Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Sniper and the Wolf

erschien 2015 im Verlag Touchstone.

Copyright © 2015 by Scott McEwen und Thomas Koloniar

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Touchstone,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc.

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-557-4

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Dieses Buch ist den Männern und Frauen gewidmet, die ihr Leben im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus verloren haben.

»Nur Gott kann richten, nur er kann entscheiden, ob die Terroristen im Recht oder im Unrecht sind. Unsere Aufgabe ist es, sie vor den Richterstuhl zu bringen.«

– Unbekannter U. S. Navy SEAL

Am 8. April 2014 bestätigte der Leiter des staatlichen russischen Geheimdienstes den Tod von Dokka Umarov. Obschon Ort und Zeit seines Todes nach wie vor nicht bekannt sind, wurde sein Tod von der amerikanischen Regierung bestätigt und sein Name im April 2014 von der Liste der meistgesuchten Verbrecher, der Rewards for Justice List des Außenministeriums, gestrichen.

Prolog

Cancún, Mexiko

Tim Hagen, ehemaliger Stabschef des Weißen Hauses, saß am Pool seines Hotels in Cancún, das an der Spitze der Halbinsel Yucatán liegt. Er trank eine Piña Colada und las in der Taschenbuchausgabe von Sunzis Über die Kriegskunst. Er kannte alle 27 Grundkonzepte in- und auswendig, tauchte aber gern immer wieder in den Text ein, suchte darin nach Einblicken in den Verstand, der ihn verfasst hatte. Besonders interessierten ihn die Ideen, die das 13. Kapitel behandelte: Der Einsatz von Spionen.

Noch sechs Monate zuvor war Hagen der oberste militärische Berater des Präsidenten der Vereinigten Staaten gewesen, aber diesen Posten war er abrupt losgeworden, als der Präsident ihm den Rücktritt nahelegte, und das nur Minuten, nachdem San Diego beinahe von einer Kofferatombombe aus der Sowjet-Ära zerstört worden wäre. Natürlich ließ Hagens Ego nicht zu, dass er sich selbst die Schuld an seiner Entlassung zuschrieb, aber letztlich hatte seine ständige Manipulation des Präsidenten zugunsten seiner eigenen Ambitionen genau dazu geführt. Er zog es vor, Gil Shannon und Robert Pope die Schuld zu geben, hatten sie doch seinen Einfluss untergraben.

Jetzt wartete Hagen darauf, die Nachricht zu bekommen, dass der unermüdliche Navy SEAL entweder tot oder auf dem Weg in ein französisches Gefängnis war. Sobald diese Neuigkeit ihn erreichte, würde er sich rehabilitiert auf den Rückweg nach Washington machen und sein ehrgeiziges Streben nach Macht und Einfluss aufs Neue beginnen. Er plante, seine strategischen Dienste einem aufgehenden Stern am Polithimmel anzubieten, einem gut aussehenden jungen Senator aus New York namens Steve Grieves, der mit der richtigen ›Führung‹ durchaus eines Tages erfolgreich fürs Weiße Haus kandidieren könnte.

Ein Hotelportier näherte sich ihm über die Terrasse. »Señor Hagen?«

Hagen sah von seinem Buch auf. »Ja, das bin ich.«

»Da ist ein Anruf für Sie an der Rezeption, señor

Hagen warf einen Blick auf sein Handy, das stumm neben seinem Drink auf dem Tisch lag. »Für einen Tim Hagen?«

»Sí, señor.«

Er fragte sich, ob irgendetwas schiefgegangen war, nahm sein Handy und ließ das Buch auf dem Tisch liegen. »Zeigen Sie mir, wo.«

»Hier entlang, señor.« Der Portier führte ihn in die Lobby und sie blieben an der Rezeption stehen, wo eine junge Frau Hagen den Hörer des Festnetztelefons reichte.

»Hagen«, meldete er sich, nachdem er den Hörer entgegengenommen hatte.

»Tim?«

»Ja, hier ist Tim Hagen«, erwiderte er ungeduldig. »Mit wem spreche ich?«

»Tim, hier ist Bob Pope. Genießen Sie die Sonne da unten in Mexiko?«

Hagens Herz setzte einen Schlag aus und seine Füße in den Sandalen waren plötzlich eiskalt. »Das tue ich«, krächzte er nach einem Räuspern. »Was kann ich für Sie tun, Robert?«

»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Gil Shannon in Paris in ernsthafte Schwierigkeiten geraten ist.«

»Es tut mir schrecklich leid, das zu hören«, erwiderte Hagen. Seine Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln, während das Blut wieder zu fließen begann. »Aber ich arbeite nicht mehr für das Weiße Haus. Wieso also sollte es mich interessieren, was mit Chief Shannon geschieht?«

Pope lachte leise. »Nun, ich weiß doch, mit welchem Interesse Sie und Lerher seine Karriere verfolgt haben.«

Popes offenkundig gute Laune sandte Hagen ein Schaudern das Rückgrat hinab. »Ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, Robert, aber ich …«

»Gil hat es aus Frankreich raus geschafft«, unterbrach Pope ihn mit verändertem Tonfall. Er klang jetzt eisig. »Ich an Ihrer Stelle würde mich jetzt gleich auf die Suche nach einer Höhle machen, in der Sie sich verstecken können.«

Hagens Mund wurde trocken. »Hören Sie, Sie verstehen nicht … wer zum Teufel ist Lerher?«

»Sie sollten anfangen zu rennen«, erwiderte Pope anstelle einer Antwort, »und nicht mit diesem lächerlichen Hut auf dem Kopf in der Lobby herumstehen.«

Er hatte aufgelegt und Hagen drehte sich um, ließ seinen Blick hastig durch die Lobby schweifen, auf der Suche nach jemandem, der wie Robert Pope aussah. Er erspähte eine Überwachungskamera an der Wand über der Rezeption. »Ist Ihr Sicherheitssystem in irgendeiner Form mit dem Internet verbunden?«

Mit verblüfftem Blick sah der Portier zur Kamera hinauf. »Das weiß ich nicht, señor. Ich glaube, nicht. Wieso, stimmt irgendetwas nicht?«

»Nein, nein«, wiegelte Hagen ab, während seine Paranoia sekündlich wuchs. »Ich checke in der nächsten halben Stunde aus. Bitte lassen Sie mein Gepäck aus dem Zimmer holen.«

»Sí, señor.« Der Portier lächelte die junge Frau perplex an, während Hagen durch die Lobby eilte. Er sah, wie der Gast auf dem Weg zum Fahrstuhl seinen Panamahut in den hoteleigenen Abfallbehälter warf, und wunderte sich, wieso der Anrufer ihn gebeten hatte, Mr. Hagens Kleidung zu beschreiben, bevor er ihn ans Telefon holte.

1

Paris, Frankreich

Es ging auf drei Uhr morgens zu. Master Chief Gil Shannon lag flach auf dem Bauch auf einem leeren Güterwaggon in einem der Pariser Außenbezirke, ein modulares Scharfschützengewehr der Marke Remington eng an die Schulter gezogen, das Auge am Barska-Nachtsichtzielfernrohr, dessen leuchtendes grünes Fadenkreuz in der Dunkelheit gut sichtbar war.

Er spähte zu der völlig im Dunkeln liegenden Lagerhalle hinüber, die etwa 100 Meter östlich von ihm auf der anderen Seite des Betriebshofs stand. Die Aprilnacht war frisch und die Brise trug das ferne Heulen einer Lokomotive herüber, als Gil sachte seine Stellung korrigierte, um den Harndrang unter Kontrolle zu bringen.

Er wartete darauf, dass Dokka Umarov sich zeigte. In seinem rechten Fuß war ein dumpfes Pochen. Er hatte im Vorjahr während eines Kampfeinsatzes – ein Fallschirmsprung über Montana – einen Schuss abbekommen und ein Großteil des Mittelfußknochens war durch ein experimentelles Implantat aus Titan ersetzt worden. Dazu gesellte sich das beklemmende Gefühl in seiner Brust, das ihn neuerdings immer dann heimsuchte, wenn es zu lange zu ruhig blieb.

Er atmete tief ein und ließ den Atem langsam wieder entweichen, nahm die Hand vom Griff der Waffe, um die Finger zu lockern.

»Bist du schon verkrampft?«, fragte die Stimme seiner Deckung aus der Luft. Der Stöpsel lag bequem in seinem Ohr.

Gil lächelte in der Dunkelheit. »Hast du mich im Blick oder das Zielgebiet?«

Die Stimme lachte leise. »Ich sehe alles.«

»Du siehst zu viel«, murmelte Gil gutmütig. »Wie wäre es, wenn du den Blick von meinen Eiern nimmst und stattdessen nachsiehst, ob Umarov sich hinten rausschleicht?«

Wieder das leise Lachen.

Ein paar Minuten später sagte Gil: »Dieses kleine Stelldichein dauert länger, als es sollte. Ich frage mich …«

»Wärmesignatur! Schütze auf dem Dach!«

Gil zuckte mit keiner Wimper. Sein Auge blieb am Zielfernrohr. »Norden oder Süden?«

»Auf der Nordseite«, kam die Stimme. »Er hatte sich unter einer Art Vordach versteckt … nein, ich schätze, das ist ein richtiger Hochsitz. Er gleitet jetzt wieder darunter. Umarov muss damit gerechnet haben, per Satellit überwacht zu werden.«

»Kannst du den Lauf der Waffe sehen?«

»Ich verbessere gerade die Auflösung … ja, ich sehe 15 bis 20 Zentimeter davon – den Schalldämpfer.«

»Wohin ist sie gerichtet?«

Eine kurze Pause, dann: »Etwa 20 Grad zu deiner Rechten … südlich deiner Position.«

»Dann hat er mich also nicht bemerkt«, kommentierte Gil. »Aber das ist ja selbstverständlich.« Er ließ den Blick mehrfach über das Flachdach des dreistöckigen Gebäudes schweifen, das ein Wirrwarr aus Wassertanks und Klimaanlagen, Lüftungskanälen und ummauerten Aussichtsplattformen zierte, die ehemals von Eisenbahnfans genutzt worden waren. »Ich kann ihn nicht entdecken. Du hast nicht zufällig einen Blick auf seine Optik erhaschen können, oder?«

»Doch«, kam die Stimme zurück. »Fettes Zielfernrohr.«

»Scheiße«, murmelte Gil. »Das bedeutet Infrarot. Klingt, als hätte ich nur ein Messer zu einer Schießerei mitgebracht. Was hat er gemacht, als er aus seinem Versteck gekommen ist?«

»Seinen Rücken gestreckt, schätze ich.«

»Zumindest ist er unvorsichtig. Das ist doch was.« Gil entspannte sich und pinkelte in seine Hose, um zumindest diese immer stärker werdende Einschränkung loszuwerden. Das warme Gefühl, das sich von seinem Schritt aus am Stoff der Hose entlang ausbreitete, brachte zusätzliche Erleichterung. Es war gar nicht so leicht, die Blase zu entleeren, während man absolut regungslos liegen blieb, wie die meisten Menschen wohl denken würden, aber Gil hatte die Kunst inzwischen mehr oder weniger zu meistern gelernt. Wenn ein Agent in Afghanistan am Leben und hellwach bleiben wollte, musste er eine Menge Wasser trinken, und ein Heckenschütze konnte schließlich nicht alle zehn Minuten aufspringen und aufs Klo gehen.

Nachdem er also dem Harndrang nachgegeben und sich erleichtert hatte, war er kampfbereit. »Ich muss diesen Kerl ausschalten, bevor Umarov rauskommt. Führ mich zu ihm.«

»Siehst du den nördlichen Wassertank?«

»Hab ihn.«

»Er steckt in einem Unterschlupf aus Sperrholz und Schutt, knappe zehn Meter südlich vom … Pass auf! Er zielt jetzt auf dich!«

Gil schob sein Ziel zehn Grad nach rechts. Das Blut gefror in seinen Adern, als er den feindlichen Scharfschützen entdeckte, deutlich zu sehen in seinem Unterschlupf, die Silhouette im grünlich-schwarzen Sichtfeld klar umrissen.

»Scheiße!« Er zuckte vom Zielfernrohr weg, und das keinen Moment zu früh. Die Linse splitterte, als die feindliche Kugel geradewegs durch das Rohr ging, ohne die Seiten auch nur zu berühren. Glassplitter bohrten sich in die Haut an Gils Hals, als die tödliche Kugel nur knapp an seinem Ohr vorbeipfiff. Er ließ die Remington fallen und rollte über das Dach des Bahnwaggons, um sich dann auf der Rückseite hinabfallen zu lassen, aber da streifte der zweite Schuss des Feindes auch schon seine Hüfte. Im Fallen drehte er sich, sodass er wie eine Katze mit den Füßen voran auf dem Schotter landete, und suchte Deckung, duckte sich hinter eines der großen Stahlräder des Waggons.

»Gottverdammt, das war knapp!«

»Hat er dich getroffen?«, fragte die Luftüberwachung und klang ein bisschen erschüttert.

Gil zog die Jeans kurz ein Stück herunter, um sich die Wunde anzusehen. »Er hat mich an der Hüfte gestreift. Nichts Ernstes.«

»Gut«, erwiderte die Stimme grimmig, »denn gleich wirst du bis zur Hüfte in der Scheiße stecken. Da sind mehrere Dutzend französische Gendarmen, die sich von Norden und Westen deiner Position nähern. 200 Meter entfernt. Die haben zwei Schäferhunde dabei.«

Mit Schäferhunden wollte Gil nicht ins Gehege kommen. Mit einem würde er vielleicht fertigwerden, wenn er in Kauf nahm, selbst etwas abzubekommen, aber zwei davon würden ihn erst zu Boden und dann in Stücke reißen. Also rannte er in südlicher Richtung über den losen Schotter davon, immer parallel zum abgestellten Güterzug. »Was macht der verfickte Sniper?«

»Vergiss den«, kam die Stimme, die jetzt etwas abgelenkt klang. »Er zieht sich zurück.«

Gil hantierte am Ohrstöpsel herum, während er rannte. »Ist es möglich, dass die Gendarmen wegen Umarov hier sind?«

»Sie bewegen sich nicht auf die Lagerhalle zu. Warte eine Sekunde.« Erneut entstand eine Pause. »Umarov und seine Leute verlassen das Gebäude durch den hinteren Ausgang. Jemand muss dich in eine Falle gelockt haben, Gil.«

»Aber wer, zum Teufel?«, wollte Gil wissen, während er durch das Dunkel rannte und der Wind die Rufe der Gendarmen, die ihn verfolgten, zu ihm herübertrug.

»Die Hunde sind los«, warnte ihn die Stimme von oben. »Sie werden schneller, sind jetzt 100 Meter hinter dir.«

»Verdammt!« Gil machte einen Satz die Leiter eines Waggons hinauf und kletterte hastig aufs Dach, sprintete oben auf der Waggonreihe entlang und setzte jeweils mit einem Sprung über die Lücken dazwischen, immer in Richtung der Lokomotive, die immer noch eine halbe Meile entfernt an der Spitze des Güterzugs wartete.

»Sie werden dich da oben sehen.«

»Wenn du eine bessere Idee hast, Bob, dann raus damit.« Die Hunde bellten und holten auf, während das dumpfe Klappern von Gils Schritten auf den Stahlblechdächern viel zu gut zu hören war … die winzigen Tröpfchen seines Schweißes hingen schwer in der Luft und boten den Hunden eine unmissverständliche Fährte.

»Wir erweitern das Sichtfeld, um zu sehen, was vor dir liegt«, kam die Antwort der Luftüberwachung.

Gil spürte, wie das Titan-Implantat in seinem rechten Fuß sich langsam in das Muskelgewebe fraß, und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis irgendetwas im Innern des Fußes auseinanderbrach. Er taugte nicht mehr wirklich für Flucht und Ausweichmanöver dieser Art, und diese Tatsache wurde ihm mit jedem Sprung von Waggon zu Waggon schmerzhafter klar. Die Schäferhunde waren jetzt direkt unter ihm und bellten wie irre, um ihren Haltern anzuzeigen, dass sie den Verdächtigen eingeholt hatten.

Ein Pistolenschuss pfiff durch die Nacht und Gil warf einen raschen Blick über die Schulter zurück. Er erspähte einen Gendarmen 15 Waggons weiter hinten, der ebenfalls auf den Dächern entlangrannte.

»Was ist aus der guten alten Regel geworden, dass man einen fliehenden Verbrecher nicht erschießen soll?«, murmelte Gil genervt vor sich hin.

»Du bist in Frankreich«, erinnerte ihn die Stimme. »Diese Regel gibt’s da nicht.«

»Bob. Der Zug geht mir gleich aus und dieser übereifrige Arsch hinter mir kann schneller rennen als ich.« Ein weiterer Pistolenschuss. »Ich bin ziemlich sicher, dass die mich abknallen wollen.«

»Das wollen sie. Jemand hat der Sûreté telefonisch einen Tipp gegeben, dass sich beim Betriebshof ein Terrorist herumtreibt.« Die Sûreté Nationale war die französische Staatspolizei.

»Hörst du nebenher noch Radio oder was?« Gil sprang mit einem weiteren Satz über die nächste Wagenlücke und wäre beim Aufsetzen beinahe gestolpert.

»Ich muss doch herausfinden, womit du es zu tun hast«, erwiderte die Stimme gelassen, während Gil das leise Klackern von Fingern auf einer Tastatur hören konnte. »Okay, du hast Glück. Etwa zehn Waggons voraus queren die Schienen einen breiten Kanal. Da hinüber können dir die Hunde nicht folgen, also kannst du zurück auf den Boden und ein bisschen querfeldein rennen.«

Gil sprang über die nächste Lücke und geriet ins Straucheln, rollte sich gekonnt ab und zurück auf die Füße, während die Schritte des Verfolgers immer näher kamen. »Zuerst muss ich diesen Carl Lewis hinter mir abhängen.«

»Lauf, Gil. Wenn sie dich lebend schnappen, dann kommst du lebenslang in den französischen Knast.«

»Vielen Dank für den Hinweis, Bob!« Gil rannte über das Dach des Waggons, der genau über dem Kanal stand, ließ die Hunde bellend und jaulend am Ufer zurück und kletterte auf der anderen Seite rasch die Leiter hinab. Ein schneller Blick zurück verriet ihm, dass der Gendarm nur sechs Wagen hinter ihm war und mit der Pistole in der Hand schnell näher kam. Er verschwand im Schatten der vielen Frachtcontainer, die jeweils zwei Stück hoch auf einem Lagerplatz standen. Die Rufe weiterer Gendarmen erschollen, als sie sich am Rand des Kanals sammelten und die Lichtkegel ihrer Taschenlampen wild durch die Dunkelheit flackerten.

Gil verbarg sich hinter dem nächstbesten Container, um auf den schnellfüßigen Gendarmen zu warten. Als der jüngere Mann im Dunkeln um die Ecke gehechtet kam, stieß ihm Gil seinen Daumen und Zeigefinger zu einem V geformt in den Hals, drückte ihm damit kurzzeitig die Speiseröhre ab und ließ ihn aus den Latschen kippen.

Die Pistole fiel auf den Boden und Gil schnappte sie sich. Er wollte niemanden töten, aber die Möglichkeit, lebenslang ins Gefängnis zu wandern, war ebenso inakzeptabel, also musste er diese vermasselte Mission irgendwie überstehen und so lange auf Messers Schneide tanzen, bis er entweder entkam oder sich gezwungen sah, eine mörderische Entscheidung zu treffen. Er steckte die Pistole in den Bund seiner Jeans und rannte erneut los, ließ den röchelnden Gendarmen im Staub liegen.

»Zeig mir einen Ausweg aus diesem verdammten Dreckslabyrinth!« In Augenblicken wie diesem war Gil aufrichtig erleichtert, dass er und seine Frau getrennt lebten, dass sie nicht zu Hause saß und sich Sorgen um ihn machte …

»Weiter geradeaus durch die Gasse zwischen den Containern, bis es nicht mehr weitergeht, dann scharf rechts. Einige von denen überqueren gerade über den Zug hinweg den Kanal. Der Rest ist mit den Hunden Richtung Westen unterwegs, weil es da eine Fußgängerbrücke gibt.«

»Wie weit von der Botschaft entfernt bin ich hier?«, wollte Gil wissen.

»Die Botschaft kannst du vergessen«, erwiderte die Stimme. »Die wird in diesem Moment abgeriegelt. Jemand weiß, dass du Amerikaner bist, also erwarten sie, dass du dorthin unterwegs bist.«

Gil stürzte einen schmalen Durchgang zwischen den Containern entlang. »Wo ist Umarov?«

»Der kann dir jetzt egal sein. Wir müssen ein Versteck finden, in dem du sicher bist.«

»Scheiß drauf!«, fluchte Gil. »Bring mich auf Umarovs Fährte zurück!«

»Gil, nein. Das ist …«

»Bob, deine Pariser Kontakte sind kompromittiert. Ich bin hier unten völlig auf mich allein gestellt. Wenn du mich also zu Umarov zurückführst, ist das ein ebenso großes Risiko wie jeder andere Weg, den ich nehmen könnte – und das Einzige, womit er ganz sicher nicht rechnet!«

Die Luftüberwachung blieb stumm, also huschte Gil weiter bis zum Ende der Reihe aus Frachtcontainern, wo es nicht weiterging. »Also was zum Henker sagst du da oben? Soll ich links oder rechts lang?«

»Oh, zur Hölle«, fluchte die Stimme unterdrückt. »Links weiter!«

Gil wandte sich nach links und rannte leise weiter. »Ist Umarov weit gekommen?«

»Nein, er hat einen Wohnblock betreten, etwa zwei Meilen von dir entfernt.«

»Was ist mit den Gendarmen?«

»Die haben die Fußgängerbrücke westlich von dir überquert und die Hunde suchen nach deiner Witterung. Du hast keine Minute mehr, dann sind sie dir wieder auf den Fersen.«

Gil erreichte das Ende dieser Reihe und hastete quer über den offenen Platz auf dem Betriebshof, auf die Lagerhallen zu.

»Mach schneller«, drängte die Stimme in seinem Ohr. »Du bist völlig ohne Deckung, jeder kann dich sehen.«

»Ich mache mir Sorgen, dass mir das verdammte Implantat aus dem Fuß springt.«

»Wenn du nicht innerhalb der nächsten 30 Sekunden die Deckung erreichst, werden die Gendarmen dich entdecken. Die haben Nachtsichtgeräte.«

Gil rannte noch einen Schritt schneller und schaffte es hinter eine Linie aus sechs abseitsstehenden Tankwaggons, die auf einem Abstellgleis geparkt waren. Er duckte sich rasch hinter ein weiteres großes Rad.

»Bleib da mal eine Minute lang«, wies ihn die Luftüberwachung an. »Die suchen den Betriebshof ab.«

»Wie lauten deren Befehle?« Gil wusste, dass der Mann am anderen Ende fließend Französisch sprach. »Hörst du den Polizeifunk in Echtzeit ab?«

»Der Befehl lautet, dich nicht entkommen zu lassen.«

»Okay, also mindestens brenzlig für mich«, murmelte Gil. »Ich würde gern eine rauchen.« Er hockte sich hin und lehnte den Kopf zurück gegen das Rad, nahm mehrere tiefe Atemzüge. »Ich kann dieses Tempo nicht mehr lange halten. Du musst so was wie eine Mitfahrgelegenheit für mich finden.«

»Die Hunde werden jede Sekunde deine Witterung aufnehmen«, warnte die Stimme. »Steh auf und sieh zu, dass du dich genau senkrecht zu den Schienen davonmachst. Du musst immer die Räder zwischen dir und den Männern auf der anderen Seite haben. Wenn du es zu den Lagerhallen rüber schaffst, ohne entdeckt zu werden, hast du vielleicht eine Chance.«

Gil rannte los und erreichte das nächstgelegene Lagergebäude, rannte zur Rückseite, um außer Sicht zu gelangen.

»Herrgott, was denn noch?«, schimpfte die Flugüberwachung. »Hörst du da unten Schüsse?«

Gil erstarrte. »Nein – wieso?«

»Jemand schießt auf die Gendarmen. Zwei von ihnen hat es erwischt, die liegen auf den Schienen, und der Rest bleibt zurück, geht in Deckung. Sie haben gerade die Hunde wieder von der Leine gelassen.«

Gil schlug eine Scheibe ein und stieg in die Lagerhalle. »Ich bin jetzt drinnen.« Er huschte zum hinteren Ende des Gebäudes, musste im Zickzack um Berge von Kisten herumlaufen und verlor im Dunkeln rasch die Orientierung. Er fand sich in einer Sackgasse wieder und musste kehrtmachen. »Wer hat diese Scheißdinger bloß so gestapelt?«

»Was für Dinger?«

»Kisten«, erwiderte Gil. »Wer schießt auf die Gendarmen? Ist es dieser verfluchte Heckenschütze?«

»Das weiß ich nicht, Gil. Du musst da irgendwie wieder raus, schnell. Die Hunde sind gerade dabei, durch das Fenster zu springen … Sie sind im Gebäude!«

Nur Sekunden später konnte Gil die Krallen der Hunde auf dem Betonboden kratzen hören, während sie, ohne zu zögern, durch die Dunkelheit hetzten, jeden seiner Schritte im Labyrinth aus Kisten exakt nachvollzogen. Er erreichte eine Stahltreppe und rannte zwei Stockwerke hoch bis zum obersten Absatz, von wo aus er die gesamte tintenschwarze Grundfläche der Halle überschaute. Er sprintete zum Ende der Laufplanke und fand dort eine verschlossene Stahltür.

Die beiden Schäferhunde hechteten die Treppe hinauf, und dann sah er schwach ihre Silhouetten am anderen Ende des Stegs, wie sie Schulter an Schulter auf ihn zukamen. Ein tiefes Knurren kam aus beiden Kehlen.

Als er die Beretta aus dem Hosenbund zog und auf die Hunde anlegte, dachte Gil unwillkürlich an seinen eigenen Hund, einen Chesapeake Bay Retriever. Die Schäferhunde knurrten und griffen dann an. Im Schein einer Quecksilberdampflampe, die draußen vor dem Fenster montiert war, erspähte er eine Reihe von Leitungsrohren, die entlang der Wand nach unten verliefen und zu einer Tür führten, die ins große Tor eingelassen war. Er traf eine Entscheidung, ohne groß darüber nachzudenken, ließ die Pistole fallen und schwang die Beine über das Geländer. Dann streckte er die Arme aus, um eins der Leitungsrohre zu fassen zu bekommen, und stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand.

Die Hunde knurrten und bellten wütend, während er sich knapp außerhalb ihrer Reichweite an die Wand klammerte. Er behielt ihre gebleckten weißen Zähne im Blick, als er an dem Rohr entlangglitt, zwei Stockwerke hinab bis zum Boden. Die Hunde hechteten zur Treppe zurück und kamen herunter.

Unten angekommen musste Gil feststellen, dass die Tür verschlossen war. »Kann denn nicht einmal etwas funktionieren?«

»Was ist jetzt schon wieder das Problem?«, wollte die Luftüberwachung wissen.

»Hunde sind das Problem!«

Er rannte an der Wand entlang, in der Hoffnung, dass er die Rückseite der Lagerhalle erreichen würde, während die Schäferhunde die Treppe hinabstürmten. Er trat die Tür eines verschlossenen Büros auf und verbarrikadierte sie dann hastig mit dem Schreibtisch. Dabei schnappte er sich beiläufig eine Packung französischer Zigaretten vom Tisch und stopfte sie in seine Hosentasche.

Binnen Sekunden kratzten und schnauften die Hunde an der Tür, winselten frustriert. Er brach die rückwärtige Tür des Büros ebenso auf, dann rannte er einen fensterlosen Flur entlang, an dessen Ende ein trüber Lichtschein wartete.

»Seid ihr immer noch da oben?«

»Ja, ich habe einige Anrufe gemacht«, gab die Stimme zurück. »Hab versucht, ein Versteck für dich aufzutreiben. Wie lange wird es noch dauern, bis du einen Weg da raus gefunden hast?«

»Das kann ich dir gleich sagen, Moment.« Gil tastete mit der Hand die verdreckte Glasscheibe ab, durch die der schwache Lichtschein fiel. »Ich schätze mal, hier geht’s nach draußen«, murmelte er.

Im Dunkeln suchte er nach einem Stuhl oder Mülleimer, mit dem er die Scheibe einschlagen konnte.

Ohne Vorwarnung sprang ihn einer der Schäferhunde in vollem Lauf an, versenkte seine Reißzähne in seinem linken Unterarm.

»Verdammte Scheiße!«, brüllte er, denn der plötzliche Angriff traf ihn völlig unvorbereitet. Er rang um sein Gleichgewicht, während der Hund ihn am Arm hin und her zerrte, nicht gerade wie eine alte Puppe, aber doch beinahe.

»Was ist da los?«, fragte die Luftüberwachung besorgt.

Das Tier war unglaublich stark und benötigte nur wenige Sekunden, um Gil zu Boden zu ringen. Er spürte mehr, als dass er hörte, dass auch der zweite Hund wieder aufgetaucht war, also trat er ins Dunkel, um ihn abzuwehren. Aber das Tier verbiss sich sofort in seinem Stiefel, riss seinen Fuß wie rasend hin und her, und die Fänge durchbohrten sowohl das Leder als auch den Spann seines sowieso schon lädierten rechten Fußes mit Leichtigkeit.

Zu seinem Glück war der Gang so eng, dass die beiden Hunde kaum Spielraum hatten. Daher schaffte es Gil, den ersten in die Ecke zu stoßen und dort niederzuhalten. Er stemmte seinen linken Fuß gegen die Wand und benutzte den verletzten Unterarm, um den Kopf des Hundes gegen den Boden zu pressen. Nun hatte er die Oberhand. Der zweite Hund hatte seinen Fuß immer noch im Beißgriff, aber das war lediglich schmerzhaft, keine akute Gefahr für Leib und Leben.

Gil wollte dem ersten Hund gerade den Daumen in die Augenhöhle drücken, als er mit dem Kopf gegen einen Feuerlöscher stieß, der an die Wand gelehnt auf dem Fußboden stand. Er packte den Feuerlöscher mit der freien Hand und stieß dem Hund die Düse in die Schnauze, bevor er den Hebel hinunterdrückte und ein heftiger Stoß CO2 herauskam. Der Hund heulte auf und ließ Gils Arm augenblicklich los, zappelte wie rasend und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Gil rollte sich von ihm herunter und verpasste dem zweiten Hund einen Stoß ins Gesicht, sodass auch der seinen Fuß hastig freigab. Er nahm eine geduckte Haltung ein und trieb die beiden Tiere mit mehreren Stößen aus dem Feuerlöscher zurück den Gang entlang. Dann fuhr er schnell herum und warf den Löscher mit aller Wucht durch das Fenster. Das Glas brach nach außen weg und Gil sprang mit einem Satz nach draußen. Er landete in einem stählernen Müllcontainer, der halb gefüllt war.

Einer der beiden Schäferhunde tat es ihm mit einem ebenso raschen Satz nach und stieß sofort knurrend seine Zähne in Gils Oberschenkel.

»Du verdammtes Arschloch!«, fluchte Gil und hieb dem Tier seine Faust gegen den Kopf, offenbar hart genug, um es zum Loslassen zu bewegen. Er trat den Hund beiseite und war bereits im Begriff, aus dem Container zu klettern, als der zweite Schäferhund durch das Fenster gesprungen kam. Gil hechtete aus dem Müllcontainer und drehte sich schnell um, schlug den schweren Deckel nach unten und erwischte dabei einen der Hunde, der sofort bewusstlos war. Den anderen Hund hörte er weiterhin dumpf aus dem stählernen Kasten bellen, als er sich die Gasse hinunter davonmachte.

»Großer Gott.« Er lehnte sich kurz an eine Wand und machte eine Faust, ließ dann wieder locker, um zu sehen, wie schlimm es seinen linken Arm erwischt hatte. Dann spähte er in den Himmel hinauf. »Wie komme ich hier weg?«

»Immer in östlicher Richtung«, antwortete die Stimme leise. »Wenn du dich jetzt beeilst, bin ich ziemlich sicher, dass du Zeit genug hast, etwa eine halbe Meile voraus ein Taxi zu erwischen.«

»Was ist mit den Cops?«

»Drei weitere wurden niedergeschossen, während du dich mit den Hunden angelegt hast. Sie sind in Deckung gegangen und haben einen Ambulanzhubschrauber angefordert.«

»Habt ihr gesehen, in welche Richtung der Heckenschütze abgehauen ist?«

»Nein, aber wer auch immer er ist, er hat dich verdammt noch mal verpfiffen.«

Gil zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Boden. »Sieh zu, dass du herausfindest, wer diese Operation sabotiert hat. Dem schneide ich das verfluchte Herz raus.«

»Wir haben Glück, wenn wir dich überhaupt lebend aus Frankreich herausbekommen.«

Gil zog an der Zigarette. »Dann hat die Eliminierung von Umarov nach wie vor höchste Priorität. Also, wo geht’s lang zu diesem Taxistand?«

2

Paris, Frankreich

Etwa eine halbe Meile vom Zielgebiet entfernt stieg Gil in ein Taxi. Die Stimme in seinem Ohr erklärte ihm, was er auf Französisch sagen musste, und obwohl sein Akzent zum Davonlaufen war, verstand der Fahrer ihn gut genug, um sich wie angewiesen in Richtung Stadtrand aufzumachen. Aber als der Fahrer dann im Rückspiegel sah, wie schlimm Gil blutete, und ihm dann auch recht bald dämmerte, dass der Verletzte seine Instruktionen über einen Stöpsel im Ohr bekam, drehte er sich nach hinten um und ließ einen Schwall aufgeregter französischer Worte auf Gil niederprasseln.

»Er denkt, dass du von der CIA bist«, meldete sich die Luftüberwachung mit einem leisen Lachen zu Wort.

»Du hast zu viele Filme gesehen«, beruhigte Gil den Taxifahrer. »Fahr einfach.« Er hätte wetten können, dass der Mann zumindest ein wenig Englisch sprach, so wie die meisten Pariser, die es allerdings vorzogen, so zu tun, als verstünden sie kein Wort, wann immer sie es mit amerikanischen Touristen zu tun hatten.

Der Taxifahrer lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. »Raus hier. Ich brauche deinen Ärger nicht.«

Gil war nicht in der Stimmung für Spielchen. Er beugte sich mit einer ruckartigen Bewegung nach vorne über den Sitz und verpasste dem Fahrer eine ins Gesicht, wie Indiana Jones. »Entweder fährst du jetzt, oder ich werde fahren! Ich habe keine Zeit für deinen Mist! Comprendre, mon ami?«

Der Mann lehnte sich seitlich gegen die Fahrertür und hielt sich das Gesicht, wo Gil ihn geschlagen hatte. In seinem Blick war die Wut deutlich zu lesen. »Du bist CIA.«

»Verdammt richtig, das bin ich«, knurrte Gil. »Und jetzt fahr endlich!«

Missmutig legte der Fahrer den Gang wieder ein und fuhr erneut los. »Wieso blutest du?«, wollte er ein paar Minuten später wissen.

»Ich wurde von einem Werwolf angegriffen.« Gil lauschte aufmerksam der Luftüberwachung, die das Taxi von oben per Infrarot im Blick behielt, und zwar aus 200 Meilen Entfernung via Satellit im geostationären Orbit.

»Hier gleich rechts abbiegen«, wies er den Fahrer an. »Wir sind fast da.«

Eine Minute später hielt der Wagen am Bordstein und Gil stieg aus. Sie befanden sich in einem muslimisch geprägten Stadtteil von Paris. Gil stopfte dem wartenden Taxifahrer zerknitterte Euroscheine im Wert von 300 Dollar in die Hand. »Behalt den Rest.« Er schlug die Tür zu und das Taxi fuhr rasch davon.

Gil blieb im Dunkeln und blickte zu dem dreistöckigen Mietshaus hinauf, das an der Straßenecke aufragte. In einem der Apartments im obersten Stock brannte Licht. »Ich nehme nicht an, dass du weißt, auf welcher Etage Umarov steckt?«, fragte er die Luftüberwachung.

»Keine Ahnung, aber der SUV an der Ecke ist der Wagen, mit dem er gekommen ist. Hat wahrscheinlich eine Alarmanlage.«

Gil wühlte in einem Mülleimer an der Ecke, bis er eine Glasflasche gefunden hatte. Er schleuderte die Flasche quer über die Straße und sie krachte gegen die Windschutzscheibe des fetten Geländewagens, löste den Alarm aus, der lautstark und mit blinkenden Scheinwerfern kundtat, dass etwas nicht stimmte.

»Ich schätze, das ist auch eine Methode«, lachte die Stimme in seinem Ohr leise.

Gil trat in den Schatten eines Gebäudes zurück. Die Vorhänge des erleuchteten Fensters wurden beiseitegezogen und ein Mann stand kurz dort oben, sah zu dem Wagen hinunter und zog die Vorhänge dann wieder zu.

»Hat funktioniert.« Gil huschte über die Straße und setzte auf der anderen Seite über eine taillenhohe Steinmauer, hinter der er in Deckung ging, weit genug vom Lichtkreis der nächsten Straßenlaterne entfernt, um nicht gesehen zu werden.

Die Alarmanlage des Autos verstummte nach etwa einer Minute und im nächsten Moment trat der Mann vom Fenster aus dem Haus. Er blieb vor dem Wagen stehen und starrte im Licht der Straßenlaterne auf die gesplitterte Windschutzscheibe. Seine Visage erschien gleichermaßen scharfsichtig und raubtierhaft. Wie ein Falke spähte er aufmerksam in alle Richtungen, die rechte Hand in der Jackentasche.

Gil ging in die Hocke, schlich tief geduckt hinter der Mauer entlang auf die Ecke zu. Der Mann stellte die Alarmanlage des Wagens wieder ein und wandte sich ab, um ins Haus zurückzugehen. Als er am Ende der Mauer vorbeiging, sprang Gil ihn an wie ein lauernder Puma und verpasste ihm einen fiesen Schlag gegen den Hinterkopf, dorthin, wo das Kleinhirn saß. Der Mann stürzte vornüber und landete mit dem Gesicht zuerst auf dem Gehsteig, aber Gil war noch nicht mit ihm fertig. Noch während der andere fiel, trat Gil ihm den Absatz seines Stiefels schnell und hart in den Nacken und ließ das Rückgrat mit einem knochigen Knacken brechen.

Sofort zerrte er die Leiche am Kopf ins Dunkle, durchsuchte den Kerl nach Waffen und Hinweisen. Er fand einen Schlüsselbund mit drei Schlüsseln – einer davon gehörte eindeutig zum SUV – und eine extra handliche Glock 39, Kaliber 45, mit Platz für sechs Kugeln im Magazin. Er vergewisserte sich, dass sich eine Kugel in der Kammer befand, bevor er aus der Deckung kam und um das Gebäude herumschlich. Einer der Schlüssel passte an der Hintertür, also glitt er geräuschlos ins Haus. Die Treppe erklomm er gemächlich, die Pistole in der rechten Hand, aber hinter dem Oberschenkel verborgen, während er nach oben ging. Die Flure des alten Gebäudes waren nur schwach erleuchtet und die hölzernen Stufen knarrten bei jedem Schritt.

Er erreichte den obersten Stock und blieb stehen, den Blick auf die Tür des betreffenden Apartments geheftet. Ein Lichtschein drang darunter hervor und Gil konnte hören, dass sich drinnen mindestens zwei Männer auf Tschetschenisch unterhielten. Ihre Stimmen klangen nervös und er nahm an, dass es um die Alarmanlage unten auf der Straße ging, aber wissen konnte er das natürlich nicht. Er sah auf den dritten Schlüssel in seiner Hand hinab, wusste aber nicht, ob die Tschetschenen vielleicht ein geheimes Klopfzeichen vereinbart hatten, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckten. Auch hatte er keine Ahnung, wie viele feindlich gesinnte Moslems sich im Gebäude befinden mochten, und die sechs Schuss in seiner Waffe würden in einer größeren Schießerei niemals ausreichen. Ganz abgesehen davon wollte er auch der französischen Polizei nicht unbedingt noch einmal begegnen.

Er beschloss, das Überraschungsmoment weiter zu nutzen, steckte den Schlüsselbund wieder ein und machte einen Schritt auf die Tür zu, trat sie ein und erschoss den ersten Mann, den er erblickte. Der Tschetschene starrte mit großen Augen zurück, griff sich an den Hals und kippte rückwärts über einen Wohnzimmertisch. Gils ursprüngliches Ziel, der bärtige Dokka Umarov, sprang vom Sofa auf und wollte nach der Glock 39 in seinem Hosenbund greifen, aber Gil schoss ihm direkt in die Stirn. Der größte Teil seiner Schädeldecke verschwand in einer Explosion aus Knochensplittern und Blut, während Gil sich bereits nach links drehte, um auch den letzten Mann im Raum zu erschießen.

Für den Bruchteil einer Sekunde stockte er, drückte nicht ab, denn vor ihm stand Agent Trent Lerher von der CIA, ehemals Teil des Joint Special Operations Command, kurz JSOC. »Was zur Hölle machen Sie hier?«

Lerher war groß und schlank, besaß langjährige Erfahrung in der Welt der Spionage. »Immer mit der Ruhe, Gil. Das hier ist nicht das, wonach es aussieht.«

»Beantworten Sie meine Frage!«

Während seiner Zeit im SEAL-Team 6 hatte Gil bei zwei verschiedenen Gelegenheiten mit Lerher zusammengearbeitet. Einmal vor Jahren in Indonesien, und erst kürzlich in Afghanistan, als Lerher Gil von dort aus in den Iran geschickt hatte, um einen Bombenbauer der Al-Qaida und dessen schwangere Frau zu eliminieren. Gil hatte sich geweigert, die Frau zu töten, hatte sie vielmehr lebend mit zurück nach Afghanistan gebracht und Stunk wegen Lerhers unverantwortlicher Handhabung der Operation gemacht. Dessen fragwürdiger Befehl, eine schwangere Frau zu ermorden, war auch bei seinen Vorgesetzten in Langley nicht gut angekommen, und als Resultat war Lerher vom JSOC abgezogen worden. Sie hatten ihn in den stinknormalen Außendienst zurückgestuft.

»Wer ist da?«, fragte die Stimme der Luftüberwachung in Gils Ohr.

»Es ist Lerher!«

Der Agent sah den Ohrstöpsel. »Sagen Sie Pope, dass ich …«

»Woher zur Hölle wissen Sie, dass Pope dran ist?«, blaffte Gil ihn an. »Behalten Sie mal schön die Hände oben!«

Lerher hob die Hände höher. »Wir haben hier keine Zeit, das zu klären, Gil. Verschwinden wir, dann erkläre ich es Ihnen auf dem Weg.«

»Gil«, erklang Popes Stimme.

»Ich höre.«

»Er ist derjenige, der dich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hat. Mach ihn platt.«

»Bist du sicher?«

»So hören Sie doch!«, schnaufte Lerher, dem klar wurde, dass ihm die Felle davonschwammen. »Das hier ist nicht das, wonach es aussieht! Pope weiß doch gar nicht, wovon er da redet!«

»Gil, knall ihn ab und sieh zu, dass du von dort verschwindest. Du hast nicht mehr viel Zeit.«

»Verdammte Scheiße. Bist du sicher?«

»Ich bin Amerikaner!«, brüllte Lerher.

»Knall ihn ab, Gil! Die Polizei wird gleich da sein.«

Lerher griff in seine Jacke und Gil schoss ihm direkt ins Gesicht. Der Agent stolperte rückwärts, zuckte und blinzelte, gab ein furchtbares, ersticktes Röcheln von sich, und dann schoss Gil ihm noch einmal in die Brust. Lerher sackte zu Boden und Gil sprang vor, um ihn rasch zu durchsuchen. Alles, was er fand, war eine Pistole desselben Modells, wie die Tschetschenen es trugen, also schnappte er sich die restlichen Magazine und hastete aus der Wohnung, rannte drei Etagen die Treppe hinunter und stieg schnell in den schwarzen Geländewagen. Von Norden her näherte sich das typische, abwechselnd hoch und tief klingende Heulen europäischer Polizeisirenen, also trat er aufs Gas und fuhr in südlicher Richtung davon.

»Was zum Teufel ist hier los, Bob? Lerher ist nicht einmal mehr mit dem JSOC verbunden!«

»Jetzt ist er mit nichts und niemandem mehr verbunden«, gab Pope zurück.

Gil musste an einer roten Ampel halten. »Das ist nicht witzig.«

»Du hast gesagt, dass du den Kerl tot sehen willst. Jetzt hast du doch, was du wolltest.«

»Ich will vor allem wissen, was zur Hölle er mit Dokka Umarov in Paris zu schaffen hatte.«

»Das werde ich herausfinden«, versprach Pope. »Aber jetzt musst du erst mal so schnell wie möglich zur russischen Botschaft fahren.«

Die Ampel sprang auf Grün, aber Gil bemerkte es gar nicht. »Was zum Teufel soll ich denn bei der russischen Botschaft?«

»Dich zusammenflicken lassen fürs Erste. Vielleicht auch eine Injektion Penicillin. Diese Hundebisse entzünden sich doch sofort.«

»Du willst mir also sagen, dass die Russen zugestimmt haben, mich zu verstecken?«

»Du hast gerade Russlands Bin Laden ermordet«, erwiderte Pope. »Da ist das ja wohl das Mindeste, was sie für dich tun können. Jetzt bieg links ab und versuch einfach, nicht so zu fahren, als ob du auf der Flucht bist, weil du gerade mehrere Menschen erschossen hast, in Ordnung?«