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ALVA SOKOPP

gut gekühlt ist fast geerbt

ROMAN

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Personen und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2017

Lektorat: Gudrun Likar

ISBN E-Book: 978-3-99200-196-5

Für die Elfen ELF und ihren Opa Schatzi

Inhalt

DIE BEERDIGUNG

DIE BEGEGNUNG

DER ERSTE PLAN

BEIM NOTAR

BEIM BESTATTER

IN DER LEICHENHALLE

MIT ROUGE UND PINSEL

KARL

AUF DER PATHOLOGIE 1

HELGA

DAS HANDY

DER MANN MIT DEM EISEN

AUF DER PATHOLOGIE 2

IN DER FLEISCHHAUEREI

IM GEMEINDEAMT

BEIM FRISEUR

TANTE SIEGLINDE

DIE AUSSPRACHE

GEBURTSTAGS – VORBEREITUNGEN

DIE LÖSUNG SO NAH

EINE UNTERSCHRIFT

REGER VERKEHR

DAS GEBURTSTAGSFEST

BÜHNENREIFER AUFTRITT

DIE ANDERE HELGA

ROSAS HAUS

ZWEI AUF EINEN STREICH

DAS TESTAMENT

DER FLEISCHHAUER

DANK

DIE BEERDIGUNG

Das Türschild musste ausgewechselt werden. Rosa und Rudolf Riedlberger. Dreißig Jahre hatte es gehalten. Genauso lang wie ihre Ehe. Und beides hatte im Laufe der Zeit zwar etwas an Glanz verloren, war aber bis zum Schluss völlig in Ordnung gewesen. Und nun stand Rosa da und starrte in das frisch ausgehobene Grab, während vier genervt wirkende Sargträger mit vor Anstrengung roten Köpfen den Sarg langsam mithilfe von dicken Seilen hinabließen. Fast wäre einem der Sargträger das Seil aus den Händen gerutscht und der Sarg in die Tiefe gestürzt. Das hätte irgendwie auch besser zu Rudolfs Leben gepasst – volle Kraft voraus in ein neues Abenteuer. Niemand hatte damals verstanden, warum der abenteuerlustige Rudolf die unscheinbare und immer etwas bieder wirkende Rosa mit ihrem stets korrekt geföhnten, dunkelbraunen Pagenkopf geheiratet hatte. Für sie war es schon ein Wagnis, sich die Haare um mehr als fünf Zentimeter kürzen zu lassen. Keiner wusste, dass Rudolf eine Frau wollte, die ihn davor bewahrte, völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Meinen Engel mit Bodenhaftung“ hatte er sie immer genannt. Sie lächelte. Ihre Nichte Ines schaute besorgt zu ihr herüber und verzog das Gesicht ebenfalls zu einem gequälten Lächeln. Rosa wusste genau, was sie in diesem Moment dachte: ‚Da steht sie am Grab ihres Mannes und schmunzelt. Entweder sie dreht jetzt völlig durch, oder sie bricht gleich zusammen.‘

Rosa hatte keines von beiden vor. Als Rudolf vor drei Wochen über Bauchschmerzen geklagt hatte und das im Spital abklären ließ, hatte er die Diagnose „Bauchspeicheldrüsenkrebs, fortgeschrittenes Stadium“ bekommen. Sie waren beide Ärzte, und ihnen war klar, dass Kämpfen wenig Sinn hatte. Man gewann vielleicht ein paar Stunden oder Tage. Und so wich Rudolfs sonst sehr ausgeprägter Kampfgeist in den nächsten Wochen einer bewundernswerten Klarheit und Akzeptanz. Er hatte keine Angst vor dem Tod, und er versuchte, seiner Frau die ihre zu nehmen. Rosa, die nie eine Freundin dramatischer Szenen gewesen war, fügte sich dem Schicksal und war tunlichst darauf bedacht, sich Rudolf gegenüber nicht anmerken zu lassen, wie schlecht es ihr ging. Sie taten das Einzige, was ihnen jetzt noch blieb: Sie sprachen über die schönen und weniger schönen Erlebnisse in ihrem Leben und versuchten, die letzte gemeinsame Zeit so gut es eben ging zu genießen. Rudolfs Tod kam für Rosa dann trotzdem viel zu schnell, und sie war restlos überfordert beim Gedanken an eine Zukunft ohne ihren Mann. Sie würde allein sein. Was für ein seltsamer Gedanke. Sehr befremdlich.

Bis zum Begräbnis hatte Rosa nach Rudolfs Tod ständig Besuch gehabt. Von ihrer besorgten Schwester, von Freunden, Nachbarn. Irgendjemand war immer bei ihr geblieben. Allein war sie nur nachts gewesen. Und da hatte sie ohne zu zögern eine Schlaftablette genommen, wenn sie ins Bett ging, um sofort in einen traumlosen Schlaf zu sinken. Aber bevor sie herausfinden konnte, wie sie allein zurechtkam, musste sie diese Beerdigung hinter sich bringen. Sie schnäuzte sich laut, was einige Personen, die am Grab standen, aus ihrer Trance riss. Eine alte Tante von Rudolf ließ vor Schreck sogar die mitgebrachten Blumen fallen. Endlich hatten alle Trauergäste Erde ins Grab geschaufelt und sich von Rudolf verabschiedet. Nun kam das lästige Kondolieren. Hinz und Kunz waren gekommen. Aus Anteilnahme, aus Respekt, aus Mitleid oder auch einfach, um beim anschließenden Gratisessen innerlich aufzuatmen, dass es einen nicht selber erwischt hatte. Dass man verschont geblieben war. Noch.

Rudolf war viel zu früh gestorben. Fünfundsechzig – das war doch kein Alter zum Sterben, wie viele sagten. Wahrscheinlich stimmte das ja auch. Aber es galt eben nicht für alle. Oh nein! Jetzt gab ihr auch noch diese widerliche Sybille die Hand. „Trullala“ hatte Rudolf sie heimlich genannt. Und sich darüber amüsiert, dass sie immer mit ihm zu flirten versuchte, wo doch jeder im Dorf wusste, dass sie ein Verhältnis mit dem Bäcker hatte. Rosa fand, „aufgetakelte Funzen“ treffe es wohl eher. Und mit einem, wie sie hoffte, unergründlichen Blick entzog sie Sybille ihre Hand und dachte: ‚Kommt die doch tatsächlich in einem giftgrünen Kleid zur Beerdigung! Mut kann man nicht kaufen. Aber die passende Größe schon. Quillt ja hinten und vorne alles raus.‘ In Gedanken zählte sie heimlich mit: „Noch zwanzig Mal die Hand hinhalten und ‚Danke‘ sagen. Noch neunzehn Mal die Hand hinhalten …“

Dann war es endlich vorbei. Rosa ging widerwillig mit in das Gasthaus, in dem getrauert, aber auch gefeiert wurde, verabschiedete sich jedoch noch vor der Nachspeise, was für ihre Verhältnisse sehr mutig war. Doch auf diesen Teil der Beerdigung, bei dem ausgiebig gelacht und getrunken wurde, obwohl es ihr das Herz zerriss, hatte sie einfach keine Lust. Und wenn sie etwas hasste, dann war es, etwas zu tun, weil man glaubt, dazu verpflichtet zu sein. Sie und Rudolf hatten einander geliebt. Bis zum Schluss. Und es reichte ihr, dass sie und er das gewusst hatten. Da konnten sich ruhig alle das Maul darüber zerreißen, dass sie beim Leichenschmaus früher gegangen war. War ja nicht ihre eigene Beerdigung. Sie lachte. Bitter. Sie wollte nach Hause und lehnte das Angebot ihrer Schwester Isabella ab, sie zu begleiten. Isabella war die Einzige, die wusste, wie es in ihr aussah und die sie verstand.

Rosa lenkte das Auto wie in Trance und hatte später keine Ahnung mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Als sie das Haus betrat, traf die Leere sie mit voller Wucht. Es war ganz still. Jetzt war alles erledigt. Das Chaos und die vielen Anrufe, Vorbereitungen, Besuche der letzten Tage waren vorbei. Nun hieß es, in den neuen Alltag hineinzufinden. Alles gleich und doch alles anders. ‚Schade, dass wir keine Kinder bekommen haben‘, dachte Rosa ein wenig wehmütig. Und jetzt mit ihren sechzig Jahren? Was sollte sie mit ihrem restlichen Leben anfangen? In Frühpension gehen? Und dann? Für die nächsten Wochen hatte sie Urlaub genommen. Die Gemeinschaftspraxis Dr. und Dr. Riedlberger in der verschlafenen Gemeinde Sierning in Oberösterreich war vorerst für unbestimmte Zeit geschlossen.

Vielleicht sollte sie weglaufen. Vor der Leere. Vor ihren Gedanken. Doch wohin? In die kleine, kuschelige Hütte nach Osttirol, die Rudolf einmal aus einer Laune heraus gekauft hatte, wollte sie nicht. Denn das Wetter lud ebenso wenig zum sonst so geliebten Wandern ein wie das Gemüt. Zwar war es für einen April schon ziemlich warm, aber durch den ständigen Regen war es überall recht matschig. Außerdem würde sie dort genauso wie zu Hause alles an ihren Mann erinnern. Es war nicht leicht für Rosa loszulassen. Schon gar nicht, wenn alles noch so befremdlich und neu war. Überall standen die Sachen ihres Mannes herum. Als würde er jeden Moment zur Tür hereinkommen und wie gewohnt lachend rufen: „Schön war der Tag, aber der schönste Teil beginnt jetzt!“ Rosa hatte nicht die Kraft, Rudolfs Sachen wegzuräumen, geschweige denn wegzugeben. Würden Trauer und das Gefühl von Ohnmacht sie nun für immer begleiten?

Die nächsten Wochen vergingen. Irgendwie. Rosa ging früh schlafen und stand spät wieder auf. Dazwischen kam Isabella vorbei, brachte Essen und versuchte sie aufzuheitern, abzulenken. Und dann war der April vorbei. Vermutlich hätte der lethargische Zustand, in dem Rosa gefangen war, noch eine Weile angehalten, hätte sie nicht eines Tages im Mai diesen Brief bekommen. Er lag zwischen Werbung und einem Spendenaufruf von einer Tierschutzorganisation im Briefkasten, den Rosa schon seit ein paar Tagen nicht geleert hatte. Es war fast genau einen Monat nach dem Begräbnis ihres Mannes. Der Brief war von ihm. Von Rudolf.

Liebe Rosa,

genug getrauert. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für dich ist, plötzlich allein zu sein. Wobei, vielleicht irre ich mich, und du lässt jeden Tag die Puppen tanzen. Wenn nicht, fang heute damit an. Folge einfach dem ersten Schirmchen des Löwenzahns. Lass dich auf ein neues Abenteuer ein. Lass es krachen, und vielleicht entdeckst du so eine ganz neue, bisher verborgene Seite an dir. Und sei Isabella nicht böse, sie hatte Anweisung von oben, den Brief erst so spät abzuschicken.

In ewiger Liebe und bis in vielen, vielen Jahren

Rudolf

Rosa wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das sah Rudolf ähnlich. Sogar nach seinem Tod tröstliche Worte zu schicken. Anweisung von oben. Haha. Sie dachte lange nach und wusste, dass er recht hatte. Er hatte sie eben wie kein anderer gekannt. So konnte es nicht ewig weitergehen. Sie straffte ihre Schultern. „Na gut, dann werde ich eben dem Schirmchen folgen. Was auch immer das heißen mag“, sagte sie laut in die Stille des leeren Hauses hinein. Sie machte sich einen Kaffee und beschloss, dass ihre Trauerphase genau jetzt ein Ende hatte. Sie wollte die Ordination bald wieder aufmachen und sich selbst in Form bringen.

Nach einem kläglichen Mittagessen, das aus zerkochten Nudeln und einer Fertigsauce bestand, rief sie Isabella an, bedankte sich für den abgeschickten Brief, erzählte ihr, was drinstand, und ließ ein letztes Mal den Tränen freien Lauf. Dann zog sie sich bequeme Kleidung an und ging ins Vorzimmer, um ihre Sportschuhe zu holen. Zum ersten Mal seit längerer Zeit musterte sie sich im Spiegel. Dünn war sie geworden. Von der einst kleinen, rundlichen Rosa war nur mehr ein Schatten übrig. Dunkle Augenringe ließen sie viel älter wirken, als sie war. Sie stellte sich gerade hin, atmete tief ein und marschierte los. Und mit jedem Schritt, den sie sich vom Haus entfernte, wurde ihr leichter ums Herz. Die Sonne schien auf sie herab, und sie fühlte sich beinahe wieder ein bisschen glücklich. Sie ging immer schneller und genoss es, sich zu bewegen.

Rosa war sicher schon gute zwei Stunden unterwegs gewesen, als sie zu einem Waldstück kam, das sie nur vom Durchfahren kannte, weil es auf dem Weg ins nächste Dorf lag. Andächtig, als wäre dies der erste Wald, den sie je betreten hatte, ging sie hinein. Nahm jedes Geräusch wahr, sog den Duft ein und ließ das Bild auf sich wirken. Der Forstweg, den sie gewählt hatte, führte sie immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Bei einer kleinen Lichtung machte sie halt und sah ein wunderschönes Haus. Sie hatte es zwar schon ein paarmal aus der Ferne von der anderen Seite gesehen, ihm aber nie große Beachtung geschenkt. Bis jetzt war sie immer zu weit weg gewesen, um zu erkennen, wie beeindruckend es war. Jetzt sah sie, dass es sich um eine alte Villa handelte. Groß, hell und majestätisch, sah sie aus, als stünde sie in der Toskana und nicht in einem Kaff in Oberösterreich. Umgeben war das Gebäude von einer Ziegelmauer, die so hoch war, dass man den oberen Rand gerade noch erreichen konnte, wenn man die Hände nach oben ausstreckte. Und genau vor dieser Mauer blieb Rosa nun stehen und überlegte, ob sie umkehren sollte. Da sah sie es. Das Schirmchen eines Löwenzahns. Ein einziges. Ein leichter Windstoß trieb es direkt an ihr vorbei. Sie griff danach, doch es flog geradewegs über die Mauer. ‚Folge dem Schirmchen‘, hallte es in ihrem Kopf. ‚Na gut‘, dachte sie, holte einmal tief Luft, und bevor ihr klar wurde, was sie da eigentlich tat, nahm sie Schwung und hievte sich genau an der Stelle auf die Mauer, wo das Schirmchen verschwunden war. Sie sah dabei vielleicht nicht besonders elegant aus, aber immerhin war sie oben und hielt tapfer das Gleichgewicht. Gerade als sich ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht stehlen wollte, gab das oberste Ziegelstück, auf dem sie saß, nach und brach aus der Mauer. Rosa, die zu spät reagierte, plumpste auf der anderen Seite hinunter und landete in einem wunderschönen Garten.

DIE BEGEGNUNG

Als sie sich aufrichtete und nachsehen wollte, ob sie beim Sturz heil geblieben war, bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde. Ein paar Meter von ihr entfernt stand eine Frau in Jeans und geblümter Bluse. Sie hatte halblange hellrote Haare und war auf aparte Art sehr schön. Sie war völlig ungeschminkt und hatte auffallend wenige Falten im Gesicht, dafür einige mehr am Hals, was es schwermachte, ihr Alter zu schätzen. Rosa hielt sie nach eingehender Musterung für Anfang siebzig. Die Frau sah Rosa mit einer Mischung aus Verärgerung und Verwunderung an. Ihre Augenfarbe war von einem sehr hellen, klaren Blau, aber sie waren leicht gerötet, als hätte sie vor Kurzem geweint. Sie hob die Hände in einer fragenden Geste, und Rosa sagte das Erste, was ihr einfiel: „Ich bin dem Schirmchen gefolgt.“

Die Frau legte den Kopf etwas schief und antwortete dann trocken und mit auffallend tiefer Stimme: „Na, das erklärt natürlich alles.“ Die beiden lächelten sich an, und umgehend stellte sich eine ungewohnte Vertrautheit ein. Als würden sie einander bereits kennen. Und beinahe wie zur Bestätigung sagte die Ältere: „‚Ich habe eine Wassermelone getragen‘ wäre genauso schlüssig gewesen.“

Nun musste Rosa wirklich lachen. Diesen Satz aus Dirty Dancing, ihrem absoluten Lieblingsfilm, aus dem Mund dieser vielleicht siebzigjährigen Frau anstatt der siebzehnjährigen Baby zu hören, war wirklich witzig. Rosa wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als ihr Blick auf ein sehr großes Loch in der Mitte des Gartens fiel. Es war ziemlich tief, und es sah aus, als wäre eine große Anstrengung nötig gewesen, um es auszuheben. Was immer hier eingepflanzt werden sollte, musste wohl die Dimension eines Baumes haben. Rosas Blick ging vom Loch wieder zu der Frau hinüber, und sie bemerkte, dass diese sie amüsiert, wenn auch ein wenig misstrauisch beäugte.

„Haben Sie das Loch gegraben?“, fragte Rosa neugierig und ging ein paar Schritte auf die Frau zu, um interessiert das Loch zu begutachten.

„Sehen Sie sonst jemanden?“, war die Antwort. Die Frau hatte den Blick immer noch auf Rosa gerichtet und drehte dabei die Schaufel in ihren Händen hin und her.

„Nein. Es sieht nur nach sehr viel Arbeit aus.“

„Na, zum Glück bin ich ja schon fertig.“

„Und was wird da eingepflanzt?“

Die Frau hob eine Augenbraue an, ehe sie erwiderte: „Das weiß ich noch nicht.“

Rosa runzelte die Stirn und wollte das Gesagte schon einfach hinnehmen, doch die für sie typische Neugierde trug den Sieg davon. „Sie wissen noch nicht, was Sie in eine so riesige Grube einsetzen wollen? Wieso haben Sie sie dann ausgehoben?“

„Mir war gerade danach. Und jetzt ist es an mir, Fragen zu stellen – oder sind nicht Sie es gewesen, die gerade über meine Mauer in meinen Garten gefallen ist? Das dürfte haarscharf an der Legalität vorbeischrammen. Was genau wollten Sie denn auf der Mauer? Und in meinem Garten? Natürlich außer mir Fragen über ausgehobene Löcher und meine Absicht zu deren Bepflanzung zu stellen?“

Sie hatte recht. Rosa räusperte sich verlegen. „Mein Name ist Rosa Riedlberger, und ich bin praktische Ärztin in Sierning. Vor einem Monat habe ich meinen Mann wegen einer Krebserkrankung verloren. Ich bin einem Gefühl beziehungsweise einem Löwenzahnschirmchen gefolgt und über Ihre Mauer geklettert.“ Vielleicht, weil die andere die Stirn runzelte, vielleicht aber auch, weil ihr selber auffiel, wie blöd das eben Gesagte klang, fügte sie hinzu: „Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, warum ich hier bin. Es war dumm von mir. Entschuldigen Sie bitte. Ich gehe gleich wieder. Geben Sie mir doch Ihre Telefonnummer, und ich lasse Ihnen meine Daten hier, dann klärt meine Versicherung den Schaden an der Mauer.“

Die Frau winkte ab. „Lassen Sie es gut sein. Wollen Sie wieder über die Mauer zurück, oder soll ich Ihnen das Gartentor zeigen?“

Rosa grinste und deutete auf die herabgefallenen Steine. „Danke, ich glaube, zweimal komme ich da nicht unbeschadet hinüber.“

„Gut. Ich heiße übrigens Helene Thaler.“ Sie legte eine kurze Pause ein, ehe sie nachdenklich und einem Impuls folgend fragte: „Hätten Sie eventuell Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken, bevor Sie gehen? Oder haben Sie es eilig? Ein wenig Gesellschaft täte mir heute ganz gut.“

Rosa sah sich zum ersten Mal bewusst in dem wunderbaren Garten um. Abgesehen von dem Loch war er ein Traum. Hier herrschte toskanisches Flair, und eine gemütliche hölzerne Sitzgarnitur, ein Tisch und die immer noch vom Himmel strahlende Sonne luden zum Bleiben ein. „Ich würde gerne noch einen Kaffee mit Ihnen trinken, wenn es keine Umstände macht“, sagte sie und lächelte Frau Thaler an. Insgeheim hoffte sie außerdem zu erfahren, wofür dieses Loch ausgehoben worden war.

„Macht es nicht.“ Frau Thaler lächelte zurück. „Ich bin selber froh über eine kleine Abwechslung. Nehmen Sie inzwischen doch bitte Platz. Ich bringe dann gleich den Kaffee.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging ins Haus. Und als hätte sie Rosas Gedanken erraten, hörte diese noch den Nachsatz: „Ich brauche keine Hilfe. Machen Sie es sich ruhig gemütlich. Ich muss nämlich noch schnell etwas im Haus erledigen, bin aber gleich wieder da.“

Kurze Zeit später vernahm Rosa das Zischen einer Kaffeemaschine und das Klappern von Geschirr. Rosa setzte sich an den Tisch, schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Sie hörte Geräusche, als würden Türen geschlossen werden, und gleich darauf stand Frau Thaler auch schon wieder vor ihr. Sie stellte ein riesiges Tablett mit feinstem Porzellan und einer großen Auswahl an Kuchen und Torten auf den Tisch. Mindestens sieben Stück verschiedenster Köstlichkeiten waren auf dem silbernen Tablett arrangiert.

„Haben Sie immer so viele Nachspeisen im Haus?“, entfuhr es der erstaunten Rosa, die sich nicht vorstellen konnte, dass man mehr als eine Packung Kekse vorrätig hatte.

„Stellen Sie immer so unverschämte Fragen?“, konterte Frau Thaler.

„Eigentlich nicht oder vielleicht manchmal … aber nie so …“ Rosa zuckte entschuldigend mit den Schultern, „ich weiß ehrlich gesagt nicht, was mit mir los ist. Es tut mir leid.“

„Schon gut.“ Schweigend goss Frau Thaler nun Kaffee in die Tassen. Sie reichte Rosa eine davon, ehe sie unvermittelt fragte: „War er ein guter Mann – Ihr Mann?“

Rosa, die zum ersten Mal seit Rudolfs Tod nicht an ihn gedacht hatte, zuckte erschrocken zusammen. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht ununterbrochen in Gedanken bei ihm war. „Ja, das war er“, sagte sie, „jeden Tag.“

„Das ist schön.“ Wissend nickte die andere.

„Und Sie? Wohnen Sie allein in dem Haus?“

„Nein, meine Schwiegermutter wohnt ebenfalls hier.“ Die Frau stieß einen langen Seufzer aus. „Mein Mann ist vor zehn Jahren gestorben, und ich kümmere mich um sie.“

„Oh, das finde ich schön. Ich persönlich hätte mir nicht vorstellen können, mich um meine Schwiegermutter zu kümmern. Aber die war auch eine sehr eigenwillige Frau und hätte das sicher nicht gewollt. Wo ist sie denn jetzt? Ihre Schwiegermutter?“

Frau Thaler zögerte unmerklich, bevor sie zu einer Antwort ansetzte. „Sie fühlt sich heute etwas unpässlich.“

Dann forderte sie Rosa auf, eine Torte zu wählen, nahm sich selbst ein Stück einer besonders fruchtig aussehenden, und es entstand eine Pause, in der beide Frauen ihren Gedanken nachhingen.

„Es tut mir leid, dass ich nicht besonders gesprächig bin, aber mir geht gerade eine ganze Menge durch den Kopf“, beendete Helene Thaler schließlich das Schweigen, und Rosa nahm das als Zeichen, dass es wohl besser wäre, ihren Besuch zu beenden. Sie stand auf, bedankte sich für den Kaffee und fragte höflich, ob sie noch die Toilette benutzen dürfe.

Frau Thaler sah sie lange an, bevor sie antwortete: „Das Klo ist ganz hinten im ersten Gang, wenn Sie durch diese Tür gehen.“ Sie deutete auf den niedrigen Eingang, durch den sie vorher ins Haus gegangen war und der fast gänzlich von einem Oleander verdeckt wurde. Rosa schlüpfte hindurch und stand in einem Gang, von dem mehrere Türen wegführten. Alle waren geschlossen. Der Gang selbst war unspektakulär. Ein paar Bilder und ein in Gold gefasster Spiegel hingen an der Wand. Rosa war schrecklich neugierig, was sich wohl hinter den Türen verbergen mochte. Vorsichtig öffnete sie die erste Tür und spähte hinein. Ein wunderschönes und riesengroßes Wohnzimmer kam zum Vorschein. Nicht etwa, wie Rosa fälschlicherweise angenommen hatte, in dunklem Mahagoni eingerichtet, sondern alles ganz hell. Satinvorhänge in Cremeweiß, eine Wohnlandschaft in hellem Leder und ein überdimensionaler Fernseher kamen zum Vorschein. Dekoriert war alles mit Kristallvasen, in denen zarte Lilien standen. ‚Na, nicht schlecht‘, dachte sich Rosa. ‚Geld spielt hier offensichtlich keine Rolle.‘ Außerdem hätte sie Frau Thaler nie so einen erlesenen und vor allem modernen Geschmack zugetraut. Vermutlich wegen ihres Alters. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Vorsichtig schloss sie die Tür wieder und ging zur Toilette. Auch die war sehr schön, in weißem Marmor gehalten, und neben dem Waschbecken befand sich ein buntes Potpourri an kleinen Seifen. Beim Verlassen des WCs konnte Rosa nicht anders und öffnete noch eine Tür. Dieses Mal kam eine offene Küche mit anschließendem großem und ebenfalls offenem Esszimmer zum Vorschein. Ein langer, massiver Esstisch mit zwölf Sesseln, eine Bar und ein großer Herd waren zu sehen. Der Raum maß gut und gerne 60 Quadratmeter.

Gerade als Rosa die Tür wieder schließen wollte, fiel ihr der eigenartige Geruch nach Olivenöl auf. Sie wollte ihn ignorieren und den Raum verlassen, als ihr auffiel, dass hinter einem der frei stehenden Küchenschränke auf dem Boden eine Hand hervorlugte. Sofort und ohne nachzudenken lief sie in die Küche. Das Bild, das sich ihr hier bot, ließ sie erschaudern. Eine sehr alte, faltige, stark geschminkte und gut gekleidete Frau lag seltsam verdreht auf dem Boden, und zu ihren Füßen hatte sich eine große Lacke Olivenöl ausgebreitet. Eine zerborstene Flasche lag daneben. Rosa kniete sich instinktiv neben die Frau hin, und obwohl deren Körpertemperatur keinen Zweifel daran ließ, dass sie tot war, fühlte Rosa trotzdem automatisch und ohne nachzudenken den Puls. Zwei Dinge waren ihr überdies sofort aufgefallen. Erstens: Diese Frau war so unglücklich gestürzt, dass sie sich vermutlich das Genick gebrochen hatte. Der Kopf hatte einen höchst eigenartigen Neigungswinkel. Zweitens: Sie war sicher schon seit einigen Stunden tot. Ein Ärmel der Bluse hatte sich am Ellbogen hochgeschoben und ließ einen Totenfleck erahnen. Rosa sah genauer hin und stellte fest, dass bereits die Leichenstarre eingesetzt hatte. Genaueres würde nur der Pathologe feststellen können.

Rosas Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten. Sie fing zu schwitzen an, und ihre Gedanken überschlugen sich. Wusste Frau Thaler, die Frau, die sie gerade kennengelernt hatte und die ihr auf Anhieb sympathisch war, von dem Unfall? Oder war sie seitdem nicht in der Küche gewesen? Doch das konnte nicht sein, schließlich hatte sie ja gerade erst Kaffee gemacht. Hatte sie bei dem Unfall nachgeholfen? Wofür war das Loch im Garten tatsächlich gedacht? Wie lange konnte sie noch in der Küche herumstehen, ohne dass ihrer Gastgeberin auffiel, dass sie unmöglich so lange auf der Toilette sein konnte? Und die viel wichtigere Frage: War Frau Thaler so kaltblütig, ihre Schwiegermutter umzubringen und dann im Garten zu vergraben? Oder war das hier etwa gar nicht ihre Schwiegermutter? Rosa hatte ihr Handy nicht dabei. Aber wer dachte denn daran, dass er bei einem harmlosen Spaziergang in so eine Situation geraten würde? Sie beschloss, einfach die Haustür zu suchen, sich hinauszuschleichen und daheim dann die Polizei zu alarmieren.

Gerade als sie aufstehen wollte, hörte sie ein Geräusch. Frau Thaler lehnte am Türrahmen. „Sie haben sie also gefunden?“, kam die rhetorische Frage. Ihr Gesicht war kalkweiß, und sie blickte traurig auf Rosa herab, die noch immer neben der Toten kniete. Rosa nickte vorsichtig und versuchte, sich so normal wie möglich zu verhalten. Innerlich war sie angespannt und alarmiert. Würde diese Frau sie angreifen? Doch Helene Thaler wirkte eher verstört als aggressiv. „Sie ist heute früh gestürzt, als sie sich darüber echauffierte, dass ich wieder einmal am Olivenöl gespart habe. Und natürlich hat sie sofort gezetert und geschrien, und dann ist ihr auch noch die Flasche aus der Hand gerutscht.“ Sie seufzte laut, ehe sie fortfuhr. „‚Da!‘, hat sie geschrien, ‚sogar die Flaschen von dem Öl sind so billig, dass sie gleich zu Bruch gehen.‘ Als ob eine teurere Ölflasche dem Fliesenboden standgehalten hätte. Ich hab die Augen verdreht und wollte die Sauerei wegmachen, doch sie hat mich angezischt: ‚Ich mach das, du bist ja sogar zum Putzen zu blöd.‘ Ich hab die Küche verlassen“, fuhr Frau Thaler fort, „weil ich wusste, dass es eh keinen Sinn hat, mit ihr zu diskutieren oder ihr meine Hilfe anzubieten. Als sie aber eine Stunde später immer noch nicht aus der Küche herausgekommen ist, bin ich nachschauen gegangen. Und da lag sie. Ich glaube, sie war nach dem Sturz sofort tot oder vielleicht vorher noch bewusstlos. Sonst hätte sie vermutlich um Hilfe geschrien.“

Rosa nickte bestätigend. „Ich glaube, dass sie sofort tot war. Aber warum liegt sie immer noch hier?“, wollte sie dann wissen. „Warum haben Sie nicht sofort die Rettung gerufen?“

Frau Thaler holte tief Luft, ließ einen Moment verstreichen und flüsterte leise: „Weil die alte Hexe in ihrem Testament unter anderem verfügt hat, dass, wenn sie an einem Unfall sterben sollte, alles, was sie besitzt, an die Kirche gehen soll. Das hat sie mir erst kürzlich unter die Nase gerieben.“

Rosa dachte kurz daran, dass das ein perfektes Mordmotiv abgeben würde, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, weil sie nach näherer Begutachtung der Leiche sah, dass bei dem Unfall kaum jemand nachgeholfen haben konnte. Außer, Frau Thaler hätte das Öl absichtlich ausgegossen und ihrer Schwiegermutter dann einen Schubs gegeben. Aber das war eine sehr unsichere Tötungsmethode, und außerdem wollte Rosa das einfach nicht glauben.

„Und warum hat sie das gemacht? Ich meine – warum hat sie so eine Klausel in ihr Testament eingebaut?“

„Weil sie eine böse Frau war, die mich und meinen Hans immer nur schikaniert hat. Wir durften hier leben, aber geschenkt hat sie uns nichts. Und immer, wenn ich meinen Mann überreden wollte wegzuziehen, hat sie alle Register gezogen. Mal ein Knoten in der Brust, mal Herzrhythmusstörungen. Nie was wirklich Ernstes, und ich bezweifle ja, ob überhaupt was dahintersteckte oder ob sie das alles nicht einfach erfunden hat. Wir mussten auch immer ordentlich Miete zahlen, damit uns von unserem Lehrergehalt möglichst wenig übrig blieb, um uns eine eigene Existenz aufzubauen oder ein eigenes Haus zu kaufen. Am allermeisten hatte sie wohl Angst davor, allein zu sein. Sie fürchtete sich in ihrem großen Haus. Aber da es ein Familienerbstück ist und alle sie dafür bewunderten, hätte sie es nie im Leben aufgegeben.“

„Und was machen Sie jetzt?“ Rosa verwarf den Gedanken, dass diese Frau eine eiskalte Mörderin war, endgültig. Helene, die so traurig zu Boden blickte, war durch Zufall in dieses Schlamassel hineingeraten und wusste nicht mehr weiter.

Wie zur Bestätigung sagte sie jetzt: „Ich weiß es nicht.“ Sie ließ die Schultern sinken. „Im ersten Moment hab ich mir gedacht, ich vergrab sie und melde sie als vermisst. Sie ist immer wieder mal zu irgendwelchen Freundinnen gefahren und hat niemandem Bescheid gesagt. Manchmal blieb sie auch über Nacht weg. Sie war einundneunzig. Kannst du dir das vorstellen? Ich hab fast schon geglaubt, dass ich vor ihr das Zeitliche segnen werde.“

„Warum bist du nicht gegangen, als dein Mann gestorben ist?“ Rosa bemerkte, dass sie zum Du übergegangen waren.

„Mit sechzig? Ich wusste nicht, wohin, und war vermutlich auch zu feige. Und manchmal tat sie mir auch leid. Da konnte sie fast nett sein und war froh darüber, dass wenigstens ich ihr geblieben bin. Außerdem wollte ich wohl auf das schöne Leben, das Haus und den Garten nicht verzichten. Jetzt, im Rückblick, weiß ich, dass das ein Fehler war. Ich wusste ja nicht, dass sie so alt werden würde. Sie hat mir ein paarmal von ihrem Testament erzählt. Dass sie mir alles vermachen wollte – ihre Häuser, ihre Grundstücke, alles. Aber sie hat auch gesagt, dass es etliche Klauseln enthält. An die meisten kann ich mich nicht mehr erinnern, nur ein paar hab ich mir gemerkt. Ich erbe zum Beispiel nichts, wenn sie an einem Unfall stirbt. Ich glaube, so wollte sie sich absichern, dass ich sie nicht in Rage absichtlich einmal wo runterstoße.“ Helene lachte heiser und schüttelte den Kopf. „Bei Gott, gemacht hätte ich das natürlich nie, aber daran gedacht habe ich des Öfteren. Und glaub mir – wenn ich es wirklich gewollt hätte, hätte ich es auch getan. Erbschaft hin oder her. Aber das liegt auch schon wieder ein Jahr zurück. Wer weiß, was ihr in der Zwischenzeit noch so alles eingefallen ist und was sie an ihrem Testament seither geändert hat.“

„Das heißt, Sie kriegen kein Geld, wenn wir jetzt die Rettung holen und sagen, wir haben sie gerade erst entdeckt?“

„Nein. Aber bleiben wir doch bitte beim Du. In Anbetracht der Situation ist das wohl angemessener.“

„Einverstanden. Und jetzt?“, fragte Rosa aufgewühlt.

Helene zuckte entmutigt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Sie sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. „Ich habe nichts, und ich bin zu alt, um noch einmal von vorne anzufangen. Ich will es auch gar nicht. Nur wegen einer gemeinen alten Frau, die mich über den Tod hinaus schikaniert.“

Dann schwiegen die beiden eine Weile. Helene, weil sie auf eine Reaktion Rosas wartete, und Rosa, weil sie angestrengt nachdachte. Über Recht und Unrecht und ihre eigene Einstellung dazu.

DER ERSTE PLAN

Zu einem wirklichen Ergebnis kam Rosa nicht. Aber schließlich gab sie sich einen Ruck. „Hast du einen Schnaps?“, fragte sie Helene. Das war eine für Rosa vollkommen untypische Frage, da sie Alkohol weder mochte noch vertrug. Außerdem hasste sie alles, wodurch sie die Kontrolle verlieren könnte, und da zählte das Trinken von Alkohol – noch dazu von hochprozentigem – absolut dazu. Doch in diesem Moment war ihr eindeutig nach einem Schnaps.

„Natürlich“, antwortete Helene und lächelte zaghaft.

„Na, dann her damit, und lass uns einmal gründlich über alles nachdenken.“

Helene sah sie ungläubig an, bevor sie zu einem kleinen, alt aussehenden Schrank, der in einer Ecke stand, schlurfte. Von ihrem Elan, der vorhin noch so spürbar gewesen war, war im Moment nichts mehr vorhanden. Sie öffnete den Schrank, holte eine große Flasche mit einer klaren Flüssigkeit und zwei Stamperln heraus und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. „Gehen wir wieder raus in den Garten. Hier kann ich unmöglich bleiben, geschweige denn denken.“

Rosa nickte, und die beiden gingen zurück in den Garten. Dort ließen sie sich am Tisch nieder, und Helene schenkte großzügig ein. Nachdenklich nahm Rosa ein Schnapsglas in die Hand, drehte es und sagte: „Ich hoffe, ich bereue nicht, was ich jetzt gleich sagen werde – aber ich werde dir helfen. Ich bin Ärztin. Ich darf Totenscheine ausstellen. Ich kann ‚Tod durch Herzinfarkt‘ reinschreiben, dann lassen wir sie abtransportieren, beerdigen – und gut ist es.“

Helene schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das geht leider nicht, denn eine ihrer Klauseln im Testament, und das weiß ich noch genau, war, dass zwei verschiedene Ärzte ihren Tod bescheinigen müssen, sonst wird das Erbe nicht ausbezahlt. Sie war immer schon ein wenig paranoid, was ihren Tod betraf, und hatte große Angst davor, lebendig begraben zu werden.“

Rosa kratzte sich am Kopf. „Gut, das heißt, wir brauchen entweder einen zweiten Arzt, den wir einweihen, oder aber wir lassen uns etwas anderes einfallen. Allerdings nur unter einer Bedingung: Deine Schwiegermutter bekommt eine ordentliche Beerdigung und eine Grabstätte. Zumindest irgendwann.“ Helene nickte heftig. „Was ist, wenn die Leiche einfach verschwindet?“, wollte Rosa wissen. „Dann bekommst du das Geld aber auch nicht sofort, oder?“

„Das stimmt. Ich glaube, ich habe einmal gelesen, dass man jemanden erst nach sieben Jahren für tot erklären lassen kann. Ich würde also erst in sieben Jahren erben, aber ich hab ja alle Vollmachten und Zugangsdaten für die kleineren Konten. Sie hat zwar alles kontrolliert, aber ich hatte auch meine Freiheiten. Ich könnte also die nächsten Jahre so weiterleben, nur verkaufen darf ich nichts. Und über größere Summen verfügen auch nicht. Das würde mir aber eigentlich nichts ausmachen.“

„Was steht sonst noch in dem Testament?“

„Ich weiß es eben nicht. Sie hat mir immer nur Teile daraus, ein paar Informationsbrocken, hingeworfen.“

Wieder entstand eine Pause, in der Rosa angestrengt nachdachte. ‚Rudolf, Rudolf, kaum bist du weg, schlittere ich schon in ein Riesenchaos! Vielleicht ist nur dein Tod daran schuld, dass ich bereit bin, einer Fremden zu helfen, eine Leiche verschwinden zu lassen. Aber sie tut mir wirklich leid.‘ Es fühlte sich nicht ganz richtig an, aber auch nicht völlig falsch, als sie Helene fest in die Augen blickte und vorschlug: „Wie wäre es, wenn wir deine Schwiegermutter vorerst in das Loch legen. So lange, bis wir einen Plan haben. Dann ist sie kühl gelagert. Oder hast du eine sehr große Gefriertruhe?“

Helene erbleichte. Das Ganze wurde immer schauriger. „Nein, ich habe nur eine Gefrierkombi. Da hat sie unmöglich Platz.“

„Na, dann also raus mit ihr in den Garten, bis wir wissen, was wir mit ihr anstellen. Ab heute Abend soll es laut Wettervorhersage auch wieder kühler werden, dann setzt der Verwesungsprozess nicht so schnell ein. Und dann müssen wir eine Möglichkeit finden, an das Testament ranzukommen.“

Helene, die bei dem Wort „Verwesungsprozess“ deutlich zusammengezuckt war, nickte zustimmend und schenkte beide Gläser noch einmal randvoll. Sie tranken sie in einem Zug leer. Rosa musste husten, so stark brannte das Gesöff in ihrer Kehle.

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, sagte Helene. „Vielleicht kann ich dem Notar einreden, dass ich für die Bank eine Kopie des Testaments brauche, weil ich mir eine kleine Wohnung zulegen will. Und die Kopie soll der Bank beweisen, dass ich auch nach dem Tod meiner Schwiegermutter noch kreditwürdig bin. Sozusagen als Bürgschaft, die über den Tod hinausgeht, weil ich ja in dem Testament bedacht bin.“

„Klingt etwas an den Haaren herbeigezogen. Wie leichtgläubig ist euer Notar?“

„Na ja, er hat, soweit ich das beurteilen kann, ein gehöriges Alkoholproblem, ist aber nicht ganz blöd. Vielleicht fällt uns ja noch was Besseres ein.“

„Eins nach dem anderen. Zuerst sollten wir uns um deine Schwiegermutter kümmern.“

Rosa merkte zu spät, wie unpassend der Satz war. Helene brach zusammen. Sie weinte und lachte gleichzeitig, während sie vor sich hinmurmelte: „Ich hab mich immer um dich gekümmert, du blöde Kuh, und jetzt rutschst du auf dem depperten Öl aus und brichst dir den Hals, anstatt in Ruhe und für immer einzuschlafen.“ Sie wurde völlig von Verzweiflung übermannt und schluchzte nun laut vor sich hin.

Rosa nahm sie in den Arm. „Wir machen das schon“, flüsterte sie ihr immer wieder ins Ohr, bis Helene sich beruhigte und nur mehr leise vor sich hin weinte.