävention und -bewältigung, ist eine Kernaufgabe der Pflege, die sie nur erfüllen kann, wenn die individuellen Bedürfnisse und situativen Erfordernisse vor dem Hintergrund allgemeiner Erkenntnisse verstanden werden.

Die wissenschaftliche Fundierung der Pflege ist jedoch nicht alleine ein von außen gesteuerter Prozess, sondern beruht auf den ureigensten Interessen der Pflege, die nur so dem Anspruch einer Profession gerecht werden kann. Der Zuwachs an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen führt dazu, dass pflegerisches Handeln nicht alleine mit persönlichen und institutionellen Erfahrungen, sondern gleichermaßen durch theoretische und empirische Erkenntnisse aus der Forschung zu begründen ist. Für die Praxis der Pflege bedeutet dies die Zusammenführung von zwei sehr unterschiedlichen Formen des Wissens. Wissenschaft umfasst empirische Erkenntnisse gleichermaßen wie Begriffe, Konzepte und Theorien, in die Erstere gefasst werden. Sie ist kein Abbild der Realität, sondern eine nach festgelegten und nachvollziehbaren Regeln konstruierte Wirklichkeit. Wissenschaft stellt eine Außenperspektive dar und leistet einen Beitrag zum Verstehen der Realität. Das kennzeichnende Merkmal ist Gemeinsamkeit, d. h. die Abstraktion vom Einzelfall, um allgemein gültige Aussagen tätigen zu können. Der Bezugspunkt sind Populationen. Dieser Außenperspektive Wissenschaft steht die Innenperspektive der Pflegepraxis gegenüber. Ihr Ziel ist es, wirksam in die Realität einzugreifen, sei es um Gesundheit zu erhalten, sei es um begleitend und unterstützend bei Krankheit bzw. bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Seite zu stehen. Dazu sind die Erkenntnisse der Wissenschaft notwendig, aber nicht ausreichend, weil sie keine Aussagen zum konkreten Erleben, zur Bedeutung, zu Erfahrungen und zum Leiden von Individuen machen. Dazu bedarf es der Erkenntnisse der erlebenden und erfahrenden Person, der Bezugspunkt ist das Individuum und das kennzeichnende Merkmal der Unterschied. Zur umfassenden Beschreibung eines Phänomens bzw. zur Lösung eines Problems sind beide Erkenntnisebenen notwendig, denn gleich viel oder wenig wie mit den Erkenntnissen der Wissenschaft etwas über das konkrete Individuum in Erfahrung gebracht werden kann, gleich viel oder wenig können die Erkenntnisse des Individuums alleine Auskunft über mögliche Ursachen und effektive Lösungen geben.

In der Praxis erfolgt die Implementierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen mittels des sogenannten Evidence-based-Konzepts. Evidenz im engeren Sinne meint in Anlehnung an das medizinische Konzept wissenschaftliche Erkenntnisse. In diesem Zusammenhang wird auch von externer Evidenz gesprochen, wodurch die Außenperspektive noch einmal deutlich wird. Zur externen Evidenz zählen neben Erkenntnissen aus systematischen Reviews, randomisiert kontrollierten Studien und Metaanalyen, die auf dem phänomenologischen Ansatz basierenden und mit qualitativen Untersuchungsmethoden gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum subjektiven Erleben und zur Bedeutung von Krankheit, auch wenn diese auf der Suche nach dem „Gold-Standard“ in den Hintergrund gedrängt werden. Die Qualität einer professionellen Pflege erschöpft sich nicht in den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Evidence-based Practice (EBP) umfasst die Kombination von der bestmöglichen wissenschaftlichen Evidenz mit klinischem Wissen und klinischen Erfahrungen sowie mit den Präferenzen von KlientInnen und den vorhandenen Ressourcen bzw. lokalen Daten. Innerhalb dieser Vierheit liegen die Möglichkeiten angemessenen Pflegehandelns. Die wissenschaftliche Evidenz gilt es im Rahmen des Pflegeprozesses mit diesen anderen Wissensquellen abzustimmen.

Für die Pflegepraxis lässt sich feststellen, dass es an Konzepten zur Erfassung der individuellen Bedeutung, an der Fundierung standardisierter Instrumente mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Bedeutung und an Praxiskonzepten zur Zusammenführung der beiden Erkenntnisebenen mangelt. Dieser Mangel führt zu einer Fokussierung der Professionalisierung auf das Wissen der empirisch-quantitativen Wissenschaft, wodurch die Verschiedenheit der im Pflegeprozess wirksam werdenden Erkenntnisformen zu einer Hierarchie des mehr oder weniger gültigen Wissens wird. Die Konsequenz ist, dass mit der Implementierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Pflegepraxis ein Nebeneinander oder Gegenüber von Erkenntnissen entstanden ist und der praktische Nutzen des wissenschaftlichen Wissens in der Erkenntnis per se gesucht wird. Dies entspricht jedoch nicht der Funktion der Wissenschaft für die Praxis und noch viel weniger dem EBP-Konzept. Wissenschaft liefert nicht die Antwort auf eine praktische Frage, sondern die Fundierung einer Antwort, die in der konkreten Situation an konkrete Personen gebunden und entsprechend auszulegen ist. Mit der Zusammenführung der unterschiedlichen Wissensquellen zu einer neuen Erkenntnis wird auch der Gefahr eines Evidenzpaternalismus (Allmark 2015) begegnet. Gleichzeitig erhöhen sich damit die Möglichkeiten des Handelns. Es muss eine Wahl, die der passenden Problembeschreibung in Form einer Pflegediagnose und einer angemessenen Handlung in Form einer Pflegeintervention, getroffen werden.

Evidence-based Practice wird häufig auf die Wirksamkeit von Pflegeintervention reduziert. Die Entwicklung einer eigenen Fachsprache – ein zentrales Merkmal einer Profession – zur Bezeichnung eines Pflegeproblems bedarf jedoch ebenso der wissenschaftlichen Fundierung, die sich in der Ordnung und Klassifizierung des Wissensbestandes widerspiegeln muss. Die Pflegeklassifikationen verallgemeinernden Begriffe dienen der professionellen Kommunikation, die die individuelle Erlebens- und Erfahrungswelt jedoch nur bedingt abbilden können. Dies bedeutet eine Entfremdung von der Alltagssprache, die von kontext-, regions- und schichtspezifischen Unterschieden gekennzeichnet ist. Die verallgemeinerte Fachsprache ist eingleisig und asymmetrisch, sie weist von ExpertInnen zu KlientInnen. Ein Rückzug auf die Fachsprache würde Verstehen ausschließen und der Kommunikation und Förderung der Gesundheitskompetenz abträglich sein. Die Verstehende Pflegediagnostik setzt konzeptionell an der Zusammenführung der verschiedenen Erkenntnis- und Sprachebenen an. Es geht dabei nicht um einen Wettstreit des besseren oder richtigen Wissens oder gar um Wahrheit, sondern um die Vermittlung der Erkenntnisse als gleichberechtigte Erkenntnisquellen. Die Verstehende Pflegediagnostik stellt sozusagen das fehlende Glied oder den „Missing Link“ zwischen Wissenschaft und Pflegepraxis dar. Die Aufgabe der Pflegepraxis besteht darin, die individuellen oder subjektiven Erkenntnisse der erlebenden Person in der konkreten Pflegesituation zu erfassen und vor dem Hintergrund der abstrakten Begriffe oder objektivierten Erkenntnisse der Wissenschaft zu beurteilen – kurz, ein Problem zu verstehen. Verstehen als die Vermittlung von objektivierten und subjektiven Wissensbeständen stellt somit eine weitere Erkenntnisebene und die Grundlage jeglichen Pflegehandelns dar.

Ziel und Aufbau des Buches

Ziel des Buches ist es, das theoretische Fundament der Verstehenden Pflegediagnostik darzustellen und in ein Modell zu fassen. Das Modell der Verstehenden Pflegediagnostik ist ein Strukturmodell, das es je nach Bereich oder Thema entsprechend mit Inhalten zu füllen gilt. Beispiele dazu finden sich in den einzelnen Abschnitten. Die theoretischen Grundlagen stammen aus den Kognitionswissenschaften, der Philosophie, im Speziellen der Phänomenologie und der Hermeneutik, sowie der Pflegewissenschaft und bauen auf den Grundkenntnissen der Pflegediagnostik auf. Die Auswahl der Grundlagen und der Umfang der Darstellung orientieren sich an den Anforderungen des Modells, in dem es verschiedene Perspektiven zu vereinen gilt.

Das Buch besteht aus fünf Abschnitten. Jeder Abschnitt beginnt mit der Darstellung der Relevanz des Themas für die Verstehende Pflegediagnostik und umfasst Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen sowie die Übertragung derselben in einen pflegespezifischen Kontext. Der Zusammenhang der einzelnen Teile oder Abschnitte wird im ersten Teil, in der Darstellung des Modells der Verstehenden Pflegediagnostik, und im letzten Teil, in den Ausführungen zum Thema Angemessenheit, ersichtlich.

Teil I: Verstehende Pflegediagnostik

Im ersten Teil des Buches werden die zentralen Begriffe des Modells – Verstehen, Pflegediagnostik und Erkenntnis – in ihrer Verwendung geklärt und verschiedene Erkenntnisformen und -quellen sowie deren Rolle in der Verstehenden Pflegediagnostik dargestellt. Darauf aufbauend folgt die Vorstellung des Modells der Verstehenden Pflegediagnostik. Das Modell ruht auf drei zentralen Erkenntnisebenen, die analog dem Grad der Entfernung vom unmittelbar Erlebenden als Beschreibungen der ersten, der zweiten und der dritten Person bezeichnet werden. Die Einführung in das Modell wird abgerundet mit der Darstellung der Konzepte Angemessenheit und Gesundheitskompetenz. Dabei stellt Angemessenheit mit den Messkriterien Coping und Adhärenz die Voraussetzung bzw. den Ausgangspunkt zur Einschätzung der Gesundheitskompetenz dar.

Teil II: Subjektives Erleben und andere Beschreibungen der ersten Person

Im zweiten Teil werden Beschreibungen der ersten Person dargestellt. Sie umfassen das unmittelbare Erleben, die Erinnerung und die Erfahrung von und mit Krankheit und/oder Krankheitsphänomenen. Die allgemeinen theoretischen Grundlagen werden mit Beispielen zur Erfassung und Förderung der Gesundheitskompetenz und dem Pflegephänomen Schmerz in den pflegespezifischen Kontext gebracht. Als Mittel zur Erfassung der Beschreibungen der ersten Person werden verschiedene Formen der Introspektion sowie Grundlagen zur Deutung von Erleben vorgestellt.

Teil III: Wissenschaftliche Erkenntnisse und andere Beschreibungen der dritten Person

Teil drei umfasst Beschreibungen der dritten Person und beinhaltet die Erkenntnisse der Wissenschaft sowie institutionelles Erfahrungswissen. Im Zusammenhang mit den Ausführungen zu den Beschreibungen der ersten Person erfolgt in diesem Abschnitt eine kritische Reflexion des klinischen Evidenzbegriffs. Dabei wird vertieft auf die Generierung von allgemeinen Erkenntnissen zum Wesen von Krankheitsphänomenen und im Speziellen auf den phänomenologischen Ansatz eingegangen. Die Herstellung der pflegespezifischen Relevanz erfolgt auch hier am Beispiel des Pflegephänomens Schmerz und der Gesundheitskompetenz. Der Zugang zu Beschreibungen der dritten Person wird über den Prozess der evidenzgestützten Pflegepraxis dargestellt.

Teil IV: Verstehen und andere Beschreibungen der zweiten Person

Im vierten Teil des Buches stehen die Beschreibungen der zweiten Person im Zentrum. Sie basieren auf Verstehen im Sinne der Vermittlung zwischen der pflegefachlichen Relevanz und der individuellen Bedeutung von Gesundheits- und/ oder Krankheitsphänomenen. Im Zentrum steht die Auslegung des subjektiven Erlebens, also der Beschreibungen der ersten Person, vor dem Hintergrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen, d. h. der Beschreibungen der dritten Person. Die theoretischen Konzepte dazu sind Verstehen, Bedeutung und Hermeneutik. Die Strukturierung des Auslegungsprozesses orientiert sich am hermeneutischen Zirkel, der am Beispiel der Arbeit mit standardisierten Instrumenten und am Beispiel der Fallarbeit dargestellt wird. Die Einbettung in den pflegespezifischen Kontext folgt den Anforderungen einer Auslegung, indem der Rahmen vom konkreten Phänomen Schmerz in Verbindung mit Gesundheitskompetenz hin zu subjektiven Krankheitskonzepten als Deutungsschemata erweitert wird.

Teil V: Angemessenheit als Qualitätskriterium der Verstehenden Pflegediagnostik

Den Abschluss des Buches bildet das Kapitel zur Angemessenheit als Qualitätskriterium des Pflegehandelns. Pflegerisches Handeln findet nicht in einem Vakuum statt, sondern in Institutionen, d. h., die Beschreibungen der ersten und der dritten Person sind ebenso vor diesem institutionellen Hintergrund auszulegen. Den Rahmen dazu bilden Konzepte zur Angemessenheit der Leistung, des Settings, des Handelns und der Situation. Die pflegepraktische Relevanz wird wiederum mit Praxisbeispielen verdeutlicht. Die Zusammenführung der Beschreibungsebenen mit einem institutionellen Handlungsrahmen stellt ein Anwendungsbeispiel der Verstehenden Pflegediagnostik dar.

I Verstehende Pflegediagnostik

„In essence we cannot even define successful management in the individual case without referring to personal understandings of the patient. What may be successful management for me, may not be successful management for you if we have very different preferences and life plans, even if we have ‘the same medical condition’.” (Holm 2005, 163)

Mit dem verstehenden Ansatz in der Pflegediagnostik werden die Grundlagen für ein der Situation und dem Problem angemessenes Pflegehandeln geschaffen. Die Verstehende Pflegediagnostik beruht auf dem Erkenntnisprozess des Diagnostizierens (Schrems 2003), wobei die Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen gewonnen und zusammengeführt werden. „Verstehend“ bezeichnet hierbei den spezifischen Vermittlungsprozess zwischen subjektivem Erleben und persönlichen Erfahrungen von Individuen und objektiven oder objektivierten Erkenntnissen von Wissenschaft und Institutionen.

1 Grundlagen der Verstehenden Pflegediagnostik

Verstehen als das Auslegen von Worten, Handlungen und Verhalten basiert auf einem Vorverständnis, das auch dem gesamten Prozess des Diagnostizierens zugrunde liegt. Das Vorverständnis umfasst das subjektive Erleben, die Erinnerung und die Erfahrung, basierend auf Beschreibungen der ersten Person, und allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisse und institutionelles Erfahrungswissen, basierend auf Beschreibungen der dritten Person. In der Vermittlung der beiden Ebenen entsteht eine neue Erkenntnis, die weder individuell noch allgemein ist und in diesem Sinne eine Beschreibung der zweiten Person darstellt.

Die Grundlagen der Verstehenden Pflegediagnostik sind das Verstehen, der Prozess des Diagnostizierens und Erkenntnisse unterschiedlicher Beschreibungsebenen. Sie stellen das Fundament aller weiteren Ausführungen dar und bedürfen vorab einer begrifflichen Klärung. Die dahinter liegenden Konzepte finden sich in den einzelnen Kapiteln näher ausgeführt.

1.1 Verstehen ist Auslegen

Verstehen bedeutet einen Sinnzusammenhang zu erfassen, indem etwas als etwas verstanden bzw. ausgelegt wird. „Auslegung ist nicht ein zum Verstehen nachträglich und gelegentlich hinzukommender Akt, sondern Verstehen ist immer Auslegung, und Auslegung daher die explizite Form des Verstehens.“ (Gadamer 1990, 312) Allgemein findet sich Verstehen in vier Ausdrucksformen (Metzler Philosophie Lexikon 1999):

Verstehen von Sprache, von Worten und deren Bedeutungen
z. B. Angst als Pflegediagnose, als Krankheitsbild, im Unterschied zu Furcht
Verstehen von Handlungen oder Verhalten
z. B. das Nichteinhalten einer Behandlungsvorschrift als fehlende Kooperation oder als autonome Entscheidung im Rahmen des Selbstmanagements
Verstehen von Erlebnis- oder Gefühlsausdruck
z. B. Tränen als Ausdruck von Trauer oder Freude
Sachverhalts- oder Ereignisverstehen
z. B. Inkontinenz als Begleiterscheinung einer Krankheit oder als Folge von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen

Für die Verstehende Pflegediagnostik sind alle vier Ausdruckformen (Sprache, Handeln bzw. Verhalten, Emotionen und Situationen) relevant und können auf zweierlei Art verstanden werden (Mittelstraß 2004). Ereignisbezogenes Verstehen bezieht sich auf die Einbettung sprachlicher Regeln in institutionelle Regeln des Handelns. Nur in dieser Zweiheit kann ein Ereignis, eine Handlung oder ein Verhalten in seinem Sinn verstanden und muss nicht in jeder ähnlichen Situation neu ausgelegt werden. Voraussetzung ist, dass beide Regelsysteme, das der Sprache und das der Institution, bekannt sind. Die Alltagssprache ist in eine derartige Form des Verstehens eingebunden. Auf dieser Ebene des Verstehens wird keine neue Erkenntnis geschaffen, sondern Bekanntes angewendet. Ein Beispiel dazu wäre die Aussage: „Sie müssen heute nüchtern bleiben.“

Die zweite Art umfasst Verstehen als Auslegen oder auch hermeneutisch orientiertes Verstehen und stellt einen schöpferischen Akt dar, der die Individualität der auszulegenden Person benötigt. Grundlagen sind die individuelle Intention sowie der soziale, kulturelle und biografische Kontext der Handelnden, die in der jeweils gegebenen Situation kommunikativ ausgetauscht und verstanden werden müssen. Bei dieser Form des Verstehens wird im Rahmen eines Dialogs Neues geschaffen, es ist dies ein kreativer Prozess. Verstehen bedeutet hierbei nicht Konsens oder Übereinstimmung, sondern ein aufeinander Bezugnehmen, ein einander Weiterführen und wechselseitiges Kommentieren. Eine Äußerung in Form einer Aussage, einer Handlung oder eines Verhaltens ist dann verstanden, wenn auf diese Formen von Äußerungen reagiert wird. Dies kann entweder die Zustimmung einer Aussage oder Ausführung einer Handlung, deren Zurückweisung oder ein Gegenvorschlag sein. Ein Beispiel dazu wäre, das Rückzugsverhalten eines kranken und durch Krieg und Flucht traumatisierten Menschen zu verstehen.

Die Auslegung, ob ein Ereignis oder ein Phänomen als etwas Bekanntes oder als etwas Neues verstanden wird, geschieht vor dem Hintergrund des Vorverständnisses der auslegenden Person. Dieses Vorverständnis generiert sich aus unterschiedlichen Wissens- und Erkenntnisformen, wie dem subjektiven Erleben, der Erfahrung bzw. der Intuition. Findet der Auslegungsprozess im pflegespezifischen Kontext statt, kommen institutionelles Fachwissen und wissenschaftliche Erkenntnisse hinzu. Auf welche der Quellen in welchem Ausmaß zugegriffen wird, bestimmen die jeweils geltenden Regeln der Auslegung (siehe Kap. 15.4).

1.2 Pflegediagnostik als Kunst der differenzierten Unterscheidung

Die Kernelemente der Pflegediagnostik sind Unterscheiden, Beurteilen und Erkennen (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 2000). In der Pflegediagnostik richten sich diese auf Reaktionen von Individuen, Familien und sozialen Systemen auf Gesundheits- und Krankheitsphänomene. Mit dem Begriff „Pflegediagnose“ wird auf folgende Definition Bezug genommen: „Eine Pflegediagnose ist eine klinische Beurteilung (clinical judgement) einer menschlichen Reaktion auf Gesundheitszustände/Lebensprozesse oder die Vulnerabilität eines Individuums, einer Familie, Gruppe oder Gemeinschaft für diese Reaktion.“ (Gallagher-Lepak 2016, 49)

Unterscheiden bezieht sich auf die Gegenstands- oder Zustandsebene. Die Kunst des Diagnostizierens liegt in der differenzierten Unterscheidung und wird durch das Potenzial an Unterscheidungsmöglichkeiten der BeobachterInnen bestimmt. Diese ergeben sich z. B. aus der Kenntnis von Normalzustand und Abweichung oder aus dem Unterschied zwischen zwei Abweichungen. In der Pflege häufig vorkommende Unterscheidungsebenen sind:

normal und abweichend (z. B. Blutdruck)
für bestimmte soziale Gruppen zutreffend (z. B. Männer/Frauen, Kinder, alte Menschen)
zwischen Phänomenen einer Kategorie (Stress-/Reflexharninkontinenz)
auf der zeitlichen Ebene (tagsüber/nachts, gestern/heute)
im Hinblick auf Wirkung/Folgen von Handlungen (vor/nach einer Pflegeintervention)

Das Potenzial an Unterscheidungsmöglichkeiten ist ausschlaggebend für die Güte der Pflegediagnostik und es ist auch dafür verantwortlich, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist, die in der Verstehenden Pflegediagnostik nicht nur auf objektivierbare und zu beobachtende Merkmale beschränkt bleibt, sondern auch das Erleben der betroffenen Person erfasst.

sometxtBeispielsweise können bei an Demenz erkrankten Menschen verbal aggressive Äußerungen, wie Schreien, Wiederholen von Tönen und Lauten, Fluchen, Grunzen etc., als Zeichen der Erkrankung oder als Reaktion auf die Umwelt gedeutet werden (Halek & Bartholomeyczik 2006, Bartholomeyczik et al. 2006). Zum Krankheitsbild gehörend sind sie gewissermaßen normal, dennoch stören sie das soziale Umfeld. Werden diese verbalen Äußerungen aber nicht nur als Symptom oder als Störung betrachtet, sondern als Form der Mitteilung oder als menschliche Reaktion auf eine Reizüberflutung oder Reizarmut der Umgebung, können die Unterscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten vermehrt werden.

In einem nächsten Schritt gilt es, das Wahrgenommene zu ordnen bzw. in vorhandene Ordnungen zu integrieren. Die Ordnungen dienen als Deutungsmuster.

„Einzelne Daten werden dabei in eine Klasse integriert und als unter eine die Klasse konstituierende Eigenschaft fallend erkannt.“ (Metzler Philosophie Lexikon 1999, 145 f.) Gleichzeitig mit der Unterscheidung erfolgt die Bezeichnung und Zuordnung derselben, d. h. es müssen für die Wahrnehmungen auch Begriffe vorhanden sein, die in einem größeren Zusammenhang Sinn machen (Schrems 2003). Zur Unterscheidung eines beobachteten Phänomens von anderen, ähnlichen Phänomenen gilt es diese anderen und ihre Zeichen ebenso zu kennen und begrifflich zu erfassen. George Spencer-Brown nannte in seinem Werk „Kalkül der Form“ die Unterscheidung von etwas Bestimmtem von etwas Unbestimmtem eine Distinktion (Winter 1999). Die Distinktion lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass etwas anders ist, etwas abweicht. Um feststellen zu können, worum es sich konkret handelt und was es bedeutet, muss das Bestimmte von etwas Bestimmtem unterschieden werden. Diese benennbare Unterscheidung wird von Spencer-Brown Differenz genannt. Sie ist notwendig, um einen erkannten Unterschied auch entsprechend einordnen zu können. Das heißt, um eine Diagnose stellen zu können, reicht es nicht aus, die Merkmale zu erkennen und zu benennen, sondern diese müssen auch von Merkmalen anderer Diagnosen unterschieden werden. Erkenntnistheoretisch ist neben der Unterscheidungsfähigkeit auch die Zuordnungsfähigkeit von Bedeutung. Die Gestalt standardisierter Pflegediagnosensysteme weist demnach die folgenden grundlegenden Aspekte auf:

Unterscheidungsmerkmale,
Begriffe bzw. Bezeichnungen,
Ordnungsmerkmale bzw. Klassifizierungen.

sometxt Um herausforderndes Verhalten zuordnen zu können, müssen die Zeichen des Verhaltens sinnlich wahrgenommen und von anderen, ähnlichen Verhaltensformen unterschieden werden (z. B. Aggression, Überreizung, Entspannungsübung). Es müssen demnach auch die Merkmale ähnlicher Zustände bekannt und in irgendeiner Weise abrufbar sein. Eine Distinktion wäre z. B. die Wahrnehmung einer schreienden Person. Die Ursachen des Schreiens können krankheits- oder umweltbedingt sein oder es kann sich auch einfach um einen Akt der Befreiung handeln. Nur wer weiß, dass sich Verhalten als Mitteilung darstellt, kann diese entziffern und von anderen psychosozialen Zuständen unterscheiden, d. h. eine Differenz feststellen.

Beurteilen umfasst die Zuschreibung der Bedeutung der Unterscheidung durch die Pflegeperson und die zu pflegende Person und/oder deren Umfeld. Die Beurteilung eines Phänomens erfolgt auf zwei Ebenen: der pflegefachlichen Relevanz und der individuellen Bedeutung. Die Beurteilung der fachlichen Relevanz und der individuellen Bedeutung ist an Personen und ihr Wissen und ihre Erfahrung gebunden. Dies kann heißen, dass etwas selbst erlebt, durch Beobachtung erfahren oder rein kognitiv auf der Wissensebene verankert ist. Fachliche Relevanz wie auch individuelle Bedeutung stehen im Zusammenhang mit dem Kontext, in dem die Unterscheidung getroffen wird.

sometxt Wird das Beispiel der verbalen Äußerungen von an Demenz erkrankten Menschen in den Kontext der Person und Situation überführt, dann kann die individuelle Bedeutung aus der Lebensgeschichte der Person, die z. B. Sängerin oder Verkäuferin an einem Marktstand war, ausgelegt werden. Die Bedeutung für die Person kann als identitätsstiftendes Verhalten in der Ausübung von Lebensgewohnheiten verstanden werden. Sie kommt damit einem Bedürfnis nach, das z. B. vor dem Hintergrund des „Need driven dementia compromised behaviour model“ (kurz NDB) in seiner pflegefachlichen Relevanz als eine Form der Krankheitsbewältigung bzw. des Copings beurteilt werden kann (Halek & Bartholomeyczik 2006, Bartholomeyczik et al. 2006).

Erkennen oder Einsicht in eine Sache zu erlangen erfolgt durch das Ziehen von Schlüssen und dient der Begründung des Handelns oder der Unterlassung desselben. Das Ergebnis des Erkennens ist die Erkenntnis, die sich in der Bezeichnung des Problems und den davon abgeleiteten Zielen und Maßnahmen findet.

sometxt So könnte am Beispiel der „singenden bzw. anpreisenden Bewohnerin einer Altenpflegeeinrichtung“ die Erkenntnis lauten, dass Maßnahmen zur Verhinderung des Schreiens identitätsstörend sind und möglicherweise zu einer Verstärkung des Phänomens, zum sozialen Rückzug oder zu einem nicht vorhersagbaren Effekt führen können. Als Schlussfolgerung bietet sich an, nicht das Singen oder Schreien der Bewohnerin als Problem zu sehen – sie verhält sich nach den ihr gegebenen Möglichkeiten normal –, sondern das gestörte Umfeld. In diesem liegen dann auch Problemlösungen, z. B. in der Schaffung von Möglichkeiten für andere BewohnerInnen, nicht ständig dem Lärm ausgesetzt zu sein (Bartholomeyczik et al. 2006).

Erkennen weist auch die Dimension der Verallgemeinerung einer Erkenntnis auf. Im klinischen Zusammenhang ist dies das institutionelle Erfahrungswissen, im Zusammenhang mit Forschung ein allgemein anerkanntes Ergebnis der Wissenschaft. Beide Ebenen der Erkenntnis sind wiederum Voraussetzung, um Unterscheidungen (normal/abweichend) treffen und beurteilen (relevant/irrelevant – bedeutsam/unbedeutend) zu können (Abb. 1).

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Abb. 1: Zusammenwirken der diagnostischen Kernkompetenzen

1.3 Erkenntnis, Wissensformen und Beschreibungsebenen

Der diagnostische Prozess ist ein intentionaler Erkenntnisprozess, d. h., er ist auf etwas gerichtet, wie z. B. auf die Bedeutung einer bestimmten Erkrankung oder die Wirkung von Maßnahmen. Der Gestaltung des Prozesses liegen verschiedene Erkenntnisquellen und Formen des Wissens zugrunde, wobei die Erlangung von Erkenntnis Wissen voraussetzt. Erkenntnis bedeutet allgemein: „[…] vom Bewusstsein der Wahrheit begleitete Einsicht eines Erkenntnissubjekts in einen objektiven Sachverhalt (Erkennen) und das Ergebnis dieses Vorgangs, das Erkannte. Unmittelbare E. durch Anschauung der Sache (intuitive E.) unterscheidet sich von der mittelbaren (diskursiven E.). Letztere schließt begriffl. Vermittlung, log. Folgern und Schließen ein. Des Weiteren wird unterschieden zw. derjenigen E., die auf dem Wege der Erfahrung gewonnen wurde (a posteriori), und derjenigen, die auf dem Wege reinen Vernunftdenkens (a priori) zustande kommt. (Denken)“ (Meyers Großes Taschenlexikon 2001) Dieser allgemeinen Definition von Erkenntnis folgend können für den Diagnoseprozess drei Aspekte der Erkenntnis unterschieden werden:

Erkenntnisprozess (intuitiv, logisch, diskursiv)
Erkenntnisquellen (Erfahrung, Denken)
Ergebnis des Erkennens (Wissen, Erkenntnis)

Übertragen auf die Pflegediagnostik können Probleme von KlientInnen entweder intuitiv, d. h auf einer breiten Basis an Erfahrungen, logisch, d. h. einem rationalen Denkprozess folgend, oder im Diskurs, d. h. kommunikativ erschlossen werden. Das Ergebnis dieser unterschiedlichen Prozesse ist entweder Wissen oder Erkenntnis, wobei „[…] ‚Wissen‘ in der Regel nicht als Erfolgswert wie ‚Erkenntnis‘, sondern als Dispositionswert verwendet wird: Wissen ist ein Besitz im Sinne eines Vermögens, d. h. eines in bestimmten Situationen zu etwas Bestimmten Befähigtseins.“ (Schnädelbach 2013, 32 f.) In diesem Sinne stellt die Pflegediagnose die Erkenntnis dar, deren bestimmende Voraussetzung das Wissen ist. Da in vielen Fällen eine Erkenntnis aus früheren Situationen als Dispositionswert für aktuelle Entscheidungen herangezogen wird, werden die Begriffe Erkenntnis und Wissen in den weiteren Ausführungen nicht streng voneinander getrennt verwendet. Ein Blick in die Geschichte der Erkenntnistheorie zeigt, dass die Unterscheidung verschiedener Wissensformen eine lange Tradition hat und einem steten Wandel in der Bewertung, jedoch nicht in den Grundformen unterliegt. Aristoteles z. B. unterscheidet in seinem Werk „Metaphysik“ Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung, Wissenschaft und Kunst (Aristoteles, Metaphysik, Reclam 2005). Die Bedeutung der jeweiligen Wissensform wird nicht durch deren Rang in einer Hierarchie bestimmt, sondern durch die Tatsache, dass jede Form sich als eine bestimmte Form der Überzeugung darstellt und entsprechend zu behandeln ist. „Schon Aristoteles wusste: Es gibt kein voraussetzungsloses Wissen. (Anal pr 71 a) Ihm zufolge ist es ein Kennzeichen vor allem des wissenschaftlichen Wissens, daß es begründet werden kann; aber auch alle anderen Wissensformen schließen ein, daß man nach dem Grund des jeweiligen Überzeugtseins fragen darf; wenn das nicht der Fall ist, handelt es sich um bloße Meinungen.“ (Schnädelbach 2013, 37)

In der Modellierung der Verstehenden Diagnostik wird auf die Arbeit von Francisco Varela und Jonathan Shear „First-person Methodologies: What, Why, How?“ (1999) und deren unterschiedliche Beschreibungsebenen Bezug genommen. Das Interesse der Autoren liegt in der Entwicklung einer umfassenden kognitiven Theorie des Bewusstseins durch die Überwindung der traditionellen Körper-Geist-Trennung bzw. der Zuschreibung von „physisch und beobachtbar = objektiv“ und „psychisch und mitteilbar = subjektiv“. Die Autoren argumentieren, dass das tief verwurzelte Misstrauen der exakten Wissenschaften gegenüber allem Subjektiven einen Mangel an Erhebungsmethoden desselben zur Folge hatte. Ihr Ziel ist es daher, eine Methode zur Erfassung individuellen Erlebens und persönlicher Erfahrungen – sie sprechen von „first-person, subjective experiences“ – zu entwickeln und so das Subjektive als explizite und aktive Komponente in die Theorien zum Bewusstsein aufzunehmen. Voraussetzung dafür ist die Kenntnis, auf welche Art auf das subjektive Erleben und die Erfahrungen zugegriffen und die Verbindung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen hergestellt werden kann. „The subjective is intrinsically open to intersubjective validation, if only we avail ourselves of a method and procedure for doing so. […] The apparent familiarity we have with subjective life must give way in favour of the careful examination of what it is that we can and cannot have access to, and how this distinction is rigid or variable. […] We need to harmonize and constrain them by building the appropriate links with third-person studies. […] To make this possible we seek methodologies that can provide an open link to objective, empirically based description.” (Varela & Shear 1999, 2) Auch wenn sich das Anliegen dieses Buches wesentlich praktischer als das Vorhaben von Varela & Shear darstellt, sind die Grundvoraussetzungen dieselben.

sometxt Ein Anwendungsbeispiel für die Beschreibungsebenen der ersten, zweiten und dritten Person im Zusammenhang mit Vulnerablität (Verletzlichkeit) findet sich in der ethnografischen Studie von Lone Grøn „Old age and vulnerability between first, second and third person perspectives. Ethnographic explorations of aging in contemporary Denmark“ (2016). Die Erste-Person-Perspektive ist jene des Erlebens von Alter und Vulnerabilität der älteren Menschen selbst. Die Dritte-Person-Perspektive ist jene, wie über Alter und Vulnerabilität allgemein gesprochen und geschrieben wird bzw. wie sie klassifiziert und kategorisiert werden. Die Zweite-Person-Perspektive ist jene, wie involvierte Personen, wie z. B. Pflegepersonen, Alter und Vulnerabilität erfahren. Die Autorin kann mit der analytischen Trennung der drei Perspektiven deren Verwobenheit und Zusammenspiel deutlich aufzeigen: „By paying attention to the intersection and negotiation between first, second and third-person perspectives on old age and vulnerability, we can provide an experience-near analysis, which integrates individual experience, social interaction and the structural and discursive context, and allows us to document the complex interplay between vulnerability and agency in diverse situations and settings of old age.“ (Grøn 2016, 29 f.)

Zur Fundierung des Modells der Verstehenden Pflegediagnostik werden die Wissensformen nach Aristoteles den verschiedenen Beschreibungsebenen zugeordnet:

Wahrnehmung, Erleben, Erinnerung und Erfahrung stellen Beschreibungen der ersten Person dar.
Erkenntnisse der Wissenschaft werden erweitert durch institutionelles Erfahrungswissen; sie stehen für Beschreibungen der dritten Person.
Kunst und das Verstehen als eine Ausdrucksform davon stellen den Ausgangspunkt für die vermittelnden Beschreibungen der zweiten Person dar.

Das Modell der Verstehenden Pflegediagnostik liefert die Grundlagen zur Erfassung des subjektiven Erlebens und der Erfahrungen als Beschreibungen der ersten Person, stellt die Verbindung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen als Beschreibungen der dritten Person her und schafft auf der Ebene der Beschreibungen der zweiten Person die Grundlagen für das Verstehen.

2 Das Modell der Verstehenden Pflegediagnostik

Das Modell der Verstehenden Pflegediagnostik begreift sich als deskriptives Strukturmodell, das auf Grundelementen des menschlichen Daseins basiert und dem Pflegeprozess als Erkenntnisprozess hinterlegt ist. Es ist allgemein formuliert, d. h., es bezieht sich weder auf eine bestimmte Klientengruppe noch auf ein bestimmtes Pflegesetting. In diesem Sinne kann das Modell auch auf andere diagnostische Bereiche, in denen die Vermittlung von subjektivem Erleben und objektiven Erkenntnissen zentral steht, übertragen werden.

Dem Modell der Verstehenden Pflegediagnostik liegt folgende Definition zugrunde: „Verstehende Diagnostik ist ein Zugang zu einer Pflegesituation, in der die Probleme nicht allein aus der objektivierenden Sicht der professionell oder privat Helfenden, sondern auch aus der der betreffenden Person definiert werden.“ (Bartholomeyczik et al. 2006, 61) Der Zugang zu einer Pflegesituation wird durch das Vorverständnis der Beteiligten bestimmt. Das Vorverständnis ist geprägt durch ein an die Lebenswelt gebundenes Erleben, durch Erfahrungen, durch Normen und Werte sowie durch das in der Aus- und Weiterbildung angeeignete und wissenschaftlich fundierte Fachwissen. Analog dem Verstehensbegriff ist die Verstehende Pflegediagnostik eine auf Auslegung basierende Vermittlung zwischen der individuellen Bedeutung und der pflegefachlichen Relevanz einer spezifischen Pflegesituation, mit dem Ziel, diese zu verstehen und ein Einverständnis bei allen Beteiligten zu erlangen (Abb. 2).

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Abb. 2: Das Modell der Verstehenden Diagnostik

Verstehen wird zu einem kreativen Prozess, der eine neue Erkenntnis zum Ergebnis hat. Die dem Verstehen zugrunde liegende Struktur ist, etwas als etwas auffassen, d. h. den Sinn von etwas verstehen (Jung 2012), z. B. ein Merkmal oder ein Verhalten als Reaktion auf ein Gesundheits- und/oder Krankheitsproblem auffassen oder deren Bedeutung für Betroffene verstehen. Die neue Erkenntnis wirkt auf die Beteiligten und verändert das Vorverständnis der Beteiligten.

2.1 Subjektives Erleben und andere Beschreibungen der ersten Person

Beschreibungen der ersten Person sind personengebundenes Wissen über konkret erlebte und erfahrene Situationen oder Phänomene. Im pflegespezifischen Kontext ist es das Erleben von physischen oder psychosozialen Empfindungen, die im Zusammenhang mit Gesundheits- und Krankheitsphänomenen auftreten. Dies kann Schmerz, ein Druck in der Brust, die Spannung der Muskeln genauso wie die Unsicherheit vor der Mitteilung der Diagnose, Hilflosigkeit, die Angst vor Einschränkungen im alltäglichen Leben oder vor dem Sterben sein. Das Erleben, im Sinne des Widerfahrens, stellt die Basis für Erfahrungen dar, auf die zu einem späteren Zeitpunkt in der Erinnerung und/oder bei einem erneuten Erleben zurückgegriffen werden kann (siehe Kap. 3 bis 5). Eine grundlegende Voraussetzung für den Zugang zur subjektiven Erlebensebene ist die Unterscheidung zwischen dem Machen einer Erfahrung im Sinne des Erlebens und der Bewertung des Erlebnisses im Sinne der Beschreibung und Zuschreibung einer Bedeutung, denn in dieser Unterscheidung begründet sich Subjektivität. “[E]xperiencing (following a procedure), and validation (following a regulated intersubjective exchange) is not an absolute one […].” (Varela & Shear 1999, 7)

Für die Verstehende Pflegediagnostik ist es wichtig festzuhalten, dass nur die Beschreibung des Erlebnisses intersubjektiv zugänglich ist, nicht das Erleben selbst.

Eine zweite Voraussetzung für den Zugang zum subjektiven Erleben ist, dass die Phänomene für das erlebende Subjekt bewusst und bedeutungsvoll sind. Die genannten Beispiele und die Bezeichnung Beschreibungen der ersten Person sollen dies deutlich machen. „By first-person events we mean the lived experience associated with cognitive and mental events. Sometimes terms such as ‘phenomenal consciousness’ and even ‘qualia’ are also used, but it is natural to speak of ‘conscious experience’ or simply ‘experience’. These terms imply here that the process being studied (vision, pain, memory, imagination, etc.) appears as relevant and manifest for a ‘self’ or ‘subject’ that can provide an account; they have a ‘subjective’ side.” (Varela & Shear 1999, 1) Der intersubjektive Zugang zu Beschreibungen der ersten Person setzt voraus, „[…] that the subject knows about, is informed about, or in other words is aware of, the phenomenon“ (Varela & Shear 1999, 4).

Der Zugriff auf das subjektive Erleben durch die erlebende Person geschieht mittels Introspektion (siehe Kap. 6), eine Form der Selbstbeobachtung, die von MediatorInnen unterstützt werden kann. Dabei richtet sich die Selbstbeobachtung auf das Erleben, das bewertet und mit Bedeutung versehen und in der Beschreibung durch Sprache intersubjektiv zugänglich wird. In der introspektiven Zuwendung auf das Erleben verändert sich dieses durch die Beschreibung und die Bedeutungszuschreibung, wodurch wiederum eine neue und das Vorverständnis verändernde Erkenntnis entstehen kann.

Im Modell der Verstehenden Pflegedia­ gnostik handelt es sich bei den Beschrei­ bungen der ersten Person um dem Indivi­ duum bewusste Phänomene.

sometxt Im Zusammenhang mit Krankheit und anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedeutet Introspektion die bewusste Aufmerksamkeit auf das subjektive Erleben eines Krankheitsphänomens, das bezeichnet, bewertet und mitgeteilt wird. Dies kann z. B. der Bericht einer alten Frau über das Älterwerden aus der ethnographischen Studie von Grøn (2016) sein. „Well, it’s … I probably sit too much. I sit here most of the day, it’s hard to get out. And then I got gout. Look how my fingers curve. They can’t be straightened out. Those things happen when you get older. And it is very painful, gout. Oh. I do not wish this for my worst enemy!” (Grøn 2016, 27)

2.2 Wissenschaftliche Erkenntnisse und andere Beschreibungen der dritten Person

Der subjektiven Erlebens- und Erfahrungsebene steht ein abstraktes, verallgemeinertes Wissen gegenüber. Es handelt sich dabei um Wissen, das im Modell der Verstehenden Pflegediagnostik der Wissenschaft und der Institution zugeordnet wird. Die Generierung des Wissens und die Beschreibungen stammen von anderen Personen als jenen, die erleben und erfahren oder anwenden. Analog zu Varela & Shear wird in der Folge von Beschreibungen der dritten Person gesprochen. „In contrast, third-person descriptions concern the descriptive experiences associated with the study of other natural phenomena. Although there are always human agents in science who provide and produce descriptions, the contents of such descriptions (i.e. of biochemical reactions, black holes or synaptic voltages) are not clearly or immediately linked to the human agents who come up with them.” (Varela & Shear 1999, 1)

Kap. 8.4