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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Deutschland im Fadenkreuz
2. Ausnahmezustand
3. Das süße Gift der Autokratie
4. Entgrenzte Sicherheit
5. Ganz sicher – wirklich?
6. Terrorismus als Medienereignis
7. Des einen Terrorist – des anderen Freiheitskämpfer
8. Sicherheitsrisiko Migration?
9. Global War on Terror
10. Der Staat als Kidnapper
11. »Justice has been done«
12. Stecknadeln und Heuhaufen
13. Überstunden für den Gesetzgeber
14. Für immer geächtet
15. Zweierlei Recht
16. Europa: bedingt abwehrbereit
17. Wirtschaftsfaktor Sicherheit
18. Es geht auch anders
Anmerkungen
Deutsche Antiterror- und Sicherheitsgesetze seit dem 11. September 2001
Danksagung
Literaturübersicht
Über den Autor
Impressum

2. Ausnahmezustand

Am Vormittag des französischen Nationalfeiertags, am 14. Juli 2016, kündigte der damalige französische Präsident François Hollande die Aufhebung des Ausnahmezustands an, den er 18 Monate zuvor verhängt hatte: »Wir können den Ausnahmezustand nicht für immer verlängern. Das würde keinen Sinn machen, es würde bedeuten, dass wir nicht mehr eine Republik mit Gesetzen sind, die unter allen Umständen gelten.«12 Die Regierung hielt die Sondervollmachten nicht mehr für erforderlich, weil die Behörden mittlerweile auch ohne Ausnahmezustand über alle notwendigen Mittel zur Terrorismusbekämpfung verfügten.13 Wenige Stunden später war davon keine Rede mehr. Ein Selbstmordattentäter richtete am Abend desselben Tages mit einem Lastwagen auf der Promenade von Nizza ein Blutbad an, das 86 Todesopfer forderte, darunter 30 Moslems. Kurz nach der Tat bekannte sich der IS zu dem Anschlag. Die Verlängerung des Ausnahmezustands war vor allem ein symbolischer Akt, der eher dem Wahlkampf als dem Antiterrorkampf geschuldet war. Sie sollte der rechten Opposition den Wind aus den Segeln nehmen, die den sozialistischen Präsidenten im Hinblick auf die angekündigte Aufhebung des Ausnahmezustands der Feigheit vor dem Feind bezichtigt hatte.14 Wenige Tage nach dem Anschlag verlängerte die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit den Ausnahmezustand um weitere sechs Monate.

Warum wurde in den zurückliegenden Jahren ausgerechnet Frankreich stärker als jedes andere europäische Land von islamistischen Terroranschlägen getroffen? Die Gründe dafür liegen nicht allein in den aktuellen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten. Eine Europol-Analyse15 nennt mehrere mögliche Motive:

• Frankreich als Symbol der westlichen Kultur, der Demokratie und der Trennung zwischen Religion und Staat,

• das starke wirtschaftliche und militärische Engagement Frankreichs in der muslimischen Welt, darunter Algerien, Irak, Libanon und Syrien,

• die Rolle Frankreichs bei der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und bei der Abschaffung des Kalifats nach dem Ersten Weltkrieg,

• Frankreichs starke säkulare Tradition und die Gesetze gegen religiöse Symbole, die speziell auf Muslime ausgerichtet waren,

• die soziale und wirtschaftliche Isolation, speziell in städtischen Gebieten mit hohem Anteil an der muslimischen Bevölkerung, mit der daraus resultierenden Anfälligkeit junger Menschen für die Rekrutierung durch gewalttätige Dschihadisten,

• die hohe Anzahl französischer Dschihadisten, die nach Syrien/Irak als ausländische Kämpfer gereist sind.

Die Auseinandersetzung zwischen einem Teil der muslimischen Minderheit und der französischen Mehrheitsgesellschaft hatte sich in den letzten Jahren immer weiter zugespitzt. Die meisten Migranten in Frankreich stammen aus Nordafrika, eine direkte Folge der Auflösung des französischen Kolonialsystems. Die damals – insbesondere im Algerien-Krieg – geschlagenen Wunden schmerzen offenbar noch immer, insbesondere weil das Thema in Frankreich nie wirklich aufgearbeitet wurde. So wäre Emmanuel Macron durch die empörte Reaktion auf sein Bekenntnis zu Frankreichs Schuld in den ehemaligen Kolonien beinahe aus dem Rennen um die Präsidentschaftskandidatur geflogen.

Zahlreiche der inzwischen identifizierten Terroristen und ihrer Unterstützer gehören zur zweiten, dritten und vierten Generation nordafrikanischer Einwanderer. Viele leben unter prekären sozialen Verhältnissen, ohne Arbeit und ohne angemessenen Wohnraum. Zunehmende Ressentiments nicht nur gegen den Islamismus, sondern auch gegenüber dem Islam insgesamt und seine Anhänger, die in Frankreich aufgrund des Kolonialerbes einen höheren Anteil der Bevölkerung ausmachen als in Deutschland, führten den Terroristen zusätzliche Kräfte zu – ein »Teufelskreis«.16 Kleinkriminelle mit Migrationshintergrund radikalisierten sich innerhalb weniger Wochen – dies gilt auch für den Attentäter von Nizza.

Nicht nur in den Pariser Vorstädten kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen überwiegend muslimischen Jugendlichen und der Polizei. Besonders dramatisch war die Situation bereits im Jahr 2005, dem »Schlüsseljahr«17 für die weitere Entwicklung des politischen Konflikts zwischen der französischen Mehrheitsgesellschaft und der weitgehend abgehängten muslimischen Minderheit. Als bei einer Polizeiaktion in der Pariser Banlieue zwei des Einbruchs verdächtige Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei zu Tode kamen, explodierte das Pulverfass. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen, in denen protestierende junge Muslime die faktische Kontrolle über mehrere Stadtviertel ausübten, dauerten mehrere Wochen. Deren Proteste richteten sich nicht in erster Linie gegen den durch ein äußerst hartes Vorgehen der Polizei verursachten gewaltsamen Tod der beiden Jugendlichen, vielmehr war dies der Auslöser. In den Mittelpunkt rückte immer vehementer die Ausgrenzung der jungen französischen Muslime in vielen Lebensbereichen, vor allem ihre Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Die Regierung reagierte einmal mehr mit großer Härte. Der seinerzeitige Innenminister Nicolas Sarkozy, zugleich Vorsitzender der konservativen Regierungspartei UMP, wollte sich vom Front National nicht nachsagen lassen, zu schlapp zu reagieren. Im Zusammenhang mit diesen Auseinandersetzungen versprach er: »Ich werde das Viertel ab sofort mit dem Kärcher säubern.«18 Von einer Suche nach den Ursachen der Radikalisierung war nichts zu spüren. Dabei lag es auf der Hand, dass vor allem die soziale Spaltung und die Perspektivlosigkeit viele Jugendliche in die Arme radikaler Islam-Prediger trieben. »In den Banlieues steigt die Arbeitslosigkeit immer weiter. Und wenn du rings um dich herum siehst, dass Schulbildung nichts bringt, weist du alles, was damit verbunden ist, zurück, auch Konzepte wie Laizität oder Demokratie«, bemerkt etwa Gilles Kepel.19 Er weist darauf hin, dass die zunehmende Ausgrenzung – auch und gerade als Folge terroristischer Anschläge – ganz im Sinne der von den islamistischen Terrororganisationen verfolgten Strategie liege, die westlichen, insbesondere die europäischen Gesellschaften (den »weichen Bauch des Westens«) zu spalten. Die durch Terroranschläge provozierte xenophobe Verhärtung sei Bestandteil dieser Strategie, weil sie Ausgrenzungsgefühle und Aggressionen bei den Muslimen stärke.

Auch die französische Antiterrorgesetzgebung hat eine lange Tradition. Eine 1955 während des Algerien-Kriegs beschlossene Verfassungsbestimmung erlaubte dem Ministerrat unter Vorsitz des Präsidenten, den Ausnahmezustand per Dekret zu erklären, wenn eine »unmittelbare Gefahr durch schwere Bedrohungen der öffentlichen Ordnung« besteht oder »im Fall von Ereignissen, die aufgrund ihrer Art und ihrer Schwere eine öffentliche Katastrophe darstellen«.20 Der damalige Präsident und ehemalige General de Gaulle nutzte die ihm so gegebenen Befugnisse, um eine Revolte vormals in Algerien stationierter Offiziere niederzuschlagen. Einem 1986 verabschiedeten ersten Antiterrorgesetz folgten in den 1990er Jahren und nach dem 11. September 2001 weitere Gesetzesverschärfungen. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung orientierte sich Frankreich 2007 an der Obergrenze der europarechtlich zulässigen Speicherungsfrist. Die bei derTelekommunikation und bei der Internetnutzung anfallenden Daten werden für zwölf Monate gespeichert, doppelt so lange wie nach dem ursprünglichen deutschen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt Anfang 2015 erhielten die Nachrichtendienste zusätzliche Befugnisse. So müssen die Anbieter von Telekommunikationsdiensten seither eine sogenannte Blackbox betreiben, auf die staatliche Stellen zugreifen können, um verdächtige Internetaktivitäten herauszufiltern.21 Schließlich wurde Anfang 2016 in Reaktion auf die im November des Vorjahres begangenen Anschläge auf Pariser Restaurants und einen Musikclub ein weiteres Antiterrorgesetz beschlossen, das die Befugnisse der Sicherheitsbehörden erneut ausweitete und die gerichtliche Kontrolle weiter schwächte. Spätestens jetzt waren die zusätzlichen Befugnisse in das normale Recht überführt, die den Sicherheitsbehörden während des Ausnahmezustands eingeräumt worden waren.

Der französische Sicherheitsapparat selbst war in den letzten Jahrzehnten massiv aufgerüstet worden. Schon seit Langem gehören schwer bewaffnete Polizeikräfte und Militärs zum französischen Alltag. Die innenpolitische Aufrüstung setzte sich während der Präsidentschaft Sarkozys und seines sozialistischen Nachfolgers Hollande fort. Zusätzlich zu der stark aufgestockten Zahl der Beamten der Polizei und Gendarmerie wurden nach dem Anschlag in Nizza im Juli 2016 sogar Tausende kurzzeitig geschulte freiwillige Helfer als Polizeireserve auf Streife geschickt. Seit September 2016 müssen in Schulen unter Aufsicht der Präfekten Antiterrorübungen veranstaltet werden.22

Mit dem Ausnahmezustand hatte die französische Regierung ursprünglich auf die Anschläge auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt am 7. Januar 2015, zu denen sich Al-Qaida bekannte, und die dem IS zugeschriebenen blutigen Attacken vom 13. November 2015 reagiert. Das erste Mal seit dem 60 Jahre zurückliegenden Algerien-Krieg war ganz Frankreich im Ausnahmezustand. »Die Anschläge […] in Paris und am Stade de France sind Kriegsakte. Sie werden von einer dschihadistischen Armee verübt, die uns bekämpft, weil Frankreich ein freies Land ist und weil Frankreich die Heimat der Menschenrechte ist«, erklärte Staatspräsident Hollande.23 Er kündigte zugleich eine Verfassungsänderung an, die es ermöglichen sollte, den Ausnahmezustand unbefristet zu verlängern.24 Der Ausnahmezustand müsse so lange bleiben, bis Frankreich mit dem Islamischen Staat »fertig« ist, erklärte Premierminister Manuel Valls.25 Mit der Ausrufung des Ausnahmezustands erhielten die Polizei und die anderen Sicherheitsbehörden ohnehin Befugnisse, die weit über das hinausgehen, was ihnen in »normalen Zeiten« erlaubt ist. Diese Machtmittel reichten der Regierung offenbar noch nicht aus. Im November 2015 billigte die Nationalversammlung mit großer Mehrheit die vorgeschlagenen Änderungen des Gesetzes über den Ausnahmezustand aus dem Jahr 1955. Neu eingeführt wurden Befugnisse zur Sperrung von Webseiten, zur Durchsuchung von Computern und sonstiger informationstechnischer Geräte ohne richterliche Anordnung sowie die Verhängung des Hausarrests und Kontaktsperren für Personen, bei denen »ernsthafte Gründe die Annahme rechtfertigen«, dass ihr Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde. Die Polizei darf Wohnungen durchsuchen – auch während der Nacht –, sie kann mutmaßliche Dschihadisten unter Hausarrest stellen, ohne konkreten Anlass Fahrzeuge kontrollieren und durchsuchen, Identitätskontrollen durchführen, Demonstrationsverbote und Ausgangssperren erlassen. Für alle diese Maßnahmen benötigen die Behörden keine richterliche Anordnung.

Unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Ausnahmezustands teilte die französische Regierung dem Europarat mit, die Europäische Menschenrechtskonvention vorübergehend nicht mehr anzuwenden. Nach einer in der Konvention enthaltenen Ausnahmeklausel dürfen Staaten ausnahmsweise von den Vorgaben abweichen, wenn »das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht« ist. Immer wieder verlängerte die Nationalversammlung seither die Sondervollmachten. Auch die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 fanden unter den Bedingungen des Ausnahmezustands statt. Ob und wann das Land wieder in einen rechtlichen Normalzustand zurückkehrt, steht also in den Sternen, obwohl die Zweifel an der Wirksamkeit der Notstandsregeln immer lauter werden. Zwischen November 2015 und Juni 2016 gab es zwar mehr als 3500 Hausdurchsuchungen, von denen allerdings die allermeisten bereits in den ersten Wochen des Ausnahmezustands stattfanden. »Schon Ende 2015 war der Überraschungseffekt für potenzielle Terroristen verpufft und Sicherheitskräfte erzielten nur noch selten Erfolge: Nur zwei Hausdurchsuchungen führten seit Ende Februar 2016 zu Strafverfahren; die Zahl der verhängten Hausarreste ist in den letzten sechs Monaten um 80% gesunken.«26

Im Frühjahr 2016 setzte die französische Regierung die nach den Anschlägen angekündigte Verfassungsänderung auf die Tagesordnung. Besonders umstritten war die vorgesehene Möglichkeit, mutmaßlichen Terroristen die französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Aus Protest gegen diese Regelung trat Justizministerin Christiane Taubira, deren Vorfahren aus Nordafrika nach Frankreich eingewandert waren, zurück. Nachdem die vorgeschlagenen Änderungen nicht die erforderlichen Mehrheiten in beiden Parlamentskammern erhielten, gab Präsident Hollande schließlich das Vorhaben auf. Beschlossen wurde hingegen ein Gesetz mit weiteren Befugnissen für die Sicherheitsbehörden.27

Nach den Pariser Attentaten von 2015 forderte François Hollande von den Verbündeten aus der NATO und aus der Europäischen Union militärische Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus. Frankreich war ohnehin stärker als die meisten anderen EU-Staaten im militärischen Antiterrorkampf außerhalb der Landesgrenzen aktiv, vor allem in den ehemaligen französischen Kolonien: im Sahel- und Sahararaum sowie in Irak und in Syrien, in Mauretanien, Mali, Niger, Tschad und Burkina-Faso. Insgesamt waren Mitte 2016 über 7000 Soldaten in Auslandseinsätzen eingesetzt.28 Wer Solidarität mit Frankreich zeigen wolle, so die Forderung des Präsidenten nach den Anschlägen, der solle mit Frankreich kämpfen.29 Die Bundesregierung beeilte sich, dieser Aufforderung nachzukommen, und sagte wenige Tage später zu, Deutschlands militärisches Engagement in Afrika zu verstärken und die dortigen Bundeswehrkontingente aufzustocken.

Diese Maßnahmen, mit denen die sozialistische Regierung ihre Entschlossenheit demonstrieren wollte, konnten allerdings nicht verhindern, dass der rechtsextreme Front National seither bei Wahlen Rekordergebnisse einfuhr und seine Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen mit einem hohen Ergebnis sogar die Stichwahl um das Präsidentenamt im Mai 2017 erreichte, während der sozialistische Kandidat mit 6,4% der Stimmen abgeschlagen auf dem fünften Platz landete. Der Front National punktete vor allem mit seinen gegen die »Überfremdung Frankreichs« gerichteten Parolen, und er verknüpfte die islamistischen Anschläge recht erfolgreich mit der zunehmenden Anzahl von Flüchtlingen. Le Pen schaffte es auch besser als die konservative politische Konkurrenz, einen Vorfall zu instrumentalisieren, der sich kurz vor dem ersten Wahlgang ereignete. Am Tag des großen Fernsehduells der Präsidentschaftskandidaten hatte ein islamistischer Attentäter an den Champs-Elysées einen Polizisten erschossen. Auch wenn sich der linksliberale Kandidat Emmanuel Macron im zweiten Wahlgang deutlich gegen Marine Le Pen durchsetzen konnte, darf nicht ausgeblendet werden, dass die Kandidatin der äußersten Rechten von einem Drittel der Wähler bevorzugt wurde – ein historischer Höchststand, der auch auf das bewusste Anfeuern der Terrorangst durch den Front National und durch einen Teil der konservativen Presse zurückzuführen ist. Offenbar auch deshalb kündigte Macron wenige Tage nach seinem Amtsantritt als Präsident und kurz vor den anstehenden Neuwahlen zur französischen Nationalversammlung eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustands an.30

Langfristig vielleicht noch gravierender als diese Wahlerfolge der populistischen Rechten ist es, dass der »Diskurs über die Werte der französischen Republik und die Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts«, der im Januar 2015 nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo begonnen worden war, mit den Anschlägen im November 2015 und der anschließenden Ausrufung des Ausnahmezustands zum Erliegen kam. Dies brachte die Nation nicht etwa zur Ruhe, vielmehr verschärften sich die innergesellschaftlichen Spannungen weiter. Bürger verdächtigten sich gegenseitig, Terrorsympathisanten zu sein. Falsche Anzeigen durch Nachbarn führten zu willkürlichen Verhaftungen. Die so entstandene Atmosphäre des Misstrauens gefährde den ohnehin brüchigen gesellschaftlichen Zusammenhalt, warnen Kritiker.31

Die Verhängung des Ausnahmezustands war einzig und allein mit der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus begründet worden. Trotzdem wurden unter Rückgriff auf die Ausnahmebefugnisse auch solche Demonstrationen verboten, die in keinerlei Zusammenhang mit ihm standen. Verboten wurden etwa die geplanten Großproteste anlässlich des Weltklimagipfels vom 30. November bis 11. Dezember 2015 in Paris, zu denen ursprünglich Tausende Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt erwartet worden waren. Geplant waren unter anderem Massenproteste zu Beginn und zum Ende des Gipfels mit bis zu 300.000 Teilnehmern. Diese Veranstaltungen konnten aufgrund des Verbots nicht stattfinden.32 Einige Umweltaktivisten wurden sogar bis zum Ende des Klimagipfels unter Hausarrest gestellt. Sogar Demonstrationen gegen den Bau eines Flughafens oder gegen ein umstrittenes Arbeitsgesetz wurden verboten.33

Nach besonders schweren Anschlägen ist bei Regierungen und in den Parlamenten die Bereitschaft groß, in der Terrorbekämpfung bis zum Äußersten zu gehen und auf die rechtsstaatlichen Sicherungen zu verzichten. Die extremste Reaktion stellt die Ausrufung des Ausnahmezustands dar: Alle Macht wird in der Hand der Exekutive konzentriert, zentrale Grund- und Menschenrechte werden ausgesetzt, parlamentarische Kontrollmechanismen werden abgeschwächt, die unabhängige gerichtliche Überprüfung des staatlichen Handelns unterbleibt weitgehend.

Der Ausnahmezustand (State of Emergency) gilt in den USA seit dem 11. September 2001 und in Frankreich seit November 2015. In der Türkei hat die Regierung den Ausnahmezustand nach dem gescheiterten Putschversuch im Juni 2016 ausgerufen. In allen drei Ländern wurden die Ausnahmebefugnisse immer wieder verlängert und gelten bis heute. Anders als bei wiederholten, tief in Grundrechte eingreifenden Gesetzesverschärfungen, bei denen immerhin der rechtsstaatliche Anschein gewahrt bleibt, zählt im Ausnahmezustand allein das Wort des Präsidenten und der ihm unterstellten Exekutive. Die leichtfertige Übernahme der Formel des Kriegs gegen den Terrorismus verführt »zur Vorstellung eines Ausnahmezustands, in dem man mit den traditionellen Bürgerrechten nicht so pingelig sein darf: Not kennt kein Gebot. Und lebe man denn etwa nicht in einem permanenten Ausnahmezustand, wenn man sich auf das Sicherheitsversprechen des Staats nicht mehr verlassen kann?«34, bemerkte der ehemalige Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch, der als nordrhein-westfälischer Innenminister in den 1970er Jahren eigene Erfahrungen mit der Bekämpfung der deutschen Rote-Armee-Fraktion (RAF) gesammelt hatte.

»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Mit diesem Satz begann der spätere Nazi-Jurist Carl Schmitt 1922 sein berühmtes Buch über die »Politische Theologie«.35 Aus seiner Sicht ist der Ausnahmezustand ein legitimes Mittel, bei äußerer und innerer Bedrohung die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen. Zugleich steht jedoch der Ausnahmezustand selbst – auch wenn seine Ausrufung verfassungsrechtlich verankert ist – außerhalb der Rechtsordnung. »Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz sind hier notwendig unbegrenzt. Im rechtsstaatlichen Sinne liegt daher überhaupt keine Kompetenz vor. Die Verfassung kann höchstens angeben, wer in einem solchen Falle handeln darf.«36 Im Ausnahmezustand gilt nicht mehr das in normalen Zeiten maßgebliche System der Gewaltenteilung. Die Entscheidungsgewalt konzentriert sich im Ausnahmezustand in den Händen der Exekutive, während die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle an den Rand gedrängt oder sogar abgeschafft wird. Dabei stellt sich zwangsläufig die Frage, ob eine Regierung, die nun über nahezu unbegrenzte Machtmittel verfügt, überhaupt an der Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen interessiert ist. Insofern ist völlig unsicher, ob das Recht nur temporär oder auf Dauer »suspendiert« bleibt. Selbst wenn die Ausrufung des Ausnahmezustands in der Rechtsordnung verankert ist, beschreibt er doch einen Zustand der Rechtlosigkeit. Recht ist, was die Regierung für rechtmäßig erklärt. Zahlreiche geschichtliche Beispiele belegen, dass die mit einer Ausnahmesituation gerechtfertigte Machtfülle zu einem Dauerzustand werden kann. So nutzte der Führer der faschistischen Bewegung Benito Mussolini in Italien 1922 den Ausnahmezustand zur Etablierung eines totalitären Staats. Die faschistische Partei wurde zur Einheitspartei, regimekritische Zeitungen wurden verboten, Gegner verfolgt und in den Tod getrieben.

In Deutschland ebneten die in der Endphase der Weimarer Republik erlassenen Notverordnungen den Weg in die Nazidiktatur. Das Notverordnungsrecht basierte auf Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung: »Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die […] Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.« Ab 1923 beriefen sich politisch unterschiedlich zusammengesetzte Reichsregierungen auf diese Vorschrift. Ab 1930 stieg die Anzahl der Notverordnungen sprunghaft an. 1931 standen den 34 vom Reichstag verabschiedeten Gesetzen 44 Notverordnungen gegenüber. Am folgenreichsten war die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 193337, die von den Nationalsozialisten zur Rechtfertigung ihrer Unterdrückungsmaßnahmen gegen die politische Opposition verwendet wurde. Die außerordentlichen exekutiven Befugnisse, die sie zusammen mit dem kurze Zeit später vom Reichstag beschlossenen Ermächtigungsgesetz38 der Staatsführung einräumte, blieben bis zur Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 in Kraft.

Der 1948 von den Westmächten mit der Ausarbeitung des Grundgesetzes beauftragte parlamentarische Rat verzichtete vor diesem Hintergrund auf die Aufnahme einer Regelung zum Ausnahmezustand. Zwar gab es bereits seit den späten 1950er Jahren, insbesondere nach der Wiederbewaffnung Westdeutschlands, Forderungen nach entsprechenden Notstandsregelungen. Beschlossen wurden sie indes erst 1968 von der ersten Großen Koalition von CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, einem früheren NSDAP-Parteigänger und ehemaligen hohen Beamten des NS-Außenministeriums. Das am 28. Juni 1968 in Kraft getretene Notstandsgesetz39 änderte 28 Grundgesetzartikel. Die geplanten Notstandsgesetze hatten einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Parlamentarisch opponierte zwar allein die FDP geschlossen gegen die neuen Befugnisse, auch eine Minderheit der SPD-Bundestagsabgeordneten sprach sich gegen das Gesetz aus. Bedeutsamer war aber, dass viele Studenten, Intellektuelle und Gewerkschaften gegen die Grundgesetzänderung protestierten. Die Notstandsgesetze gefährdeten die noch junge deutsche Demokratie, befürchteten sie. Zehntausende Menschen demonstrierten gegen das Gesetzesvorhaben. Die Notstandsdebatte war eines der zentralen Themen, an denen sich die »Außerparlamentarische Opposition« (APO) herausbildete. Besonders umstritten war der Einsatz der Bundeswehr im Inneren.40

Nach § 87a GG darf die Bundesregierung die Bundeswehr unter bestimmten Bedingungen auch gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. In § 87a Abs. 4 GG heißt es: »Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn […] die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen.« Darüber hinaus können die Grundrechte jedes Einzelnen im Notstandsfall beschnitten werden: Insbesondere das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Post- und Fernmeldegeheimnis war davon betroffen. Die seither in vielen Gesetzen enthaltenen und immer wieder erweiterten Befugnisse zur Telekommunikationsüberwachung basieren auf dieser im Rahmen der Notstandsgesetzgebung beschlossenen Verfassungsänderung.

Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage ist es nicht ausgeschlossen, dass in Deutschland das Notstandsrecht zur Anwendung kommt, falls sich hier weitere schwere Anschläge ereignen, auch wenn es dafür bisher keine politischen Mehrheiten gibt (vgl. Kap. 4).

Der italienische Rechtsphilosoph Giorgio Agamben weist auf den Widerspruch hin, dass der von der Suspendierung der Rechtsordnung geprägte Ausnahmezustand angeblich selbst Bestandteil dieser Rechtsordnung sein soll. Unter Verweis auf die nach dem 11. September 2001 getroffenen Maßnahmen konstatierte er bereits 2004 eine Verstetigung des Ausnahmezustands: »Angesichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als ›weltweiter Bürgerkrieg‹ bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens.«41 Auch ohne formellen Ausnahmezustand stärkten die immer neuen Sicherheits- und Antiterrorpakete einseitig die Exekutive, griffen in die individuellen Freiheitsrechte ein und schwächten vielfach die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle. Agamben ist zuzustimmen. In vielen Staaten wurden – begründet mit der Terrorbekämpfung – zusätzliche Notstandsvollmachten etabliert oder ins reguläre Recht übernommen. Die mit der Ausnahmesituation begründeten Befugnisse wurden zu ganz normalen Instrumenten erklärt und gehören inzwischen in vielen Demokratien zum regulären Instrumentenkasten der Sicherheitsbehörden. Die Anwendung der Notstandsbefugnisse beschränkt sich dabei nicht auf die Terrorismusbekämpfung. Vielfach sind die Anwendungsvoraussetzungen sehr allgemein gehalten, so dass sie auch auf andere Krisensituationen und Kriminalitätsbereiche Anwendung finden können. Parlamente von EU-Mitgliedstaaten beschlossen solche Maßnahmen im »Schnelldurchgang und nehmen sich wenig Zeit für die Beurteilung ihrer Auswirkungen auf die Menschenrechte«, beklagte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International.42

In der Demokratie stehen Freiheit, Sicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in einem fragilen Verhältnis zueinander. Stets besteht die Gefahr, dass dieses Gleichgewicht gestört wird und damit die Statik des Gesamtsystems verloren geht. »Der Eckpfeiler Sicherheit scheint mit dem World Trade Center zugleich eingeknickt zu sein, wie stark, wissen wir noch nicht. Vermutlich ist nur eine Illusion von Sicherheit zerstört und durch das Bewusstsein großer Verwundbarkeit ersetzt worden«, konstatierte der damalige Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem wenige Jahre nach den Anschlägen am 11. September 2001.43 Angesichts der tiefen Verunsicherung wird nach spektakulären Vorfällen immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt sinnvoll sei, Freiheit und Sicherheit auszubalancieren. Ist es nicht vielmehr so, dass Sicherheit im Zweifel stets der Vorrang einzuräumen ist? Dieser Meinung ist etwa der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, der 2013 die Sicherheit zu einem »Supergrundrecht« erklärte, um die ausufernde geheimdienstliche Überwachung zu rechtfertigen. Sein Bekenntnis zur überragenden Bedeutung der Sicherheit gab er ab, als nach Edward Snowdens Enthüllungen immer deutlicher wurde, dass auch die westlichen Geheimdienste nach umfassender globaler Überwachung streben.44 Im Vergleich mit anderen Rechten und Zielen sei sie von herausgehobener Bedeutung. Der Sicherheit hätte sich alles andere unterzuordnen, insbesondere die Freiheitsrechte des Einzelnen. Unter Innenpolitikern genießt eine solche These einige Popularität. So reagierte Bundesinnenminister de Maizière (CDU) auf die Terroranschläge in Brüssel 2016 mit den Worten: »Datenschutz ist schön, aber in Krisenzeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang«45 – ein Schönwetter-Grundrecht sozusagen. Das Gegenteil ist richtig: Grundrechte sind gerade dann bedeutsam, wenn staatliche Stellen in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger eingreifen wollen. Grundrechte, die immer dann zur Disposition gestellt werden, wenn dies aus staatlicher Sicht oder nach der öffentlichen Stimmungslage gerade opportun erscheint, sind nichts wert.

Es ist nicht zu leugnen, dass die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit in modernen Demokratien bedeutsam ist. Parlamente und Regierungen, die Terrorgefahren zu begegnen versuchen, kommen damit ihrem verfassungsmäßigen Auftrag nach, denn andernfalls wäre die freie Entfaltung der Persönlichkeit gefährdet, die neben der Menschenwürdegarantie unser Verfassungsverständnis prägt. Aber die Vorstellung eines Primats der Sicherheit löst eine fatale Dynamik aus, bei der es letztlich keine Haltepunkte mehr gibt, da kein Gesetz und auch keine Behörde absolute Sicherheit garantieren kann, wie es auch das französische Beispiel zeigt. Weil nach jeder Gesetzesverschärfung immer noch ein »Restrisiko« bleibt, müssen die Gesetze entsprechend dieser Logik nach jedem neuen Vorfall nachgeschärft werden. Die Sicherheit wiegt immer schwerer, während sich die Freiheit verflüchtigt. Dem Gerede vom Supergrundrecht ist entgegenzuhalten: Ein einseitiges Supremat der Sicherheit ist mit unserer Grundordnung nicht vereinbar. Wenn es ein »Supergrundrecht« gibt, so ist dies die Menschenwürde. Sie ist nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz »unantastbar«. Die Staatsaufgaben der effektiven Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr entheben den Gesetzgeber nicht von der mühevollen Aufgabe, immer wieder einen Ausgleich zwischen individueller Freiheit und öffentlicher Sicherheit zu suchen.

Dabei ist es sogar fraglich, ob es sich bei der Sicherheit überhaupt um ein Grundrecht handeln kann, wie auch der damalige SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel46 in seiner sozialdemokratischen »Sicherheitsagenda« Anfang 2017 ausführte. Grundrechte sind vor allem Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie sind »in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern. […] Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das […] den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte«, stellte das Bundesverfassungsgericht schon 1958 fest.47 Es liegt auf der Hand, dass ein »Grundrecht« auf Sicherheit – und erst recht ein »Supergrundrecht« – zu dieser zentralen Funktion von Grundrechten überhaupt nicht passt. Bereits in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und bei der Französischen Revolution standen Freiheit und Gleichheit im Mittelpunkt. Sicherheit wurde vor allem als Schutz vor staatlicher Willkür verstanden. So richtete sich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 gegen den britischen König, dessen Regierung »von unentwegtem Unrecht und ständigen Übergriffen gekennzeichnet [war], die alle auf die Errichtung einer absoluten Tyrannei« abzielten.48 Und die von der französischen Nationalversammlung 1791 verkündeten Menschenrechte waren eine Reaktion darauf, »dass die Unkenntnis, das Vergessen oder die Missachtung der Rechte des Menschen die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind«.49 Bereits diese beiden für das westliche Demokratie- und Staatsverständnis zentralen Dokumente formulierten ein Recht bzw. sogar eine Pflicht für alle Bürger, sich staatlichem Machtmissbrauch entgegenzustellen, und nicht etwa eine Befugnis des Staates, die öffentliche Sicherheit gegen die Bürger durchzusetzen. Mit dem »Supergrundrecht auf Sicherheit« wird die Bedeutung der Grundrechte in ihr Gegenteil verkehrt. »Aus Abwehrrechten zum Schutz bürgerlicher Freiheit gegenüber der Staatsgewalt wird eine Legitimationsformel für letztlich uferlose staatliche Eingriffe bis hin zur Aufhebung aller individuellen Freiheit«, warnte der Staatsrechtler Martin Kutscha in der Diskussion über die Antiterrorgesetzgebung.50

Die staatliche Gewaltausübung im globalen Antiterrorkrieg durchbricht vielfach die von Grund- und Menschenrechten gesetzten Grenzen. Die seit 2001 eingeführten Sondergesetze verliehen den Sicherheitsbehörden Befugnisse, die unter normalen Umständen undenkbar gewesen wären. Im Grunde haben aber viele der nach Terroranschlägen oder -drohungen eingeführten Maßnahmen eher symbolischen Charakter. Die ratternde Gesetzgebungsmaschine erweckt den Eindruck der Entschlossenheit, und sie vermittelt die Botschaft: Wir treten den Bedrohungen aktiv entgegen. Dies funktioniert jedoch bestenfalls bis zum nächsten Attentat, auf das dann mit weiteren, noch schärferen Gesetzen reagiert wird. Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach hat zu Recht vor den Folgen der symbolischen Politik gegen den Terrorismus gewarnt. Bei allen Maßnahmen sei deshalb danach zu fragen, »1. ob sie überhaupt geeignet sind, den fanatisierten Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen, 2. ob die damit verbundene Einbuße an Freiheit in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht, und 3. ob die beabsichtigten Maßnahmen mit nicht wünschenswerten Nebenfolgen verknüpft sind.«51 Statt diesem Rat zu folgen, waren und sind viele Regierungen geneigt, nach Terroranschlägen dem Ruf nach immer schärferen Gesetzen unreflektiert nachzugeben. Die neuen Straftatbestände, die Anhebung der Strafandrohungen, die Ausweitung der staatlichen Befugnisse und die Aufrüstung von Polizei und Geheimdiensten haben schwere Anschläge in Europa nicht verhindern können, weder in Paris noch in Brüssel, Istanbul oder Manchester und auch nicht in Berlin.

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1. Deutschland im Fadenkreuz

Anders als zunächst befürchtet blieb Deutschland nach dem 11. September 2001 lange Zeit von islamistisch motivierten Gewalttaten verschont. Zwar hatte es einige Attentatsversuche und entsprechende Planungen gegeben. Sie scheiterten aber überwiegend am Unvermögen der Täter oder wurden von Sicherheitsbehörden rechtzeitig unterbunden. Im Jahr 2006 deponierten islamistische Täter Kofferbomben in zwei Zügen der Bundesbahn, die allerdings wegen eines Konstruktionsfehlers nicht explodierten. Die Attentäter – libanesische Staatsangehörige – wurden nach einer intensiven Öffentlichkeitsfahndung in Libanon gefasst und dort zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. 2007 folgte die Verhaftung der »Sauerland-Gruppe«, deren Mitglieder in einem Ferienhaus Utensilien zum Bombenbau gesammelt hatten. Drei Jahre später wurden die drei Hauptangeklagten wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu hohen mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 2011 erschoss ein in Deutschland aufgewachsener 21-jähriger Kosovo-Albaner auf dem Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten. Dies war der erste islamistische Anschlag in Deutschland, bei dem Menschen zu Tode kamen. Der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. 2012 scheiterte ein Attentat auf dem Bonner Hauptbahnhof daran, dass ein auf dem Bahnsteig deponierter Sprengkörper nicht explodierte. Der Hauptverantwortliche wurde im April 2017 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und kann wegen besonderer Schwere der Tat nicht mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen. Zwei Mittäter, die ebenfalls einer islamistischen Vereinigung angehörten, mussten für neun bzw. elf Jahre ins Gefängnis.

Erst im Jahr 2016 erreichte der islamistisch motivierte Terrorismus doch mit Macht Deutschland. Am 26. Februar attackierte eine 16-Jährige deutsch-marokkanischer Herkunft am Hannoveraner Hauptbahnhof einen Polizisten mit einem Messer und verletzte ihn schwer. Das Mädchen war auf einer Türkeireise vom Islamischen Staat angeworben worden. Am 18. Juli griff ein IS-Sympathisant in einem Zug bei Würzburg vier Personen mit einer Axt an und wurde bei dem anschließenden Polizeieinsatz erschossen. Am 24. Juli zündete ein 27-jähriger Syrer in Ansbach eine Rucksackbombe, verletzte 15 Personen und kam selbst ums Leben. Der Amoklauf eines 18-jährigen Deutschen mit iranischem Migrationshintergrund am 22. Juli in München, bei dem zunächst auch ein islamistisches Motiv vermutet worden war, erwies sich als Tat eines geistig verwirrten Einzeltäters, der eher rechtsradikalem Gedankengut nahestand. Trotzdem befeuerte auch dieses Ereignis die Terrorängste in Deutschland.

So schlimm all jene Vorfälle waren, der Anschlag am 19. Dezember 2016 stellte sie alle in den Schatten. Am Abend dieses Tages raste der Tunesier Anis Amri mit einem gestohlenen Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Zwölf Menschen fanden den Tod, viele weitere wurden verletzt. Kurze Zeit nach dem Anschlag bekannte sich der IS zu der Tat. Es war der schlimmste Anschlag in Deutschland seit dem bis heute unaufgeklärten Attentat auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980, das mit großer Wahrscheinlichkeit einen rechtsradikalen Hintergrund hatte.

Die seit mehreren Jahrzehnten laufende Aufrüstung des Sicherheitsapparats, die Vervielfachung des Personals der mit der Terrorismusbekämpfung befassten Behörden und ihre Ausstattung mit immer neuen zusätzlichen Befugnissen hat diesen ersten großen Anschlag mit islamistischem Hintergrund in Deutschland nicht verhindert. Und trotzdem waren von den Sicherheitsbehörden und aus den Regierungsparteien zunächst keinerlei selbstkritische Töne zu hören. Noch bevor die Zusammenhänge auch nur ansatzweise aufgeklärt waren, forderten Innenpolitiker der Großen Koalition, die AfD und Polizeigewerkschafter, die Sicherheitsbehörden noch weiter auszubauen und mit zusätzlichen Befugnissen auszustatten. Einen Tag nach dem Anschlag erklärte CSU-Chef Horst Seehofer: »Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren.«2 3