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PAUL VAN DYK

Mit Guido Eckert

IM LEBEN
BLEIBEN

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1. Auflage

© 2019 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Sonny Gothic

Umschlaggestaltung: www.b3K-design.de, Andrea Schneider, diceindustries, unter Verwendung eines

Fotos von Julian Erksmeyer, www.erksmeyer.de

ISBN 978-3-7109-0031-0

eISBN 978-3-7109-5049-0

Inhalt

State of Trance Festival, Utrecht

Mein Weg zur Musik

Im Leben bleiben

Musik ist mein Leben

Alles auf Anfang

Danke

»Hallo, Schatz, ich gehe jetzt auf die Bühne.
Ich rufe dich später noch mal an, wenn ich mit der Show fertig bin.
Morgen sehen wir uns endlich wieder.
Dann machen wir unser offizielles Verlobungsfoto …«

State of Trance Festival, Utrecht

Der 27. Februar ist ein gewöhnlicher Tag. Ein Samstag. Ein eher langweiliger Tag, ohne Paul; ich ordne Unterlagen. In unserem Appartement in Los Angeles. Mein Kopf ist voll von der bevorstehenden Reise nach Mexiko, übermorgen schon, wo er mich beim letzten Mal gefragt hat, ob ich ihn heiraten würde. »Margarita und Paul« – ein schönes Gefühl. Wir sind jetzt seit einem Monat verlobt.

Allerdings irritiert mich etwas. Und zwar meine Unruhe.

Nicht wegen der unzähligen Details, die bei einer Hochzeit im Vorfeld zu klären sind, nein, es ist etwas anderes, eher unbestimmt. Und dieses Nicht-Greifbare beschäftigt mich. Ich bin sehr sensitiv für solche Erscheinungen; und ich habe schlecht geschlafen. Schon seit einigen Tagen habe ich Albträume. Sehr dunkel alles, kaum konkrete Bilder. Ich wache morgens auf und fühle mich gerädert und nervös. Zudem gibt es seit einigen Tagen eine ungewöhnliche Häufung von Zufällen, an beinahe jeder Ecke, überall dort, wo Paul und ich herumschlendern. Das Ganze ist derart auffällig, als ob etwas Schlimmes in der Luft läge.

Was ist mit LA los?

»Sei vorsichtig«, habe ich deshalb heute Morgen zu Paul gesagt, als wir uns an der Haustür verabschiedeten. Dieses Konzert in Holland ist einer der seltenen Auftritte, bei denen ich nicht dabei bin.

Mit einem charmanten Lachen sagte er zu mir, ich solle mir keine Sorgen machen und wir könnten jederzeit telefonieren.

Wir haben uns an der Tür geküsst, ein wenig geweint, wie meist, wenn wir uns trennen müssen; da ist eine Innigkeit zwischen uns beiden, die Außenstehende nicht immer begreifen. Paul und ich teilen alle Geheimnisse, wir sind miteinander vertraut, wie ich das vorher noch nie mit einem Menschen erlebt habe. 24/7, wie es heute gern heißt, immer zusammen, Tag und Nacht, Stunde für Stunde, Minute für Minute. Haut an Haut. Und das auch noch mit Absicht, voller Verlangen. Grausam allein die Vorstellung, meinen Tag ohne Paul zu beginnen oder ohne ihn ins Bett gehen zu müssen. Ich vermisse ihn jede Sekunde, die wir nicht zusammen verbringen.

Der Tag darauf brachte eine weitere Reihe an bizarren Vorfällen, aber ich beschloss, ihnen nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken und mich stattdessen auf die Dinge zu konzentrieren, die ich zu tun hatte.

Am Abend, als er anruft, bin ich unterwegs, ich erinnere mich genau an seine Worte: »Ich gehe jetzt auf die Bühne, ich rufe dich später noch mal an, wenn ich mit der Show fertig bin.«

»Ich liebe dich«, antworte ich.

Zurück in meiner Wohnung, bereite ich mir ein Tiefkühlgericht zu und öffne meinen Laptop, um mir dabei den Livestream von Pauls Auftritt anzusehen. Heute passt es aufgrund der Zeitverschiebung, und ich sehe ihm zu. Es ist das Übliche. Er spielt seine Musik. Eine grandiose Atmosphäre. Er geht vor die Bühne.

Das Übliche.

Aber er ist plötzlich verschwunden.

Wo ist er hin? Warum zeigt die Kamera ihn nicht?

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Leere.

Bei einem schweren Schädel-Hirn-Trauma, einer Gehirnquetschung, dauert die Bewusstlosigkeit länger als 60 Minuten, verursacht durch Einklemmung des Gehirns durch Blutungen. Das ist ein medizinischer Ausdruck.

Ansonsten fühlt ein Mensch im komatösen Zustand nichts.

Er denkt nicht, er fühlt nicht; er atmet.

Er fragt nicht einmal: Wo bin ich?

Das Gehirn ist vollständig von Knochen umgeben. Als Schutz. Aber infolge der Einklemmung wird genau das zur Gefahr, da das Gehirn unter dem Druckanstieg leidet. Die Folge ist ein Koma. Zur Entlastung wird oft die Entfernung eines Teils der Schädeldecke angewandt. Dauerhafte Hirnverletzungen gelten als wahrscheinlich.

Leere.

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Paul ist nicht zu sehen. Es passiert nichts.

Aber seine Musik hämmert unverändert weiter. Wenn es ein technisches Problem gäbe, dann müsste doch auch die Musik verstummen! Aus meiner Kameraperspektive sehe ich nur einen dunklen Saal.

Ich suche mein Handy auf dem Wohnzimmerschrank und wähle die Nummer des Tour-Managers.

Keine Reaktion.

Plötzlich stoppt die Musik.

Dunkelheit. Und: Stille.

Die ersten Pfiffe ertönen im Saal.

Es ist eine grausame Stille. Beängstigend. Und wieder frage ich mich, warum die Musik die ganze Zeit weitergelaufen ist, wenn es ein technisches Problem gegeben haben sollte.

Die ersten Kommentare trudeln ein, in einer Spalte neben dem Livestream: Er ist gefallen! Paul ist gestürzt!

Mein Herz schlägt wie irre. Wieder rufe in den Tour-Manager an (ergebnislos), schreibe ihm eine SMS, er solle bitte, bitte zurückrufen. Nichts. Die Kommentare werden zahlreicher, aber offensichtlich weiß niemand wirklich Bescheid, was passiert ist. Ich poste ebenfalls: Wenn jemand gerade in dem Saal in Utrecht ist, bitte, meldet euch!

Mein Atem geht schnell und hektisch. Okay, denke ich und versuche mich zu beruhigen, Paul ist vermutlich gestolpert, vielleicht hingefallen, möglicherweise hat er sich den Fuß angeknackst. Schlimmstenfalls sogar gebrochen. Oder auch eine Hand. Was ärgerlicher wäre. Ich bete zu Gott, dass es nichts Schlimmes ist.

Aber niemand meldet sich.

Was ist los?

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Es dauert eine Ewigkeit, bis tatsächlich der Tour-Manager zurückruft. Ohne Begrüßung. Seine einzige Frage lautet: »Hat Paul irgendwelche Medikamente genommen?«

Ich verstehe nicht. Paul hatte eine Erkältung, ja, deshalb habe ich ihm einige rezeptfreie Medikamente eingepackt, gegen Schnupfen, Fieber, gegen Kopfschmerzen. Mir fällt unser Treffen morgen ein und dass Paul doch gleich, um sechs Uhr mitteleuropäischer Zeit, zum Flughafen nach Amsterdam aufbrechen muss. »Was ist denn los?«

»Ich rufe dich zurück«, sagt er.

»Du musst mir sagen, was los ist. Wo ist Paul? Ich habe versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, es ist ausgeschaltet.«

Schweigen.

»Ich rufe dich zurück …«

Mir bleibt also nichts anderes übrig, als zu warten.

In Utrecht, sehe ich im Livestream, greift mittlerweile Armin van Buuren, der Gastgeber des Abends, ein Mikrofon und sagt: »Paul ist von der Bühne gefallen.« Er spricht weiter, erschrocken, wie mir scheint, ehe er noch sagt: »Aus Respekt vor Paul werden wir jetzt aufhören.«

Ich wähle mir die Finger wund und rufe so ziemlich jede Person an, die meiner Meinung nach Auskunft geben könnte. Aber niemand antwortet.

Irgendwann erreiche ich Pauls Booking Agent. »Was ist passiert? Irgendjemand muss mir sagen, was los ist!«

»Ähm …« Langes Schweigen. »Paul ist auf dem Weg ins Krankenhaus … Aber keine Sorge, alles ist gut.«

»Was? Was hat er denn?«, frage ich heiser.

»Ähm … Ich muss hier noch ein paar Dinge organisieren, lass uns später telefonieren.« Pauls Agent ist Engländer. Er redet sehr schnell, mit starkem Akzent, was er sonst nie tut. Ich verstehe kaum ein Wort, aber ich spüre an dieser Erregung, dass nichts normal ist. Ohne mir wirklich vorstellen zu können, dass etwas Schlimmes passiert ist. Nein!

Ich muss wieder warten. Und warten.

Und während ich warte, ist es, als ob Tausende von Nadeln mich am ganzen Körper stechen und ich gleichzeitig von einer unsichtbaren Anakonda gewürgt werde, sodass ich nicht mehr atmen kann. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, weiß nicht, was passiert ist, innerhalb einer Minute änderte sich alles von Normalzustand in Unsicherheit. Paul ist auf dem Weg ins Krankenhaus und musste seine Show abbrechen – das ist nicht normal! Er ist zu professionell, als dass er auch nur in Erwägung zöge, seinen Job nicht zu machen, was immer ihn auch beeinträchtigt. Selbst wenn er seine Hand oder seinen Fuß bräche, würde er weiterspielen. Das ist einfach Paul. Was könnte passiert sein?

Auf Pauls Facebook-Seite schaukeln sich mittlerweile verärgerte Kommentare hoch, weil die Show abgebrochen wurde. Mit grausamem Unterton. Paul van Dead, schreibt jemand. Lachende Smileys, Hahaha, als ich das lese, raste ich aus. Ich beschimpfe die Kommentatoren, bin völlig außer mir.

Mach das nicht. Ein Freund setzt ebenfalls einen Kommentar ab und rät mir dringend, mich aus dem Netz zu klinken und auf diese »Kommunikation« mit hämischen Fremden zu verzichten. Es zieht dich nur runter. Das ist auch alles richtig, aber was soll ich denn anstelle dessen tun? Warum geht Paul nicht ans Telefon?

Keine Antwort.

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Die Stunden vergehen.

Ich laufe im Wohnzimmer auf und ab, von links nach rechts, ohne Ziel, ohne Pause; wie irre. Manchmal erreiche ich jemanden, ohne aber wirklich eine Antwort zu erhalten. Alle sprechen so ausweichend. Ich solle nicht ins Internet gehen, das würde mich nur unnötig aufregen. Komm zur Ruhe, sagen sie. Wie denn, wenn ich nichts weiß?

Also telefoniere ich trotzdem weiter und erreiche tatsächlich den Agenten. »Paul ist immer noch im Krankenhaus«, sagt er. »Ich melde mich später.«

»Was soll denn immer dieses Getue? Ich will mit Paul sprechen! Lass mich mit ihm sprechen!«

»Nein. Das geht gerade nicht …«

»Warum geht das nicht? Reich ihm einfach das Handy weiter und lass mich mit ihm sprechen!«

»Nein, nein, das ist gerade nicht gut.«

»Warum ist es gerade nicht gut?«

Ich brülle in den Hörer, aber er lässt sich nicht erweichen. Ich sitze Tausende Kilometer entfernt und bin zur Untätigkeit verdammt. Ich kann rein gar nichts tun. Außer herumzulaufen. Und sinnlos irgendwelche Nummern anzuwählen. Immer wieder.

Es dauert weitere Stunden, in denen ich herumlaufe, die Wände anschreie und meine Haare auf den Fingern drehe, bis ich frühmorgens die Telefonnummer von Armin van Buuren erhalte. Ich spreche ihm auf die Mailbox. Was soll ich auch sonst tun? Verzweifelt. »Bitte ruf mich zurück, ich bin Pauls Verlobte. Bitte, ruf mich zurück!«

Später wähle ich erneut die Nummer von Pauls Agenten.

»Ich bin gerade in Pauls Hotelzimmer«, sagt er tonlos, »und packe seine Sachen.«

»Wozu?« Paul sollte doch nach Mexiko fliegen.

»Weil er jetzt nicht kommen wird und aus dem Hotelzimmer auschecken muss.«

»Was ist mit Paul? Hast du irgendwelche Neuigkeiten? Bitte, sag mir irgendetwas!«

»Nein, nein, er atmet … Er atmet.«

Was? Wir alle atmen. Das ist das Normalste auf der Welt. Ich atme, du atmest, er atmet, wir alle atmen, was meinst du damit?

»Ich versteh nicht!«, kreische ich. »Was war los?«

»Nichts. Da war ein wenig Blut und …«

»Blut? Kann er sprechen?«

»Ähm … Ich bin mir nicht sicher …«

»Was meinst du, du bist dir nicht sicher?«

Alles ist so merkwürdig, so durcheinander, es ergibt keinen Sinn für mich.

Aber ich erhalte keine Antwort.

»Ich rufe dich zurück …«, sagt der Agent.

Ich renne wieder im Kreis. Immer nur im Kreis. Bis zum Fenster, wieder zurück. Und wieder nach vorn. Wie ein Löwe im Käfig. Ich verstehe nicht, was dort, in Utrecht, passiert ist, ich weiß aber auch nicht, was ich von hier aus tun könnte. Alles, was ich weiß, ist, dass er blutet und dass er atmet … Was könnte es sein? Vielleicht wurde er am Arm verletzt und es blutete, und sie verwenden den Begriff »atmen«, um einen Angriff oder Ähnliches auf ihn zu umschreiben?

Diese Hilflosigkeit zerstört, ja, zerquetscht mich. Und dann diese Vertröstungen! Ich bin kein entfernter Schulfreund, der zufällig anruft – ich bin seine Verlobte. Und Paul ist die Liebe meines Lebens. Warum spricht niemand mit mir?

Komm zur Ruhe. Guter Witz! Ich kann nicht schlafen, nicht essen, nicht trinken und auch nicht zur Ruhe kommen, bis ich mit ihm gesprochen habe. Bitte, ich muss mit ihm sprechen.

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Nach einigen Stunden erreiche ich wieder einmal den Tour-Manager.

»Wir wissen nichts Genaues«, erklärt er sachlich. »Wir warten hier im Krankenhaus, sie lassen uns nicht zu ihm. Es sieht sehr ernst aus. Die Ärzte wollen nichts sagen, bevor sie operiert haben.«

»Was?«

»Paul wurde mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht. Der Hubschrauber hätte nichts gebracht. Mehr wissen wir auch nicht.«

»Ein Hubschrauber?«

»Ja, aber es zeigte sich, dass der Krankenwagen schneller im Hospital sein würde als der Helikopter.«

Ich muss mich setzen. Zum ersten Mal seit mehreren Stunden. Es ist ernster, als ich gedacht hatte.

»Alles Gute, Margarita …«

Einige Zeit später ruft tatsächlich auch Armin van Buuren zurück.

»Was ist passiert? Ist es wahr, dass er gestürzt ist?«

»Ja, er ist gestürzt …«

»Aber wie geht es ihm? Hast du ihn gesehen? Hast du mit ihm gesprochen? Wie geht es ihm?«

»Er atmet …«

Schon wieder dieser merkwürdige Satz.

»Geht es ihm gut?«, frage ich, und noch mal: »Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ich habe mit ihm vor dem Auftritt gesprochen, er war happy.«

»Hat er im Krankenwagen irgendetwas gesagt?«

»Er ist in guten Händen. Er ist im besten Krankenhaus Hollands. Mach dir keine Sorgen.«

Schweigen. Es zerreißt mich innerlich. Und es macht mich gleichzeitig nervös, wenn Menschen pausenlos betonen, ich solle mir keine Sorgen machen.

Leise sage ich: »Ich weiß nicht, ob du religiös bist oder an Gott glaubst, aber wenn du an Gott glaubst, dann bitte ich dich, bete für Paul. Er braucht das jetzt …«

Es ist alles zu viel. Ich fühle mich, als ob sich ein großes, dunkles Loch auftut.

Ich renne nun nicht mehr im Wohnzimmer auf und ab. Aber ich muss irgendetwas tun. Und das Einzige, was mir bleibt, ist die Möglichkeit, zu telefonieren und mit anderen zu sprechen. Ich rufe noch einmal den Tour-Manager an, der nach einer gefühlten Ewigkeit der erste Mensch ist, der mein Klingeln erhört.

»Wird Paul diese Nacht noch zurückfliegen?«, frage ich ihn.

»Nein …«, antwortet er leise. »Pass auf, wahrscheinlich ist es am besten, du nimmst dir einen Flug und kommst her.«

»Okay …«, sage ich. »Ich bin unterwegs.«

Gut …, wiederhole ich, mehr zu mir selber, und kümmere mich um einen Direktflug. Der aber erst am Sonntag gehen wird, wie ich mithilfe des Booking Agent herausfinde. Die Verbindung Los Angeles–Amsterdam ist nicht unbedingt Standard. Das aber bedeutet, dass ich noch unzählige Stunden hier feststecke, ohne zu wissen, was mit Paul geschehen ist. Ohne Möglichkeit, ihm zu helfen. Ohne ihn zu sehen.

Also beginne ich wieder zu rennen.

Und zu telefonieren, alle zehn Minuten, immer und immer wieder.

Es ist immer das gleiche Ritual. Ein Anruf von mir irgendwohin, raus in die Welt, mit der immer gleichen Frage: »Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Nein, wir warten.«

Ich rufe meine Schwester an und schildere ihr möglichst schonungsvoll die Situation. Ich wage es nicht, meine Eltern anzurufen, aus Angst, sie könnten eine Herzattacke erleiden. Meine Schwester jedoch würde sicher die richtigen Worte finden … Ich spreche mit Alexa aus seinem Büro, auch mit seinem Anwalt, mit einigen engen Freunden von uns. Sie alle raten mir, nicht online zu gehen, mich zu beruhigen, und sie versichern mir, mich zu benachrichtigen, sollte es irgendwelche Neuigkeiten geben.

Ich bin allein. Auch wenn ich schwierige Situationen immer mit mir selbst ausgemacht habe, so weiß ich dieses Mal nicht, was ich tun soll. Weil ich überhaupt nicht weiß, was passiert ist.

Ich fange an, eine Tasche zu packen. In Holland ist es Winter, und ich weiß nicht, wie lange wir dort bleiben werden; wahrscheinlich nur für einen Tag, ehe wir in unser Zuhause nach Berlin zurückkehren können. Ich packe also leichtes Gepäck, seine Lieblingssachen, nur Bequemes und Kuschliges, er wird sicher frieren. Als ich meine Handtasche mit all den Dokumenten packe, stelle ich fest, dass meine Immigration Card für Europa fehlt – ohne sie kann ich nicht einreisen.

Ich schaue überall, öffne jede Schublade, jede Tasche, einfach alles und beginne wahnsinnig zu werden. Wo ist sie? Ich rufe in Pauls Büro an. Sie hätten eine Kopie, ich brauche aber das Original … Ginge in den nächsten Stunden ein Flug, ich könnte ihn nicht einmal nehmen, weil ich das Dokument, das mir erlaubt, ihn zu sehen, nicht finde!

Ich beginne wieder zu weinen, meine Augen sind geschwollen und brennen, ich bin müde und meine Nerven bringen mich um, und dann so etwas!

Ich muss diese Karte finden! Ich werfe alles durcheinander, die Wohnung ist ein einziges Chaos, aber sie taucht einfach nicht auf.

Um die Mittagszeit schaut die Hausverwalterin nach mir, sie hat online von dem Vorfall erfahren. Ich sitze weinend auf dem Teppich, hoffnungslos, wütend, traurig, erledigt, zitternd, verwirrt und mit den Nerven am Ende. Ich fühle Angst, Ohnmacht und Schmerz, weil mein Liebster verletzt ist und ich nicht in der Lage bin, ihm zu helfen. Ein Albtraum, aus dem ich einfach nicht aufwachen kann.

»Ich helfe dir«, sagte sie. Sie suchte im Esszimmer, ich im Schlafzimmer, dann wechselten wir, ehe sie im Gästezimmer suchte und ich im Wohnzimmer, ich war mir sicher, dass sie irgendwo sein musste, aber wo?

Die Stunden vergingen, und irgendwann war es Zeit zu gehen, das Taxi zum Flughafen wartete, aber wir hatten die Karte immer noch nicht gefunden. Ich wollte den Flug schon canceln und in Pauls Büro anrufen, um ihnen die Situation zu erklären … ich begann zu beten und weinte gleichzeitig, ich blickte Richtung Himmel und hoffte auf ein Wunder.

Etwas später stand ich auf, ging ins Badezimmer, wusch mir das Gesicht und lief ins Gästezimmer. Dort entdeckte ich plötzlich eine Handtasche auf dem Boden, die ich eine Zeit lang nicht benutzt und die ich auch noch nicht gecheckt hatte. Ich sah hinein, und – da war sie!

Ich rief die Hausverwalterin, wir lagen uns in den Armen, und ich musste mich beeilen, um den Flieger noch zu bekommen. Aber es war zu spät. Ich würde es nie in zwanzig Minuten zum Flughafen schaffen, normalerweise brauchte ich eine Stunde …

Ich rief den Taxifahrer an, der glücklicherweise noch in der Nähe war, »ich bin in fünf Minuten da«, sagte er. Ich eilte nach unten, und zum allerersten Mal, ich weiß bis heute nicht wie, habe ich es in zwanzig Minuten zum Flughafen geschafft. Ich checkte ein und war mit dem allerletzten Aufruf an Bord.

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Im Flugzeug erleide ich weitere zehn Stunden Verzweiflung.

Die Maschine scheint sich überhaupt nicht vom Fleck zu bewegen, gleitet wie in Zeitlupe, und ich kann zur Ablenkung nicht einmal herumlaufen. Grauenhaft! Es kommt mir vor wie der längste Flug meines Lebens. Die Sekunden dehnen und strecken sich, als ob die Zeit über den Wolken gewaltsam verlangsamt würde. Als ob die Zeit ein Akkordeon wäre, das endlos in die Länge gezogen würde.

Im Gegensatz zu meinen Sorgen: Die verdoppeln sich mit jedem Herzschlag. In welchem Zustand ist Paul? Was denkt er? Wie fühlt er sich? Dieses Nichtwissen ist das Schlimmste. Wenn ich wenigstens wüsste, was genau in Holland vor sich geht, dann könnte ich tief durchatmen und überlegen, welche Schritte ich unternehmen muss. Nichts zu wissen ist dagegen Folter.

Also wackle ich weiter auf meinem Sitz im Flugzeug, vor und zurück, und schaue nervös aus dem Fenster. Ich kann nicht einmal telefonieren!

Das hole ich gleich am Flughafen in Amsterdam nach. »Irgendwelche Neuigkeiten?«

Das alte Ritual.

»Nein, wir warten.«

Ein Bus holt mich bei der VIP-Lounge ab und fährt mich nach Utrecht. Zuerst halten wir am Hotel, wo ich auf den Tour-Manager und den Booking Agent treffe. Beide wirken im Gegensatz zu mir ausgeruht; sie haben die Nacht über geschlafen. Allerdings sind sie außergewöhnlich steif. Normalerweise fallen wir uns alle überschwänglich um den Hals und geben uns Küsse zur Begrüßung.

»Hallo …« Heute ist es mehr ein ernstes Kopfnicken.

Dann fahren wir ins nächste Hotel, wo wir Pauls Mutter und ihren Freund abholen. Sie sind schon gestern angekommen. Pauls Mutter greift meine Hand. Wir umarmen uns.

»Hallo …«

Sie spricht nur Deutsch. Ich wiederum beherrsche ihre Sprache so gut wie überhaupt nicht. Aber wir verstehen uns mit Gesten und Blicken. Und diese Blicke sind traurig. Sehr traurig.

Pauls Mutter erzählt etwas, räuspert sich mehrmals, aber ich habe keine Ahnung, was sie mir mitteilt.

Wir halten unsere Hände.

»Dann lasst uns zum Krankenhaus fahren …«

Die Ruhe im Auto ist beängstigend.

Ich schaue aus dem Fenster, um mir die Stadt anzusehen, aber ich sehe nichts; mein Geist ist bei ihm, nichts ist wichtig außer Paul und seine Gesundheit.

Offensichtlich bin ich zu diesem Zeitpunkt die Einzige, die nicht weiß, in welchem Zustand Paul ist. In meinem Magen rumort es gewaltig.

»Was ist passiert?«, frage ich in die Ruhe hinein.

»Es gab ein Loch in der Bühne …«, sagt der Booking Agent stockend. Ich sehe die Augen des Fahrers im Rückspiegel, sehe, wie er mich betrachtet. Ich kenne ihn nicht, es ist irgendein Fremder, und es macht mich wahnsinnig. Ich will nicht, dass dieser Fremde von Pauls Leiden erfährt. Offensichtlich bin ich überdreht, überspannt, völlig durch den Wind.

»Erzähl es mir später«, sage ich.

Am Krankenhaus angekommen, will ich sofort losrennen, zu Paul, aber alle anderen um mich herum schleichen so bedächtig. So merkwürdig langsam.

Es ist Winter. Sehr kalt. Sehr grau.

Ich muss ihn sofort sehen, ich kann nicht länger warten. Ich renne.

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»Sie können Paul jetzt nicht sehen.«

Es ist zehn Uhr morgens.

Ich bin endlich an seinem Zimmer angekommen, kurz davor, meinen Schatz in den Armen zu halten, aber ein Arzt hält mich auf. »Sie müssen warten, bis der Patient in ein neues Zimmer verlegt wird.«

Und zwar auf die Intensivstation.

Mir dämmert etwas. Und zwar das Schlimmste.

Aber ich muss warten. Immer nur warten!

Als wir dann endlich aufstehen dürfen und an einer Glasscheibe vorbeigehen, ist mir nicht wirklich klar, dass Paul dahinterliegen könnte, weil es vor allem technische Geräte sind, die sich dort stapeln, und weitere fremde Menschen, fremde, leblos wirkende Patienten, die sich alle in einem einzigen Raum befinden. Mir will immer noch nicht wirklich in den Kopf, dass auch Paul hier irgendwo sein muss, mein Süßer.

Als ich ihn endlich sehe, erkenne ich ihn nicht. Ich sehe Schläuche, eine Stütze, er ist an seinen Handgelenken und Füßen fixiert, trägt kein Shirt, ich sehe getrocknetes Blut … aber er sieht aus, also ob er schlafen würde, still, ruhend, regungslos, ganz anders als die Patienten rechts und links neben ihm. Die Krankenschwestern stechen Nadeln in seine Finger, um eine Reaktion hervorzurufen, aber er befindet sich im tiefsten Koma, sein Leben ist so zerbrechlich, eine falsche Bewegung und es wäre zu Ende …

Als ich endlich realisierte, dass Paul vor mir lag, dass meine große Liebe, die ich ein paar Tage zuvor noch in den Armen hielt, mit der ich zusammen lachte, tanzte, sang und kochte und mit der ich Pläne schmiedete für den Rest unseres Lebens, nun in einem Bett lag, nicht antwortete und nur von Schläuchen am Leben gehalten wurde … Mein Atem stockte, mein Herz raste, eine Leere füllte meine Venen … meine Augen konnten es nicht glauben, meine Stimme versagte. Von diesem Moment an brach meine ganze Welt zusammen und würde nie wieder dieselbe sein.

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Wärme.

Das ist meine erste wirkliche Wahrnehmung. Eine Vorform von Wahrnehmung.

Kein Bild, sondern: Wärme. Angekommen zu sein. Wärme, die sich plötzlich im Raum verteilt.

Wärme.

Und irgendwann heute, irgendwann jetzt, kaum in der Lage, zu denken, zu verstehen, müssen wir das gemacht haben. Und daran kann ich mich erinnern. Weil es mit Margarita zu tun hat.

An sonst nichts.

Nicht einmal, wo ich bin.

Wärme.

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Ich bin geschockt.

Irgendjemand begleitet mich aus dem Raum hinaus und bugsiert mich in das Arztzimmer. Ich bin völlig weggetreten. Irgendjemand übersetzt für mich die deutschen Sätze ins Englische, aber ich verstehe kaum etwas.

»Hirnschaden …«, höre ich von Weitem, »gebrochene Wirbelsäule …« Ich kann das alles immer noch nicht glauben. »Wir untersuchen noch, was ansonsten alles verletzt ist«, sagt der Arzt, »aber im jetzigen Zustand ist Paul im Koma. Sein Zustand ist sehr ernst. Gemessen an dem Sturz ist es ein Wunder, dass er am Leben ist.«

All das ist so bizarr, so fremd, so weit weg von meinem bisherigen Leben, so unwirklich in einem negativen Sinn, dass ich hoffe, jemand würde plötzlich »Versteckte Kamera!« rufen, wie bei einem der üblen Streiche, die wir gesehen hatten. Oder jemand würde mich aufwecken. Aus einem Albtraum. Auf jeden Fall kann das alles nicht real sein.

»Haben Sie das verstanden?«

Der Arzt spricht sehr sanft, freundlich, aber seine Aussage ist brutal. Und ehrlich.

»Wann wird es ihm wieder besser gehen?«, frage ich wie in Trance. »Wann können wir nach Hause fliegen?«

»Schauen Sie«, antwortet er, »das ist ein sehr langwieriger Prozess, und es könnte sein, dass Paul sich von diesem Sturz nie wieder erholen wird. Er hat einen heftigen Gehirnschaden; sein Gehirn wurde nicht an einer, sondern an fünf verschiedenen Zonen verletzt, was bedeutet, dass der Schaden fünfmal so schlimm ist. Jede Zone des Gehirns ist für eine spezifische Körperfunktion zuständig, und die Zonen, die betroffen sind, werden Probleme haben. Es ist möglich, dass er nicht mehr aufwachen wird, und sollte er doch, dann könnte es sein, dass er nicht mehr in der Lage sein wird, zu sprechen und zu laufen. Er wird womöglich ans Bett gefesselt bleiben; vielleicht wird er mit einer Vielzahl von Therapien Rollstuhl fahren können, aber er wird wohl nicht mehr in der Lage sein, zu gehen. Es könnte sein, dass er seine motorischen Fähigkeiten verliert und seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren kann. Es ist möglich, dass er weder selber essen noch auf die Toilette oder Dusche gehen noch sich anziehen wird können. Es könnte sein, dass er nicht mehr weiß, wer seine Mutter ist, wer Sie sind oder wer er selbst ist, er wird womöglich keinerlei Erinnerungen haben, und da er wohl nicht sprechen wird, werden wir nichts Genaues über den Zustand seines Gehirns sagen können.

Wenn wir Glück haben und er sich erinnert, dann wird er für immer kurz oder lang anhaltende Erinnerungsschübe erleiden; er wird möglicherweise nicht in der Lage sein, Informationen in seinem Gehirn abzuspeichern. Darüber hinaus könnte es sein, dass er einen Persönlichkeitswandel durchmacht. Das bedeutet, dass die Person, die Sie kannten, nicht länger im selben Körper sein wird, sondern jemand komplett anderes.

Er wird womöglich nicht mehr in der Lage sein, seiner Profession nachzugehen; die Zone seines Gehirns, die für Kreativität zuständig ist, ist schwer betroffen, sodass er möglicherweise keine Musik mehr komponieren, geschweige auftreten wird können.

Er ist ein starker Mann, und Sie sollten glücklich sein, dass seine Lebenssinne noch funktionieren. Ich bitte Sie: Gehen Sie jetzt erst mal in Ihr Hotel und ruhen Sie sich aus. Sie werden von nun an viele, viele Stunden in Krankenhäusern verbringen.«

Aufwachen, denke ich.