LOIS PRYCE

IM IRAN

DÜRFEN

FRAUEN

NICHT   

MOTORRAD

     FAHREN…

WAS PASSIERTE,
ALS ICH ES TROTZDEM TAT

Aus dem Englischen übersetzt von Monika Baark

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1. Auflage 2017

© Lois Pryce 2017

© 2017 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Die englische Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel »Revolutionary Ride« bei Nicholas Brealey Publishing, London, erschienen.

Übersetzung: Monika Baark

Redaktion: Regina Carstensen, München

Gestaltung: FAVORITBUERO, München

Fotos: Lois Pryce

Karte: Rosie Collins

eISBN 978-3-6164-9102-8

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www.dumontreise.de

Für Austin-jan

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Inhalt

1      Eine merkwürdige Einladung

2      Geh und weck dein Glück!

3      Islamische Republik, Ja oder Nein?

4      Auf Freyas Pfaden

5      Irans Subkultur

6      Der Schnee, der See und der Schah

7      Revolutionäre Reise

8      Teheran – Umweltschmutz, Politik und Partys

9      Alles anders, alles relativ – Irans vergessene Entdecker

10    Allein gegen das Gesetz

11    Die bittere Realität

12    Im Land der Nomaden

13    Dunkle Zeiten in der Wüste

14    Hotel Nish-Nush

15    Yazd, oder wie der Iran vom Glauben abfiel und die Klimaanlage entdeckte

16    Eine halbe Million Märtyrer

17    Persepolis – Paläste und Prunksucht

18    Schiraz – Gedichte und Grenadinen

19    Weder Ost noch West

Epilog – Sommer 2016

Zeittafel

Dank

Bildstrecke

Über die Autorin

Leseprobe – Die acht Lektionen der Wüste

Ich habe keinen Grund zu fahren, außer dass ich noch nie dort gewesen bin, und Wissen ist besser als Unwissenheit. Was könnte es für einen besseren Grund geben, um zu reisen ?

FREYA STARK

1

Eine merkwürdige Einladung

In der ersten Dezemberwoche 2011 trat in London ein wildfremder Mensch mit einem Vorschlag an mich heran, der mich auf eine Reise von vielen tausend Kilometern in ein Land der Geheimnisse, der Angst und einer unbezähmbaren Lebenslust führen sollte.

Der Vorfall ereignete sich im exklusiven Stadtteil Kensington – keine Gegend, in der ich allzu häufig bin, aber ich war in der Nähe zum Lunch verabredet, und da ich noch ein paar andere Dinge zu erledigen hatte, fuhr ich mit meinem Motorrad in die Stadt und stellte es im Botschaftsviertel nahe Albert Hall und Hyde Park in einer Parkbucht ab. Über mir strahlten die bunten Botschaftsflaggen vor dem Winterhimmel, während sich um mich herum Diplomatenwagen wie ein glänzender Strom in und aus den begehrten Parklücken schoben. Eine Botschaft gab es jedoch, die an diesem Tag definitiv nicht für den Publikumsverkehr geöffnet war, auch wenn ihre Flagge in Grün, Weiß und Rot über dem verriegelten Eingang hing. Schwarz gekleidete Wachen in kugelsicheren Westen hoben sich gegen das stuckverzierte weiße Gebäude ab, wobei es für sie nichts zu kontrollieren gab. Alle Angehörigen der Botschaft der Islamischen Republik Iran waren nach Hause gefahren – nicht in ihre Londoner Diplomatenwohnungen, sondern ganz nach Hause: in das über 4000 Kilometer entfernte Teheran.

Wenige Tage zuvor, am 29. November, war die Britische Botschaft in Teheran gestürmt und in Brand gesteckt worden, um gegen die Sanktionen der britischen Regierung zu protestieren. Hunderte von Demonstranten waren über die Mauern geklettert, in die Gebäude eingedrungen und hatten Brandbomben auf das Gelände geworfen. Das britische Botschaftspersonal war aus dem Iran abgezogen worden, und zwei Tage später rächte sich der damalige Außenminister William Hague, indem er die Schließung der Iranischen Botschaft in London anordnete. Das Personal hatte Großbritannien binnen achtundvierzig Stunden zu verlassen. Die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern wurden mit sofortiger Wirkung abgebrochen. In der britischen Presse tauchten Bilder von wütenden bärtigen Männern auf, die in Teheran den Union Jack verbrannten; ernst blickende Nachrichtensprecher äußerten unheilvolle Prophezeiungen, und das Auswärtige Amt erklärte den Iran zum gefährlichen Reiseland. Das ohnehin brenzlige anglo-iranische Verhältnis hatte einen Tiefpunkt erreicht, und Vorwürfe wurden laut, die Teheraner Protestaktion sei von der iranischen Regierung inoffiziell unterstützt worden.

Mit dem stets interessierten Blick eines reisebegeisterten Menschen auf das Weltgeschehen hatte ich die Nachrichten verfolgt. Der Iran stand irgendwo auf meiner To-do-Liste, auch kannte ich ein paar britische Iraner in London, aber viel mehr hatte ich mit dem Land bisher nicht zu tun gehabt. Zumindest bis ich nach dem Lunch zu meinem Bike zurückkam und sah, dass hinter meinem Tacho ein Zettel klemmte. Er war auf Englisch, und er stammte von jemandem namens Habib. Ich kannte keinen Habib, und der Anrede nach zu urteilen kannte auch er mich nicht.

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Dear Sir,

ich habe Ihr Motorrad gesehen und denke, Sie haben bestimmt schon viele Länder bereist. Aber ich frage mich, waren Sie auch schon in meinem Land, im Iran? Der Iran ist ein herrliches Land, und die Perser sind die gastfreundlichsten Menschen der Welt. Denken Sie bitte nicht an das, was hier und in Teheran passiert ist. Das sind unsere Regierungen, nicht die Iraner. WIR SIND KEINE TERRORISTEN ! Ich wünsche mir, dass Sie den Iran besuchen, um selbst zu sehen, wie es in meinem Land ist. WIR SIND KEINE TERRORISTEN !!! Bitte kommen Sie in meine Stadt, Schiraz. Sie gilt überall als die freundlichste Stadt Irans, sie ist die Stadt der Dichtkunst und des Weins !!!

Ihr persischer Freund

Habib

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Einen Zettel an seinem Motorrad zu finden, das konnte schon mal vorkommen. Als Biker in London begegnete man bestimmten Motorrädern immer wieder, und innerhalb der kleinen Gemeinschaft der Langstreckenfahrer kennt man manches Bike vom Sehen, wenn auch nicht unbedingt den Besitzer, und man grüßt sich kameradschaftlich. Mein Bike hatte alle Merkmale eines viel gereisten Fahrzeugs – einen großen »wüstentauglichen« Tank, einen Sitz mit Schaffellüberzug, abgewetzte Gepäcktaschen, ein paar ausländische Aufkleber und eine insgesamt leicht lädierte Optik, ganz zu schweigen von dem Ölleck, mit dem ich in dieser Zeit die südwestlichen Straßen Londons besudelte. Dass mich ein Bikerkollege auf diese Weise anspricht, wäre durchaus denkbar gewesen. Doch der geheimnisvolle Habib machte keinerlei Andeutung, dass er selbst Motorradfahrer oder -reisender war. Ich fragte mich, ob er Angehöriger der Botschaft war, aber soweit ich wusste, hatte man sie komplett vor wenigen Tagen von Heathrow aus in einem eiligst gecharterten Flieger außer Landes verfrachtet. Vielleicht war Habib ja ein ganz normaler, in London lebender Iraner, der unter den aktuellen Querelen zwischen seinem Heimatland und seiner Wahlheimat litt. Ein offizielles »persisches Viertel« gab es zwar nicht in London, aber es lebten jede Menge Iraner in diesem Teil der Stadt, wo sich diejenigen mit dem nötigen Kleingeld nach der Flucht vor der Islamischen Revolution von 1979 niedergelassen hatten. Es waren meist gut betuchte Leute, die eher die Nobelboutiquen und Restaurants von Knightsbridge und Kensington bevölkerten als durch die Gegend liefen, um Zettel an unbekannte ramponierte Motorräder zu heften.

Die Entdeckung des Zettels gab einem ansonsten ziemlich normalen Tag etwas leicht Mysteriöses. Ich freute mich über diesen seltsamen Vorfall und erzählte in den nächsten Tagen einigen Freunden davon – was man eben so erlebt als Biker in London. Und dabei wär’s vielleicht auch geblieben, wären nicht nach wie vor die Zeitungen und auch das Radio voll von aufgebrachten Kommentaren gegen Habibs Heimat gewesen. Anstatt seine Notiz als eigenartiges Erlebnis zu den Akten zu legen, musste ich immer wieder an seine Worte denken, wenn ich in den Nachrichten einen Politiker hörte, der gegen den Iran wetterte oder George Bush und seine »Achse des Bösen« zitierte. Wie verzweifelt musste jemand sein über die Außenwahrnehmung seines Heimatlands, dass er wildfremden Menschen per Papierfetzen ans Herz legte, nach der Wahrheit zu suchen? Betrieb er das als eine Art Hobby? War er jemand von der iranischen Tourismusbehörde, der es ein bisschen zu gut meinte? War es eine Einladung, oder eher eine Herausforderung? Fragen über Fragen. Und keine Antwort in Sicht.

Unterdessen hatte Großbritannien noch immer reichlich zu tun mit den Protesten in Teheran und den nachfolgenden Racheaktionen. »Laut einer Meinungsumfrage befürwortet die Mehrheit der Briten einen Militärschlag gegen den Iran, um den Bau einer nuklearen Bombe zu verhindern«, hieß es eines Morgens auf BBC World Service.

Der Sprecher machte sich nicht die Mühe zu erklären, warum wir alle angeblich dieser Ansicht waren; es wurde schlichtweg vorausgesetzt. Irgendwie hatte unsere kleine Insel den Punkt erreicht, wo wir den Iran für unseren größten Feind und eine ernsthafte zivilisatorische Bedrohung hielten. Kein Wunder, dass Habib angefangen hatte, Zettel zu verteilen. Wie sollte er sich sonst Gehör verschaffen? Mein Respekt wuchs für seine basisdemokratische Aktion zur Verbesserung der internationalen Beziehungen. Wenn unsere Volksvertreter nur Blödsinn reden, muss man die Sache eben selbst in die Hand nehmen.

Habib hatte etwas in mir ausgelöst, und mit wachsendem Interesse las ich gruselige Berichte über Folter und Hinrichtungen einerseits und verlockende Geschichten von einer uralten und erhabenen Zivilisation andererseits. Wie dieser Fremde angedeutet hatte und wie man sich auch so denken kann, sind ein Volk und dessen Regierung zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Schließlich würde ich auch nicht wollen, dass ein ausländischer Besucher Großbritanniens mich und meine Regierung über einen Kamm schert. Warum sollte es in anderen Ländern anders sein? Aber, konterte eine ominöse innere Stimme in mir, vielleicht war der Iran ja anders, vielleicht war es wirklich so schlimm. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte.

Nach dieser Wendung der Ereignisse musste ich mir eingestehen, dass mein Eindruck des modernen Iran wie bei den meisten Briten ausschließlich durch die hiesigen und US-amerikanischen Medien geprägt war – und dieser Eindruck war alles andere als schön. Er war ein finsteres Gemisch. Niederträchtige Atomphysiker meldeten sich zu Wort, es gab Hetzreden vor den Vereinten Nationen, von mit Peitschenhieben gezüchtigten Ehebrecherinnen war die Rede, die Zahl der Hinrichtungen erschien haarsträubend – die Liste iranischer Horrorstorys kam mir endlos vor. Der aktuelle Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad machte die Sache nicht besser. Er schien darauf versessen zu sein, den Außenseiterstatus des Landes mit befremdlichen Statements zum Thema Homosexualität (existiert nicht im Iran) bis hin zum Holocaust (hat es nie gegeben) weiter zu untermauern, wobei er die lähmenden US-Sanktionen auf unvergessliche Weise mit einem gebrauchten Taschentuch verglich. Er unterzeichnete sogar eine Fatwa gegen Krawatten, da sie angeblich ein Symbol westlicher Dekadenz sei. Für die britische und US-amerikanische Presse war das ein gefundenes Fressen, denn Ahmadinedschad sorgte für reißerische Schlagzeilen – es wurde sogar behauptet, er sei 1979 an der Geiselnahme in der US-Botschaft beteiligt gewesen. Ob das nun stimmte oder nicht, es bestärkte das von den westlichen Medien projizierte Image der Iraner als religiöse Fanatiker, die man an der kurzen Leine halten müsse.

Doch bei genauerem Hinsehen, beim gezielten Lesen von Berichten aus weniger etablierten Quellen und beim Befragen britisch-iranischer Bekannten zu ihren Familien und Hintergründen stieß ich auf eine andere, viel unaufgeregtere Geschichte – eine Geschichte, die wenig zu tun hatte mit weltpolitischem Kräftemessen, Sanktionen und religiösen Fundamentalisten. Da setzten iranische Künstler und Filmemacher ein Zeichen, ich hörte von Underground-Musikern und illegal auftretenden Bands, von politisch aktiven Dichtern und Anwälten, die ihr Leben riskierten, von jungen Sportlerinnen, die gegen das Regime aufbegehrten – stets verbunden mit einem Schimmer der Hoffnung und einem Hauch von Intrige. Das Internet, zwar streng überwacht und quälend langsam, hatte der iranischen Jugend über illegale private Netzwerke die Welt nähergebracht. Wenig überraschend: Ihnen gefiel das, was sie da sahen, und sie wollten daran teilhaben. Die Herrschaft und Unterdrückung der Islamischen Republik war möglich gewesen, solange ihre Welt abgeschirmt war, solange der Staat die Medien kontrollierte. Doch das Netz bedeutete nun eine ganz neue Bedrohung. Infolge von Ayatollah Khomeinis staatlich gesponsertem Babyboom in den frühen Jahren der Revolution hatte das Land eine gewaltige Jugendbevölkerung. Die Kinder der Achtziger waren mit dem Internet groß geworden und zeigten sich unbeeindruckt von den Beschränkungen, die ihnen auferlegt wurden. Sie haben völlig andere Vorstellungen vom Leben als ihre Eltern.

Je mehr ich recherchierte, desto mehr wuchs meine Faszination – und desto überzeugter war ich, dass ich gar keine Wahl hatte als aufzubrechen und mir ein eigenes Bild vom Iran zu machen. Zu Hause in London reagierten die Leute auf meinen Plan, wie es zu erwarten war. Der Iran sei gefährlich, vor allem für Frauen aus dem Westen. Das Außenministerium bestätige das; man habe, so erfuhr ich, das gesamte Land zur No-go-Area erklärt. Sehr selten erfuhr ich über Mundpropaganda von weit Gereisten, die tatsächlich selbst im Iran gewesen waren, und was diese Wenigen zu berichten hatten, hörte sich schon vollkommen anders an. »Die Iraner sind unglaublich liebenswürdig und gastfreundlich«, hieß es. Oder: »Am schönsten war es im Iran, die Leute sind fantastisch« – genau Habibs Worte.

Doch die meisten von ihnen waren nur auf der Durchreise gewesen, auf dem Weg von Europa nach Indien oder Fernost. Ich hatte jedoch mit keinem gesprochen, der Schiraz besucht hatte, also konnte niemand Habibs Behauptung über seine Heimatstadt bestätigen. So bezaubernd sie sein mochte, ich hatte den Verdacht, dass Heimweh und Patriotismus bei ihm die treibenden Kräfte gewesen waren.

Aber was wusste man hierzulande denn überhaupt vom Leben im heutigen Iran? Es gab eine Zeit, da waren Großbritannien und der Iran unlösbar verknüpft, doch diese war lange vorbei. Und dass die Beziehung ein glückliches Ende genommen hätte, konnte man nicht gerade behaupten. Allein seitdem ich auf der Welt bin, hatte es zahlreiche diplomatische Konflikte gegeben, worauf die jeweiligen Botschaften attackiert, geschlossen und wieder geöffnet, die entsprechenden Botschafter ausgewiesen worden waren, ganz zu schweigen von der berüchtigten Fatwa, die 1989 gegen Salman Rushdie verhängt wurde. Doch die Sache ging noch weiter zurück, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Briten die Kontrolle über das iranische Öl übernahmen. Aber nicht einmal das war der Anfang. Die britische Einflussnahme, oder auch Einmischung, fand schon im 19. Jahrhundert statt, als der Iran noch Persien hieß. Und auch Tony Blair hatte mit seiner ständigen Angstmacherei vor dem Iran wenig Gutes geleistet. Ich weiß noch, wie er auf irgendeinem Gipfeltreffen von seinem Rednerpult aus mit glasigem Blick ins Publikum sah und sagte: »Überall beobachte ich den Einfluss des Iran.« Wirklich kein Wunder, dass es so schwer war, ein Visum zu bekommen.

Für mich war der Iran größtenteils ein abgeschottetes Land gewesen. Über dreißig Jahre waren seit der Revolution von 1979 vergangen, als Ayatollah Ruhollah Khomeini aus dem Exil zurückgekehrt war und den Schah gestürzt hatte, der als Marionette des Westens betrachtet wurde. Die Iraner hatten genug von der Prunksucht und Grausamkeit des Schahs gehabt und empfingen den neuen Herrscher mit offenen Armen. Khomeini hatte den unscheinbaren Iran in eine hochtrabende Islamische Republik verwandelt, hatte alle Verbindungen zum »großen Satan« sowie zum »kleinen Satan« – seine Bezeichnungen für die USA und Großbritannien (oder Israel) – gekappt, und wenig überraschend waren Tourismuskampagnen seitdem eher rar gesät. Innerhalb meines bisherigen Daseins in der Welt war diese uralte Zivilisation zum Geheimnis mutiert, und unser Wissen darüber basierte auf Stille Post und Propaganda.

Schließlich fasste ich einen Entschluss. Ich würde mich dem stellen, was ich inzwischen »Operation Habib« nannte. Ich würde mich auf mein Motorrad schwingen und mir ein eigenes Bild machen. Mein Ziel war Schiraz, die vermeintlich freundlichste Stadt des unfreundlichsten Landes der Welt. Ich würde allein reisen, nicht mit einer Reisegruppe, auch nicht als Journalistin mit verdächtigem Presseausweis, nein, nur als ich selbst, eine ganz normale Britin unter ganz normalen Iranern. Als freiberufliche Reiseschriftstellerin war dies meine bevorzugte Vorgehensweise, so konnte ich den Dingen auf den Grund gehen, zum Herzen der Sache vordringen, allem aufgeschlossen sein, was mir begegnete. Meine Abertausende von Kilometern allein auf dem Motorrad hatten mir gezeigt, dass die Kombination aus Autonomie und größter Sensibilität der beste Weg ist, um wirklich einzutauchen in ein Land. Ich wollte wissen, wo sich Mythos und Wahrheit überschneiden, vor allem aber musste ich zugeben, dass meine eigenen tief sitzenden Vorurteile und Ängste von einem Realitätscheck durchaus profitieren würden.

Als ich meinen Plan verkündete, war das Aufgebot an Schwarzmalereien groß. Sie waren schwer zu ignorieren, obwohl ich von früheren Reisen wusste, dass das, was man in den Fernsehnachrichten sieht, nicht das ist, was man real erlebt. In dunkleren Momenten ließ ich mich beeinflussen und war dann selbst überzeugt, dass ich gleich bei meiner Ankunft von den berüchtigten iranischen Sittenwächtern festgenommen und ins Gefängnis geworfen würde. Was auch sonst, als Britin, konfessionslos und mit einem Faible für Gin Tonic, die allein durch eine islamische Theokratie reisen will, noch dazu auf einem Motorrad, einem für iranische Frauen verbotenen Fortbewegungsmittel. Es war schwierig, in meinem weiteren Bekanntenkreis auch nur einen Menschen zu finden, der das für eine gute Idee hielt – nur zu Hause fand ich Zuspruch: Meine Mutter und mein Mann standen felsenfest hinter mir. Meine Mutter war als internationale Beobachterin in Palästina gewesen, wo sie eine große Neugierde für islamische Kulturen entwickelt hatte, und sie lernte gerade Arabisch. Sie interessierte sich für alles, was mit dem Nahen Osten zu tun hatte, wobei sie wohl vor allem auf einen schönen Perserteppich spekulierte.

Mein Mann Austin, ebenfalls Biker und Weltreisender, ist ein glühender Fan meiner Abenteuer, und seine zupackende Herangehensweise an eigentlich alles ist nur einer seiner liebenswerten Charakterzüge. Bei unserer Hochzeit 2005 hatten wir den Standesbeamten überzeugen können, unser Ehegelöbnis selbst verfassen zu dürfen. Nachdem wir die Ringe ausgetauscht und uns ordnungsgemäß Liebe, Respekt und Freundschaft versprochen hatten, las der Standesbeamte uns mit andächtiger Miene unseren selbst verfassten Schwur vor: »Gelobst du, zu einem gemeinsamen Leben voller aberwitziger Ideen, verrückter Pläne und schlecht durchdachter Abenteuer aufzubrechen?« – »Ja.« Wie es aussah, war für Austin mal wieder die Zeit gekommen, dieses Versprechen zu halten.

Immer wenn mir mulmig wurde, ließ ich mich von Freya Stark inspirieren – der britischen Forschungsreisenden und Schriftstellerin, die einen großen Teil ihres Lebens im Nahen Osten zugebracht hatte. Vor allem hatten es mir ihre Abenteuer in den Dreißigerjahren im damaligen Persien angetan. Aufgeschlossen, eigensinnig und in keiner Weise um die Einhaltung von Vorschriften bemüht, war sie zu Fuß durch entlegene und gefährliche Regionen gezogen, um bislang nicht kartografierte Gebiete aufzuzeichnen. Dabei hatte sie es mit oftmals argwöhnischen oder feindlich gesinnten Einheimischen zu tun gehabt, wurde mehrmals schwer krank und brachte in regelmäßigen Abständen das britische Establishment gegen sich auf, wo man sich für ihre unwissenschaftlichen und unorthodoxen Methoden wenig begeisterte. Sie sprach fließend Persisch und Arabisch und tauchte auf eine Weise in die Welt der Bevölkerung ein, die von der britischen Gesellschaft damals als geschmacklos empfunden wurde. Sie schrieb mehrere brillante und unterhaltsame Bücher über ihre Abenteuer, die zu Klassikern wurden. Mit ihrer resoluten Art war sie jederzeit bereit, sich mit einer Verve ins Getümmel zu stürzen, wie man sie normalerweise nicht mit den eher ernsten Expeditionen jener Jahre in Verbindung bringt. Ich bewunderte ihren rebellischen Geist, ihren beherzten Umgang mit Unentschiedenheit, Einsamkeit und Verletzbarkeit, mit Risiken und nicht zuletzt mit den Menschen selbst. Vor allem mochte ich an ihr, dass sie völlig unprätentiös die Motivation hinter ihrem unkonventionellen Lebensstil so formulierte: »Ich für meinen Teil reise einzig und allein aus Spaß.«

Dennoch brachten mich Freya Starks geistreiche Zitate und Heldengeschichten nur bedingt weiter. Ich lebte in ganz anderen Zeiten. Ihr Iran war vielleicht auf gewisse Art wilder gewesen, aber damals war Reza Schah an der Macht, der das Land aktiv moderni-sierte, während die britische Präsenz noch immer deutlich zu spüren war. Sowohl Persiens Ölindustrie als auch Eisenbahn und Telekommunikation hatten die Briten fest im Griff. Die Ayatollahs des 21. Jahrhunderts hätten mit Miss Stark wenig anfangen können, doch ebenso zweifelhaft war, ob sie von mir und meinem Motorrad besonders viel halten würden. Nachts lag ich wach und fragte mich, ob ich nicht gerade dabei war, einen schrecklichen Fehler zu begehen, ob ich mit diesem Abenteuer nicht einen Schritt zu weit ging. Es war ja nicht so, als hätte ich so etwas noch nie gemacht. In den letzten zehn Jahren war ich solo von Nord- bis Südamerika gefahren, ebenso durch ganz Afrika, von London durch die muslimischen Länder Nordafrikas bis hinunter nach Kapstadt – ich hatte also eine ungefähre Vorstellung, auf was ich mich da einließ. Und aus vergangenen Erfahrungen wusste ich auch, dass es einen bestimmten Menschenschlag gibt, der nichts mehr liebt, als anderen ein böses Ende zu prophezeien. Der Iran jedoch löste eine andere Reaktion aus, selbst bei denjenigen, die ich als weltoffene und aufgeschlossene Leute kannte. Diesmal waren es nicht die üblichen Bedenken à la »Und was ist, wenn du dir ein Bein brichst?« – nein, es ging vor allem um die Bewohner des Landes und da vor allem um die Männer und was sie mir antun würden.

Ich muss zugeben, ich war keineswegs immun gegen diese perfide antiiranische und antiislamische Propaganda, die über Jahre in unser kollektives Bewusstsein gesickert war, und nicht immer gelang es mir, die Bedenken der Schwarzmaler in den Wind zu schlagen. Diese Reise würde mehr sein als eine interessante Fahrt durch ein fremdes Land; sie würde mich mit tief verwurzelten Ängsten und Meinungen konfrontieren, auch solchen, die ich mir nur ungern eingestehen wollte. Doch wenn Angst durch Unwissenheit entsteht, ist das schon Grund genug für eine Reise.

Also verfolgte ich über das nächste Jahr hinweg aufmerksam die politische Lage und wartete auf Nachricht von der Wiedereröffnung der Botschaften. Doch das Eis wollte partout nicht schmelzen, und Ahmadinedschad sorgte weiter für Spannungen. Also fasste ich 2013 den Entschluss, dass es keinen Sinn hatte, dazusitzen und auf einen Kuschelkurs der Politiker zu hoffen. Würde das Auswärtige Amt je einen »günstigen Zeitpunkt« ausrufen, um als Frau allein mit dem Motorrad durch den Iran zu reisen? Wohl kaum. Ich gab mir einen Schubs und beantragte ein Visum.

Da es keine funktionstüchtige Vertretung in London gab, nahm ich die Dienste einer Visa-Agentin in Anspruch, einer höchst effizienten Libanesin. Sie selbst hatte vor Kurzem ihren Motorradführerschein gemacht, insofern fand sie meine Idee, allein mit dem Bike durch den Iran zu reisen, großartig. Es tat gut, endlich mal ein bisschen Zuspruch zu bekommen, auch wenn ich in der zweiten Vorbereitungsrunde den nächsten Rückschlag einstecken musste – durch den Mann, der bei Snappy Snaps hinter dem Ladentisch saß und mich für den Antrag ablichten sollte.

»Iran?«, fragte er entsetzt. »Was wollen Sie denn da?« Der Satz war inzwischen zu einer Art Mantra geworden. »Na ja, Sie müssen’s ja wissen«, fuhr er kopfschüttelnd fort, ohne auf eine Antwort zu warten. Dann erklärte er mir die Vorschrift: drei Punkte, die mir nicht hätten ferner liegen können. »Also, Sie müssen Ihre Haare bedecken, Sie müssen ungeschminkt sein und Sie dürfen auf keinen Fall lächeln.«

Das daraus resultierende Foto, wie ich mit objektivem Blick feststellte, wäre für ein Online-Dating-Profil eher suboptimal gewesen, aber um einen iranischen Beamten zu bezirzen, würde es reichen. Mit meinem ungeschminkten bierernsten Gesicht und dem strengen Kopftuch kam ich mir vor wie ein Aushängeschild für unterdrückte Frauen. Zusammen mit meinem sorgfältig ausgefüllten Antrag und einem großen Geldbetrag schickte ich es los. Doch trotz meiner Bemühungen, als respektable und harmlose Touristin aufzutreten, erhielt ich meinen Antrag wenige Wochen später wieder mit der Bitte um weitere Informationen. Die Iraner stellten misstrauische Fragen: Was war der Zweck meiner Reise? Welchen Beruf übte ich aus? Wie hatte ich vor, durchs Land zu reisen? Ich dachte mir ein paar kreative Antworten aus, die hoffentlich den Idealen der Islamischen Republik entsprachen, und wartete ab.

Jetzt hieß es Geduld haben. Ich konnte nichts planen. Ich war unruhig, ich war nervös, und manchmal wachte ich nachts auf und hoffte insgeheim, dass mein Antrag abgelehnt würde. Nach ungefähr zwei Wochen erfolgte dann der Anruf von meiner Visa-Agentin. Es war die Stunde der Wahrheit: Würde ich in den Iran fahren oder nicht?

Ihre Stimme klang fröhlich. »Die gute Nachricht ist, Sie haben Ihr Visum bekommen, aber ...«

Ich hielt den Atem an. Dieses Aber konnte nichts Gutes heißen.

»Die schlechte Nachricht ist, dass es Ihnen nur unter der Bedingung gewährt wird, dass Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. Mit Ihrem eigenen Fahrzeug will man Sie nicht ins Land lassen.«

Es war ein Wechselbad der Gefühle: Aufregung, Furcht, Erleichterung. Und: Frustration. Erst einmal war es ein herber Schlag. Meine Autonomie, meine eigenen zwei Räder, waren ein wesentlicher Aspekt meines Plans.

»Das heißt, ich darf nicht mit dem Motorrad fahren? Bedeutet das, ich muss hinfliegen? Und dort in den Zug steigen oder in den Bus? Wie habe ich das denn genau zu verstehen ...?«

Sie unterbrach mich. »Wissen Sie was? Mir ist so etwas noch nie untergekommen. Es wurde kein Grund angegeben, aber um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass auf Ihrem Visum irgendetwas in dieser Hinsicht vermerkt sein wird. Vielleicht können Sie Ihr Motorrad in der Türkei in einen Zug oder Lkw laden, um über die Grenze zu kommen? Wenn Sie erst mal im Iran sind, bin ich sicher, dass Sie problemlos damit herumreisen können.«

»Wirklich? Glauben Sie, das könnte gelingen?« Es schien mir sehr gewagt, aber die Verwegenheit dieser Frau imponierte mir.

»Natürlich kann ich Ihnen nicht offiziell dazu raten, aber von dem, was ich über das System weiß, denke ich nicht, dass man an der Grenze so detailliert Bescheid wissen wird. Wahrscheinlich wird man Sie nicht groß befragen.«

»Sie meinen also, ich sollte einfach losfahren und gucken, was passiert?«

Das Ganze klang mittlerweile ganz schön schräg, ziemlich riskant und wahnsinnig aufregend. Ich dachte wieder an Freya Stark. Ich wusste genau, was sie in dieser Situation getan hätte. Meine Visa-Frau sprach weiter, und es schien, als würde auch aus ihr Freya Starks Geist sprechen.

»Natürlich ist es etwas heikel und die Entscheidung liegt bei Ihnen, aber mein inoffizieller Rat wäre, probieren Sie’s.«

Das reichte mir vollkommen.

2

Geh und weck dein Glück!

Zwei Monate später war ich auf meinem Motorrad unterwegs durch die Türkei, immer weiter in Richtung Osten. Ich folgte dem klassischen Hippie-Trail aus den Sechziger- und Siebzigerjahren – nur dass diese Straße im 21. Jahrhundert eine ganz andere Angelegenheit war. Noch vor wenigen Jahrzehnten stellte die Standardroute Türkei-Iran-Afghanistan-Pakistan den Initiationsritus Abertausender argloser britischer Teenager auf dem Weg nach Indien dar. Aber heute, ein, zwei Generationen später, hatte der Iran sich vom Rest der Welt abgeschottet; Kabul, die einst lebenslustige Stadt, war Kriegsgebiet; die Buddhas von Bamiyan im Zentrum Afghanistans waren zerbombt, und Pakistan eine No-go-Area, zugänglich nur mit Militäreskorte für die wenigen Reisenden, die sich auf diesen Spießrutenlauf einlassen wollten.

Ich kam zu spät auf die Welt, um diese unschuldige Zeit zu erleben; meine Weltreisen fielen ziemlich genau zusammen mit dem »War on Terror«, dem Krieg gegen Terror. Im Frühjahr 2003 hatte ich meinen sicheren, aber eintönigen Bürojob bei der BBC aufgegeben, um mit dem Motorrad von Alaska nach Argentinien zu fahren, gerade als George Bush im Irak einmarschierte. Auf der ersten Etappe dieser Tour wehte noch stolz die US-amerikanische Flagge. Doch kaum hatte ich die Grenze nach Mexiko passiert, sah die Welt ganz anders aus. Und als ich dann Mittelamerika erreichte, tauchten überall die Graffitis auf – BUSH GENOCIDO, ENEMIGO DE LA HUMANIDAD. Ich verbrachte viel Zeit damit, zu erklären, dass ich doch einen britischen Pass hätte, »Soy inglesa!«, dass ich kein kriegstreibender Gringo aus dem Land nördlich der Grenze sei –, und es schien ein bisschen zu helfen. Doch wenige Jahre später bei meiner Fahrt durch das muslimische Nordafrika wurde zwischen den beiden Ländern kaum noch unterschieden. Unsere »engen Beziehungen« bedeuteten, dass wir in den Augen der restlichen Welt unter einer Decke steckten. Grenzsoldaten sahen meinen Pass und spuckten Tony Blairs Namen in den Sand, während sie mir widerwillig den Pass stempelten. Hey! Ich war bei der Antikriegsdemo 2003 dabei, wollte ich ihnen sagen. Aber was hätte es genützt? Ungefähr so viel wie die Demo selbst. In den Jahren darauf war London durch die Bombenattacken vom 7. Juli erschüttert worden, und 2007, als ich am Rand der algerischen Sahara erfuhr, dass Saddam Hussein getötet worden war, wusste ich, dass die Zeiten, in denen ich mit Grenzbeamten über David Beckham und Prinzessin Diana plaudern konnte, endgültig vorbei waren. Jetzt, auf meiner ersten Tour durch den Nahen Osten, unterwegs in ein Land, das berühmt war für seine Feindschaft mit Großbritannien, verspürte ich eine Mischung aus Trauer, Wut, Bedauern und Scham, auch wenn ich für die vergangenen Ereignisse nicht persönlich verantwortlich war. Der großartige britische Pass hatte seinen Glanz verloren, und das hochtrabende Statement auf der Innenseite – »Der Außenminister Ihrer Majestät fordert im Namen Ihrer Majestät, den Inhaber dieses Passes frei und ungehindert passieren zu lassen und dem Inhaber dieses Passes nötigenfalls Beistand und Schutz zu gewähren« – wirkte fast schon lächerlich. Dann mal viel Glück, Ma’am.

Meinen ersten Vorgeschmack auf den Orient bekam ich in Istanbul mit seiner aufregenden Skyline aus Minaretten und Kuppeln und der mächtigen Bosporus-Brücke, dem Bindeglied zwischen Europa und Asien. Doch je weiter ich ostwärts fuhr, desto mehr schwand meine Zuversicht, das iranische Außenministerium überlisten zu können. Ihr Misstrauen bei meinem Visaantrag war ansteckend; sie waren paranoid, was meine Person betraf, und jetzt war auch ich paranoid. Seit der Stürmung der Botschaft 2011 war das Erteilen von Visa an britische Staatsbürger eine heikle Angelegenheit geworden. Ich stellte mir vor, wie irgendein dämoni-scher Beamter in Teheran seinen allmächtigen Stempel schwang und mit irrem Lachen die Antragsformulare glückloser Briten in seinem Papierkorb verbrannte. Erstaunlich, dass sie mich überhaupt ins Land lassen wollten.

Je weiter ich mich von zu Hause entfernte, desto unruhiger wurde ich. Die langen Tage im Sattel beim Überqueren des einsamen türkischen Pontus-Gebirges gaben mir die Gelegenheit, in Gedanken alle möglichen dramatischen Szenarien durchzuspielen, wie ich an der Grenze abgewiesen und wegen Spionage ins Gefängnis geworfen wurde, aus meiner Zelle ausbrach und in einer Nacht- und Nebelaktion per Anhalter in einem Lkw voller Schnaps auf irgendeiner obskuren Schmugglerroute über die Berge entkam.

Meine Ankunft in der funktionalen, leicht trostlosen türkischen Hauptstadt Ankara machte meinen fieberhaften Vorstellungen ein Ende und gab mir eine angenehme, wenn auch weniger theatralische Antwort auf mein Problem: den Transasia-Express, der einmal pro Woche zwischen Ankara und Teheran verkehrte. Der erste Halt auf iranischer Seite war Täbriz, die nordwestliche Grenzstadt, die ich zu meiner ersten Station auserkoren hatte. Für den Preis von ein paar Kebabs konnte ich mich mitsamt Motorrad in den Zug setzen, den Rest des Landes durchqueren und tausend Kilometer weiter direkt hinter der iranischen Grenze aussteigen. Dort angekommen, konnte ich hoffentlich mein Bike aus dem Frachtwaggon holen und einfach losfahren. Es gab Zeiten, da wäre mein jüngeres, puristisch denkendes Ich dagegen gewesen, meine Motorradreise auf diese Art zu unterbrechen, aber was soll’s! Das Austricksen der iranischen Behörden war meine oberste Priorität, und außerdem freute ich mich als heimlicher Eisenbahnfan darauf, in einem Zug mit einem so romantischen Namen zu fahren.

Zur Belustigung der morgendlichen Pendler schob ich mein Bike durch den wuseligen Bahnhof von Ankara bis auf Gleis 2, wo es von einer Gruppe missmutiger türkischer Bahnhofsarbeiter in speckigen Hemden in den Frachtwaggon gehievt wurde. Als die Pfeife des Aufsehers schrillte, stiegen alle in den Zug, und da saß ich nun, allein in meinem Vierpersonen-Schlafwagenabteil. Nachdem wir stundenlang durch die Vorstädte Ankaras gerumpelt waren, spielte ich mit dem Gedanken, die türkische Eisenbahn freundlich darauf hinzuweisen, dass nicht nur der Name »Transasia«, sondern auch der Begriff »Express« eine Spur übertrieben waren. Nicht dass es mich gestört hätte. Ich hatte ein gemütliches Abteil für mich allein, und als es dunkel wurde und der Regen gegen die Scheibe trommelte, wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Die Ungestörtheit sollte allerdings nicht von Dauer sein. An der nächsten Station klopfte der Schaffner an meine Tür und teilte mir mit, dass ich ein paar Reisegefährten bekäme. »Bayan?«, fragte ich. Es war das Wort, das auf den Toilettentüren unter dem Frauenpiktogramm stand. Im Gang hatten mich ein paar Typen mit etwas zu viel Interesse und einem süffisanten »Salaam« angesprochen, und ich konnte nur hoffen, dass ich die nächsten beiden Nächte nicht in ähnlicher Gesellschaft würde verbringen müssen. Der Schaffner nickte und sagte in holprigem Englisch: »Ja, bayan, eine Frau und ihr ...« Er stockte und suchte nach dem richtigen Wort. »Küken.«

Ich stellte mir eine junge Frau mit Baby vor, also staunte ich nicht schlecht, als eine ältere iranische Dame in der Tür stand und das »Küken« sich als ihr Sohn mittleren Alters entpuppte.

Meine neuen Reisegefährten begrüßten mich wie eine lang verschollene Freundin, und nachdem sie ihre Betten hergerichtet hatten, wurde unverzüglich ein Geschirrtuch auf dem Tisch ausgebreitet. Und bergeweise Tupperdosen gestapelt. Aus ihnen kamen Unmengen von Brot, Käse, Tomaten, Trauben und ein selbst gemachter Aufstrich aus Eiern, Kartoffeln, Mayonnaise und Dill.

»Bitte, essen Sie mit uns«, sagten die beiden mit strahlendem Lächeln. Ich versuchte mir eine ähnliche Szenerie im Pendlerzug nach Doncaster vorzustellen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich hatte diffuse Kindheitserinnerungen aus den Siebzigerjahren, wo auf Zugreisen wildfremde Menschen ihr Essen miteinander teilten, aber die Chance, dass heutzutage meine Landsleute in einem öffentlichen Verkehrsmittel einem ausländischen Mitreisenden etwas von ihrer Mahlzeit abgeben würden, war gleich null. Ich fragte mich, ob dieses verbissene Festhalten an Privatsphäre und Eigentum symptomatisch war für ein kleines, überbevölkertes Land; ob es ein unbewusstes Bedürfnis war, sich an irgendetwas, egal an was, so derart zu klammern.

Dem ersten Gang folgte ein Kuchen aus Datteln und Nüssen, dazu gab es Tee, der mit Wasser aus einem kleinen elektrischen Reisekocher aufgebrüht wurde. Meine neuen Mitreisenden stammten aus der iranischen Stadt Isfahan, und das Küken, wie ich den Mann mittleren Alters ab jetzt in Gedanken nannte, sprach im Gegensatz zu seiner Mutter etwas Englisch. Aber mithilfe meines Persisch-Wörterbuchs wurstelten wir uns irgendwie durch, was die beiden sehr belustigte. Unterdessen wurde immer wieder neues Essen auf dem Tisch präsentiert, und irgendwann hatte ich die Gelegenheit, den bedeutenden Satz auszusprechen, den ein iranischer Freund in London mir wohlweislich beigebracht hatte: »Sîr schodam, merci – ich bin satt, danke.« Ich hatte das Gefühl, dieser Satz würde noch öfter zum Einsatz kommen.

Nachdem der Tisch abgeräumt worden war, schloss die Dame die Augen und legte die Hände zusammen.

»Jetzt bete ich.«

Sie begann einen hohen Klageton auszustoßen, der gefühlt ewig dauerte. Unbeholfen schweigend saß ich da, unsicher, wie ich reagieren sollte, und ich wünschte, wir könnten einfach nur über das Wetter reden oder uns Quizfragen stellen. Ich wusste nicht, wohin ich gucken sollte. Das Abteil fühlte sich plötzlich sehr eng und ein bisschen zu intim an. Ihr Sohn saß mit seliger Miene daneben, und als seine Mutter fertig war, zog er ein Büchlein aus der Tasche und begann daraus ein Gebet vorzutragen.

»Wir sind Bahai«, sagte er, als er fertig war. Ich nickte etwas zu eifrig; ich war froh, wieder ein halbwegs normales Gespräch führen zu können. »Diese Religion ist im Iran verboten«, erklärte er. »Ich war zwei Jahre im Gefängnis, weil ich Bahai bin.«

Er war von Beruf Juwelier, mit langen schlanken Fingern und einer sanftmütigen Art. Insgesamt wirkte er so zart, dass mich diese Mitteilung regelrecht schockierte. Unvorstellbar, wie so ein Mann die harschen Bedingungen eines iranischen Gefängnisses überstehen konnte. Ich hatte ein bisschen gelesen über die Bahai, nämlich, dass die Anhänger dieser Religion im Iran eine verfolgte Minderheit waren, oft sehr gebildet und mit angesehenen Berufen. Ihr Glaube ging zurück auf das 19. Jahrhundert und stammte ursprünglich aus Schiraz. Seitdem hatte er sich in der ganzen Welt verbreitet und dabei ein paar berühmte Anhänger gefunden, unter anderem den Jazztrompeter Dizzy Gillespie und, in jüngerer Zeit, den britisch-iranischen Comedian Omid Djalili. Doch die prominente Unterstützung hatte die iranischen Autoritäten nicht umstimmen können, dass es sich hierbei nicht um eine Art finstere Sekte handle. Ihre Anhänger waren weiterhin Verfolgungen ausgesetzt. Ich fragte ihn, aus welchem Grund die Bahai im Iran geächtet seien.

»Weil sie sich irgendwann vom Islam abgespaltet haben. Mohammed sagt, der Islam sei die letzte Religion, es werde keine andere geben. Aber in erster Linie deshalb, weil wir an Frieden und Gleichheit für alle Menschen glauben – Männer und Frauen sind im Bahaitum gleichgestellt. Für den Islam gilt das nicht; Muslime glauben nicht daran. Wir glauben an die Einigkeit aller Menschen.« Ich musste zugeben, es hörte sich nicht so an, als wäre das was für die Ayatollahs.

»Andere Religionen sind in Iran erlaubt, so haben wir natürlich die Zoroastrier. Der Zoroastrismus oder Zarathustrismus war die ursprüngliche Religion des Iran. Es gibt auch Christen und sogar Juden im Iran, doch das Bahaitum ist die einzige Religion, die verboten ist. Für unser Volk ist das Leben im Iran sehr schwierig«, fuhr er fort. »Wir dürfen nicht studieren, wir dürfen nicht in den Staatsdienst, unsere Leute kommen ins Gefängnis, manchmal werden sie sogar hingerichtet. Es heißt, wir seien eine politische Organisation und mit Israel verbündet. Unsere Geschäfte werden zerstört, und unsere Wohnungen ...«

Er kramte in seiner Tasche und reichte mir ein Faltblatt der Bahai. Ich las die Propaganda, eine flauschige Abhandlung über Liebe und Frieden mit einem Hauch von Sonne, Mond und Sternen. Das alles schien mir ziemlich harmlos, und diese beiden Gestalten wirkten lieb und friedlich, auch wenn mir das Missionieren und lautstarke Beten etwas unangenehm waren. Ich fragte mich, ob meine Reise so weitergehen würde.

»Was ist Ihre Religion?«, fragte die Mutter.

Beide sahen mich an und warteten mit freundlichem, neugierigem Blick auf meine Antwort. Ich ahnte, dass ein munteres Bekenntnis zum Atheismus möglicherweise ein Stimmungskiller sein könnte, aber ich hatte nichts anderes parat und murmelte etwas davon, dass ich »eigentlich nicht richtig religiös« sei. Ich fragte mich, ob ich mir nicht etwas hätte ausdenken sollen. Vielleicht war in dieser Situation irgendeine Religion besser als gar keine. Es entstand eine kurze Pause.

»Und Sie arbeiten in London?«

»Ja, ich bin, äh, Sekretärin, an einer Schule.« Diesmal beschloss ich zu lügen. Es war eine unschuldige Lüge, aber immerhin stimmte sie mit den Angaben auf meinem Visaantrag überein, wo ich mich als bekennende Journalistin sofort ins Aus manövriert hätte. Schulsekretärin dagegen war ein respektabler und harmloser Beruf für eine Frau, sagte ich mir, und würde kaum bei den Behörden Verdacht erregen. Ich war paranoid genug, um das Gefühl zu haben, ich müsse an meiner Story festhalten, selbst gegenüber diesen beiden Verfolgten.

»Ah, das heißt, Sie werden bald wieder zu Ihrer Arbeit zurückkehren. Die Sommerferien sind vorbei, nicht wahr?«, fragte der Sohn.

Erwischt! Umständlich redete ich mich heraus, ich hätte mich eigens für diese Reise beurlauben lassen.

»Sind Sie verheiratet?«

Die Fragen hagelten auf mich ein, aber zumindest auf diese konnte ich eine ehrliche Antwort geben. Die beiden wirkten zufrieden.

»Und haben Sie Kinder?«

Mitgefühl und Enttäuschung spiegelten sich in ihren Gesichtern, als ich wahrheitsgemäß erklärte, dass ich keine Kinder hätte.

»Aber wenn Sie wieder zu Hause sind, dann werden Sie Kinder bekommen?«, fragten sie hoffnungsvoll.

Ich hörte mich zustimmen, ja, sobald ich wieder auf britischem Boden sei, würde ich umgehend mit der Fortpflanzung beginnen. Ich hatte mir nun eine komplett falsche Identität zusammengesponnen, aber zumindest waren sie glücklich.

»Wir beten für Sie, dass Sie brave Kinder bekommen«, sagte der Sohn wieder mit strahlendem Lächeln.

»Danke«, sagte ich ein wenig erschöpft.

Und damit begann er, den Tupper-Berg abzubauen, während ich es mir auf meiner Pritsche bequem machte, um zu lesen und möglichst wie eine grüblerische Schulsekretärin zu wirken. Das Küken verließ das Abteil, um Teller und Besteck abzuwaschen, kehrte aber bald darauf wieder.

»Hier im Zug sind noch mehr unserer Leute!«, rief er aufgeregt. »Viele Bahai, sie haben alle Verwandte in der Türkei besucht.«

Er war überglücklich, unter seinesgleichen zu sein, und offenbar hatte er unser Abteil zur Parteizentrale ernannt. Denn für den Rest des Abends schneiten ständig neue Genossen herein, Männer, Frauen, alt und jung, alle kamen auf einen Snack und ein bisschen Geplauder vorbei und um die Frau aus England mit dem Motorrad kennenzulernen. Sie fragten mich aus, luden mich zu sich nach Hause ein, kicherten und erzählten sich Witze, die mir teilweise übersetzt wurden und größtenteils auf Kosten der iranischen Mullahs gingen. Hin und wieder schaute ein jugendlicher iranischer Computerfreak vorbei, der wie Ali G aussah, besser als die anderen Englisch sprach und deswegen dazu verdonnert wurde, die langatmigen religiösen Redebeiträge über Sonne und Mond als Spiegelbild Gottes zu übersetzen. Er tat es mit einer Engelsgeduld.

Trotz unserer Unterschiede war es angenehm, in der Gesellschaft dieser Leute zu sein. Sie strahlten eine Wärme und Güte aus, wie ich sie unter wildfremden Menschen selten erfahren habe. Ich fühlte mich sicher und willkommen bei ihnen, auch wenn ich mich fragte, ob es damit zu tun hatte, dass sie Bahai waren. Würde ich mit allen Iranern so etwas erleben? Bald würde ich es wissen; in vierundzwanzig Stunden würden wir auf den iranischen Zug wechseln und in die Islamische Republik einreisen.

Am Vansee, in der bergigen Wildnis Ostanatoliens, wurde der Gepäckwagen vom Zug abgekoppelt und mitsamt einem Gleisabschnitt auf eine Fähre geladen. Ich und ein paar hundert Mitpassagiere gingen ebenfalls an Bord, um die fünfstündige Fahrt über den See anzutreten. An der Ostküste würde der Gepäckwagen von der Fähre geladen und an einen iranischen Zug angehängt werden, in dem wir unsere Reise fortsetzen sollten. Es schien eine ziemlich umständliche Art, um auf die andere Seeseite zu gelangen. Warum baute man nicht einfach eine Trasse um den See herum? Ja, die Gegend war schroff und felsig, aber die Strecke war erst 1970 gebaut worden, mit britischen und amerikanischen Geldern, also hätte man doch Know-how und Finanzen gehabt, ein paar Kilometer Bahntrasse durch unwegsames Gelände zu legen. Es leuchtete mir einfach nicht ein, aber wenn ich die Leute nach dem Grund fragte, waren alle ratlos. Sie zuckten nur lachend mit den Schultern. Nicht zum ersten Mal angesichts fremdländischer Unlogik fragte ich mich, ob meine Effizienzbesessenheit etwas typisch Nordeuropäisches war. Ich beschloss, dass ich alles ein bisschen entspannter sehen musste – wenn die Leute unbedingt tonnenweise Zeit und Mühe verschwenden wollten, um Züge auf Schiffe zu laden, meinetwegen! Zumindest sorgte es für Abwechslung, und ich würde mit weiteren iranischen Mitreisenden ins Gespräch kommen, von denen nicht wenige ihren Spaß daran hatten, sich an Deck an einem riesigen Fahnenmast hochzuhangeln und sich beim Herumklettern auf den klapprigen Schiffsleitern zu fotografieren. Jauchzend hingen sie an der Mastspitze, offenbar völlig unbesorgt um ihre Sicherheit. Es war berauschend, ihnen zuzusehen und wirklich erfrischend, dass niemand versuchte, ihnen das Vergnügen zu verderben. Ich stand an Deck, allein in der Dämmerung, und freute mich über die allgemeine Ausgelassenheit. Ich fühlte mich heimisch; ich und meine Freunde hätten dasselbe getan. Aber ich war ganz schön überrascht. Lachen und Spaß haben passten nicht in mein Bild des Iran; ich hatte viel mehr Ernsthaftigkeit erwartet. Schon jetzt begannen sich meine Vorurteile in rasendem Tempo zu zerstreuen.

Unter Deck stank es widerlich nach Diesel und Chemieklo, und in meiner Kabine waren die Möbel abgenutzt und die Polster schäbig, ein krasser Kontrast zur Sauberkeit und Ordnung des türkischen Zugs. Vermutlich gehörte das Schiff der iranischen Seite des Transasia-Express, denn alle Hinweisschilder waren auf Persisch, mit Ausnahme von ein paar englischen Übersetzungsfehlversuchen. Ich fand meine Abteilgenossen wieder und versuchte sie an der Snackbar zum Abendessen mit Tee einzuladen, aber sie wehrten sich mit Händen und Füßen und bestanden erneut darauf, Geschirrtücher und Tupperdosen für ein weiteres Festmahl auszulegen.

»Sie müssen mit uns essen«, sagte der Sohn mit seinem freundlichen Lächeln. »Sie sind doch jetzt wie eine Schwester.«

Auf der Ostseite des Sees war der iranische Zug nirgends zu sehen, aber niemand beschwerte sich. Es schien den Leuten kaum eine Bemerkung wert. Also quetschten wir uns allesamt in ein Wartezimmer, in dem nur ein paar Plastikstühle standen, und taten das, was man eben so tut in einem Wartezimmer.

Irgendwann begann ein iranischer Bahnhofsangestellter, leger gekleidet in einem Hemd mit offenem Kragen, uns zu einer Art Schlange zu formen. Auf diese Weise wollte er uns unsere Abteile und Sitzplätze zuweisen. Neben mir in der Menge, die man nur mit viel Fantasie als Schlange hätte bezeichnen können, stand eine ältere Iranerin in schwarzem Tschador, der nur das Oval ihres Gesichts freiließ, ein runzliges und von vielen Jahrzehnten nahöstlicher Sonne gegerbtes Gesicht. Sie starrte mich unentwegt an, wobei ich meine Schwierigkeiten hatte zu verstehen, was genau sie zum Ausdruck bringen wollte. Viele der anderen Frauen waren westlich gekleidet, einige trugen das Haar offen, da wir offiziell noch auf türkischem Gebiet waren, aber die Kleidung dieser Alten deutete auf eine strenggläubige Muslimin hin und auf alle Wertvorstellungen, die damit zusammenhingen. Die Frau machte mich nervös, ich hatte das Gefühl, es sei ein kritischer Blick. Das war der Iran, den ich befürchtet hatte, eine Nation von missbilligenden muslimischen Hardlinern, die sich darüber ärgerten, dass ich die Frechheit besaß, als Ungläubige hier aufzutauchen und mal eben eine Spritztour durch ihr Land zu machen. Unruhig wechselte ich von einem Bein aufs andere. Ich wollte meinen Platz in der »Schlange« nicht aufgeben, fürchtete aber, dass sich hier gerade irgendwas zusammenbraute.

Mit ausgestrecktem, knorrigem Zeigefinger kam sie auf mich zu. »Sie haben Motor, ja?«

Ich muss verwirrt ausgesehen haben, denn sie wiederholte den Satz, aber diesmal illustrierte sie ihn mit der universellen Geste des Drehens am Gasgriff und stieß dazu sogar Motorengeräusche aus.

»Brumm, brumm! Sie haben Motor, ja? Sie?«