Knipper, Stephanie Das Mädchen, das den Blumen zuhörte

 

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Claudia Franz

 

© Stephanie Knipper 2016 Published by Arrangement with Stephanie Knipper
Titel der amerikanischen Originalausgabe:»The Peculiar Miracles of Antoinette Martin«, Algonquin Books, Chapel Hill, 2016
© Deutschsprachige Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2019
Vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
Covermotiv: Iuliia Fadeeva / Shutterstock.com
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Widmung

Für meine Tochter Grace

 

Die Leute behaupten immer,

du könnest von Glück sagen,

dass du uns als Eltern hast.

Aber ich weiß es besser.

Wir haben Glück, dass wir dich haben.

 

Eine dicke Umarmung.

Tapp, tapp, tapp.

Ich liebe dich auch.

Roses Tagebuch
– April 2013 –

Meine Tochter, Antoinette, flüstert im Schlaf. Richtige Worte. Als ich an diesem Abend ihre Stimme höre, eile ich die Treppe hoch, aber ich komme zu spät. Sie ist mucksmäuschenstill. Und die Laute hätten von allem Möglichen herrühren können. Vom Wind. Von einer Eule. Grillen.

Sie liegt auf der Seite. Ihre rechte Hand reckt sich in Richtung Tür, in meine Richtung, als sei ich selbst im Schlaf die Sonne, um die sie kreist.

Ich strecke die Hand aus. Ohne den Raum zu betreten.

Wenn sie schläft, kann ich so tun, als merkte ich nicht, dass ihre Augen ein Stück zu weit auseinanderstehen. Ihre Arme sind entspannt und klammern sich nicht an ihre Schultern, wie sie es tagsüber oft tun. Ihr weißblondes Haar, das dem zarten Flaum eines Neugeborenen ähnelt, plustert sich an ihrem Hinterkopf auf wie die Samen einer Pusteblume. Oder als würde ihr beim Herumtollen der Wind hineinfahren.

Das Fenster steht offen, und eine Brise verfängt sich in den blütenweißen Vorhängen. Obwohl wir erst Anfang April haben, ist die Luft bereits so warm, dass die Tulpen sprießen. So ist Kentucky. Unberechenbar. Heute Nacht ist es dunkel, aber hier auf dem Land raubt keine Laterne den Sternen ihren Glanz.

Ich schließe die Augen und beschwöre einen Traum herauf. Antoinette läuft über die Farm und lässt die Finger über Narzissen und Tulpen gleiten. Ihre Beine sind stark und springen wie die Beine anderer zehnjähriger Mädchen übers Gelände. Aber das Bild wird diesem Kind nicht gerecht. In einem realistischeren Traum käme Antoinette wie eine Marionette auf mich zu, die Arme angewinkelt, die Hände vor der Brust verkrampft, die wackeligen Knie bei jedem Schritt nachgebend.

Meine Gedanken schweifen in die Vergangenheit, und Erinnerungen werden wach: wie wir uns im Schlaf aneinandergeschmiegt haben, als teilten wir immer noch ein und denselben Körper. Wie wir uns zum Gesang der Feldammern gewiegt haben. Wie wir in der Trockenscheune unter einem Regen aus Lavendelblüten getanzt haben.

Jetzt rührt sich Antoinette und dreht sich zum Fenster. Ich sehe die Felder vor mir, auf denen Tausende von weißen Tulpenknospen explodieren, viel zu früh im Jahr. Allerdings geschehen hier weitaus merkwürdigere Dinge.

Meine Schwester Lily war immer fasziniert von der Viktorianischen Blumensprache. Sie kannte die Bedeutung sämtlicher Blumen, die wir auf unserer Farm kultivieren. Eines unserer Spiele bestand darin, dass sie Sträußchen im Haus verteilte und ich die Botschaft erraten musste. Narzissen kündeten von Neubeginn, Kornblumen von Gesundheit und Kraft.

Und weiße Tulpen von Vergebung und ewigem Gedenken.

Mein Herz gerät aus dem Takt, in meiner Brust bildet sich der vertraute Druck. Ich atme tief ein und zähle jeden einzelnen Herzschlag. Als ich mich wieder beruhigt habe, betrachte ich meine Tochter.

An ihrer Wange klebt eine Haarsträhne. Ich gehe in das Zimmer, um sie ihr aus dem Gesicht zu streichen, aber meine Tochter dreht sich weg und rollt sich zu einer Kugel zusammen. Weil ich sie nicht wecken möchte, verharre ich an Ort und Stelle. Sie soll noch ein bisschen in ihren Träumen verweilen, an diesem sicheren Ort, an dem ich ihr keinen Schaden zufügen kann.

Das wird noch früh genug geschehen.

1. Kapitel

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Antoinette Martin stand in der Küche und betrachtete die Alarmanlage über der Hintertür. Das rote Licht brannte nicht; das Ding würde also nicht losschreien und ihre Mutter wecken, wenn sie die Tür öffnete. Sie könnte in den Garten gehen.

Wilde Freude packte sie. Sie wippte auf den Zehenspitzen und ließ die nackten Füße auf die alten Eichendielen klatschen. Das glatte Holz fühlte sich an wie das Wasser des Bachs im Juli. Ein glücklicher Gedanke. Sie wippte noch einmal.

Als ihr Körper sich beruhigt hatte, griff sie nach dem Türknauf. Sie zögerte. Ihre Mutter und sie lebten auf einer Blumenfarm in Redbud, Kentucky. Obwohl ein Großteil der zwanzig Hektar gerodet und in Blumenfelder verwandelt worden war, wucherte dichter Wald hinter ihrem Anwesen. Antoinette durfte nicht alleine hinausgehen. Auf einer Farm konnte man sich leicht verletzen.

Sie drückte die Nase an die kalte Scheibe in der Küchentür. Draußen brauchte sie weder Musik noch Kunst, um das weiße Rauschen zu unterdrücken, das sie zu verschlingen drohte: das Brummen des Kühlschranks, das Rauschen der Spülmaschine, das Sirren der Klimaanlage. Draußen sang das Land, und das war noch besser als die Kompositionen von Mozart und Händel, die ihr Nachbar Seth Hastings auf seiner Geige spielte.

Abends saß Antoinette auf der Veranda hinter dem Farmhaus und lauschte, wenn Seth Geige spielte, oder blätterte in einem der Kunstbücher ihrer Mutter herum. Ralph Vaughn Williams’ The Lark Ascending erkannte sie schon beim ersten Trillern der Geige. Und wenn sie die Augen schloss, konnte sie das geheimnisvolle Lächeln von Leonardos Mona Lisa oder das Gefälle des Hügels in Wyeths Christinas Welt vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören, Pinselstrich für Pinselstrich.

Ungewöhnlich für eine Zehnjährige. Andererseits war kaum etwas gewöhnlich an Antoinette.

Gleißendes Sonnenlicht fiel durch die Tür. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie kniff sie zusammen. Sie fühlte sich innerlich wie eingeschnürt, als wären ihre Muskeln zu stramm. Vor ihren Lidern glühte die Sonne immer noch, aber der Schmerz war fort, und so traf sie eine Entscheidung. Sie brauchte Musik, um sich zu beruhigen.

Nun, da ihr Geist leer war, zwang sie sich, den Arm auszustrecken, bis ihre Fingerspitzen den abgeblätterten Lack an der Tür berührten. Er schien ihre Haut aufzuschlitzen, und sie hätte fast einen Rückzieher gemacht. Aber wann war die Alarmanlage schon einmal ausgestellt?

Um die Kontrolle wiederzuerlangen, wedelte sie mit der Hand und stieß gleichzeitig mit der anderen die knarrende Tür auf.

Nun knallte ihr das Sonnenlicht noch gleißender ins Gesicht. Mit geschlossenen Augen reckte sie sich der Sonne entgegen und wünschte, sie würde sie ins Freie ziehen. Oft fehlte ihr die Kontrolle über ihren Körper, aber an diesem Morgen bewegte sie sich wie eine Ballerina, wiegte sich in den Hüften und glitt wie ein Seidenband zur Tür hinaus.

Auf der Veranda warf sie die Arme in die Luft und wäre am liebsten zur Sonne geflogen. Dann lauschte sie. Das Land sang für alle, die lange genug stillstanden, um die Melodie in sich aufzunehmen.

Die Menschen sangen auch, aber Antoinette musste sie berühren, um ihre Melodie zu hören. Manchmal griff sie nach der Hand ihrer Mutter und spürte, wie der sanfte, süße Klang einer Panflöte ihren Körper erfüllte. In diesen Momenten hatte Antoinette das Gefühl, alles tun zu können. Selbst sprechen.

Heute klang die Außenwelt klagend, wie die Oboe in Peter und der Wolf. Antoinette wankte. Fast hätte sie die Augen geöffnet, aber dann besann sie sich eines Besseren. Das wäre unweigerlich das Ende. Ihr Gehirn würde sich an den Grashalmen verhaken und zu zählen beginnen. Eins, zwei, drei … vierhundert, vierhunderteins, vierhundertzwei. Sie wäre für Stunden blockiert.

Mit geschlossenen Augen stieg sie von der Veranda hinab. Ein Lüftchen umspielte ihre Knöchel, und ihr Nachthemd bauschte sich. Ihrer Kehle entrang sich ein schrilles Kichern. Wenn sie die Arme emporreckte, könnte sie vielleicht fliegen, leicht, wie sie sich fühlte. Sie hob die Hände und ließ sie so heftig wieder fallen, dass sie ihr auf die Oberschenkel klatschten.

Der gepflasterte Pfad würde sie zu den Blumenfeldern führen, aber heute wollte sie nicht nur den Stein unter ihren Füßen spüren. Sie verließ den Pfad und bohrte die Zehen in die Erde. Der Boden sirrte. Eine vibrierende Elektrizität schoss ihr in die Beine und beruhigte ihre Muskeln, sodass sie auf dem Weg in den Garten nicht unwillkürlich hüpfen oder mit den Händen wedeln musste oder die Kontrolle über ihre Beine verlor.

Sie ging weiter, bis sie mit den Füßen gegen den Erdwall stieß, der den Rand des Narzissenfeldes markierte.

Von ihrem Zimmerfenster aus konnte sie die leuchtend gelben Köpfe im Sonnenlicht nicken sehen, aber hier konnte sie sie fühlen.

Sie hockte sich hin und vergrub die Hände im lehmigen Boden. Er glitt an ihren Fingern entlang und setzte sich unter ihren Nägeln und in den Fältchen ihrer kleinen Hände fest. Mit jedem Atemzug füllte sich ihre Lunge mit den Gerüchen des Gartens: Erde, Kompost, frisches grünes Gras.

Wenn ihre Hände in der Erde steckten, schwoll die Musik an. Ein ganzer Holzbläserchor durchflutete ihren Körper: Flöten, Klarinetten, Fagotte. Aber das Tempo war zu langsam, und es mischten sich ein paar Missklänge darunter. Dur und Moll gingen wild durcheinander. Das Herz klopfte ihr in den Ohren, und ihre Arme verkrampften sich. Der Drang zu wedeln wurde übermächtig, aber sie zwang sich stillzuhalten. Ein Bild stieg vor ihr auf: das Bild von einer Blumenzwiebel im Lehmboden und einer durch Wurzelfraß geschwächten Pflanze.

Antoinette summte, zog das Tempo an und korrigierte die Töne. Sobald alles stimmte, verstummte sie. Ihr Körper war jetzt ruhig, sank aber plötzlich in sich zusammen, vollkommen erschöpft. Mulch piekte sie in die Wange, aber sie rührte sich nicht. Sie atmete tief durch und lauschte auf die Rotkehlchen, die aus dem nahe gelegenen Wald herüberriefen.

»Antoinette?«

Sie hörte ihren Namen nicht, weil sie sich in den Eindrücken um sie herum verloren hatte. Dann legte sich eine raue Hand in ihren Nacken. Die Berührung erschütterte sie, und sie fiel hintüber, die Augen weit aufgerissen vor Angst.

»Entschuldigung«, sagte der Mann und nahm die Hand schnell wieder fort.

Sie wollte sich aufrichten, aber ihre Muskeln versagten ihr den Dienst.

»Antoinette.« Der Mann sprach ruhig. »Antoinette. Was ist los? Ich bin’s, Seth. Schau mich an. Ist alles in Ordnung?«

Er berührte ihre Wange und drehte ihren Kopf zu sich hin. Als sie sich in seine schwielige Hand schmiegte, beruhigte sich ihr rasendes Herz, und sie entspannte sich. Seth war eine Konstante in ihrem Leben, wie ihre Mutter. Wie ihre Mutter begriff er, dass man nicht nur durch Sprache kommunizieren konnte.

Er ging vor ihr in die Hocke. Die Spitzen seiner langen, dunklen Haare kitzelten sie an der Wange. »Kannst du mir sagen, was los ist?«, fragte er.

Ihr Arm fühlte sich schwer an. Trotzdem zeigte sie an ihm vorbei, wo sich hinter einem Meer von Narzissen das blaue Holzhaus erhob.

»Nach Hause?«, fragte er. »Möchtest du nach Hause?«

Antoinette zeigte in die Richtung und öffnete den Mund. Nach Hause. Sie hätte es gerne gesagt. Sanft wie ein Flüstern wären die Worte, wenn sie sie nur herausbrächte.

Seth schob den Arm unter ihren Körper. Sie pflückte eine Narzisse, bevor er sie hochhob. Die Blumen von den Feldern waren nicht dafür gedacht, das eigene Heim zu schmücken, aber die gelbe Narzisse würde ihrer Mutter Freude machen.

Seth wiegte sie in den Armen, als er zum Haus zurückging, und sie verschmolz mit ihm. Er roch nach grünem Gras und Tabak. Unter seinem dünnen T-Shirt spürte sie das gleichmäßige Pochen seines Herzens, eine eigene Melodie.

 

Mit einem dumpfen Geräusch öffnete sich die Küchentür. Antoinette hob den Kopf aus Seths Armen und sah, dass der Raum leer war. Wahrscheinlich schlief ihre Mutter noch.

»Rose?«, rief Seth. Keine Antwort. Die Luft im Haus war still und schwer. Er trat in den langen Flur, der zum Schlafzimmer ihrer Mutter führte.

Antoinette sah ihre Mutter durch die offene Tür. Sie saß in einem der beiden blauen Sessel am Fenster, das auf das hintere Feld hinausging, eine aufgeschlagene Zeitung im Schoß. Als Seth an den Türrahmen klopfte, drehte sie sich um.

Antoinette fiel es schwer, sich auf Gesichter zu konzentrieren. Mit jeder Sekunde veränderten sie sich, da sich die winzigen Muskeln bei jedem Lächeln oder Stirnrunzeln verschoben. Jeder einzelne Mensch trug wohl Hunderte von Gesichtern. Antoinette zwang sich trotzdem, das ihrer Mutter zu betrachten. Die Lippen waren bläulich angelaufen, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Das kurze blonde Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab. Die Schatten ließen ihr ausgemergeltes Gesicht noch zerklüfteter erscheinen.

»Ich habe sie im Narzissenfeld aufgelesen«, sagte Seth.

Ihre Mutter schlug die Zeitung zu und erhob sich. »Antoinette wollte unbedingt nach draußen, aber ich war so müde.« Sie beugte sich über ihre Tochter, die sich immer noch in Seths Arm schmiegte. »Du warst schon immer ein Dickkopf.«

Antoinette hielt ihr die Narzisse hin.

Ihre Mutter nahm sie mit einem Lächeln entgegen. »Narzissen stehen für Neubeginn«, sagte sie zu Seth. »Das stand in Lilys Blumenbuch. An was man sich nicht alles erinnert.«

Antoinette spürte, dass Seth zusammenzuckte. »Das kann man ja wohl kaum vergessen.« In seine raue Stimme hatte sich etwas geschlichen, das wie Bedauern klang. »Sie hat das Buch überall mit hingeschleppt.«

Antoinette war zwischen den beiden geborgen. Zufrieden. Das Wort war irgendwo aus ihrem Innern aufgestiegen. Ihr gesamter Körper fühlte sich warm an. Sie reckte sich vor, weil sie die Melodie ihrer Mutter hören wollte.

Doch die wich zurück. »Du musst jetzt schlafen«, sagte sie. Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln.

»Sie lag zwischen den Narzissen«, sagte Seth. »Gestern Abend ist mir aufgefallen, dass ein paar der Blüten schon braune Ränder hatten, daher wollte ich sie heute Morgen schneiden. Seltsamerweise waren sie wieder ganz frisch. Antoinette lag mittendrin, halb weggedöst. Sie hat mich erst gehört, als ich bei ihr war.« Er sprach langsam, und seine Stimme klang bedeutungsschwer. Aber Antoinette war zu müde, um darüber nachzudenken, was er wohl sagen wollte.

Er setzte sich in einen Sessel und verlagerte Antoinettes Gewicht, sodass sein Arm nun in ihrem Nacken lag.

»Sie ist so klein«, sagte ihre Mutter, als sie Seth gegenüber Platz nahm. »Es überrascht mich immer wieder, wie schwer sie nach einer Weile wird.«

Seth lachte. Antoinette mochte den Klang. Sie schloss die Augen und ließ die Geräusche über sich hinwegspülen. Um mit den Händen zu wedeln, war sie zu müde, aber ihre Finger zuckten an Seths Arm. Glücklich.

In Seths Nähe war sie meistens glücklich. Im Umgang mit anderen konnte er barsch sein, aber zu Antoinette und ihrer Mutter war er immer nett.

Einmal hatten ein paar Jungen auf dem Bauernmarkt über Antoinette gekichert, weil sie sich auf die Zehenspitzen erhoben hatte und unter dem Zeltdach des Stands der Eden Farms im Kreis herumlief. Als Seth, der gerade Kisten mit Fleißigen Lieschen auslud, es mitbekam, ging er zu Antoinette und legte den Arm um sie. In seiner Gegenwart wich die Anspannung, und das ermöglichte es ihr, innezuhalten und stillzustehen.

Seth sagte kein Wort. Er starrte die Jungen einfach nur an, bis sie zu zappeln anfingen. Und dann entschuldigten sie sich einer nach dem anderen.

»Kinder«, sagte er, nachdem sie sich in alle Winde verstreut hatten. »Sie wissen nicht, was sie tun. Aber es schmerzt trotzdem.«

Er hatte recht. Es schmerzte. Jedes Mal, wenn jemand sie einen Moment zu lang anstarrte oder die Straßenseite wechselte, um ihr aus dem Weg zu gehen, verspürte sie ein leises Brennen in der Brust.

Zu wissen, dass die beiden ihre Gefühle verstanden, linderte den Schmerz ein wenig.

Bei dem Gedanken an ihre Mutter riss Antoinette die Augen auf und sah, wie sich der Brustkorb ihrer Mutter langsam hob und senkte. Obwohl sie müde war, reckte sie sich nach ihr. Wenn sie nur ihre Hand halten könnte, wäre alles in Ordnung. Sie dachte an die Melodie ihrer Mutter – die Klänge einer Panflöte, sanft und rund wie Flusssteine.

»Jetzt nicht, Antoinette.«

Antoinette gab nicht auf. Während sie sich mühsam aufzurichten versuchte, betrachtete sie die länglichen Finger ihrer Mutter. Und den grün-violetten Bluterguss auf ihrem Handrücken. Er stammte von der Injektion, die sie letzte Woche in der Notaufnahme bekommen hatte.

Seth schlang beide Arme um sie und lehnte sich zurück. Jetzt war sie noch weiter von ihr entfernt. »Deine Mutter braucht ein wenig Ruhe.«

Antoinette schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die Haare gegen die Wangen schlugen. Mommy! Wenn sie das Wort herausbekäme, würde sich ihre Mutter bestimmt erweichen lassen.

»Sie kann so nicht weitermachen«, sagte ihre Mutter mit brüchiger Stimme. »Zumal es mir, nun ja … Es ist ja nicht so, dass es mir besser geht.«

Seth seufzte. Nach ein paar ewigen Sekunden sagte er: »Es ist Zeit, Lily anzurufen. Du kannst ihr nicht für den Rest des Lebens aus dem Weg gehen, Rose.«

Antoinette wehrte sich in seinen Armen, aber er war zu stark. Die Erschöpfung, die sich ihrer bemächtigt hatte, hielt sie gefangen. Ihre Lider fielen zu, als hingen winzige Gewichte an den Wimpern. Sie war müde. Entsetzlich müde.

»Ich weiß nicht«, sagte ihre Mutter und klang wie ein verängstigtes Kind. »Es ist jetzt sechs Jahre her. Lily war schon überfordert, als Antoinette vier war, und die Dinge sind ja nicht besser geworden. Und wie wir auseinandergegangen sind … Was, wenn sie gar nicht kommt?«

Mit aller Kraft versuchte Antoinette die Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht. Ihr Körper wurde immer schwerer und schwerer.

Sie hörte Seth sagen: »Wir sind alle drei keine Kinder mehr, Rose. Lily ist deine Schwester. Das Mädchen, das ich kenne, wird kommen, wenn du sie darum bittest.«

Antoinette konnte nicht länger dagegen ankämpfen. Sie sank in Seths Arme, als der Schlaf sie überwältigte.

2. Kapitel

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Lily Martin ging auf Nummer sicher im Leben. Sie orientierte sich an Zahlen. Mathematik war verlässlich. Zwei plus zwei ergab vier. Immer. Es war ausgeschlossen, zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Stell die Zahlen um, schreib das Problem horizontal oder vertikal auf, die Antwort wird immer identisch sein. Vier. Gleichungen hatten Lösungen, und diese Vorhersagbarkeit verlieh ihr ein Gefühl von Ruhe und Beständigkeit.

Nicht so heute.

Den größten Teil des Tages hatte sie damit verbracht, für die Lebensversicherung, bei der sie arbeitete, Sterbetafeln umzuformatieren. Sie wurden nicht wirklich Sterbetafeln genannt, sondern Lebenserwartungs-Tabellen. Das war der korrekte Begriff. Aber wie sollte man schon eine Datensammlung nennen, die voraussagte, wann jemand sterben würde?

Lily leitete die Statistikabteilung, und es lag in ihrer Verantwortung zu errechnen, wann jemand wahrscheinlich sterben würde. Ein gesunder, männlicher Nichtraucher konnte davon ausgehen, 76,2 Jahre zu leben, während sich die Lebenserwartung eines Rauchers um 13,2 Jahre reduzierte. Eine zweiunddreißigjährige Frau mit kongestiver Herzinsuffizienz – nun, die war praktisch nicht versicherbar.

Die Sterbetafeln speisten die Bewertungsprogramme, die den Beitragssatz für Versicherungspolicen ausspuckten. Übers Wochenende hatten sich die Bewertungen von Rauchern und Nichtrauchern diametral geändert, bis jemand in der IT-Abteilung festgestellt hatte, dass ein Virus durch die Firewall geschlüpft war und systematisch Daten vertauscht hatte.

Lily hatte den gesamten Montagvormittag damit zugebracht, Anrufe vom CEO und dem Leiter der IT-Abteilung entgegenzunehmen. Als dem Tod gegen Mittag sein angestammter Platz in der Versicherungswelt wieder zugewiesen war, nahm sie ihren Laptop und verließ das Büro, um den Rest der Arbeit zu Hause zu erledigen.

Daheim angekommen, öffnete sie die Tür zu ihrem Arbeitszimmer und stellte den Laptop auf den Schreibtisch. Sonnenlicht fiel durch die beiden großen Fenster. Sie öffnete sie, während sie darauf wartete, dass der Computer hochfuhr. Ein gelber Fink sang in dem Kanadischen Judasbaum. Da sie sich als Kind mit der Viktorianischen Blumensprache beschäftigt hatte, wusste sie, dass Judasbäume neues Leben symbolisierten – perfekt für einen Frühjahrsblüher.

Sie schaute aus dem Fenster, und für einen Moment war sie nicht mehr in ihrem Haus am Südufer des Ohio, sondern auf den Eden Farms in Redbud, Kentucky, wo sie aufgewachsen war. April war immer ihr Lieblingsmonat gewesen. Das Land erwachte, und eine gewisse Hoffnung lag in der Luft.

Covington, wo Lily jetzt lebte, befand sich in Nord-Kentucky, am Ufer des Ohio. Das Land war von steilen Hügeln und tiefen Tälern geprägt. Es war nicht so bergig wie die Appalachen im östlichen Kentucky, aber es unterschied sich doch derart von ihrer Heimat, dass es sich anfühlte, als wäre sie auf die andere Seite des Landes gezogen und nicht nur zwei Stunden in Richtung Norden.

Redbud lag mitten in Kentucky, südlich von Lexington. Wiesen-Rispengras bedeckte die Landschaft, die sich wie ein sanft gewelltes Meer ausbreitete, begrenzt nur von den weißen Zäunen der beschaulichen Vollblutzucht-Farmen. Eden Farms wirkte wie eine Farbexplosion inmitten dieser Landschaft. Im Sommer bildeten die Blumenfelder hinter dem Farmhaus ein fantasievolles Patchwork aus Violett, Rosa, Gelb, Weiß und Rot. Für Lily war es ein Wunderland. Sie und ihre Schwester Rose hatten sich immer wie Feen gefühlt und die Felder als ihr Reich betrachtet.

Vor dem Haus hupte ein Auto und holte Lily in die Gegenwart zurück. Sie stützte sich schwer auf die Fensterbank. Es kam nichts Gutes dabei heraus, wenn man verlorenen Dingen nachtrauerte. Sie biss sich auf die Lippe und wandte sich vom Fenster ab. Covington war nicht gerade New York oder Washington, aber es war doch meilenweit entfernt von dem Land, wo der nächste Nachbar etliche Morgen weit weg wohnte. Wenn sie sich in Covington in den Durchgang zu ihrem Hinterhof stellte und die Arme ausstreckte, konnte sie gleichzeitig ihr eigenes und das Haus ihres Nachbarn berühren.

Sie wohnte im ältesten Stadtviertel; ihr Haus war zweihundert Jahre alt. Die Dielen wellten sich an manchen Stellen, und der Hof war nur handtuchgroß, aber sie hatte die heruntergekommene Bleibe in ein warmes, einladendes Heim verwandelt. Die Wände im Arbeitszimmer hatten die Farbe von sonnenwarmer Erde, und über ihrem Schreibtisch hingen drei Landschaftsgemälde von Kentucky. Ihre Schwester hatte sie mit fünfzehn gemalt. Die Farben waren zu kräftig, und die Proportionen stimmten nicht ganz, aber Lily mochte diese leichte Unbeholfenheit. Es erinnerte sie an die Rose von damals: schlaksig, aber schön, gleichermaßen Kind und Frau.

Eine violette Orchidee und ein kleines gerahmtes Bild schmückten Lilys Schreibtisch. Auf dem Foto hatten sie und Rose die Arme umeinander geschlungen, als würden sie sich niemals loslassen. Sie pressten die Wangen aneinander, und das Haar floss ihnen über die Schultern – das von Rose hellblond, das von Lily dunkelbraun. Seth Hastings hatte das Foto aufgenommen, kurz bevor Rose zum College gegangen war.

Bei dem Gedanken an Seth spannte Lily den Kiefer an und wandte den Blick ab. Nach all den Jahren sollte es nicht mehr so schmerzen, dass sie ihn verloren hatte, aber so war es.

Konzentriere dich auf deine Arbeit, dachte sie. Aber sobald sie sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, knurrte ihr der Magen.

»Wenn du dich wie ein normaler Mensch zum Essen einladen lassen würdest, würdest du nicht so schreckliche Geräusche von dir geben.« Sie fuhr zusammen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Ihr Nachbar Will Grayson lehnte im Türrahmen, so schwer, als könne er sich kaum auf den Beinen halten. Lily musste daran denken, wie es war, als er Morphin genommen hatte. Seit seiner Chemotherapie war fast ein Jahr vergangen, aber seiner heutigen Erscheinung nach zu urteilen, bewahrte er wohl noch ein paar Tabletten in irgendeiner Schublade auf.

Unwillkürlich kamen ihr die Sterbetafeln in den Sinn. Ein vierunddreißigjähriger Mann in Remission nach einer Lungenkrebserkrankung hatte zu 13,4 % eine Lebenserwartung von fünf Jahren.

Gott sei Dank befand sich Will weit jenseits der 13,4 %.

Vor einigen Monaten hatte sie ihn zu einer Kontrolluntersuchung bei seinem Onkologen begleitet. Der Arzt hatte gelächelt. »Ich kann es gar nicht oft genug sagen«, verkündete er. »Ihr CT ist sauber. Wir haben alles erwischt.«

Lily hätte vor Erleichterung zu Boden sinken können, aber Will war gänzlich unbeeindruckt. Er nickte nur einmal und stand auf. »Der Krebs kann mir nichts anhaben«, erklärte er. Das mochte sie an ihm – er kultivierte sein unerschütterliches Selbstbewusstsein mit viel Charme.

Jetzt schaute sie zu ihm auf und lächelte. »Ich dachte, du hättest dieses Zeug endgültig abgesetzt.«

Seine dunklen Haare standen kreuz und quer ab, und in den Winkeln seiner blauen Augen bildeten sich Lachfältchen. Er war Notfallmediziner im St Elizabeth Hospital. Sie wusste, dass er vor seiner Krankheit jeden Tag eine Stunde vor dem Spiegel gestanden hatte, selbst an freien Tagen, und hatte ihn mal gefragt, warum er sich eigentlich wie ein Mitglied der Jungen Republikaner kleide.

Der Will, der den Krebs überstanden hatte, trug zwar immer noch Kakihosen und Button-down-Hemden, aber an seinen freien Tagen steckte er das Hemd nicht mehr in die Hose und kümmerte sich auch nicht darum, ob jedes Haar am rechten Fleck saß. Manchmal ertappte Lily ihn dabei, wie er tief einatmete, als wolle er seine Lungenkapazität prüfen. Danach schloss er die Augen und lächelte, so offensichtlich zufrieden, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Er zog die Ärmelbündchen über seine immer noch mageren Handgelenke. »Ich arbeite ja nicht. Außerdem sind sie einfach zu gut, um sie wegzuschmeißen. Möchtest du eine?« Er zog das Medikamentenfläschchen aus der Tasche und warf es ihr zu.

Sie wollte es auffangen, bekam es aber stattdessen an die Nase. »Nein«, sagte sie und bückte sich, um es aufzuheben.

Achselzuckend nahm er es entgegen. »Wie du willst, aber du verpasst etwas. Was ist jetzt mit Mittagessen? Ich sterbe vor Hunger.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss arbeiten.«

»Ach, nun komm schon. Was braucht ein Mann nur, um dich zu beeindrucken?«

Solche Gespräche führten sie mindestens einmal die Woche. Will hatte kein spezielles Interesse an ihr; er flirtete einfach mit jedem weiblichen Wesen. Da sie diese Beschreibung erfüllte, schlüpfte er gelegentlich in die Rolle des Verführers, bis sie ihn wieder daran erinnerte, dass sie kein Interesse hatte. Was auch stimmte. Meistens jedenfalls. Manchmal klopfte ihr das Herz aber doch schneller, wenn ihm die schwarzen Haare in die Augen fielen. Dann zwang sie sich, die Frauen zu zählen, die sie im jeweiligen Monat aus seinem Haus hatte kommen sehen. Im März waren es sechs gewesen.

»Wann wirst du wieder arbeiten?«, fragte sie ihn.

Vor einem Monat hatte Will sich beurlauben lassen. »Um mich auf die Dinge zu konzentrieren, auf die es im Leben wirklich ankommt«, hatte er verkündet.

Jetzt durchquerte er den Raum und drehte ihren Stuhl zu sich herum, damit sie ihn anschauen musste. Dann beugte er sich hinab und stützte sich auf die Armlehnen. Er war ihr so nahe, dass sie seinen Atem an den Lippen spürte. »Sobald du einwilligst, mit mir auszugehen«, sagte er.

Sie registrierte die violetten Flecken in seinen blauen Augen und spürte, wie sie errötete. »Hast du den Kaffeesatz gefunden, den ich dir auf die Matte gelegt habe?«, fragte sie.

»Danke. Hat bei den Azaleen wahre Wunder gewirkt.« Er deutete auf den Computer, der nun die blaue Maske des Todes zeigte – zudem eine Warnung, dass Datenverlust drohte. »Ich habe den Eindruck, du hast ein Problem.«

»Mist!« Sie drehte sich um, drückte vehement auf die Ausschalttaste und wartete, bis der Bildschirm wieder schwarz war. »Was willst du hier, Will? Der Schlüssel ist für Notfälle gedacht, nicht für deine täglichen Aufwartungen.« Er zuckte leicht zusammen, und sie wünschte, sie könnte ihre Worte zurücknehmen.

»Ah, ich bin tief getroffen. Du bist grausam, Lily Martin. Hat dir das eigentlich schon mal jemand gesagt?«

Ihr Blick huschte zu dem Foto auf dem Schreibtisch. Sie schaute schnell wieder weg und hoffte, er habe es nicht gemerkt. Sie besaß noch mehr Bilder, aber dies hier war das einzige, das sie aufgestellt hatte. Unter ihrem Bett standen acht volle Schachteln. Als sie Rose eines Nachts so unerträglich vermisst hatte, dass ihr schier der Kopf geplatzt war, hatte sie sich die Fotos angeschaut, bis sie inmitten der Fragmente des Lebens, das sie einmal gehabt hatte, eingeschlafen war.

Sie hatte auch ein Babyfoto von ihrer Nichte Antoinette. Manchmal versuchte Lily, sich vorzustellen, wie das kleine Mädchen jetzt wohl aussah, aber vergeblich. Als Baby war Antoinette anders gewesen. Sie sich als Zehnjährige vorzustellen, war praktisch unmöglich.

Will hatte ihren Blick registriert und nahm das Foto.

»Gib das sofort zurück.« Sie griff nach dem Bild, aber er wich zurück.

»Hübsch warst du damals. Jetzt gefällst du mir allerdings besser«, sagte er. »Auch diese Zornesfalte, wenn du sauer bist.«

»Ich habe keine Falte.« Sie presste die Hand an die Stirn.

»Doch, hast du. Hier.« Er nahm ihre Hand weg und strich ihr sanft über die Stirn.

Seine Finger waren weich, und sie entspannte sich unter seiner Berührung. Er stellte das Foto zurück auf den Schreibtisch. »Deine Schwester kann dir nicht das Wasser reichen.«

Das war eine Lüge. Rose war die Schönere von ihnen beiden.

»Versteh mich nicht falsch«, sagte er. »Man kann nicht leugnen, dass sie ausnehmend hübsch ist. Aber wer will schon eine blonde, blauäugige Barbiepuppe, wenn er ein Mädchen mit grünen Augen und einer Haut wie Porzellan bekommen kann? Mach dich nicht schlechter, als du bist.«

Lily schaute zu Will auf. Seine Augen waren so blau wie die Kornblumen, die daheim wild auf den Feldern wuchsen. Kein Wunder, dass ihm die Frauen hinterherliefen.

»Sehr komisch, Will. Warum bist du hier?« Sie mochte es nicht, wenn man sich über sie lustig machte.

Er grinste, und seine perfekten Zähne kamen zum Vorschein. »Es handelt sich um einen Notfall. Mir ist der Kaffee ausgegangen.«

»Ein Stück die Straße runter findest du ein Starbucks«, sagte sie, drehte sich um und klappte den Laptop zu.

»Aber dann hätte ich dich heute nicht zu sehen bekommen.« Er legte sein Kinn auf ihre Schulter. »Und? Hast du welchen?«

»In der Küche, wo sonst?«

Er küsste sie auf die Wange und ging nach nebenan, um den Kaffee zu suchen, der auf der Arbeitsplatte stand, direkt neben der Kaffeemaschine.

Wenn sie an Will dachte, flatterte ihr das Herz in der Brust und sie bekam schwitzige Hände. Sie hatte sich oft vorgestellt, wie sich seine Lippen auf ihre legten. Ein Teil von ihr hätte sich am liebsten kopfüber in eine Beziehung mit ihm gestürzt. Aber Lily sprang niemals in einen Pool, ohne zuvor das Wasser zu testen. Dieser Teil von ihr – der vorsichtige – riet ihr zur Zurückhaltung. Will war ihr bester Freund, und sie wollte nicht das Risiko eingehen, ihn zu verlieren.

Jetzt legte sie den Kopf auf den Schreibtisch und atmete bewusst langsam. Sie zählte jeden Atemzug. Die Manie fürs Zählen hatte sie schon als Kind entwickelt. Es beruhigte sie, wenn sie Angst hatte. Deckenfliesen, Bilderrahmen, Blütenblätter – sie zählte alles.

Als kleines Kind hatte sie es noch nicht geschafft, leise zu zählen und ihre Mitschüler hatten sie Graf Zahl gerufen. Jeden Tag hatte sie die schmutzigen weißen Deckenfliesen zwischen dem Eingang der Schule und der Bibliothek gezählt. Ihre Mitschüler hatten sich damals regelmäßig in Dracula-Posen geworfen, sich den Mantel halb übers Gesicht gezogen und ihr wahllos irgendwelche Zahlen hinterhergerufen.

Die Hänselei hielt an bis zu einem Tag, als Lily in der fünften Klasse war. Nach Schulende wartete sie auf den Bus, umringt von ein paar Mitschülern. Sie bombardierten sie mit Zahlen und lachten, als ihr die Tränen in die Augen schossen. Bis sich plötzlich der Nachbarsjunge Seth Hastings einen Weg durch die Menge bahnte. Seth packte sich den Anführer der Bande, stieß ihn zu Boden und jagte ihm die Faust in den Bauch. Dann legte er den Arm um Lily und brachte sie zum Bus. Als Lily in ihrer Aufregung zu zählen anfing, stimmte er mit ein. Nach dieser Episode begleitete Seth sie jeden Tag zum Bus, und niemand nannte sie je wieder Graf Zahl.

Irgendwann hatte Lily gelernt, leise zu zählen, aber die Angewohnheit selbst hatte sie nicht ablegen können. Sie war bei sieben angelangt, als Will aus der Küche rief: »Ich kann keinen Kaffee finden.«

Sie schloss die Augen und murmelte »acht«, bevor sie antwortete, weil sie nie bei ungeraden Zahlen aufhörte. »Er steht auf der Arbeitsplatte.«

»Lily! Da ist er nicht.«

Er zog die Worte in die Länge und artikulierte sehr bewusst. Hätte sie ihn nicht besser gekannt, sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass er high war. Sie fragte sich, ob er manchmal in einem solchen Zustand zur Arbeit ins Krankenhaus ging. Sie sah es förmlich vor sich, wie er im weißen Kittel in ein Kabuff schlich und ein paar Tabletten einwarf. Vielleicht hielten sich alle Ärzte für unbesiegbar. Vielleicht war aber auch nur Will so.

»Hier ist kein Kaffee!«, rief er wieder.

Sie schob den Stuhl zurück. Heute war sowieso kein guter Tag zum Arbeiten. Jedes Jahr, wenn der Frühling den Winter in die Flucht schlug, fiel sie in eine Art Depression. Judasbäume blühten, und in den Rabatten an den Straßen reckten die Narzissen die Köpfe aus der Erde. Es war sehr schön, aber es kam ihr immer etwas künstlich vor und weckte die Sehnsucht nach der Farm.

Als sie um die Ecke bog, wäre sie fast gegen eine Schranktür geknallt. Alle zwölf Schränke standen offen. »Ich finde ihn nicht«, sagte er.

Sie marschierte durch den Raum, schloss auf dem Weg die Türen, griff zu der Tüte, die neben der Kaffeemaschine stand und gab sie ihm.

»Danke.« Er schaufelte ein paar gestrichene Löffel heraus. »Möchtest du auch einen?«

Sie nickte und holte Tomaten und Käse aus dem Kühlschrank. Da sie ohnehin nicht arbeiten konnte, bot sich der Moment genauso gut für einen verspäteten Lunch an wie jeder andere.

Während sie das Essen vorbereitete, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Vor der Küche befand sich eine kleine Holzterrasse, von der eine klapprige Treppe zu einem gepflasterten Hof führte, ihrem »Garten«. Er war von einer hohen Steinmauer umgeben, und im späten Frühjahr rankten sich an schmiedeeisernen Gittern weiße Clematis und New-Dawn-Rosen empor. Das war schön anzusehen und praktisch gleichermaßen, weil es sie ein wenig von den Nachbarn abschirmte. Auf der einen Seite wohnte Will, auf der anderen ein Künstler, der aus Campbell-Dosen kinetische Skulpturen herstellte. Obwohl Lily ihr altes Backsteinhaus liebte, hatte sie immer noch Schwierigkeiten damit, auf so engem Raum mit anderen Menschen zusammenzuwohnen, selbst nach sechs Jahren noch.

Überall wimmelte es von Menschen. Die Bürgersteige hatten Schlaglöcher und waren nicht sehr breit; kam einem jemand entgegen, musste man sich regelrecht an ihm vorbeidrücken. Die Vögel hatten Mühe, sich bei dem ewigen Getöse von Autos und Bussen überhaupt Gehör zu verschaffen. Ein wildes Durcheinander an Pflanzen spross in dem bisschen Erde, das den Häusern als Garten diente.

Lily trug die Teller hinaus, zum Bistrotisch auf der Terrasse. Will brachte den Kaffee mit. Statt sich zu setzen, tigerte er hin und her, nahm gelegentlich einen Schluck und beschirmte die Augen. Eine sanfte Brise wehte, aber die Sonne hatte die letzte Winterkälte schon vertrieben. Abgesehen vom Straßenlärm und dem Quietschen einer kreisenden Skulptur im Garten des Künstlers war der Tag ruhig.

»Wie hältst du es hier draußen nur aus? Das Licht ist furchtbar grell«, sagte Will und steckte sich ein Stück Käse in den Mund.

Sie zuckte mit den Achseln und hielt das Gesicht in den Wind. Die frische Luft an ihren Wangen weckte Erinnerungen an ihr früheres Selbst.

»Stimmt, du bist ja ein Mädchen vom Lande.« Will lachte. »Ich wünschte, ich hätte dich auf der Farm gesehen. Du warst wahrscheinlich ziemlich hübsch damals, mit Zöpfen und Schweinemist an den Füßen.«

»Es handelt sich um eine Blumenfarm, da gibt es keine Schweine.« Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das rote Glühen der Sonne vor ihren Lidern.

»Ich sehe dich förmlich vor mir: barfuß im Dreck, unter jedem Arm ein Huhn.«

Ohne die Augen zu öffnen, sagte sie: »Blumenfarm. Keine Schweine, keine Hühner.« Im Geist war sie bei den Zahlen rund um die Eden Farms: der Anteil, der ihr mal gehört hatte (50 %), der Anteil, der ihr heute gehörte, nachdem sie ihren Anteil nach dem Tod ihrer Eltern Rose überschrieben hatte (0 %), die Anzahl der Jahre, die sie nicht mehr dort gewesen war (mehr als 6), die Anzahl der Jahre, die sie nicht mehr mit Rose gesprochen hatte (ebenfalls mehr als 6).

Von zu Hause und von Rose getrennt zu sein, war, als hätte man ihr ein Körperteil amputiert, aber zurückzugehen kam trotzdem nicht infrage.

»Warum erzählst du nie davon? Wann warst du überhaupt zum letzten Mal dort?«, fragte Will und stieß sie noch tiefer in ihre Erinnerungen. »Das ist doch dein Zuhause. Du weißt schon, dieser Ort, wo man unweigerlich eingelassen werden muss, wenn man dort aufkreuzt.«

Nein, dachte Lily. Von müssen kann gar keine Rede sein. Mit ziemlicher Sicherheit würden sie es auch nicht tun.

Will redete immer noch auf sie ein. »Die Farm gehört doch zur Hälfte dir, oder? Nur weil deine Schwester verrückt ist, heißt das doch noch nicht, dass du dich fernhalten musst.«

»Sie ist nicht verrückt, sie ist sauer auf mich.« Außerdem gehörte es nicht mehr zur Hälfte ihr. Lily schob ihren Teller zurück und stand auf. Rose und sie waren einst Schwestern in jedem Sinne des Wortes gewesen – und jung und naiv genug, um zu glauben, dass Blut dicker ist als Wasser. Was sie damals nicht wussten, war, dass Blut genauso leicht trennen kann.

»Was sie in meinen Augen zu einer Verrückten macht. Wie könnte jemand sauer auf dich sein? Nun komm schon. Es ist doch nicht weit. Lass uns hinfahren und sie überraschen.«

Unter der Terrasse standen stapelweise Terrakottatöpfe und Betonschalen, die Lily noch sichten wollte. Die meisten hatten Sprünge oder Macken, aber sie hoffte, ein paar noch retten zu können. Als Will gar nicht mehr aufhören wollte, über die Farm zu reden, stand sie auf und stieg die Treppe hinab in den Hof, um nach den Töpfen zu sehen.

Nach einer Weile knarrten die Dielen und Will folgte ihr unter die Terrasse. »Das war doch nur so dahergesagt.« Er bückte sich und trat ebenfalls unter die Terrasse. »Ich wette, du warst niedlich damals. Barfuß im Dreck.«

Sie holte ein blaues Keramikgefäß zwischen den Töpfen hervor. Ein feiner Riss war an der Oberfläche zu erkennen. Sie drehte es um: Der Riss zog sich über das gesamte Gefäß, und sie stellte es wieder beiseite. Der nächste Topf, den sie aus dem Haufen befreite, war mit grünem Schimmel überzogen, hatte aber keine Sprünge. Der war in jedem Fall zu retten. Im Haus klingelte das Telefon, aber sie machte keine Anstalten hineinzugehen.

Will nahm ihr den Topf ab und stellte ihn weg. Dann griff er nach ihrer Hand und sagte: »Tut mir leid. Ich verspreche dir, dass ich mich ab sofort benehmen werde. Und jetzt komm wieder hoch und setz dich zu mir.« Im Sonnenlicht sahen seine Pupillen riesig aus. Sie verdrängten fast das gesamte Blau aus seinen Augen.

»Nun komm schon, Lils. Es ist ein so schöner Tag. Wir setzen uns auf die Terrasse, und ich werde deine verrückte Schwester mit keinem Wort mehr erwähnen.« Lily versuchte krampfhaft, sich ein Lächeln zu verkneifen, aber Will hatte es längst bemerkt. »Das ist die Lily, die ich kenne.« Er zog sie hinter sich her die Treppe hinauf, überquerte mit ihr die Terrasse und lehnte sich dann ans Geländer. »Siehst du«, sagte er. »Ich kann auch nett sein.«

»Man sollte die Hoffnung nie aufgeben«, erwiderte Lily lächelnd.

Will stieß sie an, eine zugleich freundliche und intime Geste. »Ich möchte nur, dass du glücklich bist.«

Lily schaute auf ihren kleinen Hof hinab. Die Rosen bekamen schon erste Blätter, aber es würde noch ein, zwei Monate dauern, bis sie blühten. »Ich bin glücklich«, sagte sie.

»Ich kenne dich besser, als du dich selbst. Es ist jedes Frühjahr dasselbe – du vermisst dein Zuhause.«

Er hatte recht, aber das würde Lily niemals zugeben. Stattdessen hakte sie nach: »Warum ist dir das überhaupt so wichtig?«

Er schob die Finger zwischen ihre. »Die Antwort solltest du kennen. Du bist mir wichtig. Wenn es für dich wichtig ist, ist es das für mich auch.«

Ihre Hand wurde ganz warm unter der Berührung.

»Außerdem«, sagte er, »habe ich ein Faible für Mädchen vom Lande. Du in einer abgeschnittenen Jeans und mit geflochtenen Zöpfen.« Er grinste. »Da würde ich als glücklicher Mann sterben.«

Lilys Herzschlag beschleunigte sich. Sie rückte näher an ihn heran, als erneut das Telefon klingelte. Erschrocken entzog sie ihm die Hand und lief hinein. Sie musste weg von ihm, bevor sie etwas sagte, das sie später bedauern würde.

»Hallo?«, sagte sie außer Atem in den Hörer.

Stille. Dann eine Stimme, so sanft, als klänge sie aus einer anderen Welt herüber. »Lily?«

Im ersten Moment dachte sie, ihre Fantasie spiele ihr einen Streich.

»Hallo, Lily? Bist du es?« Rose klang noch wie immer, aber hinter dem weichen Akzent aus Kentucky bemerkte Lily eine gewisse Müdigkeit.

Die Überraschung, die Stimme ihrer Schwester zu hören, war so gewaltig, dass ihr die Knie weich wurden. Und ihre Antwort war eher eine Frage. »Ich bin es?«

 

Nach dem Gespräch blieb Lily auf dem kalten Fliesenboden sitzen und hielt das Telefon ans Ohr gepresst, bis eine roboterhafte Stimme erklärte, dass sie auflegen und neu wählen solle, wenn sie noch ein Gespräch führen wolle.

Will stand noch auf der Terrasse, als sie wieder hinausging, aber er schien weit weg zu sein. Sie fühlte sich eigentümlich, als befände sie sich in einer Blase. Die ganze Welt wirkte verzerrt.

»Alles in Ordnung?«, fragte Will. Seine Sorge überraschte sie. »Was ist los?« Er kam zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern.

Sie schloss die Augen und wünschte, sie könne sich verstecken vor dem, was sie zu sagen hatte. »Das war Rose, meine Schwester?« Wieder klang es wie eine Frage. »Sie leidet an einer Herzinsuffizienz. Während der Schwangerschaft hat sie eine peripartale Kardiomyopathie entwickelt. Die meisten Frauen erholen sich davon wieder. Sie nicht. Ich dachte, es gehe ihr wieder gut. Aber das stimmt nicht.«

Rose hätte laut Statistik längst sterben müssen, das war Lily klar.

Will streichelte ihr über die Wange. »Eine Transplantation …«

Lily schüttelte den Kopf. »Sie leidet an … pulmonaler Hypertonie? Sie meint, eine Transplantation komme nicht infrage.«

Tränen brannten in ihren Augen, und sie blinzelte heftig, um sie zurückzuhalten. »Meine Schwester stirbt.« Jetzt, da sie die Worte ausgesprochen hatte, war es plötzlich real. Sie weinte. Diesmal entzog sie sich nicht, als Will sie in die Arme nahm. Sie vergrub das Gesicht an seiner Brust und weinte in sein derbes Hemd. Sie hatte immer noch Rose’ Stimme im Ohr: »Komm heim, ich brauche dich hier.«

Roses Tagebuch
– März 2003 –

Angst hat einen speziellen Geschmack.

Ich sitze am verkratzten Küchentisch. Vor mir liegen Tulpen- und Narzissenzwiebeln aufgereiht. Eigentlich sollte ich an meiner Abschlussmappe arbeiten. Es sind Frühjahrsferien, und in sieben Wochen beende ich das College. Stattdessen schreibe ich Tagebuch und trinke Limonade, um den Geschmack von Kupfermünzen von der Zunge zu vertreiben.

Mein Kind soll Ende Mai zur Welt kommen.

Mein. Kind. Ich sehe mich schon bei der Prüfung über die Bühne segeln, das schwarze Gewand wie ein Zirkuszelt um meinen Babybauch flatternd.

Als wir gestern heimkamen, hat Lily unsere Taschen an der Küchentür stehen gelassen, ist hinaus und die Verandatreppe hinabgerannt.

»Willst du nicht erst deine Mutter umarmen?«, hat Mutter ihr hinterhergerufen. Sie stand in der Küche, hatte auf uns gewartet. Obwohl wir erst März haben, ist sie von der Arbeit auf den Feldern bereits braun gebrannt, und ihre Fingernägel leuchten wie immer knallrot. Die Jahre, in denen sie unentwegt Samen in die Erde gesetzt und Unkraut ausgerissen hatte, haben ihre Spuren hinterlassen, deshalb trägt sie stets Nagellack.

Lily warf einen Blick zurück. Der Wind fuhr ihr durch das lange, braune Haar. Sie sah aus, als wäre sie der Erde entsprossen. »Gleich. Ich muss erst im Gewächshaus etwas nachschauen.«

Als sie zurückkam, hatte sie ein Bund Kräuter dabei. Die eine Pflanze hatte filigrane, geweihartige Blätter, die andere kleine gekerbte. »Fenchel und Koriander«, sagte sie, als sie mir das Bouquet hinhielt. »Kraft und verborgene Werte.« Sie lächelte, als sei ich jemand, zu dem man aufschaut, und nicht eine schwangere Collegestudentin, die vom Vater ihres Kindes sitzen gelassen worden war.

Jetzt nehme ich eine Narzissenzwiebel und lasse meine Finger über das weiche, weiße Fleisch gleiten. Die Küche ist der beste Platz zum Arbeiten. Am frühen Morgen ist sie lichtdurchflutet. Dann kann ich so tun, als sei ich in einem Atelier auf dem Campus, mein Bauch noch flach und mein Plan, nach dem Collegeabschluss nach Italien zu reisen, noch nicht dahin. In diesen Momenten kehre ich nicht nach Hause zurück, um auf der Farm zu arbeiten, weil ich für meine Tochter sorgen muss – in diesen Momenten bin ich Künstlerin.

Auch heute krampfen sich meine Bauchmuskeln zusammen, und ab und an bekomme ich keine Luft. »Vorwehen. Braxton-Hicks-Kontraktionen nennt man das«, hatte mein Geburtshelfer bei meinem letzten Termin gesagt. Das tue nicht weh, hatte er behauptet. Ein Irrtum.

Als meine Muskeln sich wieder entspannen, kehrt der Geschmack von Kupfermünzen zurück. Deshalb trinke ich Limonade, aber es hilft nicht wirklich.

Ich versuche, mich auf die Narzissenzwiebel zu konzentrieren, die ich für meine Mappe skizzieren soll. Ich habe die braune papierartige Hülle der Zwiebel mit dem Gartenmesser meines Vaters aufgeschlitzt und sie geschält, indem ich die papierenen Schichten abgezogen habe. Dann habe ich die Zwiebel in der Mitte durchgeschnitten, um die Blütenknospe freizulegen.

Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, dass im Innern der Zwiebel eine winzige aufkeimende Pflanze ruht. Ich fertige eine Serie von Zeichnungen an, die verschiedene Blumen in den unterschiedlichen Stadien des Keimens zeigen.

Die Knospe ist noch in sich selbst gehüllt. Ich lege die Zwiebel hin, strecke die Hand aus – Daumen nach oben, die Daumenspitze auf Höhe des ersten Blatts – und betrachte sie mit zusammengekniffenen Augen. Den Stängel messe ich mithilfe meiner Daumenwurzel. Die Pflanze ist von einem so blassen Grün, dass sie fast weiß ist.

Ich beginne zu zeichnen, mit dünnen, spärlichen Strichen. Dabei konzentriere ich mich darauf, wie sich mein Arm in großen Schwüngen über das Papier bewegt, auf das Gefühl der unebenen Oberfläche unter der Kohle.

Wenn ich zeichne, fällt die Angst von mir ab.

Die Kohle erzeugt ein sanftes Wischgeräusch auf dem Papier. Ich betrachte die Zwiebel und fahre mit dem Finger über den Bogen des Stängels und über die Falte des ersten Blatts. Wenn ich arbeite, versuche ich, die Person zu sein, für die Lily mich hält, strotzend vor Kraft und voller verborgener Werte. Ich setze mich auf und ignoriere den sanften Druck in der Brust, den ich seit dem Überschreiten der Sechs-Monats-Schwelle spüre und der nicht mehr verschwinden will.

Derart in Gedanken versunken, zucke ich zusammen, als mir meine Mutter die Hand auf die Schulter legt. Sie beugt sich hinab und küsst mich auf den Kopf; das Ende ihres langen blonden Zopfs kitzelt mich an der Wange. »Du bist eine Künstlerin. Selbst wenn du wieder nach Hause kommst, wird sich daran nichts ändern.

Gefällt dir die Wiege?«, erkundigt sie sich und tritt an die Arbeitsplatte, um sich einen Kaffee einzuschenken. Sie spannt die Schultern an. Meine Antwort ist wichtig für sie. Sie war enttäuscht, als ich ihr von der Schwangerschaft erzählt habe, aber nachdem der erste Schock überwunden war, starteten sie und mein Vater eine regelrechte Kampagne, um mich nach Hause zurückzuholen.

»Sie ist wunderschön«, sage ich, und es stimmt. Mein Vater Wade hat die weiße Wiege gebaut, die nun am Fußende meines Bettes steht. Die präzise gedrechselten Holzstäbe und der solide Eindruck der Konstruktion tragen seine Handschrift.

Wenn Lily Möbel bauen würde, wären sie genauso. Solide. Wunderschön. Für die Ewigkeit.

»Das freut mich«, sagt Mum. Sie sieht jünger aus, wenn sie lächelt. Ich wünschte, sie täte es öfter.