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Dieses Buch ist gewidmet Professor Manfred Messerschmidt, dem Begründer der kritischen Militärwissenschaft in Deutschland – seiner integren Persönlichkeit, seinem Werk und seinen erfolgreichen Bemühungen um eine Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz

ISBN 978-3-492-97791-3

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Bettmann/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH

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Inhalt

»Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen«: Einführung

»Dann fahr mal alleine los!«: Oktober 1918 – eine deutsche Revolution

»Geh weg, Schwein, stinkst«: Hochmut und Hybris der Marine

»Der 1. Schuß hat unberechenbare Wirkung«: Der Funke von Wilhelmshaven

»Soldaten, schießt nicht auf Arbeiter!«: Feuer in Kiel

Zwei Revolutionäre: Karl Artelt und Lothar Popp

Tod auf SMS König: Die Revolution und ihre Feinde

Flammen des Aufruhrs: Die Revolution breitet sich aus

Rückblick: Die SPD und das Kaiserreich bis 1918

»Der Dreck des Parlamentsapparats«: Im wilhelminischen Deutschland

Sozialismus, Freiheit, Ohnmacht: Die Welt der Arbeiterbewegung

Götter und Genossen: Das Militär gegen den »inneren Feind«

»Nicht schießen wollen wir auf euch«: Die SPD als Friedenspartei

Burgfrieden, Friedhofsruhe: Im Ersten Weltkrieg

»Das Herz hätte einem springen mögen«: Um die Seele der Partei

»Mich fröstelt, und ich brauche Wärme:« Die Spaltung der Sozialdemokratie

Feindliche Brüder: Friedrich Ebert und Hugo Haase

»Da lehnen sie, die weichen Besen«: Entscheidung in Gotha

»1500 Hände wie zum Schwur«: Die Januarstreiks 1918

Novembersturm: Die Throne wanken

»Männer wie Gespenster«: Die brechende Front

»Bist Du von Gott verlassen?«: Die Bürde der Macht

Fake News 1918: Die Geburt der Dolchstoßlegende

»Die Toten reiten schnell«: Der Sturz des Kaiserreichs

»Die Nacht verlief verhältnismäßig ruhig, abgesehen von kurzen Schießereien«: Die Revolution überrollt das Reich

Freiheit des Andersdenkenden: Die gespaltene Arbeiterbewegung

»Es lebe die deutsche Republik«: Der 9. November 1918

»Ersatzbataillon 48 versagt den Gehorsam«: Generäle ohne Soldaten

»Nicht unter dem Befehl Eurer Majestät«: Die Stunde des Kanzlers

»Scheidemann, komm schnell«: Die Ausrufung der Republik

»Wie eine vom Marder umkreiste Hühnerschar«: Das Dilemma der USPD

Das Gefühl, dass etwas fehlte: Die Regierung der Volksbeauftragten

»Du Hund wirst uns alles verderben«: Machtkampf im Zirkus Busch

»Hierzu hat mich die Revolution autorisiert«: Die sozialistische Einheitsregierung

»Träger des Wehrgedankens«: Das »Bündnis« Ebert-Groener

Unter der roten Fahne: Macht und Ohnmacht der Räte

»Die Magna Charta der Revolution«: Erfolge

»Verfluchte Kontinuität«: Versäumnisse

Und bist du nicht willig: Die Gewalt des Militärs

»Schwarzes Herz auf rotem Grund«: Der erste Putschversuch, 6. Dezember 1918

»Die stehen mit den anderen«: Eine Regierung fürchtet ihre Verteidiger

»15 gut disziplinierte Divisionen«: Zweiter Putschversuch, 10. Dezember

»Dutzende wilde Männer«: Der Reichsrätekongress

»Warum hat man nicht alle Generäle entlassen?«: die »Hamburger Punkte«

»Verhängnisvolle Abstinenz«: Die USPD entleibt sich selbst

Triumph der Generäle: Die MSPD knickt ein

»Ich machte kehrt«: Kontrollversuche

Das Schloss der roten Matrosen: Blutige Weihnachten

»Ein sehr vernünftiger, besonnener Mann«: Die Volksmarinedivision – Porträt einer revolutionären Truppe

»Warum sind wir betrogen?« Die Volksmarinedivision – Schicksal einer revolutionären Truppe

»Wir können hier nicht bleiben«: Die Einheitsregierung zerbricht

»Verliert nicht den Mut, Kinder!«: Frauen in der Revolution

Vom Herd zum Maschinengewehr: Frauenrollen, Rollenbilder

Die Rebellin: Toni Sender

Die Farben der Gewalt: Weißer Terror

Der »Bluthund«: Noske

»Ihr macht euch euren Radikalismus ein bißchen sehr bequem«: Die Gründung der KPD

»Die deutsche Revolution ist tot, der weiße Schnee färbt sich blutrot«: Spartakus

Suppes Kampf: Das letzte Gefecht der Republikaner

»Schlagt alle tot!«: Die Freikorps

»Sie sind tot, gemeuchelt, gemeuchelt«: Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

»Einheit, Freiheit, Vaterland«: Die Nationalversammlung

Scheinriese der Demokratie: Die Weimarer Koalition

Im Frühling blüht der Hass: In den deutschen Bürgerkrieg

»Dann war es ein Traum«: München 1919 – Epitaph einer Revolution

»Es hat nicht sollen sein«: Schluss

Nach 1919: Revolutionäre Lebenswege

Dank

Bildteil

Bibliografie (Auswahl)

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

 

Mit welcher Wollust wühlten und schaufelten Soldaten oben in den Kleidern und Gerätekammern. Mit welchem Erlösungsgefühl schütteten sie die Sachen herab. Da flogen die Schaufeln, gedacht für die Schützengräben und ihnen selbst das Grab zu öffnen. Mit diesen Mänteln sollten die neuen Regimenter eingekleidet werden. In ihnen sollten sie zerschossen werden. Tod, Blut, Kanonenkrachen aus allen Stücken. Sie schleuderten sie weit weg, herunter auf die gierigen Zivilisten. Da war es gut aufgehoben. Von da würde es nie wieder kommen.

Alfred Döblin, November 1918 (verfasst 1937 – 1943)

»Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen«: Einführung

Die deutsche Revolution lag kaum ein Jahr zurück, da schrieb ihr Kurt Tucholsky 1919 schon eine Grabrede:

Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,

behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein (…)

Wir dachten schon: Jetzt gilts den Offizieren!

Wir dachten schon: Hier wird nun ernst gemacht.

Wir dachten schon: Man wird sich nicht genieren,

… das Feuer brennt einmal … es ist entfacht …

Wir dachten schon: Nun kommt der Eisenbesen …

Doch weicht der Deutsche sich die Hosen ein.

Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,

behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein![1]

Behüt dich Gott: Tucholskys Text aus der Weltbühne rührt noch heute an, ein Jahrhundert später. Eine tiefe Trauer spricht daraus, Trauer um eine verlorene Möglichkeit, um eine einmalige, verpasste Chance. Dabei hatte die Revolution zu diesem Zeitpunkt eigentlich Gewaltiges erreicht: den Sturz des Kaiserreichs und seiner gestrigen Ordnung, eine Nationalversammlung, welche die erste deutsche Demokratie aus der Taufe hob; ein modernes Wahlrecht, die fortschrittlichste Verfassung und die tiefgreifendsten Sozialgesetze, die es in Deutschland je gab. Und doch. Der Schriftsteller spürte mit wachem Geist, wie labil diese neue Demokratie sein würde, wie mächtig die alten Gewalten noch waren. Wir dachten schon, es galt den Offizieren? Aber sie waren immer noch da, ebenso wie die Juristen und Verwaltungsbeamten des alten Obrigkeitsstaates, die Industrieführer und rechten Zeitungszaren und die vielen anderen, die der jungen Republik von Beginn an nach dem Leben trachteten. Nur wenige Jahre später, 1933, war die deutsche Freiheit tot.

»Was auf Weimar folgte, war so schrecklich, daß wir das Scheitern der ersten Republik zu den großen Katastrophen der Weltgeschichte rechnen müssen«, schrieb der Berliner Historiker Heinrich August Winkler 1991 in seinem glänzenden Buch Weimar 1918 – 1933. Geschichte der ersten deutschen Demokratie, und wer sich mit diesem Scheitern befasse, leiste »damit notwendigerweise immer auch Trauerarbeit«.[2] Die Revolution von 1918, die nach Weimar führte, blieb unvollendet, widersprüchlich, zwiespältig. Sie fegte das wilhelminische Kaiserreich beiseite, ließ seine Institutionen aber bestehen; sie stützte sich in ihren Anfängen auf Hunderttausende bewaffnete Soldaten und fand schon zwei Monate später kaum noch Freiwillige, welche die Regierung bewachen mochten; sie begann mit der Verheißung einer neuen Ära und Ordnung und endete mit den Massakern, verübt von rechtsradikalen Freikorps, in einem jahrelangen, zähen, immer wieder aufflackernden Bürgerkrieg.

Der Anfang der deutschen Republik liegt im Schatten ihres Untergangs. Inkonsequenz, Zögern und Schwäche scheinen für viele das Kennzeichen der Revolution wie der aus ihr hervorgegangenen Demokratie zu sein; und so hat diese Revolution vergleichsweise wenig Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, außer Momentaufnahmen wie der Ausrufung der deutschen Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am 9. November 1918 und das grässliche Ende der linken Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wenige Wochen später.

In anderen demokratischen Staaten wäre der Sturz der alten Throne der Stoff, aus dem die Mythen der eigenen Gründungsgeschichte gewebt werden: Männer und Frauen, die sich der Ungerechtigkeit entgegenstellen, ihr Leben riskieren, um eine bessere Welt zu schaffen. Der Sturm auf die Bastille und die Französische Revolution 1789 sind ein Beispiel dafür, so wie der Unabhängigkeitskrieg der USA 1775 bis 1783, der Aufstand Simon Bolivars gegen die spanischen Kolonialherren in Südamerika ab 1810; der Sieg der Nordstaaten gegen die Sklavenhalter im amerikanischen Bürgerkrieg 1861 bis 1865. In der Überlieferung leben diese Geschehnisse fort, Denkmäler erinnern an sie; und selbst wer sich für Details der Geschichte wenig interessiert, kann mit den Namen der Helden von damals etwas anfangen und versteht, wofür sie standen und was sie mit der eigenen Gegenwart verbindet.

Aber es gibt keine vergleichbare Erzählung über den erstaunlichen Triumph der ersten Novembertage 1918, als die Freiheit plötzlich zu siegen schien in Deutschland. Bestenfalls erzeugt der Name des linken Sozialdemokraten und Kriegsgegners Hugo Haase, eine der ehrenhaftesten Gestalten des Umsturzes vom November 1918, noch ein fernes Echo. Kaum jemand erinnert sich noch an Richard Müller, der 1918 die Galionsfigur der revolutionären Industriearbeiter war; als 2008 eine erste Biografie, von Ralf Hoffrogge, über Richard Müller erschien, diesen »Sisyphos der Revolution«, schrieb der Extremismusforscher Wolfgang Wippermann voll Grimm im Vorwort: »Was ist das für ein Volk, das seine Revolutionäre nicht kennt!«[3]

Eigentlich ist die deutsche Geschichte an Freiheitsbewegungen nicht arm: Da sind die aufständischen Bauern 1525, die Kämpfe der Städte gegen feudale Mächte, die Erhebungen gegen Napoleon in den Freiheitskriegen, die Göttinger Sieben als Gegner erstickender Repression nach 1815; da ist der Hessische Landbote von 1834 mit seiner berühmten Parole »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Und da ist natürlich die große Revolution von 1848 mit dem Rufen nach Einheit und Freiheit. Und als ihre letzte Bastion, die Festung Rastatt in Baden, gefallen war und ihre Kämpfer von Preußens Exekutionskommandos füsiliert oder auf der Flucht waren, da dichtete Ludwig Pfau das Badische Wiegenlied:

Schlaf, mein Kind, schlaf leis,

dort draußen geht der Preuß!

Der Preuß hat eine blutige Hand,

die streckt er übers badische Land,

und alle müssen wir stille sein,

so wie dein Vater unterm Stein.

Schlaf, mein Kind, schlaf leis,

dort draußen geht der Preuß!

Gott aber weiß, wie lang er geht,

bis dass die Freiheit aufersteht,

und wo dein Vater liegt, mein Schatz,

da hat noch mancher Preuße Platz!

Von da an freilich beginnt eine Entwicklung, die oft als der deutsche Sonderweg bezeichnet wird: Der Vater, der da unterm Stein liegt, Opfer preußischer Kugeln, hat im Zweifel für die nationale Einheit in Freiheit gekämpft. Doch die Freiheit erstand leider nicht mehr auf, und die Einheit der deutschen Lande war von nun an ein obrigkeitsstaatliches Projekt, das sich mit der Reichsgründung von 1871 vollzog. Die Revolution von 1918 war die historische Chance, diesen Webfehler des Deutschen Reiches zu korrigieren. Einmal, aber nur dieses eine Mal und in einem sich schnell schließenden Zeitfenster weniger Wochen, bot sich die Gelegenheit, die Geschichte zu wenden und zu vollenden, was die Barrikadenkämpfer von 1848 nicht vollbracht hatten: den Sturz des Obrigkeitsstaates, des Militarismus, des eifernden Nationalismus, die Errichtung der deutschen Demokratie. Sie wurde nicht stark genug, um nicht auch zu scheitern, so wie alle Versuche zuvor, die deutsche Freiheit zu erkämpfen. Deswegen sind die deutschen Freiheitsbewegungen noch heute ein Stiefkind der Geschichtswissenschaft und Publizistik, auch wenn sich das langsam ändert.

Die Hoffnungen und Möglichkeiten der deutschen Revolution 1918/19 sind Thema dieses Buchs, und damit naturgemäß auch die Gründe, warum die Hoffnungen enttäuscht und die Möglichkeiten verpasst wurden, eine stärkere Republik zu schaffen als jene von Weimar. Im Mittelpunkt stehen die entscheidenden Wochen zwischen dem 9. November 1918 und den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, diesem Scheinsieg der Demokratie, es endet mit dem Untergang der zweiten Münchner Räterepublik im Mai 1919, dem utopischsten Experiment dieser Revolution. Was danach kommt, ist keine Revolution mehr, sondern ein langer, sich noch über Jahre ziehender Bürgerkrieg.

Es ist dies, vor allem, ein Buch über Soldaten – Soldaten, die sich für die Freiheit erheben, ihren Offizieren die Degen wegreißen und Schluss machen wollen mit der Herrschaft der Generäle. Es will daher versuchen, dem Leser diese Männer, ihre Lebenswege, ihre Motive und ihr Handeln, intensiver vor Augen zu führen, als das bisher in einer Gesamtdarstellung der Fall war. Und über ihre Gegenspieler, eben die hohen Offiziere, die Oberste Heeresleitung und mehr und mehr auch die revolutionäre Regierung der Volksbeauftragten selbst. Dominiert von der SPD, die damals MSPD hieß, verbündete sich diese von Friedrich Ebert geführte Regierung ausgerechnet mit dem alten Militär. Die Radikalisierung der Revolution bis zu den »Weihnachtskämpfen« um das Berliner Stadtschloss 1918 ist vor allem eine Folge des Bündnisses der MSPD mit den Generälen, ihren Erzfeinden von gestern, das aus Angst vor den Linksradikalen geschmiedet wurde; doch war diese Angst größer als die tatsächliche Bedrohung.

Das Buch versteht sich in aller Bescheidenheit als Beitrag zur Ehrenrettung der Revolutionäre und will diese daher genauer in Augenschein nehmen, etwa die »Volksmarinedivision«, die zum Schutz der Regierung gegründet wurde und auf die diese Regierung dann am Heiligabend mit schwerer Artillerie schießen ließ. Einer ihrer Unterhändler brachte seine Verwirrung darüber auf den Punkt, als er Regierungschef Friedrich Ebert, den Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, schlicht fragte: »Warum sind wir betrogen?«

Diese Revolutionäre waren überwiegend die eigenen Leute der Sozialdemokratie, sie hatten »Einigkeit« gefordert und standen auf dem Boden des Regierungsbündnisses aus MSPD und deren linkerer Abspaltung, den Unabhängigen. Erst als das Bündnis kurz nach Weihnachten 1918 zerbricht an der Gretchenfrage dieser Revolution – wie hältst Du’s mit dem Militär? –, beginnt eine Spirale der Radikalisierung. Und die Gräuel, die sich fortan auf deutschen Straßen abspielen, fügen sich ein in jene Geschichten eines beginnenden Zeitalters überbordender, exzessiver Gewalt in Europa als Mittel der innenpolitischen Auseinandersetzung.[4]

Sehr lange Zeit war die deutsche Revolution ein ungeliebtes Stiefkind der Geschichtsschreibung, teilweise ist sie es bis heute. Fast ein halbes Jahrhundert später schrieb der Hamburger Historiker Fritz Fischer, der in seinem so berühmten, viel diskutierten Buch Griff nach der Weltmacht 1961 die massive Mitschuld der deutschen Führung an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs nachwies: »Kein anderes Ereignis deutscher Geschichte wurde bis heute so wenig beachtet wie die November-Revolution von 1918/19 – obgleich der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung einer bürgerlichen Republik ohne Zweifel zu den entscheidenden und prägenden Ereignissen deutscher Vergangenheit zählen.«[5]

Die Sozialdemokraten unter ihrer einflussreichsten Persönlichkeit, Friedrich Ebert als Vorsitzendem des Rates der Volksbeauftragten, der Revolutionsregierung, und die Generäle sind die wichtigsten Handelnden in dieser Revolution. Am Militär entzündete sich Ende Oktober 1918 der Aufstand der Matrosen und Soldaten, doch als die Revolution vorüberging, da war das Militär immer noch da, in neuer, noch brutalerer Form, und schmiedete bereits die Sargnägel der Republik, der es dienen sollte. Jahrzehnte ist darüber gestritten worden, wie so etwas möglich sein konnte. Viele Jahrgänge von Studenten der Geschichte, auch der Autor dieses Buchs, sind durch den Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte zur Weimarer Republik zunächst mit einer Deutung konfrontiert worden, die für konservativere Historiker den Rang eines Glaubensbekenntnisses besaß. Ihr zufolge war die Demokratie nach dem Sturz des Kaiserreichs in ihrer »Geburtsstunde von links her, nicht von rechts mit Gewalt in seiner Existenz bedroht«. Angesichts der kommunistischen Bedrohung Deutschlands habe die SPD nach der Revolution vom 9. November 1918 die Qual der Wahl gehabt: »die sozialistische Revolution im Bündnis mit denen auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bündnis mit den konservativen Kräften wie dem alten Offizierskorps«.[6] Autor des Gebhardt-Bandes über Weimar war Karl-Dietrich Erdmann, einer der bekanntesten und einflussreichsten Geschichtsprofessoren der frühen Bundesrepublik. Ob, und wenn ja, wie es Erdmann, Jahrgang 1910, mit den Nazis gehalten hatte, ist bis heute umstritten. Nach dem Krieg war er längere Zeit Vorsitzender des Historikerverbandes, CDU-Mitglied und Gegner der Brandt’schen Ostpolitik. Dies ist hier nur erwähnt, weil das von ihm verfasste Handbuch die Konflikte des Kalten Krieges so überdeutlich widerspiegelte. Viele Historiker wie Hagen Schulze folgten dieser Interpretation.

Das Handbuch wurde erst 2001 neu geschrieben – so lange wirkte Erdmanns Interpretation aus der Ära Adenauer noch nach. Widerlegt wurde sie freilich bereits in den sechziger Jahren, etwa von Susanne Miller. Die große Historikerin der deutschen Arbeiterbewegung bemängelte eine »Beschwörung der abschreckenden bolschewistischen Kontrastfigur«, die »von vornherein die Frage nach den realen Chancen eines dritten Weges ausklammert und als gar nicht ernsthaft diskussionswürdig hinstellt«.[7]

In der DDR erfuhr die Novemberrevolution naturgemäß eine andere Bewertung. Hier fand sie durchaus die Aufmerksamkeit der Forschung, es erschienen zahlreiche Werke, die meisten allerdings mit grob verzeichnender Tendenz. Der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht mahnte die eigenen Historiker früh bereits drohend, sich lieber nicht zu sehr für die Arbeiterräte und meuternden Matrosen von damals zu begeistern: »Wer die Novemberrevolution als eine sozialistische charakterisiert, negiert dabei bewußt oder unbewußt die Rolle der Partei.« Eine schlimmere Sünde war für ostdeutsche Historiker lange Zeit unvorstellbar, aber die Kommunistische Partei oder ihr Vorgänger, der Spartakusbund, waren eben meilenweit davon entfernt gewesen, diese Revolution geführt zu haben. So sind es ausgerechnet die linken Sozialisten, die Gewerkschaftszellen, die Räte der Arbeiter und Soldaten, denen die Geschichtswissenschaft der DDR oftmals mit Misstrauen, Abstand, nachträglichem Rufmord oder plumpen Versuchungen der Vereinnahmung begegnete. In gewisser Weise ergab sich ein trauriges Paradox: Sowohl die bürgerlich-konservative Geschichtsschreibung als auch die orthodox-marxistische betrachteten die Revolution von 1918 als Fremdkörper, als Ereignis ohne Potenzial zu einem dritten Weg.

Diesen hat eine kritische Gegenbewegung in der Bundesrepublik aber schon seit den sechziger Jahren erforscht. Jüngere Historiker wie Eberhard Kolb machten deutlich, »daß der Novemberumsturz nicht das Werk von ›Berufsrevolutionären‹« und schon gar nicht Ergebnis »einer Fernsteuerung aus dem bolschewistischen Rußland« war.[8] Gerade die spontan entstandenen Räte der Arbeiter und Soldaten gerieten ins Spektrum der Forschung – und wurden zeitbedingt gelegentlich verklärt als Beginn einer basisdemokratischen Systemalternative. Die SPD hingegen, welche diese Räte zu zähmen und für ihre Zwecke eines geordneten Übergangs zur Demokratie zu nutzen versucht hatte, wurde immer negativer betrachtet.

Aufs Äußerste zugespitzt hat diese Kritik an der Sozialdemokratie der große deutsche Publizist Sebastian Haffner. Der Verrat (so der ursprüngliche Titel) von 1969 ist das eindrucksvollste der über die Fachwelt hinaus verbreiteten Bücher über die Novemberrevolution und zugleich eine schneidende Abrechnung mit der SPD: »Die deutsche Revolution war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde; ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.« Dieses Buch ist ein cri de cœur, eine Totenklage auf alles, was in Deutschland hätte sein können und niemals sein durfte: Hätte die Ebert-SPD die Massenbewegung genutzt, statt sie zu fürchten, das alte Militär zum Teufel gejagt, statt sich mit ihm zu verbünden, wäre die Republik 1933 wahrscheinlich nicht untergegangen oder wenigstens nicht den Nazis in die Hände gefallen – so der Gedankengang Haffners, und seiner Logik kann man sich schwerlich verschließen.

Anders sieht es mit den Motiven derer aus, die Haffner als die Täter erschienen, allen voran von Ebert, an dem er kein gutes Haar ließ: »Ebert hat der Revolution gegenüber nie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er sie verriet.« Verrat eben, Verstellung, Doppelspiel, sogar Mord: So sah Haffner die führenden Mehrheitssozialdemokraten von 1918 und 1919. Zehn Jahre später, 1979, hat er im Nachwort der Neuauflage selbstkritisch bemerkt: »Ich würde es heute anders schreiben: ruhiger, skeptischer, kälter. Es ist mir, für meinen heutigen Geschmack, zu viel Entrüstung darin.«[9] Er hat die handelnden Personen nach den Ergebnissen ihrer Politik beurteilt, und diese Ergebnisse waren eine schwere, zu schwere Bürde für die Weimarer Republik. Er hat aber nicht, wie es Historiker tun, nach den Motiven jenseits der Revolutionsfurcht gefragt, nach den Handlungsspielräumen der »Akteure«, wie man heute sagt, nach ihrem Wissen und ihren Vorstellungen. So spielt der ungeheure äußere Druck, den die Siegermächte auf die deutsche Revolutionsregierung ausübten, in dem Buch kaum eine Rolle; ohne die Last des soeben verlorenen Krieges lassen sich aber viele Entscheidungen der SPD-Führung nicht richtig verstehen.

Inzwischen ist der Blick, auch durch zahlreiche Einzel- und Regionalstudien, sehr viel breiter und unbefangener geworden – und auch gnädiger, was die Rolle der Sozialdemokraten betrifft. Unbestreitbar aber bleibt, dass sie im Bestreben, das Reich 1918/19 nicht in Chaos, Not und Bürgerkrieg entgleiten zu lassen, einen zu hohen Preis zahlten. In der Verwaltung, der Wirtschaftsordnung und vor allem dem Militär führte, so der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, »der Primat der Kontinuität dazu, dass selbst scharfe Gegner von Demokratie und Arbeiterschaft in Amt und Würden blieben«. Die Folgen waren die fortgesetzte Spaltung der Arbeiterbewegung und eine schwere Erblast für die junge Republik, deren Erzfeinde weiterhin an Schlüsselpositionen der Macht blieben.

Noch immer ist das Wissen über die deutsche Revolution 1918 – und damit über die einmalige Gelegenheit, der deutschen Geschichte eine völlig andere Wendung zu geben – außerhalb der engeren Fachzunft erstaunlich gering, trotz des neu erwachten Interesses an der Geschichte des Ersten Weltkriegs, das sich am 100. Jahrestag seines Beginns und den kontroversen Debatten um das Werk Die Schlafwandler von Christopher Clark festmachen lässt. In Herfried Münklers Bestseller Der große Krieg spielt die Revolution wie in so vielen älteren Darstellungen nur eine Nebenrolle. Der Hamburger Historiker Axel Schildt spricht von »ihrer nahezu allseitigen posthumen Unbeliebtheit, die sich auf das Ergebnis der Revolution, die Weimarer Republik, umstandslos übertrug und durch deren Ende hinreichend begründet erschien«.[10] Es ist eine Geschichte ohne rechtes Happy End, ohne wirklichen Sieger, aber mit vielen Verlierern, allen voran der deutschen Demokratie.

Nach der Wiedervereinigung 1990 sank das Interesse an der Revolution von 1918 zeitweilig »auf den völligen Nullpunkt«,[11] erst ab 2008 sind zarte Neuansätze zu finden. In den vergangenen Jahren aber hat sich ein gewisses Revival des Interesses an der deutschen Revolution gezeigt. Als jüngere Werke von Gewicht sind unter anderem der kurze Band Die Revolution von 1918/19 zu nennen, verfasst 2009 von dem Hamburger Journalisten und Historiker Volker Ullrich, sowie die großartige, leider an entlegenem Ort erschienene Biografie des linken Sozialdemokraten Hugo Haase von Ernst-Albert Seils von 2016. Mit dem Thema selbst sind aber auch alte politische Kontroversen wieder erwacht. Ein teilweise heftiges Ressentiment gegen die SPD-Führung, besonders gegen Friedrich Ebert, bestimmt erneut nicht wenige, auch durchaus verdienstvolle Werke; umgekehrt sind manche Versuche, Eberts Handeln zu verteidigen, noch immer von längst überwunden geglaubten Vorurteilen gegen seine linken Kontrahenten von damals geprägt. Mitunter verrät all dies noch immer mehr über die Konflikte der Gegenwart als über die Geschichte der Revolution, zumindest aber würde eine weitere Historisierung der Debatte guttun.[12]

Dieses Buch möchte den Versuch dazu wagen. Es will die Geschichte der Revolution vom Anfang her erzählen, unvermeidlich natürlich im Wissen um das Ende des demokratischen Versuchs 1933, aber nicht aus der Perspektive dieses späteren Scheiterns. Es will zeigen, welche Spielräume sich den Handelnden boten und welche Motive sie trieben, und damit auch, ob dieses Scheitern unvermeidlich war. Geschichte ist immer ein offener Prozess, viele Entscheidungen darin sind jedoch niemals mehr umkehrbar. Der Schriftsteller Alfred Döblin hat dies 1931 klarsichtig beschrieben: »Wenn sie 1918 gewußt hätten, was sie unternehmen, würden die Deutschen damals die notwendigen Maßnahmen getroffen haben, ihre Demokratie zu sichern. Alle, die seither Zeit gehabt haben, die Republik zu unterhöhlen, wären gleich damals ein für allemal verhindert worden zu schaden. Stattdessen hat die deutsche Demokratie sich einfach eingerichtet, als gebe es im ganzen Lande niemand mehr, der nicht den Stimmzettel anerkannte. … Die deutsche Demokratie war sogar noch stolz auf ihre Gewaltlosigkeit. Bis heute hat sie die Anwendung von Gewalt ihren Feinden überlassen, die von der gütigen Erlaubnis bestens Gebrauch machen.«[13]

Die Revolution 1918 ist ein Meilenstein in der verkannten und vernachlässigten Geschichte der deutschen Freiheitsbewegungen. Dieses Buch möchte helfen, Verständnis für diese historische Errungenschaft zu wecken. In dem leider wenig besuchten Pantheon dieser Freiheitsbewegungen gehört der Revolution von 1918/19 und jenen, die sie wagten, für immer ein besonderer Platz.