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FRANZ LACKNER
CLEMENS SEDMAK

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Annäherung an Grundworte
christlichen Lebens

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Gewidmet meinen Eltern
Franz Lackner

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

© 2018 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-3678-6 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3685-4 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

VORWORT

Ein Buch braucht einen Anfang. Anfänge sollen beherzt gesetzt werden. Im Buch Kohelet heißt es: „Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit“ (Koh 3,1). Jesus beginnt sein öffentliches Wirken unter dem Himmel von damals mit einem Aufruf: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Der Aufruf sei uns Weckruf. Das Evangelium bleibt durch alle Zeiten hindurch aktuell. Die Zeit ist erfüllt! Lasst uns anfangen!

Es gibt so viele Bücher. Deswegen ist Jesu Aufruf auch Weckruf für schläfriges Bücherschreiben, das selbstverständlich davon ausgeht, dass ein neues Buch spannend und wichtig ist. Es gibt auch, wenn man ehrlich ist, viele Bücher von Bischöfen. Braucht es da wirklich ein weiteres Buch aus der Feder eines Bischofs, der mit einem Mitstreiter zum Schreibenden wird?

Wir, die Autoren, hoffen, dass dieses Buch hilfreich ist. Wir hoffen, dass es für dieses Buch „eine rechte Zeit gibt“ und dass wir eben jetzt in dieser rechten Zeit sind. Natürlich ist dieses Buch nicht notwendig. Aber es möchte hilfreich sein. Papst Franziskus hat die Kirche mit einem Feldlazarett verglichen. Dieses Buch ist nicht Mittel in der Notversorgung, kein starkes Medikament, schon gar nicht Werkzeug einer schmerzhaften Notoperation. Die Lektüre dieses Buches mag eher wie ein Kuraufenthalt für die Seele sein. Die Seele kann zur Ruhe kommen, so unsere Hoffnung, sie kann Kraft schöpfen, sie kann in die tiefen Fragen und Begriffe eintauchen wie in ein Bad.

Die französische Philosophin Simone Weil hat einmal geschrieben: „Das menschliche Leben findet überwiegend fern von heißen Bädern statt.“ Das ist ein seltsamer Satz. Aber man kann ihn verstehen, wenn man weiß, dass Simone Weil zeitlebens unter schweren Migräneanfällen litt; sie hatte große Schmerzen. Heiße Bäder brachten Linderung. Wer kennt nicht die wohltuende Wirkung eines heißen Bades?

Das Leben von uns Menschen mit all seinen Herausforderungen findet freilich überwiegend fernab von wohltuenden heißen Bädern statt. Da gilt es den beruflichen Alltag zu meistern, den Haushalt zu organisieren, die Steuererklärung auszufüllen, Arzttermine wahrzunehmen, für die Familie da zu sein.

Dieses Buch will ein wohltuendes heißes Bad sein im Feldlazarett der Kirche. Wir legen ein „spirituelles Wörterbuch“ vor, das Schlüsselbegriffe des christlichen Lebens bedenkt. Manche Erfahrungen des Glaubens, ja viele Lebenswege erfüllen uns mit Staunen: kaum zu glauben! Begriffe, die diesem Staunen nachgehen, haben wir erkundet. Diese Schlüsselbegriffe sind auch die Anker in unserem persönlichen Glaubensleben. Wir laden ein, in die Fragen und in die Antworten, die wir vor allem im Wort Gottes finden, einzutauchen.

Was ist Gnade in meinem Leben? Was bedeutet es, ein betender Mensch zu sein? Was ist die Kirche? Wie kann ich mein Leben als gottgeführt lesen?

Wir wollen in diesem Buch den drängenden Fragen nicht ausweichen. Wir wollen keine billigen Antworten geben. Wir wollen ehrlich sein. Aus diesem Grund ist dieses Buch stellenweise auch sehr persönlich. Denn schließlich sind wir alle als Suchende und Pilgernde unterwegs, auch wenn wir uns getragen und berufen und geführt wissen.

Dieses Buch ist als Gemeinschaftswerk entstanden; beide Autoren haben beigetragen. Erzbischof Franz hat den Haupttext verfasst, die kursiv gesetzten Textteile stammen von Clemens Sedmak.

Wir wollen eine Hilfe anbieten, Jesu Aufruf und Weckruf zu folgen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15).

Dies ist ein Aufruf, zu hören und Jesus wachsen zu lassen, in unserem Herzen, in unserem Leben, in unserer Welt. So hat es Johannes der Täufer gesagt: „Er (Christus) muss wachsen, ich aber muss kleiner werden“ (Joh 3,30).

+ Franz Lackner, Clemens Sedmak

Salzburg, im Sommer 2017

INHALTSVERZEICHNIS

„Er aber muss wachsen“. Zur Einleitung

Armut

Auferstehung

Beten

Fragen

Franz von Assisi

Freiheit

Freundschaft

Fürchten

Glaube

Gnade

Gott

Grenzen

Hoffnung

Kirche

Leiden

Pilgern

Priester sein

Staunen

Wahrheit

Wünsche

Würde

Zufall

„Ich aber muss kleiner werden“. Zum Abschluss

Persönliches Nachwort

„ER ABER MUSS WACHSEN“

ZUR EINLEITUNG

Machtvoll tritt er auf, Johannes der Täufer. Er ist ein Vorbild des geistlichen Lebens, ein Wegbereiter für Jesus Christus, aber auch ein Wegbegleiter für uns, die wir Christus nachfolgen wollen. Er ist mutig, er legt sich mit den Autoritäten an, deren Lebenswandel er in Frage stellt. Er ist zwischen den Welten; er ist der, der vorbereitet, er ist der, der sagt: Nach mir kommt einer, der größer ist als ich. Wir finden ihn in der Wüste, wo er ein einfaches Leben führt. Er ist hinausgegangen aus den Städten, hat die Grenzen der Stadtmauern hinter sich gelassen. Er hat eine klare Botschaft, die Einladung zur Umkehr. „Umkehr“, das heißt im Griechischen „metanoia“, wörtlich Sinneswandel. Und das kann man als Einladung verstehen, über das bisher Gedachte hinauszudenken, über das bisher Getane hinaus zu tun, neu anzufangen. Es ist so wichtig, dass wir uns immer neu innerlich ringend um das klare Wasser des Ursprungs bemühen. Um den Geist des Anfangs.

Immer, wenn es um das Verstehen von Personen geht, bedarf es der unverbrauchten Kraft der ersten Liebe. Einen Menschen lieben heißt, ihn immer wieder mit neuen Augen zu sehen. Gott zu lieben heißt, aus der Kraft der ersten Liebe zu leben. Wer erinnert sich nicht daran, wie in einer tiefen Liebe der Anfang zauberhaft war? Um diesen Anfang geht es. Leben aus dem Zauber der anfanghaften Liebe.

Johannes der Täufer lädt zu einem Neuanfang ein. Das ist wohl der Kern eines geistlichen Lebens: die Bereitschaft, immer wieder neu anzufangen, das Leben mit einem Geist des Anfangens, des Umkehrens und des Staunens zu leben. Papst Franziskus erinnert uns in seinem Schreiben Evangelii Gaudium daran, dass wir die Freude am Evangelium nicht vergessen dürften. Diese Freude, die am Anfang eines Glaubenslebens steht: Ja, es ist wahr – Gott will sich uns schenken, will uns ein Leben in Fülle schenken, will, dass wir in Freude und Frieden leben. Auch Johannes der Täufer lebt aus dieser Freude – er sieht Jesus und sagt: „Diese Freude ist nun für mich Wirklichkeit geworden“ (Joh 3,29).

Die Botschaft des Johannes ist Einladung zur Freude an Jesus. Die Botschaft Johannes des Täufers ist tröstlich: „Das Himmelreich ist nahe“ (Mt 3,2) – es ist zum Greifen nahe, das Leben mit Gott und das Leben in Gott. Gott ist nahe, die Gemeinschaft mit Gott ist möglich. Wir können unser Leben, unseren Alltag mit Gott gestalten.

Denn die Botschaft des Johannes ist auch alltagstauglich, er verlangt nichts Unmögliches. Zu den Zöllnern sagt er: „Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist“, zu den Soldaten sagt er: „Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold!“ (Lk 3,13-14). Das sind realistische Forderungen.

Ein gutes geistliches Leben wurzelt in der Freude und bewährt sich im Alltag. Johannes der Täufer ist uns deswegen so nahe als Vorbild im geistlichen Leben, weil ja auch wir aufgerufen sind, Zeuginnen und Zeugen zu sein, denn wir sind diejenigen, die durch unser Leben auf Christus zeigen. Johannes der Täufer steht daneben. Im Zentrum steht Christus. Dieses „Danebenstehen“ ist ein schönes Bild für das geistliche Leben. Denn es geht darum, dass das Reich Gottes „mitten unter uns“, aber auch „durch uns“ erfahrbar wird. Es geht darum, dass Christus sichtbar wird. Wir sind ja alle gewissermaßen Stellvertreterinnen und Stellvertreter Christi; so wie Johannes der Täufer ein „Platzhalter“ war, bis Jesus gekommen ist. Und da sieht man auch die Tiefe der Wahrheit: Stellvertretung heißt nicht, einen Abwesenden zu ersetzen, sondern: einen Anwesenden sichtbar zu machen. Das ist die Mission des Johannes.

Und seine Mission ist auch unsere: „Er (Christus) muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“

Diese Mission ist das, was christliches Leben ausmacht – so zu leben, dass Christus und die Erfahrbarkeit von Christus wachsen kann; durch unsere Liebe und durch unser Verzeihen und durch unsere Zuversicht soll andeutungsweise erkennbar sein, wie Jesus liebt und verzeiht und Zuversicht schenkt, weil wir aus Christus und seiner Liebe leben.

Johannes der Täufer sagt an einer Stelle: „Ich bin nicht der Messias“ (Joh 1,20). Damit sagt er: „Ich bin nicht der Heiland“, „Ich bin nicht der, der das Leben schenkt und alles neu macht und zur Fülle führt“. Jeder Mensch auf dieser Erde, jeder Bischof, jeder Papst, jeder Priester, jeder Professor und jede Professorin, jeder Poet und jede Poetin, sie alle, alle können und müssen sagen: „Ich bin nicht der Messias“.

Und so sollen wir auch leben als Christinnen und Christen. Wir sind nicht die, die im Zentrum stehen. Im Zentrum steht Jesus, wir stehen daneben. Wir sollen nicht auf uns zeigen, sondern auf Christus.

Das ist, wenn wir ehrlich sind, nicht so leicht. Wie mühelos es doch geschieht, dass es um uns geht, um unseren Vorteil, um unsere Ehre, um unsere Bequemlichkeit. Was heißt es, mich so zurückzunehmen, dass durch mein Leben in einer einzigartigen und persönlichen Weise Christus sichtbarer wird?

Kaum zu glauben, dass dies möglich ist; kaum zu glauben, dass Christus uns meint, uns nachgeht, uns sucht, kaum zu glauben, dass wir ihn suchen und finden dürfen.

Dieses spirituelle Wörterbuch will anhand von Schlüsselbegriffen diesen Fragen nachgehen – den Fragen nach einem Leben, das Christus wachsen lässt.

ARMUT

Armut ist Unsicherheit. Unsicherheit aushalten zu können ist eine Form der Lebenskunst. Unsicherheit kann sich in vielem zeigen – auch im Fehlen von Klarheit und Eindeutigkeit. Pauline Boss, eine amerikanische Psychologin, hat mit Familien gearbeitet, die einen Angehörigen vermissen. Die Familien wussten nicht: Ist der Vater noch am Leben? Ist die Schwester gestorben? Boss hat beschrieben, wie groß die Belastung durch diese Unsicherheit war. Schmerzhafte Eindeutigkeit (wenn etwa der Leichnam des vermissten Angehörigen gefunden wurde) kann weniger belastend sein als die Unsicherheit. Armut hat viel mit Unsicherheit zu tun – ein Mangel an Ernährungssicherheit bedeutet, nicht zu wissen, ob es eine nächste Mahlzeit geben wird und woher sie kommen soll. Ein Leben in Armut bringt es mit sich, dass es schwer ist, Pläne zu schmieden, vorauszuschauen.

Die Herausforderung meines Lebens heißt Armut. Als Kind war es vor allem materieller Mangel, man musste Schulbücher bezahlen, die Eltern hatten aber das Geld nicht. Die bedrängende Ungewissheit, nicht verstehen zu können, warum sich unsere Familie vieles nicht leisten konnte, sehr wohl aber die Familien meiner Mitschüler. Der Arme war den Zufälligkeiten der Natur hilflos ausgeliefert: Wenn zum Beispiel Hagel die Ernte zerstörte, geriet die Lebensgrundlage in Gefahr. Als junger Priester habe ich einmal gepredigt, wie sehr wir um gute Ernte gebetet hatten. „Das ist nicht mehr notwendig, denn wir sind ja versichert“, hat jemand geantwortet. Das Leben ist heute viel sicherer geworden.

Als ich bei den Franziskanern eingetreten bin, waren diese nicht krankenversichert. Die verschiedenen Orden ergänzten einander. Bei Krankheit suchten wir die Barmherzigen Brüder oder die Elisabethinen auf. Für den Gottesdienst, die Seelsorge, das Exerzitienpredigen waren wir Franziskaner zuständig. Aber mit der Zeit wurden die Behandlungen komplexer. Einmal musste sich ein Mitbruder einer Lebertransplantation unterziehen, das haben die Ordensspitäler nicht angeboten. Dafür war das Allgemeine Krankenhaus zuständig. Zum Glück war dieser Bruder als Lehrer auch krankenversichert. Das entfachte im Kloster eine Diskussion. „Nur die ganz Reichen können es sich leisten, nicht versichert zu sein“, hat es geheißen. Dagegen war nichts einzuwenden. Dennoch, mit der Sicherheit geht etwas Wichtiges für unsere Nachfolge verloren: das Wagnis, ausgeliefert zu sein, als Bittende demütig zu bleiben. Demut als Tugend, die uns hilft, das ursprüngliche Charisma nicht zu verlieren.

Das ursprüngliche Charisma ist stets gefährdet – dadurch, dass man es reduziert oder auch dadurch, dass man es aufbläht. Das ist so ähnlich wie mit der Überlieferung von Texten, die im Laufe der Geschichte durch Zusatzbemerkungen aufgebauscht werden oder durch Streichungen und Kürzungen an Substanz verlieren. Die Franziskaner haben in radikaler Armut begonnen. Die Zeiten haben sich geändert. So könnte man fragen: „Würde sich der heilige Franz von Assisi heute versichern lassen?“

Ich glaube schon. Die Franziskaner haben sich den Lebensrealitäten gestellt. Als Bettelorden kann man nicht wählerisch sein. Aber Franziskus würde sich unserer Zeit gemäß einem neuen Wagnis aussetzen. Auch bei wirklich notwendigen Änderungen ist die Gefahr groß, dass etwas verloren geht. Da braucht es Wachsamkeit.

Was geht verloren, wenn die Unsicherheit der Armut durch die Sicherheit von Wohlstand ersetzt wird? Die Versuchung zu glauben, dass der Mensch sich selbst genügt, steigt. Da fällt es dann vielleicht schwerer, das eigene Leben ganz in Gottes Hand zu wissen und ganz in Gottes Hand zu legen. Der Geist der Armut ist auch der Geist der Offenheit. Die Sehnsucht nach eindeutigen Antworten ist nicht der Geist der Armut. Papst Franziskus schreibt in Amoris Laetitia im achten Kapitel, dass wir in besonderer Weise auf den Einzelfall, auf die besondere Situation des einzelnen Menschen achten müssen. „Man muss jedem Einzelnen helfen, seinen eigenen Weg zu finden, an der kirchlichen Gemeinschaft teilzuhaben, damit er sich als Empfänger einer ‚unverdienten, bedingungslosen und gegenleistungsfreien‘ Barmherzigkeit empfindet“ (Amoris Laetitia, 297). Und: „Es ist kleinlich, nur bei der Erwägung stehen zu bleiben, ob das Handeln einer Person einem Gesetz oder einer allgemeinen Norm entspricht oder nicht, denn das reicht nicht aus, um eine völlige Treue gegenüber Gott im konkreten Leben eines Menschen zu erkennen und sicherzustellen“ (ebd., 304). In der Achtung vor den einzigartigen Situationen mit ihren persönlichen Geschichten können wir nicht mit dem Reichtum allgemeiner Prinzipien allein die Lösung finden, sondern müssen offen werden, „leer“ werden für den Blick auf den Einzelfall. Auch das ist eine Form der Armut, nicht in allem die Sicherheit der allgemeinen Norm zu haben. Das mag manche mit Unruhe erfüllen, aber auch Jesus hat mit Blick auf den Einzelfall geurteilt – den Blick auf die arme Witwe im Tempel, den Blick auf die verurteilte Ehebrecherin, den Blick auf den Zöllner Zachäus. Diese Fähigkeit, im Geist der Barmherzigkeit offen zu sein für das Besondere, ist Ausdruck von „Armut im Geiste“.

„Armut im Geiste“ gehört ins Zentrum der Kirche und bleibt ständig eine Herausforderung. Leben im Geist der Armut bedeutet Indifferenz als Glaubenshaltung Gott gegenüber, sich nicht ängstlich zu sorgen, sondern zu vertrauen. Im Buch der Sprichwörter heißt es: „Gib mir weder Armut noch Reichtum“ (Spr 30,8). Das ist die rechte Haltung; denn Armut kann verzagt machen, Reichtum hochmütig. Papst Benedikt weist auf die Problematik von Geld und Kirche hin und trifft damit einen wichtigen Punkt. Als Weihbischof kam ich in den Genuss, selbst Geld zu verdienen. Denn Franziskaner besitzen kein eigenes Einkommen, dieses gehört immer der Gemeinschaft und der Orden kümmert sich um die Bedürfnisse der Brüder. Geld bedeutet Macht und ermöglicht Unabhängigkeit, und darin liegt die Versuchung, der alleinigen Selbstbestimmung zu verfallen und den Gemeinschaftssinn zu verlieren. Hier gilt es, die Freiheit zu bewahren, den Blick auf den anderen, die Sehnsucht nach Gott nicht zu verstellen. Der Mensch ist ein Mängelwesen, allein findet er nie das Auslangen, letztliche Erfüllung gibt es nur in Gott. Franz von Assisi schreibt in seinem Testament, die heilige Armut lässt uns wie Pilger und Fremdlinge leben. Im Geist der Sehnsucht nach dem, was die Welt nicht geben kann. Der Mensch muss immer der Tendenz der Alleingenügsamkeit widerstehen, offenbleiben für den anderen, für Gott, dazu kann Armut ein Lehrmeister sein, aber Armut kann auch eine Geißel sein, wenn sie Ausdruck eklatanter Ungerechtigkeit ist.

Armut ist also zwiespältig. Armut ist einerseits eine Geißel – es ist eine schreckliche Belastung, Geldsorgen zu haben; es ist bedrückend, ausgegrenzt zu sein, nicht mittun zu können bei den selbstverständlichen Aktivitäten einer Gemeinschaft. Es ist selbstverständlich, ein Bankkonto, eine Telefonnummer, eine Adresse zu haben – es ist qualvoll, dies nicht zu haben. Eine Alleinerzieherin in einer brasilianischen Favela, die vom Müllsammeln gelebt und auf diese Weise ihre drei Kinder ernährt hat, hat Armut auch beschrieben als bittere Abwesenheit von Schönheit, schönen Dingen, schönen Orten, schönen Speisen, schönen Erfahrungen. Hier wird Armut zu einer Geißel. Gleichzeitig ist Armut ein christliches Ideal – Franz von Assisi hat die Armut gelebt, er hat sie auch und vor allem als materielle Armut geliebt. Die materielle Armut war für ihn Lehrmeisterin, die ihn näher zu Jesus geführt hat. Das leuchtet allen ein, die den Wert des einfachen Lebens kennen lernen durften. Freilich: es ist ein Unterschied zwischen selbst gewählter Einfachheit und drückender Armut.

Aufgewachsen bin ich in bitterer Armut. Zu sagen, dass ich die Armut liebe, fällt mir schwer, zu sehr habe ich sie negativ erlebt.

Mein Vater, 1911 geboren, musste zwei Weltkriege miterleben, den ersten als Kind, den zweiten als Soldat in Russland mit anschließender zweijähriger Gefangenschaft. Der Mentalität nach ist er immer Knecht geblieben. Das war früher so. Schon sein Vater lebte als Kleinbauer, Keuschler. Notgedrungen musste man als Knecht beim größeren Bauern anheuern – eine Art Kooperation zwischen Klein und Groß, denn allein war man nicht lebensfähig.

Wir waren wirklich sehr arm, alles war knapp. In der Familie gab es des Öfteren auch Streit, meistens ausgelöst durch Not. In mir hat diese Situation Grübeln und Nachsinnen ausgelöst. Es manifestierte sich der Eindruck, da ist etwas grundsätzlich schiefgegangen. Wir waren fünf Kinder, nach meiner Einschätzung einfach zu viele. Heute weiß ich, dass meine Geschwister damit besser zurecht gekommen sind als ich. Mich bedrängten quälende Fragen. So war ich überzeugt, dass Eltern die Kinderzahl nicht bestimmen konnten, denn meine Eltern litten darunter, uns Kindern nicht bieten zu können, was notwendig gewesen wäre. Warum Gott diesen beiden armen Menschen fünf Kinder zutraute, vermochte ich schon gar nicht zu verstehen. Armut schien unser Schicksal. Etwas, das uns zugekommen ist, dessen wir uns nicht zu erwehren vermochten. Ich erinnere mich an Weihnachten. Wir hatten einen Christbaum, aber der war vollkommen schmucklos. Dagegen hätte man leicht etwas tun können, Stroh und Nüsse wären ja da gewesen, aber niemand ist auf die Idee gekommen, sie an den Christbaum zu hängen. Armut schien mir mit Schuld und Unvermögen verbunden. Diese Form von Armut ist nichts Schönes, kein Ideal.

Armut zu lindern und zu bekämpfen ist deswegen ein christlicher Auftrag. Armut kann drückend werden, Armut kann Menschen in Notsituationen bringen, wo sie sich nicht mehr redlich verhalten, nicht mehr Verantwortung wahrnehmen können. Alle Menschen sollen etwas beitragen können, alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, Verantwortung zu übernehmen. Das nennen wir in der Philosophie „beitragende Gerechtigkeit“. Es ist gerecht, wenn alle etwas beitragen können. Deswegen kann Armut grausam sein, wenn sie die Möglichkeit nimmt, etwas beizutragen. Christinnen und Christen sind dazu aufgerufen, an der Seite der Armen zu stehen. In der frühen Kirche war die Bibelstelle Mt 25 („Was ihr dem geringsten meiner Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan!“) die am häufigsten verwendete Stelle, um auf die soziale Verantwortung der Christinnen und Christen aufmerksam zu machen. Die Hungernden speisen, die Nackten bekleiden, die Gefangenen besuchen – das war ein Auftrag, der zu einer Revolution der moralischen Vorstellungskraft führte, wie es ein Historiker beschrieben hat. Im Jahr 368 gab es eine Hungersnot in Kappadokien, und bis zu diesem Zeitpunkt waren im römischen Reich die Hungernden auf der Straße nicht das Problem der Menschen. Die christlichen Lehrer Gregor und Basilius machten anlässlich der Hungersnot den Menschen klar, dass es der Bruder und die Schwester sind, die da vor den Toren hungern und verhungern. „Das geht euch etwas an!“ Das war eine echte Revolution im Denken und Fühlen, eine Überwindung der Indifferenz. Diese Überwindung der Indifferenz gegenüber der Not ist Papst Franziskus ein großes Anliegen. Kurz nach seinem Amtsantritt war er auf der italienischen Insel Lampedusa und hat dort vor der Gleichgültigkeit gewarnt. So predigte er am 8. Juli 2013 in Lampedusa mit den Worten: „Wer von uns hat darüber und über Geschehen wie diese geweint? Wer hat geweint über den Tod dieser Brüder und Schwestern? Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unterhalten zu können?“

Die Not von Flüchtlingen möge uns nicht indifferent lassen; die Not und Armut anderer Menschen möge uns nicht gleichgültig sein. Menschen, die Armut kennen, haben viel zu sagen. Sie haben etwas zu sagen, das man in den Hörsälen nicht lernen kann. Papst Johannes Paul II. hatte bei seinem Besuch im „Haus der Barmherzigkeit“ in Wien im September 1983 darauf hingewiesen, dass die Krankenzimmer einem Volk nicht weniger dienen als die Klassenzimmer und die Hörsäle. Menschen, die Krankheit erfahren, können Lehrmeisterinnen und Lehrmeister werden. Kranksein und Altwerden ist gewissermaßen die Königsdisziplin des Lebens und der Lebenskunst. Auch die Armut lehrt; Menschen, die Armut erfahren haben, können zu Lehrerinnen und Lehrern werden. Papst Franziskus drückt seine Sehnsucht nach einer „Kirche der Armen“ aus, nach einer Kirche, die bei denen steht, die am Rand sind, und sich von den Randgestalten der Gesellschaft – den Ausgeschlossenen, den Flüchtlingen, den Wohnungslosen, den Kranken und, ja, auch den Sündern – belehren lässt. Denn Armut prägt.

Das Aufwachsen in Armut hat mich doch nachhaltig geformt. Eine unausgesprochene Ahnung sagte mir, man solle sich dieser dürftigen Situation nicht entledigen. Darunter habe ich als Kind sehr gelitten, heute bin ich jedoch eher dankbar für dieses Schicksal als mein „Geschickt-sein“ in ein Leben, welches gerade deshalb so empfänglich ist für den Glauben. Insofern kann Armut zu einer Schule der Sehnsucht werden. Die darin liegende theologische Bedeutung ist mir erst viele Jahre später bewusst geworden, nach dem Eintritt bei den Franziskanern, beim Studium der Schriften des heiligen Franziskus. Besonders berührt mich immer wieder sein Testament. Ein Satz wird darin ständig wiederholt: „Der Herr hat gegeben.“ Schon im Eröffnungssatz bekennt Franziskus dieses, sein Prinzip der Nachfolge:

„So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben